Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Jägerin Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt Folge 3: Der Prozess Autoren: Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk/NDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 02.08.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Louis Friedemann Thiele, Claudia Mischke, Lisa Bihl, Daniel Berger, Andreas Potulski, Hüseyin Michael Cirpici, David Vormweg und die Autoren Ton und Technik: Thomas Widdig Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Teil 3: Der Prozess Musik Autorin Es ist der neunte Februar 2020, kurz vor 16 Uhr, als der 25 Jahre alte Fuad Bedru Shekur in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba auf der Straße jenen Mann erkennt, der ihn bis heute in seinen Träumen verfolgt. Shekur lebt da erst seit einigen Monaten wieder in Addis Abeba. Fast zwei Jahre lang hatte er versucht, nach Europa zu fliehen. Er hatte sich in den Sudan durchgeschlagen, Libyen erreicht und war schließlich in der Gewalt von Menschenhändlern gelandet. Als er zurück nach Äthiopien kam, war sein Rücken übersät mit Narben. Er sagt, das Gesicht des Mannes, der ihm das angetan hat, verfolge ihn bis heute in seine Träume: das Gesicht von Kidane Habtemariam Zekarias. Einem der brutalsten Menschenhändler der Welt. Er soll in Libyen tausende Flüchtlinge gefoltert und die Angehörigen um Lösegeld erpresst haben. An jenem Tag blickt Shekur von einem Geschäft aus auf die Straße und plötzlich steht nur wenige Meter entfernt Kidane vor ihm. Unauffällig folgt er ihm durch die Straßen, dann ruft er die Polizei. Der Tag im Februar ändert nicht nur für Shekur alles, sondern auch für die eritreische Aktivistin Meron Estefanos. Er setzt ihrer jahrelangen Jagd auf Kidane ein jähes Ende. Musik Sprecher 3 Die Jägerin Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt Teil 3 - Der Prozess Eine Feature-Serie von Paul Hildebrandt und Lucia Heisterkamp 01 O Ton Estefanos "I knew who the smugglers were, but I didn't know about their private life and so meeting these sources kind of answered a lot of questions" OV Sprecherin 2 "Ich wusste wer die Schmuggler sind, aber ich wusste nichts über ihr Privatleben. Um mehr herauszufinden, musste ich meine Quellen treffen. Ich habe von ihnen erfahren, wie die Täter leben, wo sie herkommen, was sie in ihrer Freizeit machen. Wo gehen sie hin? Wen treffen sie?" Autorin Stockholm im Januar 2022. Auf einem Sofa sitzt Meron Estefanos in ihrer Wohnung, sie ist Radiojournalistin und Menschenrechtsaktivistin. Über Jahre hinweg hatte sie versucht auf das Leid der Flüchtlinge in Libyen aufmerksam zu machen, die dort gefoltert werden. Und die sie immer wieder in ihrer Radiosendung angerufen und um Hilfe gefleht hatten. Als sie merkte, wie wenig die europäischen Behörden unternahmen, beschloss sie, selbst auf die Jagd zu gehen. Sie sammelte Informationen über die Menschenhändler und verfolgte ihre Spuren. Ihr Ziel: Die Männer vor Gericht zu bringen. Einer von ihnen war Kidane Habtemariam Zekarias. Er soll in der libyschen Stadt Bani Walid ein regelrechtes Folterzentrum aufgebaut haben. Im Februar 2020 reiste Meron Estefanos nach Äthiopien, weil ihr die Information zugespielt worden war, dass sich einige der Menschenhändler gerade in Addis Abeba aufhielten. Seit über einem Jahr verfolgte Meron den Folterer Kidane da bereits. Sie stand mit der Rechercheeinheit ROCK in Kontakt, einer internationalen Ermittlergruppe im Sudan, die die EU zusammen mit ostafrikanischen Staaten gegründet hatte. Am Abend des neunten Februar checkte sie in ein Hotel ein, legte sich schlafen. Am nächsten Morgen saß sie im Frühstücksraum, als die Nachricht auf ihrem Handy aufblinkte. 