Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Russland ohne Zukunft? Die zerschlagene Opposition gibt nicht auf Autor: Mario Bandi Regie: Mario Bandi Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 10.05.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Jonas Baeck, Lisa Bihl, Martin Bross, Mark Oliver Bögel, Edda Fischer, Stefko Hanushevsky Ton und Technik: Eva Pöpplein und Gunther Rose Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - 001 Atmo: Kundgebung Autor: Es ist der 19.September 2021. Ein wichtiger Wahltag für den Kreml. In allen diplomatischen Vertretungen Russlands sind die Wahllokale geöffnet. Auch in Berlin. Unter den Linden, gegenüber der russischen Botschaft, sind etwa 100 Aktivisten auf einer Kundgebung. Sprecher: Freiheit für die politischen Häftlinge! Russland ohne Putin! Weg mit dem Zaren! Freiheit für Nawalny! Autor: Aus dem Lautsprecher schallt eine Lesung aus dem russischen Grundgesetz: Paragrafen über freie Wahlen, Versammlungsrecht und viele andere demokratische Werte. Die Stimme klingt, als ob Putin selbst die Verfassung seines Staates vorläse. Auch eine leidenschaftliche Rede Nawalnysdrängt in die Fenster der Botschaft - Aufrufe zur Bekämpfung der Alleinherrschaft der putin'schen Partei "Einiges Russland". Das klingt wie Spott und Mahnung, gerichtet an die Menschenmenge von gegenüber. Dort vor der Botschaft stehen die Berliner Russen Schlange, die einen russischen Pass besitzen, und wählen dürfen. Offensichtlich ist das die kremltreue Wählerschaft. Die Wartenden betrachten ihre Landsleute mit den Nawalny-Portraits und Plakaten mit Widerwillen. Andrei Saizew - politischer Emigrant und einer der Organisatoren der Kundgebung, provoziert die schweigende Menge:"Sind Sie für Putin? -Für den Krieg in der Ukraine und in Syrien? Dann applaudieren Sie Ihrem Präsidenten! Was? Keiner will? Gut! Russland wird frei sein, auch für Sie!" Plötzlich fühlt sich einer doch angesprochen und schreit voller Wut zurück: "Ihr käuflichen Hundesöhne, faschistische Missgeburten, WIR werden siegen! ..." 002 Atmo: Beschimpfungen. Ansage: Russland ohne Zukunft? - Die zerschlagene Opposition gibt nicht auf Ein Feature von Mario Bandi Autor: Die Botschaft fungiert als Wahllokal Nummer 8315 und 8316. Die Stimmabgabe ist vorbildlich organisiert: Höfliche Mitarbeiter begleiten die Wähler in den großen Paradesaal mit den Wahlurnen, vorbei am großem Buntglasfenster, auf dem majestätische Kremltürme unter einem großen Regenbogen zu sehen sind. Über dieses Bild lächelt die russische im Exil lebende LGBT-Community: Viele von ihnen sind aufgrund von Diskriminierung und Morddrohungen aus Russland geflohen. Am 9. Juni 2021, drei Monate vor den Wahlen sind per Gerichtsbeschluss sämtliche Nawalny-Büros in Russland zu extremistischen Organisationen erklärt und verboten worden. Trotzdem geben sie sich nicht geschlagen. Ihr wichtigstes Mittel: Eine App."VoteSmart" -auf russisch "die kluge Abstimmung" zeigt die Namen der chancenreichsten Oppositionskandidaten. Diese App ist eine Erfindung Nawalnys im Kampf gegen die Übermacht der regierenden Partei Putins. 