Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Ich war ein praktisches Mädchen Das ukrainische Tagebuch meiner Mutter Autor: Mark Zak Regie: Friederike Wigger Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 17.05.2022, 19.15 Uhr Langfassung Es sprachen: Margarita Breitkreiz, Winnie Böwe, Daniel Minetti und der Autor Ton und Technik: Andreas Stoffels Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 1 Dr. Irina Rogosa (I-2.20-2.35) (Kindergedicht) Das war noch als ein Kleinkind: "Guten Tag Frau Meier, was kosten die Eier? 8 Pfennig. 8 Pfennig die Eier? Ach was Frau Meier, das ist zu Teuer!" (Lacht) Musik Ansage Ich war ein praktisches Mädchen. O-Ton 2 Rogosa (II-5.15-5.40) Wenn ich könnte schreiben... dann könnte ich von meinem Leben so viele Kapitel machen: vor dem Krieg, Kinderjahre, die Studentenjahre, vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Ansage Das ukrainische Tagebuch meiner Mutter. Ein Feature von Mark Zak. Autor 2002 hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter aufgenommen. Fünf Jahre später starb sie mit 87 Jahren. Bei der Wohnungsauflösung in Köln entdeckte ich, neben alten Briefen, Postkarten und Notizen, zwei Schreibblöcke, Vorder- und Rückseite dicht beschrieben mit ihrer geschwungenen Handschrift. Sprecherin 1 (aus dem Tagebuch) ??? ????????????. Autor Tagebücher und Aufzeichnungen der Irina Rogosa, die ich aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte. Sprecherin 1 ???? ??? ??? ??????????? ??????? ??? ????????? ???? ? ???????????? ????? ? ??? ?? ???????? ?????? ????, ????????????, ??????? ?????, ????? ??????, ?? ????? ??????? ??????, ?????????, ?????? ??? ????. ? ???? ??????? ????? ???? ? ?????????? ???????, ????? ??? ???? 2 ????. Sprecherin 2 (Übersetzung, deutsch) Ich bin leider nicht talentiert genug, meinen Lebensweg in einer literarischen Form zu beschreiben und dennoch: auch wenn ich viel, sehr viel vergessen habe, möchte ich den Rest der verbliebenen Erinnerung, bruchstückweise, nur für mich, trocken und chronologisch aufschreiben. Womit soll ich beginnen? Vielleicht mit einer klitzekleinen Episode, als ich zwei Jahre alt war (meine Mutter erzählte es später immer mit den Tränen in den Augen). Ich sagte, wenn Mutter das Haus verließ "Mama, du gehst weg. Bring mir ein Stückchen Brot". Das war das Hungerjahr 1921. In den Städten litten Millionen Menschen an Hunger, doch in den Dörfern gab es noch Lebensmittel, die man gegen Wertsachen umtauschen konnte. Mutter tauschte ihr Leinen-Kopftuch gegen zwei Kilo Mehl. Sprecherin 3 Über 3,5 Millionen Menschen waren allein in der Südukraine von der Hungersnot 1921-22 betroffen, verursacht durch Bürgerkrieg, Dürre und vor allem durch die Wirtschaftspolitik der bolschewistischen Diktatur. Sprecherin 2 Unsere Familie hat überlebt; wir drehten Zigaretten - Vater, Mutter, meine drei Brüder und sogar ich. Ich brachte die Schere von einem zum anderen. Das alles erzählte mir meine Mutter. O-Ton 3 Rogosa (I-12.52-13.48) Ich bin geboren in einer Kleinstadt, das ist kein Dorf, das ist eine Stadt und heißt Kachowka. Das ist nicht weit von Odessa und ist am Dnjepr. Und die Stadt war... war natürlich kleiner als Köln, zum Beispiel. (Lacht) Aber ein Ort, ein Kurort. Im Sommer kommen viele Gäste, viele Touristen. Es war wunderschön. Aber es war alles vor dem Krieg... Einspiel Musik 1 Das (sehr bekannte) Revolutionslied über Kachowka (https://youtu.be/z0sMqkC9FuM) O-Ton 4 Rogosa (II-14.47-14.57) (singt eine Strophe) Kachowka Lied.... Habe ich schon vergessen. Autor Kachowka...Als sie mir 2003 von ihrer Heimatstadt erzählte, war es unvorstellbar, dass nach den Wirren der Oktoberrevolution und den Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg, Kachowka im März 2022 noch einmal besetzt werden würde, diesmal von Putins Armee, und die Ukraine wieder zum Schauplatz eines grausamen Krieges werden würde. (Musik hoch) Sprecherin 3 Anfang des 20. Jahrhunderts, war Kachowka ein für russische Verhältnisse recht wohlhabender kleiner Ort. Am unteren Dnjepr in der weiten Steppe der Südukraine gelegen, entwickelte es sich immer mehr zu einem prosperierenden Handels- und Industriezentrum. Es gab Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Dampfmühlen, eine Brauerei und ein Sägewerk. Kachowka war der größte Getreideumschlagplatz auf dem Weg zum Hafen von Odessa. In der Stadt gab es ein Krankenhaus, ein Kino, zwei Gymnasien, eine Bibliothek.1919 lebten um die 8000 Menschen in Kachowka, mehr als ein Drittel davon Juden. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ?? ??? ???????? 1924 ???. ?? ??????? ?????? ?????????????? ????? ???????? ?????? ? ????? ????: "???? ???? ?????? ?????? ????? ?????- ? ??? ????????." Sprecherin 2 Dann kam das Jahr 1924. In den tiefsten Schichten meines Gedächtnisses tauchen das Bild der weinenden Mutter und die Worte des Vaters auf: "Deine Schwestern sind dir lieber als deine Familie - ich werde mich ertränken." Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ? ? ???? ???? ? ?????? ???????? ?? ??? ? ?????? ? ???????: "???? ?? ????, ???? ?? ????!" Sprecherin 2 Und ich sehe mich und meinen Bruder Boris weinend und schreiend hinter ihm herlaufen: "Papa nein, Papa lass es!" Das alles geschah wegen der Absage des Visums nach Amerika. Mutter war verzweifelt, wochenlang. Alle ihre Schwestern, vier an der Zahl, waren bereits emigriert, sie sollte mit der Familie nachkommen. Wir saßen bereits auf den Koffern und besaßen sogar die so genannte "Schifkarta", ein großes Blatt Papier mit dem Bild eines Ozean-Dampfers darauf. Ich sehe es immer noch deutlich vor meinem geistigen Auge. Doch dann erließen die USA ein neues Gesetz, das die Einwanderung aus der Sowjetunion unterband. "Amerika hat die Tore aus Angst vor bolschewistischer Seuche geschlossen." Diese Worte des Vaters blieben mir im Gedächtnis. Genauso wie ein Trotzki-Porträt an irgendeiner Wand und der Tag, an dem Lenin beerdigt wurde. Ich erinnere mich noch an den Umzug in das neue Haus, ein paar Jahre später. O-Ton 5 Irina Rogosa (I-14.34-16.05) Das war ein Steinhaus. Ein Steinhaus, ein kleines, nicht so groß. Nicht direkt an der Straße, sondern im Hof... Mein Vater... Er macht selbst Wein aus Weintrauben. Und dann haben wir noch eine Kuh gehabt... Habe ich Angst gehabt vor dieser Kuh (Lacht) Habe ich alles gemacht zuhause was man muss machen. Aber zu der Kuh konnte ich nicht. Ich habe Angst gehabt... Auch Schweine gehabt. Mein Vater hat alles selbstgemacht. Diese Wurst und Salceson. Und alles, alles. Ein halbes verkauft und kauft neue kleine Schweinchen... Autor Mein Großvater, Jakob Rogosa, war Handwerker, hat als Glaser und Müller gearbeitet. O-Ton 6 Rogosa (II-0.20-0.43) Von meinem Vater der Vater, das Interessante ist, er hat 20 Kinder mit 3 Frauen und alle Mädchen, nur mein Vater war der Kleinste und ein Junge. Sonst alle Mädchen, 20 Kinder. Autor Als junger Mann war mein Großvater für die Sozialrevolutionäre politisch aktiv, wie mir meine Mutter erzählte, eine linke nicht-marxistische Partei. Nach dem Ausbruch der Revolution schloss er die Mühle auf, wo er gearbeitet hatte und verteilte Mehlsäcke an die Bevölkerung. Meine Mutter erzählte diese Geschichte stets mit einem gewissen Schalk; denn diese Mühle gehörte seinem Schwager, dem Mann seiner Schwester. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki zog er sich aus der Politik zurück. O-Ton 7 Rogosa (II-1.24-2.25) Der Vater hat mit 9 Jahren, setzt er sich auf ein Schwein und mit dem Schwein gleich in die Synagoge! Und das war so schrecklich. Da hat ihn der Opa weggeschmissen. Und er war bei der älteren Tochter, bei meiner Tante aufgewachsen. Das war damals etwas Schreckliches, mit einem Schwein in die Synagoge... Meine Eltern waren nicht religiös, mein Vater geht in die Synagoge, um einen Komplizen zum Schach spielen zu finden. Einspiel Musik 2 (Lustiges russisch-jüdisches Lied über einen Rabbiner aus Kachowka) https://youtu.be/yEg4nntB4Sk Autor 1973 konnte meine Mutter mit mir und meinem älteren Bruder die Sowjetunion verlassen und landete eher zufällig als gewollt in Deutschland. Sie arbeitete mehrere Jahre als Internistin in einem Krankenhaus in Bayern bevor sie in Köln in den Ruhestand ging. Hier ist sie auch begraben. Ihre Enkelkinder sind in Köln geboren, haben deutsche Mütter. Doch die schicksalhafte Beziehung zu Deutschland und den Deutschen für die Familie Rogosa begann noch im ersten Weltkrieg, als deutsche Soldaten 1918 im Hause meiner Großeltern einquartiert wurden. Sprecherin 3 Nach dem Putsch der Bolschewiki im Oktober 1917, später von den Sowjets "Große Oktoberrevolution" genannt, erklärte die ukrainische Volksvertretung in Kiew - die Zentralna Rada - die staatliche Unabhängigkeit. Im Februar 1918 unterzeichnete sie in Brest-Litovsk mit den Mittelmächten den sogenannten "Brotfrieden". Deutschland und Österreich-Ungarn erkannten die Ukraine als unabhängigen Staat an und verpflichteten sich, militärischen Beistand gegen die Bolschewiki zu leisten. Doch der Preis war hoch. Als Gegenleistung musste die Ukraine innerhalb von 6 Monaten eine Million Tonnen Getreide, 50 000 Tonnen Rinder, 400 000 Eier und diverse Rohstoffe liefern. 750 000 deutsche und österreichisch-ungarische Soldaten marschierten in die Ukraine ein. Am zweiten März 1918 erreichten die deutschen Truppen Kiew, wenige Wochen später auch Kachowka. Für die ukrainischen Bauern war die deutsche Besatzung eine Katastrophe. Die brodelnde Stimmung auf dem Land brachte der Schriftsteller Michail Bulgakow in seinem Roman DIE WEISSE GARDE auf den Punkt. Zitator (Bulgakow) Es gab 400000 Deutsche und um sie herum 40 mal 400000 Bauern, in deren Herzen grenzenlose Wut brannte. Oh, viel, sehr viel hatte sich in diesen Herzen angesammelt: Stockschläge ins Gesicht, Schrapnellfeuer gegen unbeugsame Dörfer, und auch Bescheinigungen auf Papierfetzen, geschrieben von der Hand der Majore und Leutnants der deutschen Armee: "Das russische Schwein erhält für das bei ihm gekaufte Schwein 25 Mark." Und das gutmütige, geringschätzige Lachen über die, die mit solchen Bescheinigungen zum Stab der Deutschen in die Stadt kamen. Und die requirierten Pferde, das beschlagnahmte Getreide... Das gab es alles. Sprecherin 3 Zuständig für die deutsche Politik in der Ukraine war der spätere Innenminister der Weimarer Republik Generalleutnant Wilhelm Groener. Als Chef des Generalstabs war er für politische und wirtschaftliche Fragen verantwortlich. Bei einem Vortrag in Kiew vor deutschen Offizieren sprach er unmissverständlich über die deutschen Kriegsziele. Zitator (Groener) Wir müssen uns ein großes Wirtschaftsgebiet schaffen, aus dem wir Nahrung ziehen können. Aber nicht nur Getreide. Das ist nicht das Einzige, sondern ungeheuer viel anderes kommt noch hinzu. In diesem Sinne ist die Ukraine ein von uns besetztes Land... Die Ukraine bildet gegenwärtig nichts anderes als ein vermehrtes deutsches Wirtschaftsgebiet... Also, weshalb wir hier sind, ist ganz klar. Weil wir die Produkte gebrauchen zur Kriegsführung. Sprecherin 3 Doch die Deutschen brachten auch im gewissen Maße Recht und Ordnung in die Ukraine. Ihre Anwesenheit schützte die Juden - in der Mehrheit Handwerker und Händler, vor Pogromen, die in diesen Jahren an der Tagesordnung waren. Vor allem umherziehende Banden, die zaristische Weiße Armee und die ukrainischen Nationalisten waren für über 1000 Pogrome verantwortlich, bei denen zwischen 1918 und 1920 bis zu 150 000 Juden ermordet wurden. Als die deutschen Truppen nach der Kapitulation an der Westfront schließlich im Dezember 1918 auch aus der Ukraine abzogen, schrieb der Schriftsteller Michail Kolzow in der Zeitung "Svobodnye mysli": Zitator (Kolzow) Wir verabschieden die Deutschen schweigend. Huldigungsrufe wird es nicht geben; sie waren düstere und unfreundliche Gäste. Aber auch Schmähungen wird es nicht geben; denn wenn sie auch mit der einen Hand unser Brot wegnahmen, haben sie mit der anderen, der bewaffneten Hand, unsere Häuser und Portemonnaies geschützt, unseren friedlichen Schlaf in den ruhigen Straßen bewacht. Wir versprechen nur eins: wir werden uns lange an sie erinnern. Autor Meine Großeltern erinnerten sich sehr lange an die Deutschen, 23 Jahre lang. Es war eine gute Erinnerung. Die einquartierten Soldaten in ihrem Haus waren einfache Leute gewesen, die sich sehr freundlich und korrekt verhalten haben. Deshalb sind meine Großeltern im Zweiten Weltkrieg nicht geflohen, als die deutschen Truppen auf Kachowka vorrückten. O-Ton 8 Rogosa (II-5.46-6.57) Ja, sie wollen nicht evakuieren... weil 1918 waren auch Deutsche aus Deutschland und die waren auch als Quartier... stationiert... Und sie waren so nett und so gut und meine Eltern sagten wieso sollen wir evakuieren. Wir sind keine Kommunisten, wir sind einfache Leute. Und die Deutschen sind nett und wir brauchen nicht zu evakuieren. Und wir Kinder waren nicht dort. Und keiner konnte genau sagen was kommt später, und sie sind geblieben. MUSIK Sprecherin 1 (Rogosa (R.) aus dem Tagebuch) ????? ???, ???? ???????? ???? ?????????? ? ????????? ?????. ????????: "???? ???? ????? ????, ? ???? ???? ????????." ??? ?? ???? ????? ?????????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Ich erinnere mich daran, wie mein Bruder Boris mich überredete , mich in der jüdischen Grundschule anzumelden. Sein Argument: "Wenn du zusammengeschlagen wirst, kann ich dich verteidigen." Das klang sehr überzeugend, und ich ging mit ihm dahin und wurde sofort in die zweite Klasse aufgenommen. Sprecherin 3 Es gab ein kurzes Zeitfenster in der jungen UdSSR, wo die nationalen Minderheiten gefördert wurden. So wurde zum Beispiel die jüdische Schule in Kachowka 1926 ins Leben gerufen und 1938 wieder geschlossen. Sprecherin 1 (Rogosa (R.) aus dem Tagebuch) ????? ?? ?????? ?? ????? ?????? ??????? ? ????? ? ????????? ???????. ??????? ???? ??? ???????? ???. ???????, ???????! Sprecherin 2 (Rogosa (D.) aus dem Tagebuch) Auf meinem Schulweg saßen oft ein Mädchen und ihre Mutter und verkauften Sonnenblumenkerne. Immer wenn wir an ihnen vorbeigingen, hänselte das Mädchen uns und rief: "Saujuden! Saujuden!" Eines Tages saß sie dort ohne ihre Mutter, und da habe ich die Gelegenheit ergriffen, bin zu ihr hingerannt und habe sie verprügelt. Sie begann zu schreien und rief nach der Mutter. Doch bis die angelaufen kam, war ich schon weit weg. Das Glücksgefühl über die kleine Rache blieb für immer in meinem Gedächtnis. Papier 1928. Vor dem Haus sitzt meine Cousine auf den Koffern, ein Mädchen in meinem Alter. Sie sind enteignet worden und werden irgendwohin deportiert. Warum? Weil sie der Bourgeoisie angehörten. Papier Sommer 1931. Vater ist verhaftet worden. Ein Nachbar schwärzte ihn wegen angeblichen Goldbesitzes an (die Bürger mussten ihr Gold an den Staat abgeben). Dank Moissey (mein zweitältester Bruder), der den Militärdienst leistete und mit seinem Kommandeur sprach, wurde