02 O Ton Estefanos "I heard from Eritreans that Kidane was arrested. We Eritreans, we talk, everybody knows everybody. I heard it from someone, I don't even know, could be Facebook, I don't remember how. I just heard: He got arrested. I tweeted about it and then everybody started contacting me: Is it true that Kidane got arrested?" OV Sprecherin 2 "Ich habe von anderen Eritreern erfahren: Kidane wurde festgenommen. Ich weiß nicht mehr von wem, vielleicht habe ich es sogar auf Facebook gelesen. Wir Eritreer erzählen uns viel, jeder kennt jeden. Ich habe nur gehört: Er wurde festgenommen und habe es auf Twitter geteilt. Plötzlich meldeten sich die Leute bei mir und fragten: Stimmt das? Wurde Kidane wirklich festgenommen? " 03 O Ton Meron "Before we got him, somebody recognized Kidane. Someone saw him, his victim saw him and said: This is the guy that used to torture us in Libya and so reported him." OV Sprecherin 2 "Wir waren kurz davor, ihn zu kriegen. Da hat jemand Kidane erkannt, ein früheres Opfer von ihm. Doch ich erfuhr dann von einer anderen Quelle, dass Kidane am nächsten Tag freigelassen werden sollte, weil die äthiopische Polizei den Fall nicht ernst genommen hat." Autorin Estefanos reagierte sofort. Vom Hotel aus schrieb sie an Alan Edwards, den damaligen Leiter der Rechercheeinheit ROCK. Sie berichtete ihm, dass Kidane gefasst wurde - und dass sie befürchtete, er würde bald wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Edwards bestätigt uns diese Geschichte per Mail, zitieren dürfen wir ihn nicht. Aber klar ist, auf den Hinweis Estefanos hin schickte er umgehend Ermittler zur Polizeiwache - und konnte gerade noch verhindern, dass Kidane wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Und Kidane war nicht der einzige Menschenhändler, der sich zu dem Zeitpunkt in Addis Abeba aufhielt. Estefanos hatte die Spur mehrerer Männer verfolgt, die in Libyen Flüchtlinge foltern. Walid, Kidane und Sishay, das waren drei Namen, die die Opfer ihr immer wieder genannt hatten. Sie war fest entschlossen, die anderen nicht entkommen zu lassen. 04 O Ton Meron "So when Kidane got arrested, suddenly the Europeans start giving attention to this group and I was in Addis... OV Sprecherin 2 "Als Kidane festgenommen wurde und sich plötzlich auch die Europäer für diese Gruppe interessierte, die sich in Addis Ababa aufhielt, habe ich alle meine Informationen an die Polizei weitergegeben und denen gesagt: Walid wird heute hier sein, und diese Person wird sich dann und dann dort aufhalten. Es war aufregend, und gleichzeitig sehr gefährlich. Denn irgendwie haben die Schmuggler herausgefunden, dass ich mich in Addis Abeba aufhalte. 04 O Ton Meron "And I am talking to the East African Police and telling them: Walid is going to be in this place and that person is going to be there. It was exciting and at the same time scary, because.. somehow they found out that I was in Addis." Musik Autorin Noch am selben Tag packte Estefanos ihre Sachen und flog zurück nach Schweden. Sie hatte Angst, dass sich die Menschenhändler an ihr rächen würden. Aufgrund der Hinweise Merons durchsuchte die äthiopische Polizei in den folgenden Tagen und Wochen Wohnungen in Addis Ababa, kontrollierte Nachtclubs und Bars und nahm noch vier weitere hochrangige Menschenhändler in Addis Ababa fest. Unterdessen saß Estefanos in ihrer Küche in Stockholm und chattete mit ihren Quellen: Kidane festgesetzt, Walid festgesetzt, Sishay festgesetzt. Es war wie ein Traum. Dann aber schrieb ihr der Ermittler Alan Edwards: Die Äthiopischen Behörden werden Kidane und die anderen Menschenhändler nicht nach Europa ausliefern. Sie wollen ihnen im Land selber den Prozess machen. Estefanos saß fassungslos vor der Nachricht des Ermittlers. Warum wollte man die Männer nicht nach Europa ausliefern, wo man ihnen einen großen Prozess machen könnte? 