004 Sprecher 2 Gressko OT: Es geht vor allem darum, die Kandidaten der Regierungspartei die Wahlen nicht gewinnen zu lassen, auf allen Ebenen. Das verursacht große Spannungen im System. Wir empfehlen nicht die Liberaldemokratische Partei oder die Kommunistische Partei, wir wollen den Kandidaten unterstützen, der nicht zur Partei Einiges Russland gehört. Autor: Alexei Gresskó, ehemaliger Leiter des Nawalny-Stabs in Jekaterinburg 004 Sprecher 2 Gressko OT: Es darf keine Vorabsprachen geben. Wenn es diese gäbe, würden solche Kandidaten sofort von der zentralen Wahlkommission von den Wahlen ausgeschlossen. Unsere Empfehlungen werden vier Tage vor den Wahlen veröffentlicht, ab diesem Moment darf per Gesetz keine Kandidatur mehr zurückgezogen werden. Autor: Schon vor der Wahl entfaltet die App ihre Wirkung. Sprecher 3 Wolkow Es ist purer Wahnsinn! Die staatliche Aufsichtsbehörde versucht das russische Internet zu zerstören. Sie schreibt Briefe an Google und Apple. Sie versucht, die DNS-Server abzuschalten, trifft Vorkehrungen, während der Wahl unsere YouTube-Kanäle zu blockieren. Sie versucht außerdem, unsere App auszuschalten, indem sie verschiedene IP-Adressen auf die schwarze Liste setzt, ohne dafür irgendeine gesetzliche Grundlage zu nennen. Autor: Kurz vor den Wahlen schrieb Leonid Wolkow, der engste Mitstreiter Nawalnys und Leiter seines Teams im litauischen Exil: Sprecher 3 Wolkow: Gleichzeitig wird die Polizei losgeschickt, um unsere Anhänger zu verhaften, Spambriefe werden versendet, Fake-News verbreitet. Unter Anspannung aller Kräfte der Propagandamaschinerie wird eine Kampagne gegen die "kluge Abstimmung" durchgeführt. Es werden Fake-Internetseiten von der "klugen Abstimmung" erstellt, die kaum von der echten Internetseite zu unterscheiden sind. Autor: Am ersten Tag der Wahlen, am 17.September 2021, gelingt es der russischen Aufsichtsbehörde tatsächlich, die Nawalny-App mit den alternativen Kandidaten zu blockieren. Sprecher 3 Wolkow: Und die gefälschten werden interessanterweise nicht blockiert. Die Wähler werden eingeschüchtert per E-Mail oder sogar durch Polizeibesuche zuhause. Autor: Warum diese Hysterie? -Iwan Schdanow -Leiter der Antikorruptionsstiftung Nawalnys im Exil. 005 Sprecher 1 Schdanow OT: Die Machthaber haben begriffen, dass unser System, unsere Empfehlungen für die Wahlen sehr wirksam sind. Zu unseren Medien gehören ein YouTube Kanal mit 6,5 Millionen Abonnenten, es gibt noch einen weiteren YouTube-Kanal mit etwa zweieinhalb Millionen Zuschauern. Außerdem Instagram und weitere soziale Netzwerke. Schätzungsweise besteht unsere Hörer- und Leserschaft aus 10 bis 15 Millionen Menschen. 006 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Das Konzept des "Smart Voting" oder der "Klugen Abstimmung" sieht nicht die Empfehlung eines Kandidaten vor, der dem Wähler besonders sympathisch oder politisch nahestehend ist. Die "Kluge Abstimmung" wählt den stärksten Konkurrenten gegen Einiges Russland - so funktioniert das. Autor: Irina Fatjanowa-bis zum Verbot Leiterin des Petersburger Stabs von Nawalny, eine attraktive und sehr energische Frau, 33 Jahre alt. Das erste Gespräch mit ihr fand im Oktober 2020 statt. Damals, in einem großen Büro im Zentrum von Sankt Petersburg, war sie umringt von Mitarbeitern und Freiwilligen, sprach mit neugierigen Besuchern, gab Anweisungen an ihre Kollegen, sprach in einem YouTube-Film über neue finanzielle Machenschaften der Stadtregierung. 