Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Angst haben fast alle Gewalt im Leben von Obdachlosen Autoren: Johanna Tirnthal und Timo Stukenberg Regie: Johanna Tirnthal Redaktion: Wolfgang Schiller, Thomas Nachtigall Produktion: WDR/Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 07.02.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Inka Löwendorf, Mareike Hein und Laszlo Kish Technische Realisation: Eric Michels Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - I. Einstieg Anhalter Bahnhof SPRECHERIN 01 Anhalter Bahnhof, Berlin. Atmo reißt auf OT01 TOMMY (schreit) "Mann, die machen auf hart, weiter gar nichts. Die kommen nicht raus, weil hier sind sie sicher. Hier haben sie Hausrecht... SPRECHERIN 02 Tommy hinkt ein wenig, seit er vor ein paar Jahren unter die U-Bahn geraten ist. OT02 TOMMY "Mann, so schnell bin ich ja noch. Der kann sich ja gar nicht bewegen." SPRECHERIN 03 Damals sind ihm Tabletten auf die Gleise gefallen und er wollte sie rausholen. Jetzt hinkt er ziemlich schnell die Rolltreppe hoch. OT03 TOMMY "Mann der Fettsack kriegt so'n Arsch voll - wie der aussieht! Der Penner." SPRECHERIN 04 Tommy ist mit zwei Freunden, einer Sozialarbeiterin und zwei Hunden unterwegs. Und wir mit dem Mikrofon. Gerade haben zwei Bahn-Security-Männer uns vom Bahnsteig vertrieben. OT05 TIMO "JOHANNA So jetzt habe ich die Action verpass. TIMO Da sind gerade zwei DB-Security-Menschen mit der Bahn eingefahren, sind ausgestiegen, direkt an der Bank, wo wir standen, und haben direkt gesagt: Ihr müsst hier raus. Wahrscheinlich wegen des Hundes, vielleicht auch wegen Rauchen oder wegen Alkohol. MELLI: Wir haben nicht geraucht! Wir hätten auch gerade eben uns hinsetzen können. Die schmeißen uns eh raus." SPRECHERIN 05 Am Anhalter Bahnhof in Berlin sind die Gleise unter der Erde, es gibt kein Bahnhofsgebäude. Oben: eine große Kreuzung und ein paar kleine Grünflächen. An deren Rand: Das halb abgebrochene Portal der alten Empfangsshalle. Die wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. SPRECHERIN 06 Auf den Parkbänken vor dem Portal haben Tommy und die andern sich versammelt. Mit den Securities der Deutschen Bahn haben sie oft zu tun. OT06 TOMMY "Weil sie einfach übertreiben. Weil sie ihre Macht, ihre Position übertreiben. OT07 TOMMY MELLI: Die sind einfach gewalttätig. Das ist alles. TOMMY: Das sind die Gewalttäter, nicht wir! MELLI: So Schläger." SPRECHERIN 07 Melli ist klein, geht an Krücken. Sie mustert uns mit wachen Augen. OT08 MELLI "Entweder tun sie einen mit Gewalt vom Bahnhof entfernen, tragen, schlagen, treten, mit Schlagstöcken hauen, manchmal Gas ins Gesicht." ANSAGE Angst haben fast alle - Gewalt im Leben von Obdachlosen Ein Feature von Johanna Tirnthal und Timo Stukenberg Straßenatmo SPRECHERIN 08 Melli, Tommy und Umut hängen jeden Tag am Anhalter Bahnhof ab. Sie sind wohnungslos - haben eine Unterkunft, aber keine eigene Wohnung. Wenn es warm ist, sitzen sie vormittags in der Sonne auf einer Parkbank. Wenn es kalt ist, so wie an diesem Tag - unten auf dem Bahnsteig. Dort bleiben sie, bis sie rausgeschmissen werden oder zum nächsten Bahnhof weiterfahren. OT09 MELLI "Dieses Jahr bei Südkreuz, da haben wir nur da gesessen und da haben wir gesagt: Wir wollen raus, zur Herberge und dann haben die mich nicht mal Zug fahren lassen. Haben gesagt: Ihr seid eh nur Stück Scheiße, geht mal raus! Entweder wir ziehen jetzt die Handschuhe an oder ihr geht. Und dann sind wir dann gegangen. Weil was soll ich machen mit Krücken? Kann ich mich ja nicht mal verteidigen oder meinen Kopf schützen oder so" OT10 MELLI "Wenn die die Handschuhe anziehen, ist das so ein Zeichen dafür, dass sie dann Gewalt ausüben. TOMMY Ja, dann üben sie Gewalt aus. MELLI Ob man was gemacht hat oder nicht, spielt keine Rolle." SPRECHERIN 09 Über Monate hinweg begleiten wir Tommy, Melli, Umut und mehrere andere wohnungslose Menschen in Berlin. Von Sicherheitspersonal vertrieben zu werden gehört für viele Wohnungslose zum Alltag, aber das ist nur ein kleiner Teil der Gewalt und Demütigung, die sie jeden Tag erleben. Darüber wollten wir mehr erfahren: Wo die Gewalt herkommt, wer sie ausübt. Und, wie sich Wohnungslose davor schützen. Die Recherche führt uns von Bahnhöfen, Brücken und Zeltlagern bis an die Polizeihochschule. Musikakzent II. Schlagzeilen + Martin SPRECHERIN 10 Gewalt gegen Obdachlose ist allgegenwärtig. Wer aufmerksam die Nachrichten verfolgt, findet sie überall, fast täglich. PROTOKOLLSPRECHERIN "Düsseldorf: Obdachloser mit Gewalt abgefüllt - Lebensgefahr" "Köln: Mann greift grundlos Obdachlosen an und verletzt ihn schwer" "Kassel: Obdachloser mit Dachlatten verprügelt" "Mitten in Köln: Obdachlosen-Zelt angezündet" SPRECHERIN 11 Doch selbst die krassen Fälle schaffen es kaum über die