05 O Ton Meron "So it was a bittersweet, you know." OV Sprecherin 2 "Es hatte einen bittersüßen Geschmack. Auf der einen Seite freute ich mich, dass sie festgenommen wurden, aber gleichzeitig war mir klar: Äthiopien ist ein korruptes Land. Es wird keine Gerechtigkeit geben. Wenn du genug Geld hast, kannst du mit allem davonkommen." Autorin Jahrelang hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet: Ein Gerichtsverfahren gegen die schlimmsten Menschenhändler, Gerechtigkeit für die Opfer. War das alles umsonst? Musik 01 Atmo aus Addis Abeba: Straßengeräusche, Menschen rufen Autorin Was geschah während des Gerichtsprozesses in Addis Abeba gegen die Menschenhändler? Um das herauszufinden, wollen wir nach Äthiopien reisen. Ein schwieriges Vorhaben. Seit November 2020 tobt im äthiopischen Tigray ein brutaler Bürgerkrieg.Flüchtlinge aus Eritrea und aus der Region Tigray strömen zu Tausenden in die Hauptstadt Addis Abeba. Journalisten werden deshalb kaum noch ins Land gelassen. Auch wir erhalten kein Visum. Um unsere Recherchen fortzusetzen, gehen wir deshalb einen anderen Weg 06 O Ton Leul Estefanos "Hello, can you hear me? Better now? My name is Leul Estefanos. I'm a freelance journalist based in Addis Ababa. I'm 27 years old. I went to Southern University law school. I mostly cover courtroom stories. OV Sprecher 7 "Ich heiße Leul Estefanos. Ich bin freier Journalist und arbeite in Addis Abeba. Ich bin 27 Jahre alt und habe an der Southern University Jura studiert. Ich berichte regelmäßig über Gerichtsprozesse." Autorin Das ist Leul Estefanos, ein äthiopischer Journalist. Er ist nicht mit Meron Estefanos verwandt, trotz des gleichen Nachnamens. Leul ist einer der wenigen Journalisten, der den Prozess, der im Oktober 2020 in Addis Abeba begann, begleitet hat. Wir engagieren ihn, um zu nachzuvollziehen, was aus Kidane und den anderen Menschenhändlern wurde. Er erzählt über Skype. 07 O Ton Leul Estefanos "The court is located around a place called the Delta in Addis Ababa. It's the federal first instance court. The courtroom was on the third floor." OV Sprecher 7 "Das Gericht liegt in der Nähe des "Delta-Platzes" in Addis Ababa. Es ist das Bundesgericht, also eines der wichtigsten Gerichte des Landes. Der Saal ist im dritten Stock, ein typischer Gerichtssaal, in den 60 bis 70 Menschen passen. Es ist gut bewacht, eines der besten bewachten Gerichte in Äthiopien, mit einer ständigen Präsenz der Bundespolizei." Autorin Am 14. Oktober 2020 betrat der Menschenhändler Kidane den Gerichtssaal in Addis Abeba. Vier Soldaten in Tarnfleckuniform begleiteten ihn, Maschinengewehre über den Schultern. 08 O Ton Leul "Kidane was sitting with a prison uniform, a yellow shirt and a yellow trouser, a typical prison uniform." OV Sprecher 7 "Kidane saß vor uns in gelber Uniform, gelbes Shirt, gelbe Hose, eine typische Gefängnis-Uniform. Ich glaube, Kidane wusste, dass wir wegen ihm hier waren, wir haben ihn angestarrt und er hat zurückgestarrt. Es war eine angespannte Situation. Er ist ein großer, furchteinflößender Mann. Als wir den Gerichtssaal verlassen haben, ist er auf mich los, um mein Telefon zu schnappen. Er dachte ich hätte Fotos von ihm gemacht. Das hat mich wirklich eingeschüchtert." Autorin Es gibt Fotos von Kidane bei der Festnahme: Ein großer Mann, breitschultrig, der Kopf kahl rasiert, grauer Bart. Im Gericht saß er in der ersten Reihe, direkt vor den Richtern. Dann begann die Verhandlung Prozess. Es war das erste Mal, dass ein hochrangiger Menschenhändler sich für die Taten in Libyen vor einem Gericht verantworten muss. Bis heute gibt es keinen vergleichbaren Prozess. Die Anklagepunkte stehen in den Prozessakten. Sprecher 2/Zitator liest Prozessakten "Dem Angeklagten wird Folgendes vorgeworfen: Der Angeklagte hat seinen Opfern nur einmal am Tag Essen gegeben, er hat sie mit kaltem Wasser übergossen, sie mit einer Metallkette gefesselt und mit einer Peitsche geschlagen, jeden Morgen und jeden Abend. Er hat seine Opfer festgehalten, um sie gegen Lösegeld freizulassen. Er hat seine Opfer mit anderthalb tausend Menschen eingesperrt und wird angeklagt wegen Menschenhandel." 