007 Atmo: Nawalny-Büro in St.Petersburg 008 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Ich bin aus Novosibirsk, habe an der Petersburger Universität promoviert. Seit Siebeneinhalb Jahren lebe ich hier und halte mich für eine Petersburgerin der ersten Generation. Mein Fach ist Soziologie, Ich habe meine Doktorarbeit im Fach Soziologie begonnen, aber nicht abgeschlossen. Ich habe früher in außerschulischen Bildungsprojekten für Jugendliche gearbeitet. Ich ging oft zu Demonstrationen bis ich mich schließlich 2019 entschieden habe, in die Politik zu gehen und an den Petersburger Kommunalwahlen teilzunehmen. Ich wollte Verantwortung übernehmen und etwas in meiner Umgebung verändern. Ich habe leider die Wahlen verloren, aber dann ab Dezember 2019 als Koordinatorin des Nawalny-Stabs gearbeitet. Autor: Am 17. Januar 2021 kehrte Nawalny aus Berlin nach Moskau zurück. Die Maschine der russischen Fluggesellschaft Pobeda - "Der Sieg" wurde kurz vor der Landung zu einem anderen Flughafen umgeleitet. Viele Anhänger von Nawalny und seine Mitarbeiter wurden auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo verhaftet, dort wo sie auf ihn gewartet hatten. Nawalny selbst wurde bei Ankunft in einem anderen Flughafen festgenommen und in einer provisorischen Gerichtsverhandlung auf einer Polizeiwache gleich zu seiner ersten Haftstrafe verurteilt. Sein Team rief daraufhin zu Demonstrationen in ganz Russland auf, die am 23.Januar 2021 stattfanden. Seit Jahren waren noch nie so viele Menschen auf die Straße gegangen - bis zu 50 000 in verschiedenen Städten Russlands. Und noch nie hatte es so viele Verhaftungen gegeben: 2131 Menschen waren es insgesamt in ganz Russland. In Moskau 795 und in Petersburg 309. Irina Fatjanowa wurde sogar schon früher festgenommen und bekam sechs Tage Haft wegen der angeblich gesetzwidrigen Organisation einer Massenveranstaltung. Drei Monate später, im April 2021 wurde Irina erneut verhaftet - ihr wurde vorgeworfen, sie hätte als Leiterin des Navalny Stabs in St. Petersburg am 31.Januar ein Video verbreitet mit dem Aufruf zu einer weiteren Demonstration.Dass sie an diesen Tagen bereits im Gefängnis war, half ihr nicht. Sie bekam zehn Tage Haft. Außerdem verhängte das Gericht eine Strafe in Höhe von fast vier Millionen Rubel-etwa 45.000 Euro: für die Kosten, die aufgrund der zusätzlichen Arbeitsstunden der Polizei während der unerlaubten Kundgebung angefallen seien. In ihrem Telegram-Kanal schrieb Irina Fatjanowa damals: 009 Sprecherin 2 Fatjanowa: Sie wollen eine Entschädigung für die Verhaftungen von friedlichen Bürgern, für die Anwendung von Gewalt, den Einsatz von Elektroschockern und Tränengas. Die Polizei ließ die Verhafteten stundenlang ohne Essen und Trinken in den vergitterten Bussen frieren, erlaubte keinen Gang zur Toilette, keine Rechtsanwälte. Und das alles lassen sie sich noch von uns bezahlen! Autor: Das Verbot der Nawalny Stiftungen am 9. Juni hatte einen klaren Hintergrund: der Einfluss von Navalnys Politik und sein Charisma, der große Erfolg seines letzten Filmes über den monströsen Palast Putins, der weit über 100 Millionen Zuschauer erreicht hatte, die wachsende Zahl seiner Anhänger - besonders in den jungen und gebildeten Schichten der Gesellschaft. 010 Sprecherin 2FatjanowaOT: Das bedeutete die Einstellung jeglicher Tätigkeit dieser Organisationen. Zuwiderhandlung hätte unweigerlich zur Strafverfolgung geführt. Das heißt, ich war auf mich allein gestellt. Ich entschied, dennoch an den Wahlen teilzunehmen. Autor: Im September 2021 fanden in vielen Städten die Duma- und Kommunalwahlen statt. Zu der Zeit hatten viele Mitarbeiter Nawalnys Russland schon verlassen. Irina Fatjanowa startete mit etwas Verspätung ihre Wahlkampagne als eine selbständige Kandidatin. Zuerst sollte sie mindestens 4000 aktuelle Unterschriften sammeln und der Wahlkommission vorlegen. Für die Wahlkampagne und das Büro hatte sie zudem mit ihrem neuen Team Spenden gesammelt. 