Hörspiel Feature Radiokunst Und am Donnerstag war dann Krieg Russlands Angriff auf die Ukraine Autorin: Inga Lizengevic Regie: Inga Lizengevic Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/ORF 2023 Erstsendung: Dienstag, 21.02.2021, 19.15 Uhr Es sprachen: Imogen Kogge, Meriam Abbas, Alexander Khuon, Ole Lagerpusch, Martin Seifert und die Autorin Ton und Technik: Alexander Brennecke Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: "Es hat angefangen." Das hat mein Mann in der Früh gesagt. Wie bitte? Was meinst Du? - "Russland bombardiert die Ukraine." - Ich bin sofort wach. Seit Monaten werden die Truppenbewegungen an der Grenze beobachtet. Der Krieg im Osten läuft schon seit 2014. Doch seit heute ist alles anders. Außerdem muss ich dringend meine Eltern rausholen. Die leben in Kyiv. Atmo 1 Luftalarm Sprecherin 2 Und am Donnerstag war dann Krieg Russlands Angriff auf die Ukraine Ein Feature von Inga Lizengevic Autorin: Ich telefoniere mit Freunden, Bekannten, Verwandten, meinen Eltern. Ich versuche die Lage einzuschätzen. Als Journalistin habe ich schon oft aus der Ukraine berichtet. Privat war ich dort häufig zu Besuch. Autorin Zuletzt erst drei Wochen vorher, Anfang Februar 2022. Mit den Nachbarn habe ich geschaut, wo man bei Luftalarm Unterschlupf finden kann. – Jetzt gerade ist Luftalarm. O-Ton 1 Sprecherin 1 Ingas Mutter 01:05 Wir haben uns vorher noch über diese Luftschutzbunker lustig gemacht. Autorin Das ist meine Mutter. O-Ton 2 Sprecherin 1 Ingas Mutter Und als ich das erste Mal da runter gegangen bin… Es ist halt ein Keller. Wie lange kann man da bleiben? Fünf Minuten? Zwölf Minuten? Einige Frauen haben Stühle mitgebracht. Eine hat einen Stuhl, neben ihr einen zweiten. Den hat sie wohl für jemanden aus ihrem Haushalt mitgebracht. Sie zu mir: setzen sie sich. Ich: der ist wohl für jemand anderen gedacht. Sie: Erstmal können sie darauf sitzen. Ich habe mich gesetzt. Dann sitze ich da und denke: und wie lange soll das so gehen? Wie lange muss ich hier sitzen? Nach einer Weile bin ich gegangen. Nach oben. Wir sind im Hof herumspaziert. Als ob es im Hof weniger gefährlich wäre... Wir hatten eben keine Erfahrung... Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Russlands Raketen kommen aus drei Richtungen: aus Russland, von der Krim und aus Belarus. Von dort fahren auch russische Panzerkolonnen Richtung Kyiv. Russische Kampfhubschrauber setzen Fallschirmjäger im Umland ab, der Militärflughafen Hostomel wird eingenommen, um Truppen und Ausrüstung für die Eroberung der Hauptstadt heranzuschaffen. Hostomel ist nur 30 km nordwestlich vom Stadtzentrum Kyiv entfernt. Wie kann man sich auf einen Großangriff mit Bomben, Raketen, Fallschirmjägern und Bodentruppen angemessen vorbereiten? Geht das überhaupt? O-Ton 3 Lena Chychenina Sprecherin 2 Man kann sich nicht zu 100 Prozent vorbereiten. Du weißt nie genau, was passieren wird, und was du brauchst. Autorin: Das ist Lena Chychenina. Wir kennen uns seit 2014. O-Ton 4 Lena Chychenina Sprecherin 2 Aber schließlich haben die wichtigsten Sachen doch funktioniert. Zum Beispiel habe ich ein paar Tage vorher ein Radio mit Batterien gekauft. So ein analoges Gerät. Für den Fall, dass die Internet-Verbindung gedrosselt wird. Genauso kam es auch. Das Radio war nützlich. Leider hatte ich zu wenige Batterien. Ich hatte einen Notfallrucksack mit Bargeld, Bankkarten, Papieren, Powerbanks, Wasser, haltbarem Essen. Der Rucksack stand noch nicht mal einen Monat lang in meiner Küche. Autorin: Tutorials zum Thema Notfallkoffer habe ich auch auf Youtube angeschaut. Meine Eltern wollten sie nicht sehen. O-Ton 5 Sprecherin 1 Ingas Mutter Notfallkoffer haben wir nicht gepackt. Und das Auto – wir hatten verabredet, dass wir – falls es los geht - mit dem Auto fahren... Ich bin zu Fuß zur Tankstelle, um zu schauen, ob ich da tanken kann. Die Schlangen waren sofort riesig. Ich dachte ich warte ein bisschen und tanke später in Ruhe. Autorin: Dabei hatten wir das anders besprochen. Aber vielleicht war es auch gut, dass das Auto nicht vollgetankt war, und meine Eltern nicht sofort los gefahren sind. Denn es war voll auf den Straßen Richtung Westen. Und gefährlich. O-Ton 6 Sprecher 1 Ingas Vater Ich wollte nicht wahrhaben, dass Krieg ist. Ich bin mit der Metro zur Uni gefahren. Autorin: Typisch mein Vater. Er denkt nur an die Arbeit. Mein Vater ist Theaterregisseur, meine Mutter Schauspielerin. Zuletzt haben die beiden in Kyiv Schauspiel unterrichtet. O-Ton 7 Ingas Mutter Sprecherin 1 Damals sollten unsere Diplominszenierungen gespielt werden. Wir hatten an der Uni Plakate aufgehängt. Am Mittwoch waren Durchlaufproben, es lief gut. Wir hatten nicht das Gefühl, dass Krieg sein könnte. Das war dumm. Wir hatten keine Angst – weder ich noch die Studierenden hatten das Gefühl, dass uns so etwas bevorsteht. Wir hatten Pläne. Große Pläne... Autorin Und am Donnerstag war dann Krieg... O-Ton 8 Ingas Vater Sprecher 1 Auf dem Rückweg war die Metro geschlossen... also bin ich zu Fuß zurück... Der Siegesprospekt ist mehrspurig, in der Mitte durch eine Leitplanke geteilt. Rechts ist Verkehr, links ist es leer. Raus aus der Stadt stehen Autos im Stau, kaum Bewegung. Rein fahren nur vereinzelte leere Busse... Wusch... und aus. Alle fünfzig bis hundert Meter gibt es Grüppchen von jungen