02 Atmo Straße Autorin Doch schon am ersten Prozesstag gab es eine überraschende Nachricht. Fuad Bedru Shekur, der Mann, der Kidane auf der Straße erkannte, wurde nicht als Zeuge zur Verhandlung geladen. Dabei war es ihm zu verdanken, dass Kidane in Handschellen im Gericht saß. Unser äthiopischer Kollege trifft Shekur im Zentrum von Addis Abeba, um ihn zu seiner Geschichte zu befragen. Das Viertel, in dem Fuad lebt, liegt im Zentrum der Stadt. Immer mehr reiche Äthiopier kaufen sich dort Wohnungen, auch Kidane hat vermutlich sein Geld dort investiert. Fuad Bedru Shekur ist 25 Jahre alt, er trägt einen dünnen Bart und Nike-Turnschuhe. 09 O Ton Fuad Amharisch OV Sprecher 8 "Wir sind im Januar 2018 nach Bani Walid gekommen. Ich habe Kidane gleich am ersten Tag getroffen. Er stellte sich vor uns hin und sagte: Ich überwache diese Operation. Es war kalt, er trug eine Jacke und sah zu, wie wir in zwei Gruppen aufgeteilt wurden: Äthiopier und Eritreer. Dann wurden wir in eine Lagerhalle gesperrt." Autorin Fuad erzählt, er habe im Jahr 2018 vier Monate in Kidanes Gewalt verbracht. Er und die anderen Gefangenen wurden täglich nach draußen geführt, um von dort ihre Angehörigen anzurufen. Sie sollten um Lösegeld betteln. Während sie telefonierten, seien sie geschlagen worden. Fuad sagt, er habe kaum etwas zu essen oder zu trinken bekommen. Hunger sei Teil der Folter gewesen. Auf Bildern, die er uns zeigt, sieht man hunderte Menschen in einem großen Raum zusammengepfercht auf dem Boden hocken. Das Bild soll aus einer der Lagerhallen stammen, aufgenommen 2018. 10 O Ton Fuad Amharisch OV Sprecher 8 "Vor meiner Zeit in Libyen hatte ich nie einen Menschen sterben sehen, aber in Libyen habe ich mich an den Tod gewöhnt. Wenn du wieder und wieder Menschen sterben siehst, dann stumpfst du ab. Du beginnst zu glauben: Es ist auch dein Schicksal hier zu sterben. Du verlierst jede Hoffnung." Autorin Als Fuad schließlich doch freigelassen wurde, hatte er kein Geld mehr, um nach Europa weiterzureisen. Er schlug sich einige Zeit in Tripolis durch, dann bat er das UN-Flüchtlingshilfswerk um Hilfe, die besorgten ihm einen Rückflug nach Äthiopien. Er kehrte als gebrochener Mann zurück. Die Bilder aus Libyen ließen ihn nicht los. Bis er im Februar 2020 Kidane auf der Straße entdeckte. 11 O Ton Fuad Amharisch OV Sprecher 8 "Ich konnte es nicht glauben. Stell dir vor, da steht der Mann, der so viel Leid verursacht hat, der international gesucht wird. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er in Addis Abeba sein würde, er hat so viele Äthiopier gefoltert, wie kann er da noch einen Fuß nach Äthiopien setzen?" Autorin Fuad folgte Kidane durch die Straßen. Als Kidane in ein Telefongeschäft ging, rief er zwei Polizisten zur Hilfe. Er sagte ihnen: Dieser Mann ist ein gesuchter Verbrecher. Am nächsten Tag postete Meron Estefanos ein Foto auf Twitter, das den Mann nach seiner Verhaftung zeigen soll. Ein Kontakt hat es ihr zugespielt. Man sieht Kidane auf einer Bank sitzen, nach vorne gebeugt, in Jeans und Kapuzenpullover. Er trägt keine Handschellen, es wirkt, als könne er gleich aus dem Raum spazieren. Wenn Meron nicht eingegriffen hätte, wäre er vermutlich längst wieder frei. 12 O Ton Fuad Amharisch OV Sprecher 8 "Was ich in Libyen erlebt