011 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Mir wurde erlaubt, bei einer Bank ein Kandidatenkonto zu eröffnen. Das hat mich sehr überrascht. Ich weiß inzwischen, dass die Kommission nach der Logik gehandelt hat: "Die hat viel zu wenig Zeit, und keine für die Wahlen zugelassene Partei steht hinter ihr." - Das weiß ich aus inoffiziellen Gesprächen in der Wahlkommission. Man wollte nach außen zeigen: Seht, wir sind ehrlich! Wir eröffnen ihr alle Möglichkeiten, aber das nutzt ihr nichts, weil sie keine Wählerbasis hat. Dieses Bild wollten sie erzeugen. (Atmo: Hupensignal laut) Es wäre schön, schnell mal eine Abgeordnete zu werden - dann würde ich dieses laute Hupen sofort unter Strafe stellen! Autor: Bei den St. Petersburger Wahlen 2021 für die "Gesetzgebende Stadtversammlung" wurden einmal mehr Tricksereien mit sogenannten Spoiler - oder Schein-Kandidaten bekannt. Der demokratische Abgeordnete Boris Wischnewski ist seit Jahren ein populärer Politiker in der Stadt. Wegen seiner öffentlichen Proteste und Enthüllungen ist er der Pro-Putin-Mehrheit in der Stadtversammlungein Dorn im Auge. Um ihn in den Wahlen 2021 loszuwerden, tauchten plötzlich zwei weitere Kandidaten auf mit identischen Vor- und Nachnamen. Beide hatten ihre echten Namen ändern lassen und kurzfristig neue Personalausweise jeweils auf den Namen Boris Wischnewski. Mehr noch: Beide ließen sich einen Bart wachsen, damit Ihre Lichtbilder auf den Wahllisten dem echten Boris Wischnewski verblüffend ähnlich sahen. Das Manöver gelang letztendlich nicht- die Wähler waren nicht so dumm wie gedacht. Irina Fatjanowa jedoch fiel den Erpressungen seitens der Polizei und den Wahlmanipulationen zum Opfer: 012 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Wir sammelten Unterstützungsunterschriften auf der Straße. Zu jedem unserer Stände kam die Polizei und forderte uns auf, unsere Tische, Stühle, Banner und Aufsteller wegzuräumen, obwohl das alles gesetzlich genau geregelt ist. Meine Teammitglieder wurden zur Polizeiwache abtransportiert, sie bekamen Geldstrafen für die Organisation gesetzwidriger Massenveranstaltungen. Wegen jeder Kleinigkeit hat die Polizei uns schikaniert. Außerdem wurden wir zum Ziel verschiedener Angriffe: Meine Banner und Plakate wurden zerschnitten, wir wurden mit Stühlen beworfen. Einige meine Teammitglieder, Angestellte in staatlichen Einrichtungen, wurden wegen ihrer Teilnahme an unseren Aktionen oder für das Sammeln von Unterschriften entlassen. Autor: Dieses Gespräch fand im August 2021 statt. Irina hatte gerade das Wahnsinns-Rennen um die 4000 Unterschriften beendet. Ihre 70 Freiwilligen und einige bezahlte Mitarbeiter besuchten nun potenzielle Wähler zu Hause, standen mit Fragebögen und Werbematerial an Straßenecken. Für Irina war es zugleich auch eine soziologische Studie: 013 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Als ich am Anfang meiner Wahlkampagne stand, habe ich mir meine Zielgruppe so vorgestellt: eine Altersgruppe von 18 bis 40. Mittelklasse, Menschen aus kreativen Berufen. Und gerade von dieser jüngeren Generation bin ich besonders enttäuscht. Die haben voller Stolz