Leuten mit kleinen Koffern, Rucksäcken. Langsam wird mir klar, dass die an die Front gehen. Von ihnen ging so eine Stille aus. Sie waren nicht traurig oder so, sie unterhielten sich, sie rauchten... aber von ihnen ging diese Stille aus... Ich habe angefangen, sie genauer anzuschauen. Ich kann mich an jeden einzelnen erinnern: ihre Gesichter, ihre Koffer, ihre Rucksäcke... Ich gehe weiter. Die leeren Busse – wusch. Und dann die Tankwagen, militärisch... riesig... nicht grün, sondern bräunlich... Ich gehe weiter... Und langsam fange ich an zu verstehen, dass etwas Gefährliches passiert... man ist so drin in dieser stillen Stille... Das war der erste Tag. O-Ton 08a Ingas Mutter Sprecherin 1 Als an der Grenze diese ganzen Streitkräfte und die Technik versammelt wurden. Wir haben es ja verfolgt... Es war doch klar wofür die Technik und die Streitkräfte an der Grenze stehen... Aber andererseits konnte man es gar nicht glauben. Das Bewusstsein weigerte sich, es zu verstehen. Es schien unmöglich... Aber als die Russen Blutkonserven an die Grenze gebracht haben – da bekam ich ein ganz mulmiges Gefühl.... Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Ausländische Nachrichtendienste haben den Angriff Russlands vorhergesagt. Seit Dezember rät die deutsche Botschaft von Reisen in die Ukraine ab und empfiehlt das Land zu verlassen. Die Botschaften der EU-Länder und der USA sind geschlossen. Seit Anfang Februar werden die westlichen Diplomaten nach und nach abgezogen. Putin erkennt per Dekret die sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine an. Am Nachmittag des 23. Februar verlassen auch die russischen Vertreter ihre Botschaft in Kyiv. Und trotzdem kommt der Angriff überraschend. O-Ton 08b Ingas Mutter Sprecherin 1 Um vier Uhr schliefen wir noch. Wir sind gegen sieben wach geworden. Als erstes habe ich Nachrichten angemacht. Und da habe ich gehört, dass Krieg ist. Es war vorhersehbar, aber es war unmöglich sich das vorzustellen. Dieses Wort: Krieg. Ich habe immer noch Angst es auszusprechen. O-Ton 10 Lena Chychenina Sprecherin 2 Ich habe Nachrichten geschaut. Stimmt, es ist Krieg. Ich habe Geräusche gehört und aus dem Fenster geschaut. Auf der Straße war bereits Stau. Autorin: Lena wohnt in Bucha, damals noch ein unbekannter Vorort von Kyiv, nur 30 km von der Hauptstadt entfernt. Der umkämpfte Flughafen Hostomel liegt ganz in der Nähe. O-Ton 10 Lena Chychenina Sprecherin 2 Meine Nachbarn haben Sachen zum Auto getragen. Die Menschen waren vorbereitet. Sie haben Sachen, Kinder und Haustiere eingepackt und sind losgefahren. Ich habe mich entschlossen, zu bleiben. Musik Volodymyr spielt Musik O-Ton 11 Volodymyr: Sprecher 2 In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar haben wir gejammt. Autorin: Das ist Volodymyr. 2018 habe ich ihn in einer Selbsthilfegruppe für Kriegsveteranen kennengelernt. Atmo Luftalarm O-Ton 12 Volodymyr: Sprecher 2 Da war noch ein Bekannter mit seiner Freundin, Patrizia. Sie hat einen russischen Pass, lebt aber schon eine Weile in der Ukraine. Wir sitzen also da und unterhalten uns, und ich höre so ein Geräusch. Ich höre eine Explosion, ziemlich weit weg, aber in Kyiv. Ich denke, komm, das kann nicht sein. Das war nur ein Windstoß, ein starker Windstoß. Ich gehe kurz aus dem Zimmer, und als ich zurückkomme, sehe ich Riesentränen auf Patrizias Gesicht. Alle sitzen völlig schockiert da. Was ist los? - Russland hat die Ukraine überfallen. Eine Großinvasion. Ich versuche, in den Nachrichten Orientierung zu finden. Mir wird klar, dass ich nach Hause muss. Ich muss mit meinem Bruder sprechen. Wir waren 2014 und 2015 gemeinsam im Krieg. Wir müssen uns besprechen. Atmo Kyiv/ Krähen O-Ton 13 Alik 09:38 Sprecher 3 Am nächsten Tag sind wir in Kyiv angekommen. Es war ziemlich surrealistisch. Auswärts eine Schlange, 15 km Stau. Und rein fahren nur wir. Autorin: Das ist Alik. Er war gerade im Osten des Landes unterwegs, als der Großangriff begann. Ich habe Alik 2017 kennengelernt. Er war seit 2014 als Sanitäter an der Front. Nach seiner Rückkehr hat er sich einer Dokumentar-Theatergruppe angeschlossen und auf der Bühne von seinen Erlebnissen an der Front erzählt. O-Ton 14 Alik Sprecher 3 Da ich bereits gedient hatte, wollte ich wieder zur Armee. Vor dem Einberufungsamt gab es eine Wahnsinnsschlange, vielleicht an die tausend Personen. Die ganze Straße voll mit Menschen, die auf den Rücken anderer Papiere ausfüllten. Ich habe mir das angeschaut und bin nach Hause gefahren. Autorin: In Kyiv wird nach russischen Saboteuren gefahndet. In der Stadt gibt es Straßenkämpfe. Im Bezirk Obolon taucht ein russischer Panzer auf und überfährt einen PKW. Atmo: Luftalarm O-Ton 15 Ingas Vater Sprecher 1 Es hieß in den Nachrichten, wenn Luftalarm ist, sollte man sich im Luftschutzbunker aufhalten. Dann deine Anrufe: schnell in den Bunker. Ihr habt Luftalarm. Wir sind also in den Luftschutzbunker gegangen. Wir sind da eine Weile geblieben. Dann sind wir rausgegangen. Denn es war stickig. Viele Menschen. Enge. Also sind wir im Hof herumspaziert. Für den Fall, dass. Aber auch diesen Gedanken hatten wir nicht. Nach einer Weile sind wir dann nach Hause, zum Schlafen. Anruf: wo seid ihr?! Wir sind im Keller, alles gut… Autorin: Dass sie nicht im Keller sind habe ich schon begriffen. Ich sehe