habe, wird nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden. Man sagt, der Angreifer vergisst, das Opfer vergisst niemals." Autorin Ein halbes Jahr lang hatten die Staatsanwälte den Prozess gegen Kidane vorbereitet, doch dann wirkte alles sehr chaotisch. Gerichtstermine wurden abgesagt und verschoben. Die Staatsanwälte wechselten mitten im Prozess, kein einziger Ermittler zum Menschenhandel wurde befragt und die Richter weigerten sich, Zeugen aus dem Ausland zu hören. Dabei lebt kaum einer von Kidanes Opfern wieder in Äthiopien. In Addis Abeba sprechen unsere Kollegen mit der Staatsanwältin Hana Mebrate, die einen Teil des Prozesses geführt hat. Allerdings dürfen sie das Gespräch nicht aufzeichnen. Wir wollten wissen: Gab es irgendeinen Versuch europäischer Ermittler den Prozess zu unterstützen? Gab es einen Auslieferungsantrag? Mebrate sagt, es habe nach Kidanes Verhaftung ein einziges Zoom-Meeting mit niederländischen Ermittlern gegeben, aber dann sei das Interesse schlagartig erloschen. Sie sagt, mit Beginn der Corona-Pandemie habe Europa sich nicht mehr für den Prozess interessiert. Musikakzent Sprecher 2 / Zitator liest aus den Gerichtsakten "Dem Angeklagten wird vorgeworfen seine Opfer in Bani Walid mit der Waffe bedroht zu haben. Er hat ihnen gesagt: Ich habe euch gekauft. Um frei zu kommen, müsst ihr mir 5.500 US-Dollar bezahlen. Wer das nicht tut, der wird geschlagen, der wird leiden, der wird sterben. Der Angeklagte hat seine Opfer anschließend mit einem Seil festbinden lassen und sie mit flüssigem Plastik übergossen." 13 O Ton Leul "So, yeah, I was present on that particular session." Autorin Dann kam der 18. Januar 2021. An diesem Prozesstag war Leul auch im Gerichtssaal. OV Sprecher 7 "Der zweite Angeklagte war bereits da, Kidanes Anwälte waren da, alle waren da, nur Kidane fehlte. Wir haben also gewartet und nach einiger Zeit kam ein Sekretär und hat den Richtern etwas zugeflüstert. Die Richter haben dann verkündet, dass die Verhandlung verlegt wird, ohne Grund. Autorin Seltsam, dachte Leul, und fuhr nach Hause. Noch in derselben Nacht erfuhr er, dass Kidane entkommen ist. Er war einfach aus dem Gerichtsgebäude marschiert 14 O Ton Leul "He went to the toilet and changed his clothes." OV Sprecher 7 "Er ist aufs Klo gegangen und hat seine Kleidung gewechselt. Dann ist er als Zivilist aus dem Gebäude spaziert. Aber es ist natürlich unmöglich, dass ihn niemand hat rausgehen sehen. Vor dem Klo warteten die Wächter mit Kalaschnikows unterm Arm, mindestens zwei waren immer dabei. Und Kidane ist ein auffälliger Typ, ein großer Schwarzer Kerl, den man auf hundert Metern Entfernung erkennt. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dass die Wächter ihm geholfen haben zu entkommen." Autorin Ein Gerichtssprecher erklärt später, man habe erst Stunden nach der Flucht von Kidanes Entkommen erfahren. Noch am selben Tag startete die Polizei eine Suchaktion, aber der Menschenhändler blieb verschwunden. Im Juni 2021 verurteilte das Gericht den Menschenhändler Kidane in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Auch die drei anderen Menschenhändler erhielten lange Haftstrafen. Doch danach folgten keine weiteren Festnahmen, die Schmuggel-Netzwerke in Europa wurden nicht behelligt, keine Mittelsmänner festgenommen. Es kam, wie Estefanos befürchtet hatte: Der Prozess hatte nichts geändert. In Libyen ging der Folterhandel weiter. Musik 03 Atmo Estefanos kocht Tee Autorin Im Januar 2022 steht Meron Estefanos in ihrer Küche und kocht Tee. Sie streut Ingwer und Zimt in ein Glas und gießt heißes Wasser drüber. Es ist der Geschmack ihrer Heimat. Im Frühjahr 2020, als Kidane in Äthiopien festgenommen wurde und sich die Corona-Pandemie in Europa ausbreitete, stürzte Meron Estefanos in eine tiefe Krise. 