gesagt, dass sie unpolitisch und damit sehr zufrieden sind. Kein Wunder eigentlich, sie haben niemals gesehen was Politik wirklich sein kann. Sie sehen, es gibt den ewigen Putin, und Wahlen, die kaum etwas ändern. Es gab dagegen viele ältere Menschen, die sagten, sie seien die Herrschaft der Partei Einiges Russland leid. An unseren Straßenständen haben wir immer laut gesagt, wir treten gegen diese Partei an. Und einige Passanten gingen erst vorbei, dann kehrten sie zurück und waren bereit, unseren Fragebogen zu unterschreiben. Aber das war nicht immer so, viele hatten einfach Angst, eine Unterschrift zu leisten. Und das war die Mehrheit, das hat uns auch sehr enttäuscht. Fast jeden Tag traf ich Menschen, die nicht bereit waren mir ihre Stimme zu geben, nur weil ich eine Frau bin. "Eine Frau soll zu Hause sitzen, Kinder erziehen und Borsch kochen." Oder: "Eine Frau in der Politik wäre okay, aber wenn sie keinen Mann und keine Kinder hat - das darf nicht sein, was will sie überhaupt, wenn sie ihre weibliche Funktion nicht erfüllt." Oder: "Wenn eine junge Frau in die Politik geht, hat sie also einen reichen Liebhaber, irgendeinen Sponsor". Für mich war das eine traurige Entdeckung, wie patriarchalisch unsere Gesellschaft ist, und besonders bitter, wenn Frauen solche Dinge aussprechen. Traurig und lächerlich zugleich. Autor: Am 27.Juni 2021 äußerte das Russische Justizministerium den Verdacht, dass Irina Fatjanowa Anführerin einer extremistischen Gruppe sei. Daraufhin wurde ihr das Recht, sich zur Wahl zu stellen, aberkannt. Natürlich hing das damit zusammen, dass die Nawalny-Stiftung gerade erst als extremistisch eingestuft worden war. Mit der Suspendierung einer weiteren unabhängigen Kandidatin im Wahlbezirk Petrogradski - dem Partner-Stadtbezirk von Berlin Mitte - wurde der Weg zum Sieg einer Kandidatin von Einiges Russland geebnet. 014 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Ihr Vater Wjatscheslaw Makarow sitzt in der Staatsduma der Russischen Föderation. Er hat für den Krieg in der Ukraine gestimmt und steht auf den Sanktionslisten. Ich wünsche ihm also viel Erfolg! 015 Atmo: Demo in Berlin Autor: 16.Januar 2022. Jahrestag der Verhaftung von Alexey Nawalny. Etwa zweihundert Russen, Kasachen, Belorussen, und auch viele Deutsche fordern in Berlin die Freilassung von Nawalny und allen politischen Gefangenen in Russland. Autor Demo OT: Das Wort erhält der ehemalige Leiter des Nawalnystabs in Jekaterinburg Alexej Gresskó 016 Sprecher 2 Gresskó OT: Guten Tag, Freunde! Genau vor einem Jahr war ich am Moskauer Flughafen, und wir alle dachten, wir sehen Alexej endlich auf dem Heimatboden, Keiner von uns konnte ahnen, was danach geschah ... Es waren sehr viele, die Nawalny am Flughafen begrüßen wollten. Auch ich wollte diesen historischen Moment nicht verpassen. Die Verhaftungen begannen schon zwei Stunden vor der Landung der Maschine. Wir saßen alle im einem Flughafencafé, da tauchte plötzlich die Polizei auf. Ein Typ unter ihnen, ihn kannte man schon, er war von der Abteilung für Extremismusbekämpfung. Er hat einfach mit dem Zeigefinger die Polizisten losgeschickt. Autor: Wochen später am 8. Februar wurde Alexej Gresskó in Begleitung von Polizeibeamten aus Jekaterinburg wieder nach Moskau vor Gericht gebracht. In der Anklage hieß es: Weigerung, den gesetzmäßigen Forderungen der Polizei Folge zu leisten. In einem Videobeitrag der Deutschen Welle konnte man sehen, dass keiner der Verhafteten Widerstand geleistet hatte. Der Richter blieb unbeirrt und verordnete 15 Tage Arrest. 