Vater freigelassen. Papier 1933. Schon wieder eine Hungersnot (künstlich herbeigeführt, wie sich später herausstellte). Mutter arbeitete im Hafen am Getreideheber. Ich sehe es vor meinen Augen, wie sie in Vaters Hose nach Hause kommt und die vorher an den Füßen zusammengebundene Hose auszieht. Daraus fällt Mais, den Vater später in der Mühle mahlte. Mutter kochte Polenta daraus. Die Abneigung vor Mais blieb mir lebenslang. Vor dem Hungertod haben uns die Lebensmittelpakete aus Amerika gerettet. Sprecherin 3 Nach Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften betrug die Übersterblichkeit während des Holodomor, der Hungerkatastrophe in den Jahren 1932-1933, die unter anderem im Zuge der Zwangskollektivierung entstanden war, fast 4 Millionen Menschen. Mehr als 10% der Gesamtbevölkerung starben, vor allem in ländlichen Gebieten an Hunger. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 1933 ???. ???????? ????????? 7-????? ? ????????. ???????? ?? ???????? ???????- ???????? ????????? ?????? ???????? ? ????? ????????? ????. ???? ??????????? ????? ??????, ????? ???????? ?? ????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 1933 beendete ich die jüdische Siebenklassenschule mit Auszeichnung und bekam von der Direktion ein Buch von Taras Schewtschenko als Geschenk. Ich war sehr stolz darauf. Finanziell ging es uns sehr schlecht, und ich begann am Getreideheber zu arbeiten. Brachte stolz meinen ersten Lohn nach Hause. Doch dann traf Mutter zufällig meine Lehrerin auf der Straße. Die Lehrerin war sehr enttäuscht: "Was?! Ihre Tochter ist so begabt. Sie muss unbedingt weiter lernen." Was ich dann auch tat. Ich ging in die achte Klasse auf die ukrainische Schule. MUSIK 1936 beendete ich die Zehnklassenschule. Ich wäre gerne auf eine Schauspielschule gegangen, aber es fehlte an Geld, um woanders hinzufahren und sich dort einzurichten, und zudem nahm keiner von den Erwachsenen Anteil an meinem Schicksal. O-Ton 9 Rogosa (I-6.28-7.00) Ich war noch als ganz junges Mädchen ein praktisches Mädchen und dann dachte ich... Ich wollte sein eine Sängerin. Aber ich dachte, eine Sängerin muss sein extra schön. und ich war nicht so extra schön. Und dann meine Mutter wollte auch, ich soll eine Ärztin sein, "Frau-Ärztin", sagt sie. Und das ist praktisch und ich bin sehr zufrieden, dass ich war Ärztin... Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 1936 ???. ??? ??? ?????? ?????? ??????????? ? ???????. ???? ????? ?????? ?????????? ? ????????? ??? ??? ???? ?????? ? ???? ? ??????? ? ?? ??? ???????? ??? ????????? (??????, ??????, ???? ? ??????). Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 1936: Wir waren die ersten Absolventen der Ukrainischen Zehnklassenschule. Ich hatte große Schwierigkeiten, mich auf die Prüfung vorzubereiten; Mutter besuchte Moissey in Luhansk und der ganze Haushalt (das Schwein, die Kuh, die Hühner und die Brüder) blieb an mir hängen, auch wenn der Vater natürlich geholfen hat. Und trotzdem hatte ich in allen Fächern "ausgezeichnet" (außer Physik und Zeichnen). MUSIK Bei den Prüfungen für das Medizinstudium half mir Boris mit Physik. Ich erinnere mich an die Freude, als ich meinen Namen in der Liste der angenommenen Bewerber fand. Von 4000 wurden 1000 angenommen, und von den 1000 haben nur 250 das Studium abgeschlossen. So wurde ich 1936 Studentin der Medizinischen Hochschule in Odessa, ohne eine Kopeke in der Tasche. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ????? ? ????????? ???????? ?????, ???????? ????????? 250 ??????. ???? ??? ? ????? ????????? ???? ?????? ??????????? ? ??????? ? ????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Das Studium fiel mir leicht. Ich bekam ein Stipendium - 250 Rubel. Einmal im Monat leistete ich mir eine Limonade und ein Stück Kuchen. Ich ging ins Theater und in die Oper, auf Kosten des Mittagessens, und meistens mit einer Clique von Kommilitonen. Ich hatte viele "Verehrer", aber meine Karten kaufte ich mir von meinem eigenen Geld. Man sagt, die besten Lebensjahre seien die Studentenjahre. Und das stimmt. Ich hatte keine Sorgen, viele Freunde und Bekannte, trat bei den Studentenabenden auf. Meine Stimme war sehr kräftig, aber sie war nicht ausgebildet, ich hätte daran arbeiten müssen. Eine Zeit lang besuchte ich in den freien Tagen das Konservatorium, hörte aber bald auf; denn Liebes - und Herzensangelegenheiten plus das Studium nahmen mich voll und ganz in Beschlag. Eines Abends, als ich sehr hungrig war (das kleine Stipendium war bereits aufgebraucht), schrieb ich einen Brief nach Hause: "Ihr esst bestimmt gerade einen Braten und ich sitze hungrig da..." Es tat mir sofort leid und ich wollte den Brief aus dem Postbriefkasten wieder rausholen, aber es war zu spät. Die Folge: drei Tage später kam meine Mutter, kaufte mir eine Schultasche und einen Schal, gab mir etwas Geld und das Leben machte wieder Spaß. MUSIK Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 1939 ??? ??? ??? ???? ????? ??????????