Nachrichten. Gefühlt die halbe Stadt verbringt die Nacht in den Kellern oder in der Metro. Für meine Eltern kommt das nicht in Frage. Vielleicht kann ich die Lage nicht richtig einschätzen? Mein Handy meldet Luftalarm, immer wieder. Meine App hält mich auf dem Laufenden. Am nächsten Morgen telefoniere ich wieder mit meinen Eltern: Was ist besser: fliehen oder abwarten? Ich schreibe Volodymyr. Atmo Kantine Autorin: Bei meinem letzten Besuch in Kyiv drei Wochen zuvor habe ich ihn gefragt, ob er mit einem Angriff Russlands rechnet... Wir hatten uns zum Mittagessen in einer Kantine getroffen. O-Ton 16 Volodymyr: Sprecher 2 Kennst du das? Du schaust ein Bild an und es gefällt dir eigentlich sehr gut. Aber mittendrin ist etwas, dass alles kaputt macht. Und du verstehst nicht, wozu das da hingemalt wurde. Genauso ist es in meiner Erinnerung. Hochhäuser mit gemütlichen Wohnungen, mit Aufzug. Man fährt runter, geht zur Arbeit. Autorin: Volodymyr studiert in Kyiv. Er wohnt im Vorort Hlevaha und fährt täglich in die Stadt. O-Ton 17 Volodymyr: Sprecher 2 Ich sehe diese Hochhäuser und ich stelle mir vor, da, in diesem Haus ist ein riesiges Loch. Drum herum liegen Ziegel. Das Haus wurde von einem Geschoss getroffen. Das gehört nicht in dieses Bild, aber ich sehe es in meinem Kopf. Und wenn ich durch Kyiv laufe und die Hochhäuser sehe, kann ich mir das ausmalen – diese Löcher in den Häusern... dass hier dasselbe losgeht, was in Donezk und Luhansk los war. Dieses Bild, dieser Gedanke: wie kann das sein? Das kann nicht sein... Wir gehen tanzen, essen, unterhalten uns... Wie kann hier ein Panzer auftauchen? Die Menschen dort, konnten sich das auch nicht vorstellen, und doch ist es passiert. Ich kann mir das auch hier vorstellen. Atmo Mari?nskyi Park 2018 / Rückblende Autorin: Ich erinnere mich an unser erstes Treffen in Kyiv. 2018. Damals sind wir im Mari?nskyi-Park stundenlang spazieren gegangen. Wir haben über den Krieg im Osten der Ukraine und seine Erlebnisse und Traumata gesprochen. O-Ton 18 Volodymyr: Sprecher 2 Ich hatte nicht vor da teilzunehmen. Warum sollte ich. Ich hatte damals noch nicht mal die Ukraine bereist. Ich bin nirgendwo anders als in Kyiv gewesen. Dann kam ein Einberufungsbescheid für meinen Bruder Sergey. Für meinen älteren Bruder. Und meine Mutter hat angefangen zu weinen und wurde ganz traurig. Und wenn ich auch keinen Grund sah für den Staat in den Krieg zu ziehen, so... uns wurde von Kindheit an immer beigebracht, dass wir zusammenhalten sollen. Also habe ich mich entschlossen... es war übrigens so, dass an einem Tag der Einberufungsbescheid kam und am nächsten Tag musste man schon los. Ich konnte das nicht so stehen lassen, ich meinte die Mutter soll nicht weinen. Ich habe meinen Bruder Sergey gebeten mir den Einberufungsbescheid zu zeigen. Ich habe die Nummer darauf angerufen und meinte, wenn ich mit meinem Bruder zusammen gehen kann, dann sollen sie mich auch nehmen. Er hat mich aufgeschrieben. Am nächsten Tag sind wir beide zusammen hin. Deshalb bin ich hin. Wegen meinem Bruder, nicht wegen der Ukraine. Autorin: Volodymyr hat 2015 den Kessel von Debaltsewe überlebt. Dank psychologischer Hilfe fand er wieder ins zivile Leben zurück. 2022 steht er kurz vor dem Abschluss seines Psychologiestudiums. O-Ton 19 Volodymyr: Sprecher 2 Meine Zukunftsperspektive ist jetzt versperrt. Ich versuche mir eine Perspektive auszumalen, und dabei wird mir klar, dass alles wieder so kommen kann wie damals. Ich bin zerrissen zwischen dem was ich will, und der Aussicht, dass ich vielleicht alles wieder hinschmeißen muss. Dass das alles womöglich keinen Sinn mehr hat, weil ich mir entweder eine Kugel einfange, oder mein Leben noch einmal völlig umkrempeln muss, falls ich noch einmal an Kämpfen teilnehmen sollte. Ich versuche mich zu beruhigen. Jetzt sind erst einmal andere an der Front. Wenn ein Einberufungsbescheid kommen sollte, werde ich überlegen wie ich damit umgehe. Wird es das friedliche Leben von dem ich träume, überhaupt noch geben, wenn ich nicht in den Krieg ziehe? Wenn ich sage, ich bin jetzt Psychologe, kein Soldat. Wenn jeder so denkt, herrscht hier bald Russland mit seinen Gesetzen. Würde mein Leben dann friedlich sein? Das würde mich doch von innen auffressen. Autorin: Ich frage Volodymyr nach dem Notfallkoffer. O-Ton 20 Volodymyr: Sprecher 2 Was den Notfallkoffer angeht – vielleicht liegt es an meinem Kriegstrauma, aber ich habe diesen Koffer nicht gepackt. Ich habe das Gefühl, alles was ich da einpacke, werde ich verlieren. Ich werde ein Maschinengewehr, Munition und eine Schutzweste bekommen – das wird mein Hab und Gut für die Zeit der Kämpfe. Atmo Ende / Wechsel aus der Rückblende Autorin: Drei Wochen nach diesem Gespräch ist tatsächlich Krieg in der ganzen Ukraine. In der Nacht gab es mehrere Explosionen. Ein Wohnhaus auf dem Lobonovskyi-Prospekt wurde von einer Rakete getroffen. Jetzt gibt es auch in Kyiv Löcher in den Häusern... Ich frage Volodymyr. Ist jetzt ein guter Zeitpunkt Kyiv zu verlassen? Oder lieber abwarten? Er antwortet, gestern eine Freundin gemeinsam mit ihrem Mann gefallen. Er würde jedem raten, die Stadt zu verlassen. Atmo: Alarm auf dem Handy / + Atmo von Berlin Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Mein Handy piept genau 16 mal, wenn es in Kyiv Luftalarm gibt. Manchmal passiert das draußen oder beim Einkaufen – mitten in Berlin. Inzwischen gibt es Evakuierungszüge Richtung Westen. Meine Eltern sollten aktiv werden und einen Zug nehmen. Doch den Vorschlag, ohne Tickets zum Bahnhof zu gehen, wischen sie weg. Ich versuche, online Fahrkarten zu bekommen. Richtung Westen, nach Lviv. Ich habe Glück. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich zwei Fahrkarten für den folgenden Sonntag, den 27. Februar. Die Eltern wollen nicht fahren. Und es gibt noch ein Problem: Bis Montag ist Ausgangssperre. Auf dem Weg von der Wohnung zum Bahnhof gibt es Straßenkämpfe. Busse und U-Bahnen fahren nicht mehr, auch keine Taxis. Atmo Ende / Luftalarm Autorin: Ich entschließe mich, wieder Kontakt zu Alik aufzunehmen. Alik schreibt, wir finden eine Lösung für deine Eltern. Ich frage Alik, wie man trotz Ausgangssperre zum Bahnhof kommt. Er antwortet mit einem Smiley. Ich solle mir keine Sorgen machen. Die Nachricht beruhigt mich, obwohl ich von Straßenkämpfen auch in der Gegend vom Haus meiner Eltern lese. Auch sie haben Schüsse gehört... O-Ton 21 Ingas Mutter Sprecherin 1 Im Hof konnte man so ein Klappen hören. Solche Geräusche, nicht laut. Von weitem klang es nicht schlimm. Wie nah das tatsächlich war, ist mir erst klar geworden, als ich neulich diese Doku gesehen habe. Es waren tatsächlich Straßenkämpfe. Kurz gesagt, haben wir das Ganze damals gar nicht begriffen. Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Bis Sonntag dauert es ewig. Ein Tag wie ein Monat. Fast stündlich Luftalarm. Ich bekomme Anrufe und Sprachnachrichten. Ich spreche mit Freunden und Bekannten. Ich telefoniere mit meinen Eltern. Sie ärgern sich über meine ständigen Anrufe. Ich hielte sie von wichtigeren Dingen ab. In den Tutorials wird erklärt, dass man nicht zu viel mitnehmen soll. Nur Wasser und die Papiere. Jetzt muss ich nur noch meine Eltern überzeugen, zuerst die Stadt und dann das Land zu verlassen. Sie haben immer noch ihre eigenen Pläne – fliehen gehört nicht dazu. In den ersten Kriegstagen haben viele so gedacht. Auch Lena Chychenina, die Kolumnistin aus Bucha. O-Ton 22 Sprecherin 2 Lena Chychenina : Ich wollte bleiben, weil ich die romantische Vorstellung hatte, als Journalistin muss ich hierbleiben und von hier berichten. Ich habe ernsthaft gedacht, ich könnte so etwas machen. Außerdem dachte ich wie viele Menschen, dass es peinlich sei zu fliehen. Man müsse bleiben und die Stadt schützen. Wir haben erst später begriffen, dass das Blödsinn ist, absolut irrational. Unter der Besatzung kannst du für dein Land nichts machen. Du wirst zur Geisel, du machst dem Militär Probleme. Unsere Armee konnte die russischen Panzer nicht bombardieren, denn im Ort gab es viele Zivilisten. Die Russen haben das verstanden und sich nah an den Häusern aufgestellt. Sie klebten regelrecht an den Wänden, und fuhren in die Höfe. Sie haben sich unter den Menschen versteckt, wohl wissend, dass sie hier in Sicherheit sind, und unser Militär sie nicht angreifen wird. Autorin: Im Nachbarshaus ihres Wohnblocks hat die lokale Territorialverteidigung einen Stützpunkt. Deshalb geht sie zu Bekannten, die weiter weg in einem Einfamilienhaus wohnen. Das erscheint ihr sicherer, außerdem gibt es da einen guten Keller. Dort wird sie die nächsten Tage bleiben. O-Ton 23 Lena Chychenina Sprecherin 2 Die erste Nacht war ich noch nicht im Keller. Ich konnte nicht einschlafen. Es gab mehrere Gründe dafür. Zum einen das Adrenalin. Man macht sich Sorgen. Zweitens die Explosionen. Wenn man den ganzen Tag lang Explosionen hört, stellt sich heraus, dass viele Alltagsgegenstände ähnliche Geräusche erzeugen. Zum Beispiel der Gaskessel. Er arbeitet die ganze Nacht. Er flammt auf und schaltet sich wieder ab. Die Geräusche gleichen den Explosionen. Du springst auf, weil du meinst, da explodiert etwas direkt vor deiner Nase. Autorin Danach hat Lena nur noch im Keller geschlafen. O-Ton 25 Lena Chychenina Sprecherin 2 Als es lauter wurde, sind wir in den Keller. Dann wurde es richtig laut. Die Kellertür fing an nachzugeben. Flammen kamen durch einen Spalt. Wir wussten nicht, was los war. Wir hatten das Gefühl, das etwas auf unsere Köpfe fällt. Wir kannten uns nicht aus und wussten nicht, welche Raketen wie klingen. Mittlerweile unterscheiden wir sie nach dem Geräusch. Wir saßen im Keller und draußen war Armageddon. Es dauerte ziemlich lange, ich glaube eine Stunde lang. Und als wir rauskamen haben wir gesehen, dass zwei Häuser weiter eine Panzer-Kolonne zerstört worden war - eine lange Straße voll mit zerschlagenen gepanzerten Fahrzeugen. Da drin waren Fallschirmjäger. Ich habe ein Video aufgenommen und gepostet. Die Fahrzeuge rauchten noch. Autorin: Alik meldet sich bei mir. Meine Eltern sollen bis zum Ende der Sperrstunde warten. Wenn sie vorbei ist, kann er sie zum Bahnhof bringen. Alles wird gut. O-Ton 25a Ingas Mutter Sprecherin 1 Wir haben Explosionen gehört, aber es klang so harmlos. Feuerwerk klingt schlimmer. Im Fernsehen wurde gesagt, dass es solche Markierungen gibt, die als Ziele für die Bomben dienen... Ich kann das immer noch nicht begreifen... Es hieß, wenn man solche Markierungen entdeckt, soll man sie beseitigen... Autorin: Ein paar Stunden später, kommt eine weitere Nachricht von Alik. Er selbst kann nicht kommen, er muss