017 Sprecher 2 Gresskó OT: In unserem Stab habe ich einen Videobeitrag mit dem Aufruf zur Demonstration in Jekaterinburg am 23 Januar 2021 produziert. Das war die Demonstration (in Russland) mit der Forderung Alexej Navalny freizulassen. Die berühmte Demonstration bei minus 30 Grad! Schätzungsweise drei- bis viertausend Menschen waren auf der Straße. Eine sehr erfolgreiche Kundgebung bei solchen Temperaturen, muss ich sagen. Es war erstmal alles friedlich, dann hat irgendein Provokateur eine Rauchbombe auf die Polizisten geworfen. Es gab dann offensichtlich die Anweisung, die Kundgebung aufzulösen, und die Polizei begann die Demonstranten zu verfolgen. Autor: Am selben Tag wurde Alexei Gresskó auf der Strasse aufgespürt und für 10 Tage wegen der angeblichen Organisation einer unerlaubten Kundgebung verurteilt. 018 Sprecher 2 Gresskó OT: Sehr brutal war die Verhaftung unserer Mitarbeiterin Victoria Reich. Eines späten Abends rannten Männer in Zivil, ohne jegliche Abzeichen auf sie zu, packten sie, und zerrten sie gewaltsam in ein Auto. Natürlich hatte sie Widerstand geleistet. Sie bekam darauf 30 Tage Haft. Im russischen Gesetz heißt es: Widersetzung der gesetzmäßigen Aufforderung durch die Polizei. Autor: Im April begann Nawalny im Gefängnis einen Hungerstreik. Daraufhin organisierte die verbotene Antikorruptionsstiftung eine gesamtrussische Demonstration. Bei dieser wurde Alexej Gresskó am 21.April wieder verhaftet und bekam 30 Tage Arrest, diesmal in Jekaterinburg. Bei einer anderen Demo im Januar 2022 zum Jahrestag der Verhaftung Nawalny´s am Brandenburger Tor durfte Alexei Gressko frei reden: 019 Sprecher2 Gresskó OT: (Demo)Ich bin der Meinung, dass wir hier wirklich eine große Macht besitzen. Weil die russische Korruption direkt zu den Problemen in Deutschland führt. Tausende Flüchtlinge an der Grenze von Belarus sind ein Beispiel dafür. Jeder von uns wird in den nächsten Monaten höhere Rechnungen für Gas und Strom bekommen. Das ist eine direkte Folge dessen, wie das Putin-Regime Europa manipuliert, seine sogenannte Energiewaffe einsetzt. Sprecht mit euren Nachbarn, Freunden, deutschen Kollegen, mit der Russischen Diaspora. Von unserer Aktivität hier hängt unmittelbar nicht nur das Leben von politischen Häftlingen in Russland, sondern auch die Freiheit und Wohlstand hier ab. Dass die russische Korruption nicht nach Deutschland exportiert wird. Freiheit für die politischen Gefangenen. Freiheit für Alexej Nawalny, Russland wird frei sein! 020 Atmo: Demo Autor: Im Juni 2021 war es Alexej Gresskó gelungen, aus Jekaterinburg über die Türkei nach Deutschland zu fliehen. Gressko ist ein ehemaliger Geschäftsmann, Mitte 40. Er war DAAD-Stipendiat, hat BWL studiert, spricht gut Deutsch und hat Berufserfahrung nicht nur in Russland gesammelt, sondern auch in Frankreich, Tschechien und der Ukraine. Außerdem kann er Englisch und Französisch und interessiert sich sehr für die Politik der FDP. Gressko ist jetzt in der Stadt seiner Wahl, in Freiburg. Autor: In Jekaterinburg, das Alexej Gressko verlassen musste, entfaltete sich in den drei Wahltagen im September 2021 ein harter Kampf. Wladislaw Postnikow - ein oppositioneller und unabhängiger Kandidat für die Stadtverwaltung, Chefredakteur des Abendblattes "Wetschernije Wedomosti" war bis Anfang 2021 Leiter der als unerwünscht erklärten politischen Organisation von Michail Chodorkowski "Open Russia" in Jekaterinburg. Viele Mitarbeiter von "Open Russia" waren 2019 landesweit politisch verfolgt und verhaftet worden. Wladislaw Postnikow wurde offenbar übersehen und konnte für die Stadtverwaltung in Jekaterinburg kandidieren. 