- ? ????????? ( ?????? ? ????????? ???) . ?? ??????? ?? ??????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Das Jahr 1939 war das glücklichste in meinem Leben. Ich habe mich verliebt (das erste und letzte Mal). Er kam aus Leningrad. Autor Aus Erzählungen weiß ich, dass der junge Mann, ein Russlanddeutscher, Ingenieur von Beruf, mit seinem Motorrad die Ukraine bereiste. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ?? ????????????? ? ??????? ?? ?????. ? ???????? ?? ???????? ?????. ??? ???? ????? ?????? ??? ???? ?????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Kennengelernt haben wir uns in Kachowka am Strand (ich verbrachte die Ferien zuhause). Das war meine schönste Zeit. Er fuhr wieder weg, aber unsere Liebe kühlte nicht ab. Er besuchte mich in Odessa (ich fuhr in den Winterferien nicht nach Hause). Er wollte, dass ich mein Medizinstudium in Leningrad fortsetze, aber ich hatte Angst, dass das Studium dort schwieriger sein würde und beschloss, in Odessa zu bleiben, um das Studium dort 1941 zu beenden. Aber dann begann der Krieg. Es gab keinen Briefwechsel mehr. Nach dem Krieg suchte ich nach ihm, aber vergeblich. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ????? - ? ??? ????? ????? ??????????. ??? ?????, ?????, ??? ????? ?????? ??? ?????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Der Krieg begann und alles ging drunter und drüber. Das ganze Leben, die Träume, alles ging den Bach runter; keine Emotionen, alles in mir erstarrte, alles war mir egal. Evakuierung, Einberufung in die Armee, Arbeit in den Militärkrankenhäusern, flüchtige Begegnungen, Städte, Dörfer, später Deutschland. Sound Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 6 ????? ????, 22 ???? 1941 ????. ???? ? ??????? ? ???? ??????????? ???????? ?? ????????- ????????? ???????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 6 Uhr morgens, 22 Juni 1941. Ich liege noch im Bett, aber will aufstehen und mich weiter auf mein letztes Examen vorbereiten - Chirurgie, am 26.Juni. Die Mädchen, die mit mir das Zimmer im Studentenwohnheim teilen, schlafen noch, aber der Lautsprecher des Radios ist leise eingeschaltet. Und plötzlich ertönt die Stimme Levitans: " ...Die deutschen Truppen haben ohne eine Kriegserklärung unser Land überfallen..." Einspiel 6 Originalstimme Levitans: Kriegsbeginn https://youtu.be/kCpHy4HAYcc Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ???????? ??????. ???????????? ?????:???? ????????? ??????? ? ?????? ?????, ?? ?????? ????? ??????????? ? ???????? ? ??????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Ich verspüre keine Angst. Habe praktische Gedanken: ein Paket mit meinen Sachen nach Hause schicken, nicht vergessen mich von Manja und Bertha zu verabschieden. Der nächste Gedanke: "Zum Teufel mit der Chirurgie, ich fahre an den Strand. Und ich muss Ljusik, meinen Kommilitonen, zum Frühstuck einladen, er hat überhaupt kein Geld mehr. Die nächsten Tage - ein Gefühl der Ungewissheit. Aber ich habe bereits die Zuweisung in ein Krankenhaus im Donbass, in die kleine Stadt Krasnyj Lutsch. O-Ton 10 Rogosa (I-7.56-8.41) Das letzte Examen war schon am 29. Juni und am 22. Juni hat der Krieg angefangen. Das letzte Examen war schon im Krieg. Dann fahre ich noch drei Monate nach Donbass. Dort arbeitete ich schon als Ärztin. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 29 ????- ????????? ??????? ? ????????????? ??????? ?? ????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Am 29. Juni findet das letzte Examen statt in der Chirurgie-Klinik. Ich schaffe es gerade noch, im Sekretariat mein Diplom und den Dienstreiseschein zur Arbeitsstelle abzuholen und das Päckchen mit meinen Sachen nach Kachowka zu schicken. Mit einem kleinen Koffer in der Hand fahre ich am 1.Juli nach Krasnyj Lutsch. MUSIK Schreibe Semjon einen Brief, er solle den Eltern helfen, zu ihm zu kommen und fahre auch zu ihm. Keine Post von Boris und Moissey, ich weiß nicht was mit ihnen los ist. Auch aus Kachowka kommen keine Informationen. Vom Direktor des Krankenhauses erfahre ich, dass unser Krankenhaus sofort evakuiert werden soll. Ich bin noch geistesgegenwärtig genug, mir einen Glasballon mit Spiritus mitzunehmen, der uns später das Leben retten sollte, und fahre zu Semjon nach Lugansk. Man hört schon deutlich die Bombenexplosionen. Irina Borisowna (seine Frau) schlachtet noch ein Ferkel zum Mitnehmen. Der letzte Zug Richtung Osten war bereits abgefahren. Aber wir kommen mit einem Lastwagenfahrer ins Geschäft, der uns bis an die Wolga bringt. Dort fahren wir weiter mit dem Schiff, aber nach 24 Stunden war das Schiff im Flusseis eingefroren. Weiter fahren wir mit der Eisenbahn. Übernachten am Bahnhof (gut, dass wir Decken mithaben). Morgens, während wir unsere Sachen in den Zug (in die Viehwaggons) bringen, wird mir in dem ganzen Durcheinander mein Beutel gestohlen, mit allen Dokumenten und Fotoalben. Ich besitze nur das, was ich anhabe, Mantel, Stiefel. Mit