Regionalzeitung hinaus. PROTOKOLLSPRECHERIN "Berlin-Friedrichshain: Erst küsst er ihn, dann schlägt er zu - betrunkener Polizist verletzt Obdachlosen" SPRECHERIN 12 Die Menschen hinter solchen Schlagzeilen bleiben meist unbekannt. Täter wie Opfer. OT11 MARTIN I'm Martin... from Lithuania. I still I live in Berlin. I am homeless, I have no home. I try to do my best. I ... but it doesn't right so I stay like it is. VOICE-OVER 01 "Ich bin Martin...aus Litauen. Ich lebe in Berlin. Ich bin obdachlos, ich habe kein Zuhause. Ich versuch mein Bestes, aber... es klappt nicht so. Also bleibts erstmal so." SPRECHERIN 13 Wir treffen Martin vor einem Späti in Berlin-Friedrichshain, mitten im Ausgehviertel. Anders als die Gruppe am Anhalter Bahnhof hat er keine Unterkunft. Er schläft in einem Hauseingang. Touristen schlendern vorbei, Pendler hetzen zum S-Bahnhof. Der Besitzer des Spätis will kein Interview geben. Er sagt, Martin sitze schon seit Jahren vor seinem Laden. Klar, manchmal gebe es Probleme mit Passanten - aber sowas wie neulich habe er noch nie erlebt. OT12 MARTIN I was sitting here... I meet some people who was interesting. I tried to say hello, do some tricks but the tricks didn't work and after that I get punched in the face, my nose is broken, for the last three or two weeks its not getting better. VOICE-OVER 02 "Ich saß hier... Dann kamen ein paar interessante Leute vorbei. Ich habe versucht Hallo zu sagen und ein paar Tricks vorzuführen, aber es hat nicht geklappt. Und dann wurde mir ins Gesicht geschlagen. Meine Nase ist gebrochen. Seit zwei oder drei Wochen wirds nicht besser." SPRECHERIN 14 Martins Gesicht ist rot, er schwitzt. Die Nase ist geschwollen. OT13 MARTIN There was four or five guys here. I was trying to introduce myself for i dont know what reason to one of them. And then it gets pity and i get smashed my face. I get knocked out without notice. VOICE-OVER 03 "Da waren vier oder fünf Typen. Ich habe versucht mich vorzustellen. Warum, weiß ich nicht mehr. Und dann gings irgendwie schief und ich kriege auf die Fresse. Ohne Vorwarnung." OT14 MARTIN Maybe they didn't know how to say goodbye to me or something (lacht) VOICE-OVER 04 "Vielleicht wussten sie einfach nicht, wie man Tschüss sagt." Musikakzent, Abrupte Stille III. Worum geht es hier? SPRECHERIN 15 Rund 84.000. So viele Menschen gelten in Deutschland als wohnungslos - das sagt ein Bericht der Bundesregierung Ende 2022. Rund die Hälfte von ihnen leben auf der Straße. Die anderen übernachten bei Angehörigen, Freundinnen, Bekannten. Sie hangeln sich von Couch zu Couch. Zu dieser Zahl kommen noch einmal mehr als doppelt so viele Menschen, die dauerhaft in Unterkünften untergebracht sind, aber keine eigene Wohnung haben. Dazu würden zum Beispiel Tommy und Melli zählen. Insgesamt sind das rund 260.000 Menschen ohne eigene Wohnung. OT20 NEUPERT "Selbst wenn die Menschen noch nicht selbst angegriffen worden sind, schwingt das halt immer mit. Es schwingt mit in den Gesprächen unter den betroffenen Menschen. Es werden immer Geschichten ausgetauscht. Da ist jemand überfallen worden, da hats geknallt... es geht nicht nur um Gewalt von außen, sondern auch Gewalt innerhalb der Gruppe dieser Wohnungslosen ... aber diese Angst Opfer von Gewalt zu werden, die haben fast alle." V. Anhalter 1: Milieu Atmo reißt auf/S-Bahn/ggf mit Musikakzent ("Anhalter Bahnhof") OT21 TOMMY Helle müsste eigentlich bald kommen. Der müsste eigentlich jeden Augenblick kommen. Eigentlich, eigentlich hält der seine Zeit ein. SPRECHERIN 26 Anhalter Bahnhof, 8 Uhr morgens. Tommy war schon in der Substitutionspraxis. Jetzt wartet er auf Helle. OT22 SÜNJE Tommy ist Helles bester Freund. Seit 40 Jahren oder so (lacht). Die lieben sich und die hassen sich, und es ist jeden Tag, wenn man da ist - entweder sie haben sich grade gestritten oder sie hängen sich wieder in den Armen. Atmo im Bahnhof, Sünje redet, man hört ihren Hund SPRECHERIN 27 Das ist Sünje Hansen, sie ist Sozialarbeiterin bei der Berliner Stadtmission. Sie lacht viel und hat ihren Hund Duke dabei. Der ist oft der Eisbrecher, um mit Wohnungslosen ins Gespräch zu kommen. Einmal pro Woche besucht sie die Gruppe am Anhalter Bahnhof. Als wir sie nach dem Thema Gewalt fragen, denkt sie sofort an Helle. OT23 SÜNJE Ich weiß, dass Helle, ich weiß jetzt gar nicht mehr, wie lange das her ist, aber dass er eine ganz schlimme Erfahrung hatte im Tiergarten. Und zwar wurde er angezündet. SPRECHERIN 28 Wir bitten Sünje, Helle nach einem Treffen zu fragen. Er sagt zu - und jetzt warten wir auf ihn. OT24 SÜNJE Helle suchen wir. MANN Der müsste eigentlich schon längst hier sein...Viertel halb 9 kommt der immer. FRAU Nein, nein, nein. Atmo: Leute reden durcheinander, Hunde bellen SPRECHERIN 29 Wir suchen unten am