Verwundete evakuieren. Aber für uns ändert sich nichts. Meine Eltern werden von Aliks Freunden zum Bahnhof gebracht. Alik ist derweil in Hostomel. Die Ukrainer kämpfen um den strategisch wichtigen Flughafen, wo sich die Russen abgesetzt haben. O-Ton 26 Alik Sprecher 3 Als ich zum ersten Mal nach Hostomel kam, war ich geplättet. Ich war ja damals 2015 in Debalzeve und dachte, da hätte es heftigen Beschuss gegeben. Doch wenn man den Beschuss von einer ganzen Batterie 152er Haubitzen zum ersten Mal erlebt - da merkst du den Unterschied. Das, was 2014, 15, 16 war, kann man hiermit gar nicht vergleichen. Um Kyiv herum brannte alles. Städte, Dörfer... Man fährt durch die Nacht, und es ist taghell, denn alles brennt. Wir sollten ein paar Kameraden rausholen. Eine Drohne hatte sie entdeckt. Dann wurden auch wir von einer Drohne entdeckt und beschossen. Es gab keinen Kontakt, die Funkverbindung war komplett unterdrückt. Unsere Rettung war eine Nachricht über "Signal": Jungs zieht ab, wir sind bereits weg. Gleich kommt Beschuss. Kaum waren wir von da weg, wurde der Ort dem Erdboden gleichgemacht. Die Kameraden, die wir evakuieren sollten, sind zum Glück auf einem anderen Weg abgezogen. Autorin: Ich muss an die erste Begegnung mit Alik denken. 2017. Damals haben wir uns in einer Kaffeerösterei getroffen, unweit von der Metro-Station Olympijskya. Atmo Treffen mit Alik 2017 / Kaffeerösterei O-Ton 27 Alik: Sprecher 3 Was mich genervt hat... Wissen Sie, wenn Menschen in deinen Armen sterben, ist es nicht wie im Film. Die halten keine pathetischen Reden, die sehen nicht stilvoll aus. Die sehen nicht hübsch aus. Es gibt da keine besondere Ästhetik. Es ist überhaupt nicht ästhetisch. Autorin: Mit Mitte zwanzig hatte Alik einen Bart und die ersten grauen Haare. Zu seinem Doppio rauchte er eine Zigarette. O-Ton 28 Alik: Sprecher 3 Als ich nach Kyiv zurück kam... in Kyiv war es ja die ganze Zeit ruhig gewesen. Hier spürt man nicht, was 700 Kilometer entfernt passiert. Damals war das ein besonders starker Kontrast. Hier war dauernd die Rede davon, dass unsere Jungs Helden sind, dass sie heldenhaft sterben, heldenhaft sterben, heldenhaft sterben, heldenhaft als Helden, heldenhaft sterben als Helden... und so weiter, und das ging mir so was von auf den Keks. Denn die Jungs, die wirklich coole Sachen gemacht haben, sind nicht heldenhaft gestorben. Er ist ein Held, das hat er bewiesen. Aber er stirbt wie ein einfacher Mensch. Wie jeder andere. Und mit Sicherheit will er nicht sterben. Das war mein Thema. Darüber wollte ich reden. Autorin: Alik hatte sich damals der Theatergruppe angeschlossen und erzählte auf der Bühne von seinen Erlebnissen als Sanitäter an der Front. Nach den Maidanprotesten, hatte er sich 2014 als Freiwilliger gemeldet. O-Ton 29 Alik: Sprecher 3 Als ich das meinen Eltern mitgeteilt habe, sind sie selbst zum Einberufungsamt gegangen und haben sich eingetragen. Ich konnte sie nicht abhalten, sie sind erwachsen. Zuerst waren wir alle zusammen, später kamen meine Mutter und ich als Sanitäter in die gleiche Einheit. Unsere Basis war Artemivsk, aber wir wurden in Brigaden aufgeteilt und nach Bedarf an unterschiedliche Standorte geschickt. Ich habe mehrere Standorte erlebt. Am intensivsten war meine Zeit in Debaltsewe. Autorin: Artemivsk erhielt im Februar 2016 wieder seinen historischen Namen Bakhmut. Der Kessel des benachbarten Debaltsewe war 2014/2015 Schauplatz grausamster Kämpfe. O-Ton 30 Alik Sprecher 3 Einerseits wollte ich etwas tun, andererseits wollte ich nicht die Waffe in die Hand nehmen. Die Aussicht, jemanden zu verletzen oder umzubringen, überhaupt auf jemanden zu schießen, hat mich erschreckt. Atmo Kyiv O-Ton 31 Ingas Mutter Sprecherin 1 Der Minibus kam, um uns abzuholen. Der Fahrer meinte, wir sollten uns beeilen, bald werde es Luftalarm geben. Auf dem Weg zum Bahnhof gibt es ein Gebäude der Militärfachschule. Dieses Gebäude war eins der Ziele. Sie haben es verfehlt aber in der Straße war ein Krater. Der Fahrer meinte, das sei unsere erste Bekanntschaft mit den Bomben. Er hat uns zum Bahnhof gebracht. Atmo Bahnhof Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Um 11:30 Mittags geht der Luftalarm wieder los. O-Ton 32 Ingas Vater Sprecher 1 So eine Menschenmenge habe ich nur 1986 erlebt, nachdem die Information durchgesickert war, dass das Kernkraftwerk in Tschernobyl explodiert ist. Damals stand ich die ganze Nacht Schlange, um dich und Mama wegzuschicken. Musik Dakh Daughters Viz’my O-Ton 33 Ingas Mutter Sprecherin 1 Wir kommen ins Bahnhofsgebäude... Der Bahnhof ist überfüllt mit Menschen. Ich kann das gar nicht beschreiben. Es war nicht einfach voll, es war überfüllt... hauptsächlich Frauen mit Kindern, kleine Kinder. Man kam nicht durch. Das hätte bedeutet, sich an den Kindern vorbei zu drängeln. Man hat gesehen, dass nicht alle reinpassen. Ich habe gesagt, wir werden da nicht drängeln. Wir gehen nach Hause... Autorin: Ich erreiche meine Eltern am Bahnhof. Sie sind von der Menschenmenge überwältigt und sagen, dass es keinen Sinn hat. Ich überrede sie, wenigstens zu versuchen den Zug zu kriegen. O-Ton 34 Ingas Vater Sprecher 1 Mama geht zur Information. Sie erfährt, dass der Zug ausgefallen ist. Gerade als sie das sagt, erscheint der Zug auf der Anzeigetafel. Schau Mal, unser Zug. Wir gehen zum Bahnsteig, fragen nach dem Wagen. Die Schaffner sagen: Steigen Sie ein! O-Ton 34_a Ingas Mutter Sprecherin 1 Der Zug füllte sich schnell. Im Abteil für vier waren wir 12. Auf jeder Liege vier, auf die oberen Liegen sind auch welche geklettert, Beine überkreuz, je zwei pro Liege. Die Tür blieb offen. Im Flur war auch alles voll. Im Abteil waren auch ein Hund und ein Baby, etwa sechs Monate alt. Autorin: Von Volodymyr bekomme ich eine Sprachnachricht. Er hat sich der Territorialverteidigung in seinem Dorf angeschlossen. O-Ton 35 Volodymyr Sprecher 2 Du fragst wie es mir geht? Weißt du, da neben mir sind Menschen, die genauso denken wie ich, die verstehen, dass wir Wache stehen und uns verteidigen müssen. Man kann nicht einfach so das Dorf den Besatzern überlassen. Man kann nicht einfach zurückstehen, man muss das machen. Viele haben keine Kampferfahrung... Aber ich freue mich, dass neben mir normale, starke, anständige Menschen sind. Wenn etwas passieren sollte... falls ich mit ihnen zusammen fallen sollte, dann ist das kein schlechter Tod. Autorin Der Zug meiner Eltern braucht eine Ewigkeit, keiner weiß, wann er ankommen soll. O-Ton 36 Ingas Mutter Sprecherin 1 Wir sind tagsüber los und gegen Abend, als es dunkel wurde, wurde das Licht nicht eingeschaltet. Wir sind im Dunkeln gefahren. Man wollte verhindern, dass der Zug von oben sichtbar ist. Wir sind nachts in Lviv angekommen, während der Sperrstunde. Deine Freundin hat auf uns gewartet. Sie ruft mich an: Treffpunkt ist an der Anzeigetafel. Ich, OK. Wir steigen aus, ich gehe ins Bahnhofgebäude, und da sind drei Anzeigetafeln. Ich gehe zur ersten, keiner da, zur nächsten, keiner da... an der dritten steht tatsächlich deine Freundin. Ich habe sie erkannt. Autorin: Meine Eltern sollen bei Freunden von Freunden übernachten. Morgen sollen sie mit dem Zug über die Grenze kommen. Ich warte derweil in Przemy?l auf der polnischen Seite. Hier sind alle Hotels ausgebucht. Es ist Nacht und es ist kalt. Neben einer Feldküche bekommen wir Schlafsäcke und eine Matratze. Wir dürfen auf einem Gang übernachten, der zu einem ehemaligen Einkaufszentrum gehört. Die Matratzen werden auf dem Boden ausgebreitet. Immerhin ist es warm und trocken. Die Eltern sind inzwischen bei den Freunden meiner Freunde angekommen. Ich schlafe ein. Atmo Schlafsaal Autorin: Ich werde wach, weil jemand meine Hand hält. Eine Nonne fragt auf Polnisch, woher ich denn komme und ob ich eine Unterkunft brauche. Ich versuche zu erklären, dass ich nur meine Eltern abhole. Sie schlägt vor, zusammen zu beten. Dann drückt sie meine Hand noch Mal ganz fest und geht zur nächsten Matratze. Ich rufe meine Eltern an. O-Ton 37 Ingas Mutter 37:30 Sprecherin 1 Unterwegs zur Grenze kam uns ein Zug entgegen. Drin waren Männer, die aus dem Ausland zurückkamen, um an die Front zu gehen. Das war rührend. Sie haben uns zugewunken, und wir ihnen... Ihr Zug war nicht so voll wie unserer, aber immerhin... sie sind freiwillig zurückgefahren. Wohin? Was ist ihr Schicksal? Autorin: Die Fahrt dauert ewig. Die Verbindung ist schlecht. O-Ton 38 Ingas Mutter Sprecherin Unser Zug hielt immer wieder. Wir wussten nicht wieso. Wir sind sehr lange gefahren. Wir sind vormittags eingestiegen, es sind nur 60 Kilometer. Uns wurde erklärt, dass sie die einzelnen Streckenabschnitte prüfen. Ein Stück wird geprüft, dann darf der Zug fahren, dann das nächste Stück, und so weiter. Wegen Sabotage. Autorin: Nach 13 Stunden sind sie in Przemy?l. O-Ton 39 Ingas Mutter Sprecherin 1 Wie wir in Polen empfangen wurden! Heißer Tee, belegte Brote, Decken... Ich dachte die Abfertigung an der Grenze wird ewig dauern, doch es ging sehr zügig... Autorin: Wir sind glücklich und machen uns auf den Weg nach Berlin. Währenddessen stürmt die russische Armee weiterhin Vororte von Kyiv: Bucha, Irpin, Borodianka, Vassilkiv, Hostomel... O-Ton 40 Lena Chychenina Sprecherin 2 Am 3. März haben wir durchs Fenster gesehen, dass Panzer in unsere Straße einbiegen. Die Straße ist eng, und man sieht Panzer. Zehn, zwölf, fünfzehn... Wir dachten, die werden wohl hier durchfahren, aber nein, sie blieben neben unserem Block stehen. Sie sind bis zum Schluss hiergeblieben. Sie haben neben unserem Haus geparkt, sie sind in die Nachbarhöfe gefahren. Auch neben dem nächsten Wohnblock hielten welche. Neben uns ist der Kindergarten, auf der anderen Seite die Schule. Da haben sie ihr Stabsquartier eingerichtet. Unser Bezirk grenzt an Irpin. Ihr größter Stützpunkt war direkt neben uns, neben unserem Haus. Autorin: Lena ist noch immer bei den Bekannten im Keller. Die russischen Besatzer haben Regeln eingeführt. O-Ton 41 Lena Chychenina Sprecherin 2 Zu bestimmten Zeiten durfte man das Haus verlassen. Ich bin zu meiner Wohnung gegangen. Ein Panzer kam vorbei. Einer von den Soldaten hat mit dem Gewehr auf mich gezielt. Dann hat er es sich anders überlegt. In anderen Fällen haben sie es sich nicht anders überlegt. Wie in einem Computerspiel. Sie fahren durch die Straßen und erschießen Menschen, oder eben nicht. Autorin: Volodymyr wechselt derweil die Einheit. Er kommt an den Stadtrand von Kyiv, Richtung Irpin und Bucha. O-Ton 42 Volodymyr Sprecher 2 Das war die Stadtgrenze (zwischen Bucha, Irpin und Kyiv), die Brücke war vermint und sollte gegebenenfalls gesprengt werden. Man sollte