15 OT Estefanos "Because suddenly, you know, I said for the first time in my life, I have time because I've never have time to process anything." OV Sprecherin 2 "Zum ersten Mal in einem Leben hatte ich plötzlich Zeit, um Dinge zu verarbeiten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich nichts zu tun. Und dann kam die Depression. Zwischen März 2020 und Januar 2021 habe ich gar nichts gemacht. Ich bin einfach im Bett geblieben." Autorin Sie schlief schlecht, erzählt sie uns, auch weil sie von finanziellen Sorgen erdrückt wurde. Durch die Corona-Pandemie hatte sie sämtliche Rechercheaufträge für Universitäten und Menschenrechtsorganisationen verloren. Von der furchtlosen Jägerin war nur noch ein Schatten übrig. 16 O Ton Estefanos "My focus is now trying to figure out my life and to change, you know, like I used to do all kind of free work helping all kind of institutions. But no, I don't want to do that anymore." OV Sprecherin 2 "Ich konzentriere mich jetzt darauf, mein Leben auf die Reihe zu kriegen und zu verändern. Ich habe so lange Zeit ehrenamtlich gearbeitet und alle möglichen Institutionen umsonst unterstützt. Das will ich nicht mehr." Musik 04 Atmo Straße "Hi Takhle" "Paul" "Nice to meet you." "Nice to meet you too." "Alles klar?" Autorin Und wie geht es Kidanes Opfern? Sie leben auf der ganzen Welt, in Uganda, in den USA, auch in Deutschland. Wir machen uns auf die Suche nach ihnen, recherchieren in sozialen Netzwerken, schreiben unzählige Mails. Dann meldet sich Tekhle bei uns, er lebt in Gießen, dort hat er Asyl beantragt. Er ist einer der wenigen Opfer Kidanes in Deutschland, der vor dem Mikrofon sprechen möchte. 05 Atmo "Kannst du was sagen, wie heißt du?" "Ich bin Tekhle" "Und dein Nachname?" "Seltene." Autorin Eine Übersetzerin begleitet uns zu dem Treffen. Tekhle ist 29 Jahre alt, stammt aus Eritrea und arbeitet in einer Bäckerei. Einen Monat, sagt er, war er in Bani Walid in Kidanes Gewalt. Es sei die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen. Die Nachricht von seiner Verhaftung sei ihm wie ein Wunder vorgekommen. 06 Atmo Tekhle spricht auf Tigrinya, im Hintergrund Autos. Übersetzerin: "Als er dann gehört hat, dass er geflohen ist, hat es ihn noch einmal etwas versetzt, weil er dachte: Mensch, jetzt entkommt er doch noch seiner Strafe. Das hat ihn, nicht nur ihn, sondern auch die Community, er dachte: Was ist denn jetzt der Sinn des Ganzen eigentlich? Er meinte, es gibt zu viel Korruption dort, dass er einfach abhauen konnte. Das macht einen auch wütend, dass er mittels Korruption seiner Strafe entgeht." Autorin Wie ihm geht es vielen in der eritreischen Community. Die Menschen können es einfach nicht verstehen: Warum haben die Europäer es bis heute nicht geschafft, Menschenhändler wie Kidane vor Gericht zu bringen? Warum unternimmt niemand etwas gegen das Leid der Flüchtlinge in Libyen? 07 Atmo: Nachrichtensprecherin auf Niederländisch Autorin Doch dann passiert doch noch etwas Unerwartetes. Im Oktober 2021 geht die niederländische Staatsanwaltschaft mit einem Fahndungsaufruf an die Öffentlichkeit: Wer Informationen zum Verbleib vom Menschenhändler Kidane hat, soll sich bitte an die Behörden wenden. Was ist geschehen? Interessieren sich die Europäer plötzlich doch für die Verbrechen in Libyen? Musik Sprecher 2 Absage Podcast Die Jägerin. Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt. Folge 3: Der Prozess. Eine Feature-Serie in vier Teilen von Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt. (Trocken/schneidbar): Die restlichen Folgen gibt es auf hörspiel und feature.de, in der ARD-Mediathek und überall da, wo es Podcasts gibt. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022. 18