Bahnsteig, wir suchen oben auf der Kreuzung. Atmo: draußen (übertrieben, Vögel) OT25 SÜNJE Also, ich hab ihn gestern und vorgestern erinnert, und beide Tage wusste er noch um welche Uhrzeit. Er wollte uns erst auf 9 schieben, aber dann hab ich gesagt, ne, um 8! (lacht) OT26 SÜNJE Aber ei... Also, er muss ja herkommen, weil er geht auch hier zur Substitution seit 100 Jahren. SPRECHERIN 31 Bei der Substitution bekommen ehemals Heroinabhängige unter ärztlicher Aufsicht Ersatzstoffe verabreicht - zum Beispiel Subutex oder Polamidon. OT26 SÜNJE Also er muss herkommen. Das ist nur eine Frage der Zeit. SPRECHERIN 32 Zeit, um Helles Freunde kennenzulernen. Atmo-Wechsel/Signal: drin OT27 UMUT Da ist sein bester Kumpel, von Helle. Wo ist der Helle? TOMMY Keene Ahnung Digga! OT28 FRAU (schreit) Ey Rico! Hast du was von Helle gehört? Mann, wir warten auf ihn. SPRECHERIN 33 Wir warten - und, dass unser geplantes Interview zum Thema Gewalt ausfällt, bemerken wir zunächst gar nicht. OT29 FRAU Daniel! Nicht die Hand erheben, es ist immer noch meine Schwester, Freundchen! SPRECHERIN 34 Alle hier verbindet, dass sie früher heroinabhängig waren - und viele waren oder sind noch heute wohnungslos. Die Substitutionspraxis direkt oben am Anhalter Bahnhof ist ihre Anlaufstelle. Von außen eine ganz normale Arztpraxis. Von 8 bis 11 Uhr können sie hier ihren Heroin-Ersatzstoff abholen. OT31 UMUT Wir waren fast zwei Jahre unterwegs zusammen. SPRECHERIN 35 Das ist Umut, er ist oft mit Melli mit den Krücken unterwegs. Hat Leckerlis für ihren Hund dabei. OT32 UMUT Wir waren beide Junkies, heroinabhängig, richtig. TIMO Bist du in der Zeit, in der du obdachlos warst, mal angegriffen worden? UMUT Ja! Da, siehst du hier die Beule? SPRECHERIN 36 Umut hat eine große Narbe auf der Stirn. OT33 TIMO Was ist passiert? UMUT Ein Besoffener kommt vorbei und dann Melanie neben mir sagt: Bist du bescheuert? Und da hat er einen Stein so in der Hand gehabt. SPRECHERIN 37 Umut macht Gesten, deutet einen großen Brocken an. Ungefähr von der Größe eines Pflastersteins. OT34 UMUT Buff. Geschmissen einfach. Wenn hier hingekommen wäre, wäre ich tot gewesen. SPRECHERIN 38 Laut einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales haben 84 Prozent der obdachlosen Suchtkranken Gewalt erlebt, seitdem sie keine Wohnung mehr haben. Auch Menschen mit psychischen oder körperlichen Leiden werden besonders häufig Opfer. Nach ein paar Stunden am Anhalter Bahnhof ist klar: Erfahrungen mit Aggression prägen die Biografien der meisten hier. Da sind nicht nur Übergriffe von außen, sondern auch Streit im Milieu. Manche verüben Gewalt, wenn sie unter Drogen sind. Andere greifen zu Drogen, weil sie Gewalt erfahren haben. Manchmal kommt auch beides zusammen. Atmo/Musik-Übergang - S-Bahn fährt an, entfernt sich, Musikbrücke "Gericht" VII. Anhalter 2: Trauma Akustisches Brücke: OT35 DIETER PUHL Aus meinem Erfahrungswert ist charakteristisch für Obdachlose Menschen, dass sie es ja gar nicht so mit dem Vertrauen haben und auch gar nicht so mit der Beziehungsfähigkeit, was beides übrigens Ursachen sind für Obdachlosigkeit. SPRECHERIN 42 Dieter Puhl leitet seit Jahrzehnten die Berliner Stadtmission am Bahnhof Zoo. OT35 DIETER PUHL Also, wenn dein Vater schon nicht gut zu dir war. Wenn du schon traumatisiert wurdest im Kinderbereich, wenn du eben keine gesunde, harmonische Eltern-Kind-Beziehung hast - zu Mutti gehst, weinst und du wirst getröstet. Wenn du zu Mutti gehst und eine gescheuert kriegst. Dann ist es mit 30 Jahren auch gar nicht so leicht, Hilfe anzunehmen. OT36 SÜNJE Gewalt ist häufig - von den Eltern ausgehend oder von den Erziehungspersonen, das muss nicht immer physische Gewalt sein. Psychische Gewalt kann auch eine Rolle spielen, die Menschen zur Sucht zu treiben oder zur Obdachlosigkeit. Landen wieder in der Szene, vor Ort, ggf. S-Bahn-Durchsage OT37 TOMMY Helle kommt immer von da. Dann schreit er "Tommy. . SPRECHERIN 43 Anhalter Bahnhof. Helle ist noch nicht aufgetaucht. Tommy und seine Freunde sitzen auf ihrer angestammten Bank am Bahnsteig. Sie warten und quatschen. OT 38 GÜNTHER Ich heiß Günther. TIMO Wie alt bist du? GÜNTHER 47. Meine Eltern kommen aus der Türkei, ich hab nen deutschen Namen. In Berlin geboren. TIMO Und wo wohnst du jetzt, Günther? SPRECHERIN 44 Günther ist eine von Tommys Zufallsbekanntschaften am Anhalter Bahnhof. Man kennt sich hier, man hängt zusammen ab und dann hört man wieder eine Weile nichts voneinander. OT39 GÜNTHER Ich war 5 Wochen auf der Straße und ich war sauber und so und dann bin ich wieder rückfällig geworden. Und hinterher kommen dann die Leute und sagen: Haben wir doch gesagt, ihr seid doch eh nur Penner. Die Umwelt muss verändert werden, nicht der Mensch, oder? S-Bahn nähert sich OT40 TOMMY Ick bin in Italjen