021 Sprecher 3 Postnikow OT: In vielen Regionen Russlands sind Wahlfälschungen zur Norm geworden. Ergebnisse werden nicht gezählt, zusätzlich gedruckte Wahlzettel einfach in die Urnen eingeworfen und die für die regierende Partei Putins notwendigen Ergebnisse fingiert. In unserem Gebiet werden die Wahlzettel noch relativ genau gezählt. Deswegen muss sich die Administration etwas anderes überlegen. In Jekaterinburg ist Zwang und die Bestechung von Wählern sehr verbreitet. Vor allem von Menschen, die in staatlichen Einrichtungen tätig sind: Lehrer, Ärzte, Angestellte anderer kommunaler Strukturen. Traditionell sind sie von der Propaganda beeinflusst. Man weiß schon vorher, dass etwa 40 bis 50% von ihnen für Einiges Russland stimmen werden. Diese Menschen haben einfach Angst davor, die Opposition zu wählen, weil sie entlassen werden könnten. Wenn sie am Freitag zu den Wahlen kommen, müssen sie an dem Tag nicht mehr arbeiten. Es gibt Beweise dafür, dass die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter aufgefordert haben, Berichte über ihr Abstimmungsverhalten mit Namen und Vornamen abzugeben. 022 Atmo: Wahllokal Jekaterinburg. 023 Sprecherin 1 Schukajewa OT: Ich bin hier als Wahlbeobachterin der oppositionellen Nichtregierungsorganisation "Die Stimme" eingesetzt. Diese NGO ist bei uns als sogenannter "ausländischer Agent" eingestuft worden. Ich leite auch die Internetseite von "Memorial" in Jekaterinburg. Das ist auch ein sogenannter "ausländischer Agent". Ich schreibe für Radio Liberty, ebenfalls ein "ausländischer Agent". Die Kommissionsmitglieder wissen noch gar nicht, dass ich hier eine dreifache "Agentin" bin. Autor: Die dreifache "Agentin" ist Jelena Schukajewa, eine Aktivistin und Bürgerrechtlerin in Jekaterinburg. Sie war ein Mitglied in einer Kommunalen Wahlkommission. Direkt nach dem ersten Wahltag am 17. September 2021 sprach sie aus Jekaterinburg mit dem Deutschlandfunk: 024 Sprecherin 1 Schukajewa OT:Diese Wahlkommission besteht aus Lehrern die zusammen in einer Schule arbeiten, ein Team, das schon seit 10 Jahren besteht. Ein ganz normales Kollektiv, sozusagen. Gestern kam eine große Menge Angestellter im öffentlichen Dienst zu den Wahlen, auch sehr viele Rentner. Bald ist der 1.Oktober - der internationale Tag des älteren Menschen. Die Administration hat dafür Grußkarten vorbereitet und in den Wahllokalen verteilt. Autor: Der Tag der älteren Generation ist ein internationaler Aktionstag. Er wird auf Beschluss der Vereinten Nationen seit 1991 an jedem 1.Oktober begangen. 025 Sprecherin 1 Schukajewa OT: Es gab Geschenke, vorbereitet von verschiedenen Verkaufsketten für Lebensmittel. Das waren Bonuskarten im Wert von 150 Rubel. Sie galten für Frauen ab Jahrgang 1964 und für Männer ab Jahrgang 1959. Formell waren diese Geschenke gar nicht mit den Wahlen verbunden. Es kam eine Oma, sie schimpfte und wollte nicht an den Wahlen teilnehmen, weil sie keine Bonuskarte mehr abbekommen hat. Ich sah an dem Tag viele solche armen, abhängigen und unterdrückten Wähler. Ich war schockiert wie billig die Stimme eines russischen Wählers ist. Ein Albtraum! Mit nur 150 Rubel kann man schon Menschen ködern. Autor: Zum Vorkriegskurs waren das umgerechnet knapp zwei Euro. 026 Sprecherin1 Schukajewa OT: Aufrichtig wählen sie Einiges Russland, herzlich wünschen sie Putin ein langes Leben und Glück. Für sie sind offensichtlich diese 150 Rubel die einzige und letzte Hilfe überhaupt. 