Russen abwehren, die von der Seite reinkommen. Also bin ich dahin und habe mich eingetragen. Musik Dakh Daughters Viz’my Autorin: Am 9. März gelingt es Lena, Bucha zu verlassen. O-Ton 43 Lena Chychenina : Sprecherin 2 Die Nachbarn haben gesagt, die Evakuierung beginnt. Ich bin raus, um nachzuschauen. Es gab Busse, die Straßen waren voll von Autos. Alle haben darauf gewartet, dass sie fahren dürfen. Ich habe zu Hause noch ein paar Sachen geholt. Da ist eine Rakete direkt über meinen Kopf geflogen. Sie hat das Nachbarhaus getroffen. Ich habe meine Sachen geschnappt und bin ins Auto gestiegen... Autorin: Normalerweise dauert die Fahrt von Bucha nach Kyiv keine halbe Stunde. Dieses Mal werden es neun Stunden. O-Ton 44 Lena Chychenina Sprecherin 2 Unterwegs haben wir die Leichen gesehen, den toten Mann auf dem Fahrrad am Ende unserer Straße... Wir hatten davon nichts mitbekommen. Autorin: Die Okkupation von Bucha dauert über einen Monat. Nach dem Abzug der russischen Streitkräfte Anfang April 2022 werden 458 Leichen gefunden. Die Meisten wurden gefoltert, erschossen, oder erschlagen worden. Die Überlebenden kämpfen mit den Folgen. O-Ton 45 Lena Chychenina : Sprecherin 2 Das Paar, bei dem ich während der Okkupation gewohnt habe, ist später nach Österreich geflohen. Nach einem halben Jahr sind sie nach Bucha zurückgekehrt. Er hatte kürzlich einen Herzinfarkt. Der behandelnde Arzt sagt, dass es in der Region Kyiv, in Bucha, Hostomel, Borodjanka viele Herzinfarkte gibt, jetzt, wo fast ein Jahr vergangen ist... Ich habe graue Haare bekommen. Dabei war ich nicht hysterisch, ich habe es einigermaßen gut weggesteckt. Autorin: Lena ist in der Ukraine geblieben und nach einem halben Jahr in ihre Wohnung in Bucha zurückgekehrt. O-Ton 46 Lena Chychenina Sprecherin 2 Es ist wichtig sich den Umständen anzupassen. Man muss die Umstände annehmen. Du verstehst, dass sich diese Umstände in der nächsten Zeit nicht ändern werden. Du kannst den Lauf der Kampfhandlungen nicht beeinflussen. Also musst du damit leben. Zurzeit haben wir regelmäßig Blackouts. Also musst du akzeptieren, dass es stunden- oder tagelang weder Strom noch Wasser gibt. Natürlich ist das unbequem, aber für unsere Kämpfer in den Schützengraben ist es schlimmer. Es ist kalt, es regnet, es ist matschig – ist doch klar, dass es in einer Wohnung selbst ohne Licht und Wasser besser ist. Man muss halt einen Wasservorrat anlegen. Ich habe immer 50 Liter Trinkwasser und 25 Liter Brauchwasser da. Ich habe einige Powerbanks um meine Geräte zu laden. Es ist kalt, also zieht man sich warm an und deckt sich zu. Autorin Wie viele andere haben auch meine Eltern die Hoffnung, sie könnten nach ein paar Wochen wieder nach Hause. Als dann neben ihrem Haus in Kyiv eine Rakete einschlägt, entschließen sie sich erstmal in Berlin zu bleiben. Auf dem Handy gibt es immer wieder Luftalarm – die ukrainische App funktioniert zuverlässig. O-Ton 47 Ingas Mutter Sprecherin 1 Wenn wir geblieben wären und in unseren Betten geschlafen hätten... Wann war diese Explosion eigentlich? In der Früh? Wenn wir da geschlafen hätten, dann, ja... man weiß nicht, was dann wäre. Das Schlafzimmer, die Küche... es wäre wohl nicht gut ausgegangen. Auch das Wohnzimmer, wenn man auf dem Sofa gesessen hätte... die ganzen Scherben und Raketensplitter in der Wohnung... die Fenster selbst... aber auch die Raketensplitter... Autorin: Ende Juni bekomme ich eine Nachricht von Volodymyr: Bin im Spital. Explosionstrauma. Ich frage, wie es ihm geht. Er antwortet: Viele Kampfbrüder seien gefallen. Monate später sprechen wir per Internet. O-Ton 49 Volodymyr Sprecher 2 Übrigens, diese Uhr, die gerade piept, die hing an meiner Schutzweste und mit diesem Piep Piep hat sie mir Bescheid gegeben, dass wieder eine Stunde um ist. Während des Beschusses habe ich das immerzu gehört. Vierzehn Stunden Beschuss. Ununterbrochen. Diese Uhr ist für mich wichtig geworden. Weil sie die Stunden meines Lebens abgezählt hat. So, noch eine Stunde vergangen, und ich bin immer noch am Leben. Also bis zum nächsten Piep ausharren. Noch eine Stunde vorbei. Die Zeit läuft, etwas wird passieren... Ich werde nicht ewig in dieser Hölle bleiben... Die Zeit vergeht, und mit der Zeit wird sich etwas ändern.... Autorin: Der Beschuss läuft seit mehreren Stunden. Volodymyr hält die Position. Er ist einer von Acht, die sich seit der Nacht in dieser Position befinden und sich eingegraben hat – nicht besonders tief. O-Ton 50 Volodymyr Sprecher 2 ... um 11 Uhr reichte unser Schützengraben ungefähr bis zum Knie. Es gab gerade eine kurze Pause im Beschuss, eine andere Einheit kam dazu, über das Feld. Sie grüßen uns mit „Slava Ukraini“. Ich höre den Mündungsknall und schreie: „In Deckung!