jeboren, sagen wa mal so. TIMO Okay. Und wo bist du aufgewachsen? TOMMY Hier in Deutschland. Ick bin mit zwei hier rüber. Weil mein Vater gestorben ist, mein richtiger Vater. Der war mit Textilien selbstständig. Und der hat sich uffjehangen. OT40 TOMMY Wir sind vom Weihnachtsmarkt gekommen, meine Mutter mit uns an den Händen - und auf einmal bah was macht denn Vatern da oben? "Ja, der macht die Lampe ganz." Ja, Vatern hat sich aufgehangen. OT41 TOMMY Und dann sind wir hier rüber, hier nach Berlin. Damals war dit ja auch schwer mit so viel Kinder, drei Kinder. Am Arsch. Sie keen Job, wo soll dit Geld herkommen? Wie soll sie uns durchbringen? Denn hat sie den kennenjelernt... SPRECHERIN 46 Den Stiefvater. OT41 TOMMY Dann hat sie den genommen, die wollt ja den nicht haben eigentlich, der hat die geschlagen von Anfang an. Der hat jesoffen und dann hat er sie verprügelt oder sexuell missbraucht, ja, sie wollte gar nicht, aber musste. OT42 JOHANNA Wie habt Helle und du euch eigentlich kennengelernt? TOMMY Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Deswegen kennen wir uns schon so lange. 40 Jahre sind dit jetzt fast. (S-Bahn-Tunnel Rauschen) Er war lieb, allet, zu meiner Mutter. Der hat ja auch Mutter zu ihr gesagt. "Mutsch" hat er gesagt, so wie icke. "Mutsch" hab icke zu meiner Mama gesagt. SPRECHERIN 47 Inzwischen ist es schon nach 11 Uhr. OT43 SÜNJE Ja, ihr müsst wissen, wie lange, ihr noch ... Wollt ihr noch warten bis Helle kommt, oder...? S-Bahn nähert sich OT44 TOMMY Dit is Hennigsdorf, da könnt er drin sein. Meistens ruft er immer von hinten "Tommy!", dann ruf ich "ja" (S-Bahn- Durchsage)...HELLE (weit weg, schreit) Tommy? OT44 TOMMY Ja! SPRECHERIN 48 Und dann, nach Stunden des Wartens, kommt Helle. OT44 TOMMY Ja! Wie immer! SPRECHERIN 48 In eine dicke Jacke gepackt. mit langsamen Schritten. Schnaufend. OT44 TOMMY Wat sagste Digga? OT45 HELLE HELLE Ick bin leider zu spät gekommen. Ich hab nachts um 3 noch ne Schlafpille eingeklinkt. SÜNJE Ui. Kannste trotzdem erzählen? HELLE Nö, ist alles klar. SÜNJE Ist es kalt draußen? HELLE Nö, schönes Wetter. SÜNJE Dass man sich in die Sonne setzt? An den Bänken? HELLE Klar. Atmo Wechsel, draußen SPRECHERIN 49 Also gehen wir nach draußen, auf einen schmalen Grünstreifen vor dem Portal des alten Anhalter Bahnhofs. Die ganze Gruppe kommt mit. Melly, Umut, Sünje, ihr Hund Duke, der hinkende Tommy. Und Helle. OT46 HELLE Wenn ick wat sage, dann mach ick dat. Wenn ick ne Verabredung habe, bin ich dann und dann auch da. Ich hab wach gelegen bis nachts um 3, und dann hab ich ne Seroquel genommen, 300mg, das ist die höchste die man nehmen kann, bin ne halbe Stunde später eingepennt und um 8 aufgewacht und dachte ach du Scheiße. SPRECHERIN 50 Erstmal läuft Helle auf die andere Straßenseite, um in der Arztpraxis sein Heroin-Substitut zu holen. Er läuft ein wenig steif. Das dünne, weißblonde Haar steht ihm wirr vom roten Kopf. VOICE OVER - OT47 HELLE Sehr schlecht aufgewachsen. Viel Schläge. Vater Alkoholiker. SPRECHERIN 52 Helle hat jetzt eine Pille Subutex unter der Zunge, seinen Heroin-Ersatz. Deshalb ist er manchmal schwer zu verstehen. VOICE OVER - OT47 HELLE Nur Katastrophe. Deshalb versuch ich aus dem Kreislauf wieder rauszukommen. OT48 TIMO HELLE Wann bist du denn das erste Mal auf der Straße gewesen? VOICE OVER - HELLE Mit zwölf oder elf. Da hab ich mir aus Pappe ein Haus gebaut. Aber ich bin nicht abgehauen, ich wurde rausgeschmissen. Ick denk mir, dass das so geprägt hat. Dass meine Mutter mich ersaufen wollte in der Badewanne. Das weiß ich ja alles noch. Die hat so einen Hass auf meinen Vater gehabt. Weil mein Vater hat meine Mutter immer geschlagen. Doll geschlagen. Und dann hieß es immer: Du bist genau so wie dein Vater. Und dann hat sie mich in die Badewanne runtergesteckt. Und ich bin kein dummer Junge. Kein Hohlkopf oder so. Ich hätte mehr geschafft, wenn ich mehr Unterstützung gehabt hätte. Der Hass kam von meiner Mutter, weil ich mit meinem Vater Ähnlichkeit habe. Dadurch kam der Hass. SPRECHERIN 53 Das war am Anfang der Recherche unsere Frage: woher kommt der Hass auf Obdachlose? Wir wollten wissen, warum Menschen nach unten treten, Wohnungslose angreifen - und, wie diese mit der ständigen Bedrohung umgehen. Was wir erfahren, ist: Der brutale Übergriff auf einen schlafenden Menschen auf der Straße ist die Spitze des Eisbergs. Darunter liegen unzählige Erfahrungen von Missachtung und Aggression, die Wohnungslose besonders angreifbar machen. VOICE OVER - OT49 HELLE Im Tiergarten wurde ich angezündet. Wir waren sieben Leute gewesen. Und ich hab an dem Tag aufgepasst. Weil einer musste immer am Standort bleiben, dass die Schlafsäcke - dass das nicht geklaut wird. Dann seh' ich von Weitem, seh' ich so drei Leute kommen mit grünen Flaschen in der Hand. Ich dachte, das wären meine Kollegen, die zurückkommen. Da hab ich mich umgedreht, bin gleich wieder eingeschlafen. Und dann haben sie mich mit Spiritus... und angezündet. IX. Motiv: "Obdachlose klatschen" OT51 NEUPERT "Also ich glaube dieses jederzeit Angreifbare, das macht dann eben auch manche Leute verrückt. Wenn man permanent angreifbar ist, ist das eine dauerhafte psychische Belastung, die sich dann irgendwie auch niederschlägt. Bis hin zu Misstrauen gegenüber Leuten, die einem wirklich helfen wollen. Das ist das große Problem: Dass es halt keinerlei Verschnaufpause und keinerlei Ruheraum..