den Lastwagen, die in die Richtung fuhren (Spiritus sei Dank!) und in den Viehwaggons erreichten wir endlich Taschkent. Die Behörde für Gesundheitswesen beorderte mich nach Tasch-Kumir als Leiterin der sanitär-epidemiologischen Station. Semjon blieb in Taschkent zurück in der Hoffnung eine Arbeit zu finden. Wegen seiner Augenschwäche konnte er nicht zum Armeedienst einberufen werden. Irina Borisowna und ich fuhren nach Tasch-Kumir. Dort wurden wir vom Vorsteher der Siedlung - einem sympathischen Kirgisen (oder Usbeken) empfangen, der uns persönlich in eine kleine Küche begleitete, wo wir uns niederließen (Wohnungen gab es nicht). Aber wir waren glücklich, so sehr, dass wir am Abend wegen Nichtigkeiten herzlich lachten. O-Ton 11 Rogosa (I-8.48-9.15) Und 43 hat man mich mobilisiert in die Truppen. Ich war in einem Hospital für Chirurgie. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ??????????? ?1943 ????. ????????? ? ?????? ?? ????? ????????????o????? ?????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 1943 Fortbildungskurs in Chirurgie in Moskau und die Einberufung zum Militärdienst an die Front. Ich erinnere mich an die Brennnesselsuppe, das Lazarett, die Umzingelung. Wir flüchteten in der Nacht zu Fuß; die Pferdewagen transportierten nur die Kranken und Verwundeten. 1943 Beginn des Feldzugs nach Deutschland, Polen (Peremyschl, Krakau). O-Ton 12 Rogosa (I-9.37-10.43) Ja, Ja, wir waren in Deutschland, in Ostdeutschland. Von Krakau, von Polen, fahren wir nach Dresden. Waren wir in Dresden. Schauen wir noch altes Dresden, eine so schöne Stadt. Und Berlin, Ostberlin. Und dann waren wir im Reichstag. O-Ton 13 Irina Rogosa (I-11.10-11.58) Und bei uns waren die deutschen Truppen, die deutschen Offiziere und Soldaten waren bei uns als Verwundete. Und ich hatte Dienst gehabt einmal und plötzlich ruft man mich zu diesen Soldaten. Einer war krank, ein Offizier war krank, ich hatte Dienst damals und ich komme. Und plötzlich: "Achtung" und ich habe mich so erschrocken! Ja, Ja. (Lacht) Musik Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ????? ?????????: ????? ????????. ? ??? ????????? ????? 1946 ???. ? ??? ? ???????? ?? ????? ????? ?????????????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Eine neue Passion: ein Major des Militärischen Nachrichtendienstes. Mit ihm feierte ich das Neujahr 1946. Mit ihm kam ich auch 1946 nach der Demobilisierung nach Lwiw. Er war verheiratet, aber er wollte sich scheiden lassen und fuhr zu seiner Frau. Ich hatte gedacht, dass er bei seiner Familie bleiben würde und lernte einen anderen Mann kennen (auch einen Major) und heiratete ihn. Doch der Andere kam zurück, nachdem er sich von seiner Frau hat scheiden lassen. Und da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, wie ein Mann weint. Er war verzweifelt, weil ich verheiratet war. (Hätte er wenigstens einmal ein paar Zeilen geschrieben, hätte ich natürlich auf ihn gewartet. Aber es kam nichts von ihm. Und als er zurückkehrte, war es zu spät.) (ZÄSUR) 1946 schrieb ich viele Briefe nach Kachowka, ohne eine Antwort zu bekommen. O-Ton 14 Irina Rogosa (II-7.31-8.15) Meine Eltern, man hat sie... ein alter Brunnen ohne Wasser, sehr tief und dann man hat sie lebendig eingeworfen in den Brunnen... Schreibmaschine Sprecherin 3: Aussage des Polizeioberwachtmeisters Richard Tögel, Angehöriger des Polizei-Batallions 9, Mitglied des Einsatzkommandos 10a. Zitator (Richard Tögel) Als weiteren Vorfall erinnere ich mich an eine Erschießung größeren Ausmaßes an einem Brunnen nah an Kachowka gelegen. Wir Schutzpolizisten wurden mit dem Mannschaftswagen zu diesem Brunnen hingefahren. Die Opfer, es waren mehrere hundert, können sogar an die tausend Männer und Frauen gewesen sein, wurden mit Lastwagen herangefahren. An Kinder kann ich mich im Augenblick nicht erinnern. Die herangebrachten Leute mußten sich etwa 100 Meter von dem Brunnen entfernt in eine vom Regen ausgewaschene Mulde legen oder knieen und mußten dort auch ihre Oberbekleidung ablegen. Es wurden immer so an die 10 Leute an den Brunnenrand gestellt und diese von einem gleichstarken Exekutionskommando, worunter auch ich war, von hinten erschossen. Die Leute stürzten nach Schußabgabe vornüber in den Brunnen. Es kam auch vor, daß einige aus Angst lebend hineinsprangen. Das Erschießungskommando wurde mehrfach ausgewechselt. Auf Grund der seelischen Belastung, der auch ich ausgesetzt war, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr sagen, wie oft ich an der Grube stand und wie oft ich zurücktreten durfte. Man kann sich ja vorstellen, daß diese Erschießungen nicht in der Ruhe vor sich gingen, wie man sie heute erörtern kann. Die Frauen schrien und weinten, ebenso auch die Männer. Teilweise gab es Ausreißversuche. Die Zutreiber schrieen ebenso laut. Wenn die Opfer nicht so wollten, wie sie sollten, gab es auch Schläge. Hierbei ist mir besonders ein rothaariger SD-Mann in Erinnerung, der immer ein Stück