“... doch sie reagieren nicht wirklich. Vielleicht schaffen sie es nicht rechtzeitig, denn der Einschlag folgte sofort. In der ersten Reihe werden die ersten beiden getroffen. Beiden fallen hin, wimmern vor Schmerz. Der eine hat einen Pneumothorax – die Lunge ist durchschossen. Meine Erinnerungen sind bruchstückhaft. Ich versuche, dem Typen mit dem Pneumothorax zu helfen. Sein Körper ist noch warm, aber ich kann keinen Puls finden. Sein Kopf ist kalt. Mir wird klar, der ist gefallen. Gleichzeitig gab es Einschläge, doch daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich rausgeklettert bin, und den einen gecheckt habe. Autorin: Später wird die Gruppe evakuiert. Volodymyr kommt ins Krankenhaus. O-Ton 53 Volodymyr Sprecher 2 Ich habe ein Foto. Als ich ins Spital gebracht wurde hatte ich ein ganz schmutziges Gesicht. Erde war auf mich gefallen. Der Doc hat mich auf eine Liege gepackt... Das war so ein Flash Back ins Jahr 2015, als wir aus Debalzeve kamen. Damals wurden wir in Artemivsk – jetzt heißt der Ort Bakhmut... Da wurden wir auch gefragt, wie, ihr seid noch lebendig? Dieses Mal war es genauso. Autorin: Volodymyr ist auf dem Weg der Besserung. Nach einer Weile wird er nach Hause entlassen. O-Ton 54 Volodymyr: Sprecher 2 Ich muss mich noch sammeln. Ich treffe Kameraden. Ich besuche sie im Krankenhaus. Habe einige kennengelernt, die kein Glück hatten, die nicht genau wussten was sie erwartet. Sie wurden verletzt. Gute Jungs. Ich treffe auch meine Kameraden. Nach und nach kommen sie mit unterschiedlichen Verletzungen nach Kyiv: Beine, Arme, Rumpf… schreckliche Wunden... Einige sind gefallen... Auch Kameraden von 2015 sind kürzlich gefallen. Solche Zeiten sind das jetzt. Autorin: Die ukrainische App mit dem Luftalarm funktioniert immer noch zuverlässig. Bis Ende Januar 2023 gab es in Kyiv 668 mal Alarm - Gesamtdauer: 749 Stunden. 140.000 ukrainische Häuser, darunter 18.000 Wohnblöcke mit bis zu 100 Wohnungen wurden durch den russischen Großangriff zerstört. 7.068 zivile ukrainische Todesopfer wurden gezählt, darunter mindestens 459 Kinder. 917 Kinder wurden verletzt. Die Zahl der verwundeten oder gefallenen ukrainischen Soldaten wird nicht veröffentlicht. Atmo Luftalarm Autorin Die russischen Truppen wurden vor Kyiv zurückgedrängt. Luftangriffe gibt es nach wie vor auf das ganze Land vor allem auf die Stromversorgung und andere kritische Infrastruktur. Ein Teil der okkupierten Gebiete wurde zurückerobert, Für das Frühjahr rechnet man mit einer großen russischen Offensive – möglicherweise auch wieder auf Kyiv. Autorin: Alik war seit Kriegsbeginn bis Ende Juni 2022 als Sanitäter bei seiner Einheit. Dann hat er eine Entscheidung getroffen. Um sie umzusetzen, musste er sich vorbereiten. Wir sprechen im Januar 2023 per Internet. O-Ton 56 Alik Sprecher 3 Übermorgen muss ich zur Musterung. So ein Stapel Papiere... Ich werde einen Vertrag für drei Jahre unterschreiben. Ich wechsle meinen Job bei der Armee. Ich will nicht mehr bei der Evakuierung, sondern direkt im Kampfgeschehen sein. Ich will unbedingt einen Russen erledigen. Da wir einen Artilleriekrieg haben, ist das aber eher unwahrscheinlich. Atmo Kyiv vor dem Krieg Autorin: Alik ist so alt, wie die unabhängige Ukraine. Er gehört zu einer Generation, die die Sowjetunion höchstens aus Kindheitserinnerungen kennt. An den Maidan-Protesten von 2013 hat er als junger Erwachsener teilgenommen. Damals wurde die Umkehrung des pro-europäischen Kurses der Ukraine verhindert. Alik hat erlebt wie die neue Ukraine entstand: mit gemütlichen Kaffees, Restaurants mit leckerem Essen, schön eingerichteten Wohnungen, Straßenmusik, mutigen Kunstprojekten, lauten Prideparaden. Lachen, Träumen, Streiten. Politiker wählen und abwählen. Die Narben des Krieges im Osten und der Annexion der Krim bleiben, doch man versucht weiterzuleben. Ein friedliches Leben aufzubauen. Ein glückliches. O-Ton 57 Alik: Sprecher 3 Friedliche Bewohner – ich hasse diesen Spruch. In der Ukraine sind alle Bewohner friedlich. Auch Soldaten, die schon fünfzig bis sechzig Russen umgebracht haben. Auch die sind friedlich. Sie hätten es nicht getan, wenn die Russen den Krieg nicht begonnen hätten. Wir alle sind friedliche Bewohner, die gezwungen werden, sich zu verteidigen. Autorin: Der großflächige Angriff Russlands am 24. Februar 2022 hat alles verändert. O-Ton 58 Alik Sprecher 3 Früher habe ich mich bei dem Gedanken wohl gefühlt, dass ich niemanden umgebracht habe. Das war früher. Aber früher gab es auch nicht das Gefühl, dass der Sieg näherkommt, wenn jemand umgebracht wird. Früher konnte man nicht genau wissen, ob es ein Russe ist auf den man schießt, oder ein Ukrainer, dem das Gehirn gewaschen wurde. Und ich wollte niemals jemand sein, der auf andere Ukrainer schießt. Aber jetzt ist alles kristallklar. Der Mensch mit der Waffe ist ein Besatzer, gekommen um zu töten, zu vergewaltigen, das zu zerstören, was all die Jahre aufgebaut wurde. Unsere einzige Chance ist es so viele umzubringen, dass sie überlegen, ob es sich lohnt das fortzusetzen. Das ist auch die Position des Generalstabs der Ukraine. Und das ist die einzige Einstellung, die funktioniert. Denn es ist unmöglich mit diesen Menschen zu reden. Sie wollen dir nicht zuhören und auf halbem Weg einen Kompromiss finden. Es gibt keinen halben Weg und keine Kompromisse. Die einzige Möglichkeit das zu bewahren, was in den Jahren nach dem Maidan aufgebaut wurde, ist so viele zu töten, dass sich die anderen umdrehen und gehen. Musik Dakh Daughters Viz’my Sprecherin 2 Absage Und am Donnerstag war dann Krieg Russlands Angriff auf die Ukraine Ein Feature von Inga Lizengevic Es sprachen: Imogen Kogge, Meriam Abbas, Alexander Khuon, Ole Lagerpusch, Martin Seifert und die Autorin Ton und Technik Alexander Brennecke Regie Inga Lizengevic Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Österreichischen Rundfunk 2023 2 2