-. 100% öffentlicher Raum, die ganze Zeit." SPRECHERIN 57 Aus Paul Neuperts Statistik bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht hervor, dass seit 1989 in Deutschland mindestens 615 Wohnungslose getötet wurden. Von den meist männlichen Tätern stammten 55 Prozent selbst aus dem Obdachlosenmilieu. OT52 NEUPERT Aber diese Gewalt unter Wohnungslosen hat seine eigenen Charakteristika. Da geht es um die Gewalt um die begrenzten und enger werdenden Ressourcen. Da gibt es ganz häufig Gewaltfälle um Kleinigkeiten. SPRECHERIN 58 Psychische Extremsituationen und Verteilungskämpfe gehören auf der Straße zum Alltag. Die Corona-Pandemie hat die Konkurrenz um Schlafplätze in Notunterkünften verschärft und steigende Lebensmittelpreise treffen die Wohnungslosen besonders hart. SPRECHERIN 59 Doch was ist mit der anderen Hälfte der Täter, denen, die nicht auf der Straße leben? Was treibt sie an? OT53 HELLE Es war so kurz vorm Dunkelwerden, aber war nicht dunkel. Die drei Personen hab ich ja noch gesehen. Weil ich dachte, das wären meine Leute, die wieder zurückkommen. Hab mich dann umgedreht und bin dann wieder eingeschlafen. Und dann haben sie mich überschüttet mit Spiritus, ja. OT55 HELLE Und ne alte Frau, ne alte Dame, kam ein Glück mit Fahrrad, ist dann stehen geblieben und hat die Polizei gerufen. OT56 HELLE Haben sie abgeriegelt und dann haben sie sie gefunden, die drei. Und ich saß im Polizeiauto, wo die Scheibe getönt war. Die konnten mich auch nicht sehen. Und die haben sie mir einfach vor der Nase gestellt, hab ich gesagt ja, den erkenn ick wieder. SPRECHERIN 60 Acht Jahre sei das her, sagt Helle. Ganz sicher ist er aber nicht. Aber an den Gerichtsprozess und das Strafmaß erinnert er sich genau. OT57 HELLE Der eine wurde verurteilt, der Jugendliche, zu drei Jahre neun Monate, der erste Jugendliche. Der andere wurde verurteilt zu vier Jahre neun Monate, versuchten Totschlag, der andere fünf Jahre sechs Monate. OT58 TIMO Was war das Motiv? HELLE Obdachlose klatschen. Hat der eine gesagt. Dasselbe was du mich grade gefragt hast, hat die Staatsanwaltschaft - Warum zündet ihr Obdachlose an? Was sagt ihr denn dazu? Warum macht ihr das? "Ja, unter uns ist das so Obdachlose klatschen." OT59 NEUPERT "Also ich muss davon ausgehen, dass die sozusagen ein gewisses Menschenbild haben, weswegen sie sich jetzt gerade dieses Opfer ausgesucht haben, um da Gewalt auszuüben. Nämlich die Denke, dieser Mensch hat nicht dieselben Rechte auf Unversehrtheit wie ich sie eigentlich für mich in Anspruch nehme. Der Mensch hat es verdient." OT60 HELLE Ich weiß nicht, was dit Motiv war. Langeweile? Oder Stärke zeigen? Oder "Komm, wir gehen heut Obdachlose klatschen!" So wie Sie vielleicht sagen, ey komm wir gehn ne Runde Billard spielen - sagen die dann: ey komm wir gehen Obdachlose klatschen. Das hört man ja oft. Dass Obdachlose auch totgeschlagen wurden. SPRECHERIN 62 Der Staat erfasst Angriffe auf Obdachlose in zwei Statistiken. Es gibt zum einen die sogenannte "PKS" - Polizeiliche Kriminalstatistik. Hierin landet alles, was bei der Polizei angezeigt wird: Beleidigungen, Körperverletzungen, Tötungsdelikte. Nur über die Motivation sagt diese Statistik nichts aus. Und dann gibt es die "PMK"-Statistik. PMK steht für "politisch motivierte Kriminalität", das können zum Beispiel rassistische Übergriffe sein - oder Gewalt, bei der Menschen wegen ihres Gesellschaftlichen Status angegriffen werden. Doch im Fall von Obdachlosen hilft auch die PMK nicht weiter. OT61 NEUPERT Ein Angriff auf ein Luxusauto würde sozusagen genau in dieselbe Kategorie fallen wie ein Angriff auf einen Wohnungslosen mit einer sozialdarwinistischen Motivlage. SPRECHERIN 63 Daniela Pollich, Kriminalsoziologin und Professorin an der Polizeihochschule NRW hat tausende Seiten Ermittlungsakten analysiert. Ihre Studie zur Motivlage bei Angriffen auf Obdachlose ist mittlerweile zehn Jahre alt - aber noch immer die einzige systematische Untersuchung dazu in Deutschland. OT62 POLLICH "Wieso greife ich einen wehrlosen Menschen an, der sowieso schon jetzt nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens steht, offensichtlicher weise? Wieso