Kabel bei sich hatte, und wenn die Aktion nicht so lief, wie sie gehen sollte, damit auf die Leute einschlug. Vielfach aber kamen sie freiwillig zur Hinrichtungsstätte. Sie hatten ja auch gar keine andere Wahl. [...] An der Exekutionsstätte hat es grauenhaft ausgesehen. Am Brunnenrand befand sich eine Menge Blut, und es lagen wohl auch Hirnteile am Boden. Die Opfer mussten, wenn sie herangeführt wurden, da hineintreten. Aber nicht erst dort bemerkten sie, was ihnen bevorstand, sondern schon von ihrem Lagerplatz her konnten sie ja das Schießen und die Schreie hören. [...] Die Erschießung hat, bis das letzte Opfer im Brunnen war, einen knappen Nachmittag gedauert. Von dieser Exekution weiß ich noch genau, daß die SD-Leute hinterher besoffen waren, und daher eine Sonderzuteilung an Schnaps bekommen haben mussten. Wir Schutzpolizisten haben nichts bekommen, und ich weiß noch, daß wir uns darüber sehr aufgeregt haben. Autor Richard Tögel wurde für seine Verbrechen nie belangt. Das Verfahren gegen ihn wurde am 19. Mai 1965 eingestellt. O-Ton 15 Irina Rogosa (II-8.24-9.57) Hinter der Stadt, hinter der Stadt, aber ich war nicht dort, ich konnte nicht... Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 1946. Zusammen mit meinem Ehemann fahre ich nach Kachowka, beide haben wir noch unsere Uniformen an. Als erstes gehe ich zu unserem Nachbarn Onkel Kostja - so nannten wir ihn als Kinder. Er arbeitete als Karten- Kontrolleur im Freilichtkino, das sich in unserem Hof befand, und ließ uns Kinder immer ohne Geld zu den Vorführungen. Er erzählt uns, dass der ukrainische Polizist, der meine Eltern abgeholt hatte, inzwischen in einem Strafbataillon getötet worden sei. Aber seine Familie wohne jetzt in unserem Haus. O-Ton 15 Irina Rogosa (II-8.24-9.57) ... Ich komme noch nach Kachowka und ich sehe noch die Familie von diesem Polizist wohnt in unserem Haus. Nachdem sie von meiner Ankunft in Kachowka gehört hatten, hängten sie noch schnell unser Familienfoto über dem Bett auf. O-Ton 16 Irina Rogosa (II-8.24-9.57) Und ich war so böse, dass ich wollte, ich sage ich wohne schon in Lwow, aber ich sage ich bleibe hier in meinem Haus (und warf alles weg durch das Fenster)... Sprecherin 2 Ich weinte nicht. Der Wunsch nach Rache überwältigte mich. O-Ton 16 ...und dann warf ich alles was ich konnte aufheben warf ich alles vom Bett und ich warf den Stuhl warf ich durch das Fenster. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Es nieselte, und ich warf unaufhörlich die Sachen auf die Straße und sagte, dass ich jetzt hier wohnen bleibe. Nachdem ich erklärte, dass ich das Haus, in dem ich unsere Sachen gefunden hatte, anzünden werde, bekam mein Mann Angst und ging zum Schiffsanleger. O-Ton 17 Irina Rogosa (II-8.24-9.57) Und die Mutter schreit und sie sagt der Tochter;" Ruf die Polizei!" Dachte ich, man muss wegfahren, das kann nicht gut sein, dann bin ich weggefahren (lacht) Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Ich beruhigte mich etwas und ging auch zur Anlegestelle. Wir fuhren weg und ich kehrte nie wieder nach Kachowka zurück. Musikakzent Sprecherin 3 20 November 1941. Befehl des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein an die 11. Armee, die unter anderem in der Südukraine, also auch in Kachowka im Einsatz war. Zitator (von Manstein) Seit dem 22.6. steht das deutsche Volk in einem Kampf um Leben und Tod gegen das bolschewistische System. Dieser Kampf wird nicht in hergebrachter Form gegen die sowjetische Wehrmacht allein nach europäischen Kriegsregeln geführt. Auch hinter der Front wird weiter gekämpft... Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für allemal ausgerottet werden. Der deutsche Soldat hat daher nicht allein die Aufgabe, die militärischen Machtmittel dieses Systems zu zerschlagen. Er tritt auch als Träger einer völkischen Idee und Rächer für alle Grausamkeiten, die ihm und dem deutschen Volk zugeführt wurden, auf... Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen. Sie ist auch notwendig, um alle Erhebungen, die meist von Juden angezettelt werden, im Keime zu ersticken." Sprecherin 3 Von Manstein wurde 1949 als Kriegsverbrecher zu 18 Jahren Haft verurteilt, doch bereits 1953 wieder freigelassen. Danach war er als inoffizieller Berater der Bundesregierung bei der Aufstellung eines neuen Heeres für die Bundeswehr tätig. 1973 starb von Manstein und wurde mit militärischen Ehren beigesetzt. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch ????? ??? ? ???? ????? ?????, ??? ??? ?????????, ?????????? ? ????. ? ??? ??? ? ??? ?????? ?? ????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Onkel Kostja erzählte noch, dass Boris bei ihnen in einer Nacht vorbeischaute. Sie gaben ihm neue Kleider und zu essen, danach ging er. Das war das letzte was ich über meinen Bruder hörte. Sein Schicksal blieb unbekannt. Autor 2008, ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter reiste ich mit meinem älteren Bruder Boris, der nach diesem Onkel benannt ist, nach Kachowka, wir fanden heraus, dass Boris Rogosa im Herbst 1941 mit einigen anderen gefangenen Rotarmisten dort von den Faschisten erschossen wurde. Was wollte er da? War er von seiner Einheit desertiert, um die Eltern zu retten? Sie waren zu der Zeit bereits umgebracht. Hat ihn ein Nachbar beobachtet und verraten? Ist er in der Nacht auf eine Patrouille gestoßen? Diese Fragen können nicht mehr beantwortet werden. Auch mein Onkel Moissey überlebte den Krieg nicht. Er wurde zur Roten Armee eingezogen und gilt als verschollen. Sprecherin 2 Jetzt, wo ich meine Lebensgeschichte abschließend betrachte, möchte ich hervorheben, dass ich mit 22 Jahren völlig alleine blieb; ich verlor Vater, Mutter, zwei Brüder und das Zuhause. Aber ich hatte meinen Arzt-Beruf, der mir das Leben rettete. Steppenwind Autor An dem Brunnen, wo meine Großeltern mit etwa 1000 anderen Menschen getötet wurden, war eine Gedenktafel angebracht. Mein Bruder und ich legten nach einer jüdischen Tradition kleine Steine auf das Massengrab und lasen von einem Blatt Kaddisch, das Totengebet ab, begleitet von einem heftigen Steppenwind. Zwei nichtgläubige Juden, lesen am Tötungsort ihrer nichtgläubigen Großeltern ein Gebet, dass nach religiöser Vorschrift nur in Anwesenheit von mindestens 10 anderen jüdischen Männern gesprochen werden darf. Der jüdische Gott, falls es ihn gibt, dieser Gott, der den Zweiten Weltkrieg zugelassen hatte, wird deswegen sicher nicht zornig werden. Sprecherin 3 2022 später rollen wieder Panzer durch Kachowka. Putins Armee überfällt die Ukraine, bombardiert Städte und Dörfer und führt einen gnadenlosen Kampf gegen die Zivilbevölkerung. Wieder finden unzählige unschuldige Menschen den Tod. Der aus Kiew stammende Michail Bulgakow schreibt 1923 in seinem Roman DIE WEISSE GARDE: Zitator (Bulgakow): "Im Schnee schleifende Mädchenzöpfe, Schusswunden, wildes Tiergeheul in der Nacht, Frost... Ja das alles war gewesen. Aber wozu war es gewesen? Niemand kann das sagen. Wird jemand für das vergossene Blut zahlen? Nein, Niemand. Der Schnee wird tauen, das grüne ukrainische Gras wird wachsen und die Erde bedecken, die Saaten werden üppig aufgehen, darüber werden Hitzewellen flimmern, und kein Blut wird zu sehen sein. Das Blut ist billig auf diesen rotgoldenen Feldern, und niemand wird dafür zahlen. Niemand. Sprecherin 1 Rogosa (R.) aus dem Tagebuch 1946 ???, ??????? ? 7-?? ???????????. ?? ? ????? ?????????? ??? ??? ??? ????????? ? ?????? ?? ??????. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch 1946 arbeitete ich in Lwiw (Lemberg) in der Poliklinik Nr.7. Mein Mann wurde nach Rostow versetzt, und wir trennten uns. Somit schaffte ich es innerhalb eines Jahres, zwei mir nahe stehende Menschen zu verlieren, aber es hat mich nicht sehr traurig gemacht; ich war jung und hatte für sie keine tieferen Gefühle. Danach hatte ich einige flüchtige Begegnungen, aber keine Liebe. Die Hauptsache war: ich sang. Und ich sang gut - so sagte man. Ich begann bei einer polnischen Schauspielerin Unterricht zu nehmen. Sie behauptete, dass ich in drei Jahren den Beruf der Ärztin gegen den Beruf der professionellen Sängerin tauschen könnte. Aber sie wanderte bald nach Polen aus. Autor Ich erinnere mich als kleines Kind, wie meine Mutter bei Festen und Feiern russische, ukrainische und jiddische Lieder sang. Dieses Lied, vor allem die erste Strophe davon sang sie besonders gefühlvoll. Musik Russisches Ruderboot Lied Autor "Wir fuhren mit einem kleinen goldfarbigen Ruderboot spazieren, doch ruderten wir nicht, sondern küssten uns", heißt es in dem Lied. Ihre Augen bekamen, für mich als Kind einen rätselhaften, sehnsüchtig-verträumten Ausdruck, wenn sie das Lied sang. Erst als ich ihre Aufzeichnungen gelesen hatte, begriff ich, an was und an wen sie bei diesem Lied dachte. Sprecherin 2 Rogosa (D.) aus dem Tagebuch Vor allem an das Negative erinnere ich mich sehr klar und deutlich. Und nur ein einziger schöner Augenblick hat sich ähnlich stark in mein Gedächtnis eingebrannt: Kachowka. Ich bin 20 Jahre alt. Meine erste (und letzte) Liebe. Wir wollen in ein Ruderboot steigen und er hebt mich, als würde ich nichts wiegen, in seine Arme (er war groß und kräftig) und lässt mich im Boot herunter. Ich war glücklich mit ihm, aber dieser Moment, dieser Augenblick war der glücklichste in meinem ganzen Leben Musik Russisches Ruderboot Lied Absage Ich war ein praktisches Mädchen Das ukrainische Tagebuch meiner Mutter Ein Feature von Mark Zak O-Ton 18 Rogosa (I-9.37-10.43) Und Berlin, Ostberlin. Und dann waren wir im Reichstag und dann nehmen mich die Soldaten nach oben und ich schreibe noch meinen Namen und Vornamen, am Reichstag, war ich noch dort... und... Jetzt ist natürlich alles weg (lacht). Absage Es sprachen: Margarita Breitkreiz, Winnie Böwe, Daniel Minetti und der Autor Ton und Technik: Andreas Stoffels Regie: Friederike Wigger Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022. 2