greif ich denn den an? Diese ganzen sehr subtilen Mechanismen, die da zum Teil dahinter sind, die stehen oft in diesen Akten nicht drin und die können zum Teil von den Tätern selber gar nicht artikuliert werden. Gerade wenn es so Jugendliche sind, die in so eine vielleicht sogar alkoholisiert in einer Gruppe dann irgendwie es besonders lustig in Anführungszeichen finden jetzt einen Wohnungslosen zu bepinkeln oder so. Da kommt man recht schwer dran." SPRECHERIN 64 Ein menschenverachtendes Motiv bei einer Straftat kann heute, wenn es vor Gericht festgestellt wird, strafverschärfend wirken. Deshalb geben die Beschuldigten ein Abwertungsmotiv selten preis. Das war nicht immer so. OT63 NEUPERT Wenn man sich die alten Fälle durchguckt aus den 90er Jahren, da gibt es ganz viele wirklich super offensichtlich rechtsradikal motivierte, sozialdarwinistisch motivierte Taten und Übergriffe. Da sind wirklich einschlägig bekannte Skinhead-Neonazis, richtig klischeemäßig, haben sich vorher betrunken und sind in der Gruppe losgezogen, um ja, man nannte es damals "Penner klatschen". Die sind dann noch mit Springerstiefel in die Gerichtsverhandlungen gegangen, so nach dem Motto, und die haben auch noch vor Gericht damit geprahlt, dass sie die Menschen zusammengeschlagen haben, getötet haben, weil sowas wie der gehört nicht in unser schönes was auch immer. Und dass er es ja nicht anders verdient hätte. OT64 POLLICH Es kann aber auch der sag ich mal jetzt sich völlig politisch zentral einordnende Junggesellenabschied sein, der mit ein bisschen zu viel Alkohol im Kopf solche Taten begeht oder das auch Jugendgruppen, denen ja in Anführungszeichen langweilig ist, sowas irgendwie tun und da hat nach meiner Interpretation steckt da ein zumindest implizites Vorurteils oder Abwertungsmotiv immer drin. Geräusch: Rucksack-Zipper SPRECHERIN 65 Eines Morgens, als wir Tommy am Bahnsteig treffen, packt er grade sein Geld weg. Auf 5 Stationen Bahnfahrt hat 21€ geschnorrt. OT64 TOMMY Wenn ick weitermachen würde, würde ich ohne zu übertreiben 30€, 40€ schon machen. TIMO Wieviel brauchst du so pro Tag? TOMMY 7 Euro. Ja. Zucker, Milch und een Korn. SPRECHERIN 66 Das ist für Tommys Mixgetränk. Weiße Flüssigkeit in einer großen Plastikflasche. OT65 TOMMY Dit is Mäusepisse nennt man ditte. Dit is Milch, Wodka und n bisschen Vanillezucker. Dass man den Wodka nicht so im Hals...der kratzt ziemlich. Deswegen haben wir so n bisschen Vanillezucker, dann schmeckt der so n bisschen süßlicher, dann ist er angenehm - und knallt! OT66 TOMMY Een Korn kostet 5,50€. Dann 80ct die Milch und 80ct der Zucker. Aber der Zucker reicht dann wieder für ein paar Tage. SÜNJE Was isst du? TOMMY Wat die Leute mir geben. Und wenn ick Geld über habe hol ich mir nen Döner. Atmo/S-Bahn SPRECHERIN 67 Die Abwertung von Menschen, die nicht in die übliche Arbeits- und Verwertungslogik der Gesellschaft passen, hat eine lange Tradition. Beispiele finden sich schon im Mittelalter, wo es Gesetze gegen Landstreicher und Vagabunden gab. Im Nationalsozialismus wurden Obdachlose als eine der ersten Gruppen ab 1933 verfolgt und ab 1937 in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. SPRECHERIN 67 Noch immer ist die Abwertung weit verbreitet. 2021 teilt ein Viertel der Bevölkerung die Aussage: "Die meisten Obdachlosen sind arbeitsscheu." Und: "Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden." Einige Angreifer sehen sich offenbar als Vollstrecker. OT67 NEUPERT Man hat so eine ökonomistische Grundhaltung, die Menschen danach zu bewerten, wie nützlich sie eigentlich sind für die Gesellschaft. Und es gibt "die Leute, die tun wenigstens was" und es gibt die "die tun nichts und nehmen nur". Und das ist eine ganz stark verbreitete Denkweise, die nicht immer dazu führt, dass die Menschen gewalttätig gegenüber denen werden, die sie verachten. Aber es gibt eben immer wieder welche, die das dann, vielleicht auch in einer Stresssituation oder wie auch immer, in die Tat umsetzen. SPRECHERIN 68 Daniela Pollich hat festgestellt, dass Menschen, die Wohnungslose angreifen, häufig selbst nicht in einer besonders guten sozialen Position sind. Je näher die eigene Stellung in der Gesellschaft an der von Wohnungslosen ist, desto größer ist das Bedürfnis nach Abgrenzung. Ein anderes Motiv für Angriffe ist die Verfügbarkeit von Wohnungslosen. OT69 POLLICH Gesetzt den Fall, was erklärungsbedürftig genug ist, dass man aus Langeweile jetzt Leuten Gewalt antun muss, da kommt man ja immer irgendwie wieder auf so einen Motivbündel im Sinne von: Naja, Verfügbarkeit ist das eine. Wer ist zum Beispiel nachts einfach schutzlos auf der Straße, wer muss da sein. Atmo+Musik Übergang zum Anhalter Bahnhof, Hund bellt, Autotür X. Anhalter 3: Sicherer Schlafplatz OT70 HELLE (relativ unverständlich) Hier hab ich gezeltet. SPRECHERIN 69 Hier hab ich gezeltet, sagt Helle auf dem kleinen Grünstreifen oben am Anhalter Bahnhof. TIMO Hier vorne? SPRECHERIN 70 Ein lauter Ort, mitten im Straßenverkehr. TIMO Warum gerade hier? OT71 HELLE Weil ich mich hier sicher gefühlt hab - da ist ein Taxistand, da ist die Bushaltestelle. Weil ick Angst habe. SPRECHERIN 71 Die Erinnerung an den Brandanschlag hält Helle auch Jahre später noch wach. OT72 HELLE Schlafstörungen. Ich trau mich gar nicht einzuschlafen. Schlafangst hat der Arzt gesagt. Ich hab Schlafangst. (Schnieft, atmet schwer) Aber hier war ich sicher aufgehoben, also ich hab mich ziemlich sicher gefühlt. OT74 SCHÜSSLER Dieses öffentliche Schlafen ist ein wichtiger Schutz vor Straftaten. SPRECHERIN 73 Das ist Olaf Schüssler, ein Kollege von Sünje Hansen bei der Berliner Stadtmission. OT75 SCHÜSSLER Wir machen Straßensozialarbeit, das heißt, wenn wir mit unseren Klienten arbeiten, dann bedeutet das, dass wir die einzigen Kontaktstellen zu einem in Anführungszeichen normalen Leben sind. SPRECHERIN 74 Über die Jahre hat Schüssler die verschiedenen Strategien der Obdachlosen kennengelernt, auf der Straße klarzukommen und sich zu schützen. OT76 SCHÜSSLER Das Passmann-Konzept: zu zweit Geld machen, zu zweit Heroin konsumieren, und daher kommt das Wort Passmann: zusammen aufeinander aufpassen. Das heißt, mindestens zu zweit einfach zu sein. Da entstehen Freundschaften und Beziehungsverhältnisse, die lange halten können. Musikakzent/Atmo zurück in Szene OT77 HELLE Ich wollte alleine, aber Tommy, der kennt mich ja seit 35 Jahren, er einen Wohnheim-Platz hat, hat er trotzdem bei mir gepennt, um mich nicht alleene zu lassen. OT78 TOMMY Zu zweet ist immer besser als alleene. SPRECHERIN 75 Wenn einer Helles Passmann ist, dann Tommy. OT77 HELLE Ick hab immer jesagt, Mann, du hast n Zuhause. Geh doch nach hause, ick komm schon klar hier. "Nene, ich bleib hier." (Pause) Sowas nennt man Freundschaft, wa. OT79 SÜNJE Ich kenn nicht viele Menschen auf der Straße, die so ne enge Freundschaft, so ne Beziehung, und deswegen finde ich das bei denen irgendwie immer total schön, dass die sich haben und da sind, wenns drauf ankommt. OT80 TOMMY Also er ist dann her gezogen, sagt, komm mal mit, ich hab ne Überraschung. Sagt er kieck mal: Hat er n Zelt aufgebaut! Ick sach: Du bist ja geil. Und dann, wenn wirklich kalt war, haben wir uns angekuschelt. Dann hat er mich gewärmt quasi, er war meine Heizung. HELLE Aber wir sind kein Pärchen oder so! TOMMY Nene, um Gottes Willen! HELLE Ne, selbst wenn, das wär ja auch nicht schlimm. Aber ich steh auf Frauen, ja. Aber da muss man halt gemeinsam stark sein. Das ist egal, wenn der andere friert, zittert, dann nehm ick den in den Arm und wärme ihn, ist doch normal. TOMMY Man hält zusammen. HELLE Man hält zusammen. Wenn man nicht zusammenhält, dann ist man im Arsch. Musikakzent/Atmo- XI. Demo OT81 MATE Liebes wunderschönes Scheißberlin... Wir haben in den letzten Jahren viel verloren... SPRECHERIN 76 Eine Demonstration in Berlin-Friedrichshain, organisiert von Hausgemeinschaften, denen Kündigung und Räumung droht, von Jugendlichen, die ihr Jugendzentrum verloren haben, stadtpolitischen Initiativen und Obdachlosen. Sie wollen ein Zeichen setzen gegen, wie sie sagen, den Ausverkauf der Stadt und gegen die Verdrängung von Armen und Wohnungslosen aus dem Stadtbild. SPRECHERIN 77 Am Mikrofon auf dem Lautsprecherwagen steht Mate. Sie ist Trauerrednerin. Akustisches Signal SPRECHERIN 78 Eine Blaskapelle spielt. Die Menschen sind auch gekommen, um Abschied zu nehmen. In aller Öffentlichkeit. Um die Stadtpolitik anzuklagen und zu erinnern. An ihre Nachbarinnen und Weggefährten, Passmänner und Passfrauen, die es nicht bis hierher geschafft haben. OT82 MATE Und ich als Bestatterin kann sagen, es gibt viele Menschen, die nicht gesehen werden, und auch die bitte ich, dass wir die in unser Herzen schließen. Benny, Peter H., Ingo, Josef, Marco, Adam, Antoni und Hermann, Ulla, Brigitte, Louis Angel und Zoe, Randy R., Hans-Peter H., Peter Brown, Frau Seemann, Otto, Harry B, Irene, Friederike M, Charlotte H. Erwin Emma OT83 NEUPERT Der zentrale Punkt ist bei Wohnungslosen: sie haben ja keinen Rückzugsort. Sie haben ja keine Tür, die sie abends hinter sich zuziehen können und dann durchatmen können. Also, das was jeder von uns hat, um so nen stressigen Tag zu verdauen. Und Menschen kriegen glaub ich erst mit, was das bedeutet, wenn sie die Wohnung verlieren. SPRECHERIN 79 Jeder zweite auf der Straße hat sein Zuhause wegen Mietschulden verloren. OT84 NEUPERT Die grundsätzliche Einstellung von mir und der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist die: Der beste Schutz ist die eigene Wohnung. Also muss man als Gesellschaft sich dafür einsetzen, dass jeder Mensch ein Anrecht auf eine Wohnung hat und die dann auch bekommt. OT85 MATE ... "Es gibt natürliche Todesursachen und welche, die zu verhindern gewesen wären. Wir müssen nicht nur verstehen und akzeptieren. Wir haben guten Grund neben der Trauer auch Wut und Fassungslosigkeit zu fühlen. Nun darfst du im Kollektiv einfach mal -rauslassen, was gerade in deinem Körper drinnen ist. Ein Seufzer, ein Schrei oder einfach weinen - ich fang jetzt einfach an, weil mir zum Schreien zumute ist. ATMO "Aaaaaaaaaaaaaaah" - patriarchale Kackscheiße - OT85 MATE Danke, dass ihr da dabei seid, dass ihr mutig seid, diese Gefühle auch auszudrücken und dem Raum zu geben." Glocke Trauermarsch Atmo Anhalter Bahnhof (unten, S-Bahngleis), Musikthema "Anhalter Bahnhof" XII. Wovon träumen unsere Protagonisten? S-Bahn kommt kreischend SPRECHERIN 81 Anhalter Bahnhof. Ein paar Wochen sind vergangen. Tommy wartet hier wieder auf Helle. Der hatte gerade Corona. Wir haben ihn schon länger nicht mehr gesehen. Mit Sünje nehmen wir den Fahrstuhl hinunter aufs Gleis. OT86 SÜNJE Wie alt ist Helle? SÜNJE Der ist '70 geboren glaub ich. Aber sehr krank. Leberzirrhose, Hepatitis C, HIV. Der hat alles. OT87 TOMMY Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel, da kommt keener ran. OT88 TOMMY Wenn der nicht mehr is weeß ick jar nicht was ick machen soll. Hab auch schon jesagt, ick komm mit. Hol ich mir Dings, ne Überdosis. Ist mir egal. Geh ick mit. OT89 SÜNJE Es gehört zur Arbeit dazu, dass man Menschen auch beim Sterben zugucken muss. Das ist manchmal schwer. OT90 TIMO Ihr seid schon ein Herz und eine Seele, ne? TOMMY Ick hab alles durch mit ihm. Wir haben Höhen und Tiefen gehabt, wir haben Geld gehabt. Das einzige wat ick eigentlich warte ist bis mein Vater stirbt. Also mein Stiefvater, auf dit wart ick. Das ist eigentlich mein Wunsch. Dass der endlich krepiert, dit Dreckstück. Der hat meine Mutter so verkeilt dit Schwein, und uns Kinder ooch. Atmo: Stehende S-Bahn OT90 TOMMY Und der ist zigfacher Millionär. Und ick bin der einzige Erbe. Ja, wenn der stirbt... und der ist schon 92! Naja. Dann hab ick dit Jeld, was mir zusteht. Und dann verpiss ick mir mit Helle, flieg ick mit ihm nach Amerika. Ja und dann wollen wir uns natürlich n riesen Bus koofen. SPRECHERIN 83 Tommy erzählt viel, wenn der Tag lang ist, und ob das mit dem Erbe stimmt, kann keiner sagen. Aber wenn es ums Auswandern mit Helle geht, kommt er richtig ins Schwärmen. OT91 TIMO Warum Amerika? TOMMY Weil die medizinisch besser drauf sind als Deutschland. Und dann will ick kieken dass er vielleicht doch noch ne Chance hat. Und die sind ja arschteuer. Die wollen ja gleich een zwee Millionen haben, wenn ick sage der braucht ne Lebertransplantation. Dit is mir dann ejal, dit Jeld. Dit Leben kann man nicht bezahlen. Aber wir versuchen's. SPRECHERIN 84 Und während Tommy von Amerika träumt, kommt Helle an. Schwitzend, schwankend. OT92 HELLE (schreit, singt halb) Es geht den Ende nah! Wir singen alle Tralalala! SPRECHERIN 85 Wir wollten ihn nach seinen Plänen fragen, er wollte in die Entzugsklinik gehen. OT93 TIMO Wie gehts dir denn Helle? Helle atmet schwer SPRECHERIN 86 Aber heute winkt er ab. S-Bahn fährt weg, Musikakzent OT94 HELLE Meine Lungenflügel sind durch Corona verengt und ich krieg manchmal keine Luft mehr. (atmet schwer) Krieg manchmal keene Luft. Dit interessiert aber keene Sau. OT95 TIMO Das sind jetzt so die letzten Tage, oder...? HELLE (schnauft) Ja. TIMO Wie gehst du damit um? HELLE mit VOICE-OVER (lacht) Wie ich damit umgehe? Das ist die Retourkutsche für mein altes Leben. Damals auf der Straße, drogenabhängig gewesen. Ich steig auf die Kutsche auf, ich werd sehen wo ich hinfahre. Entweder fahr ich ins Dunkle, wie der Tunnel. Oder ick fahr ins Helle. So ein schlechter Mensch war ich ja auch nicht. ABSAGE Angst haben fast alle. Gewalt im Leben von Obdachlosen. Feature von Johanna Tirnthal und Timo Stukenberg. Es sprachen: Inka Löwendorf, Mareike Hein und Laszlo Kish. Technische Realisation: Eric Michels Regieassistenz: Swantje Reuter Regie: Johanna Tirnthal Redaktion: Thomas Nachtigall OT96 SÜNJE Als ich Helle gesehen habe vorige Woche, war er...ja, er ist unschlüssig, ob das dort in dem Wohnheim so das ist, was er sich für sich wünscht. Er genießt das total in der Natur zu sein und draußen zu sein und hätte am liebsten ein Zelt irgendwo am See und würde da jeden Morgen aufwachen und auf den See gucken. Aber gesundheitlich halte ich das für unrealistisch bei ihm. Wie es so langfristig bei ihm aussieht, dass weiß er selber auch nicht so richtig. Also ich denke, dass er von Tag zu Tag lebt, grade. ABSAGE Die Recherche wurde gefördert durch die Otto-Brenner-Stiftung. Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2023. 2