027 Atmo: Wahllokal Autor: Wjatscheslaw Postnikow hat leider die Wahlen nicht gewinnen können, durfte aber als Beobachter dabei sein. Eine seiner Erfahrungen war fast operettenhaft: 028 Sprecher 3 Postnikow OT: In meiner Stadt Jekaterinburg gibt es seit Mitte des 20. Jahrhunderts noch einige Wohnviertel mit oft rückständiger Infrastruktur, bestehend aus einfachen Familienhäusern, dort wohnen vorwiegend russische Roma. Diese Viertel haben ihre ethnischen Eigenschaften, und die Menschen dort stehen unter dem Einfluss eines sogenannten Zigeunerbarons. Der Kandidat der Partei Einiges Russland geht dort hin und verspricht dem Baron entweder Geld oder die Verlegung einer neuen Straße. Irgendetwas. Autor: Dazu muss man wissen, dass die Bezeichnung ein Wortspiel ist, sie kommt von dem Wort "Rom BaRo" also, der Älteste, der Vertreter. Das Wort "Zigeuner" hat im Russischen keine abwertende Bedeutung. 028 Sprecher 3 Postnikow OT: Als Gegenleistung werden diesem Kandidaten die Stimmen verkauft. Der Älteste schickt seine Leute zu den Wahlen, der Preis: 500 Rubel pro Stimme. Diese Wähler haben oft keine Ahnung davon, was sie tun, was das für Wahlen sind, wen sie wählen sollen. Sie haben um Hilfe gebeten, wo sie ein Häkchen setzen müssen. Mitglieder der Wahlkommission haben mir heimlich bestätigt, dass so etwas systematisch stattfindet, bei jeder Wahl. 029 Sprecherin 1 Schukajewa OT:Ein sehr trauriges Bild entsteht: Die neue Macht wird für weitere fünf Jahre von diesen, ich will niemanden beleidigen, doch, von sehr alten und abhängigen, unterdrückten Menschen gewählt. Junge Menschen, die ja viel häufiger sozialen Protestbewegungen zuzurechnen sind, sehe ich selten im Wahllokal. Autor: Die Auflösung von Nawalnys Büros Anfang Juni 2021 war ein klares Signal für alle Büroleiter und Mitarbeiter der Stiftung, Russland schnellstmöglich zu verlassen. Einige blieben trotzdem. Ksenja Fadéjewa - Büroleiterin in Tomsk, der Stadt, in der auf Alexej Nawalny der Giftanschlag verübt wurde. Ksenja Fadéjewa hat 2020 im Alter von 28 Jahren die kommunalen Wahlen gewonnen. Sie war die erste aus dem Navalny-Team, die in die Stadtverwaltung gewählt wurde. Gegen sie wird ermittelt, sie darf keine Verbindung zur Außenwelt aufnehmenund die Stadt nicht verlassen. Ihr wird Extremismus vorgeworfen. Höchststrafe: 12 Jahre. Bekannt wurde auch der Fall von Lilia Tschányschewa, einer Aktivistin und Büroleiterin in Ufa, der Hauptstadt der Republik Baschkortostan. Im November 2021 wurde sie verhaftet und befindet sich heute in Moskau in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: "Aufbau einer extremistischen Organisation mit dem Ziel, unerlaubte Massenveranstaltungen zu organisieren, Unruhestiftung, Diskreditierung der Staatsorgane und ihrer Innen- und Außenpolitik, Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Notwendigkeit eines Machtwechsels in der Russischen Föderation". Ihr drohen 10 Jahre Haft. 030 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Es wurde damals klar, dass sie nicht die Einzige sein wird. Mein Kopf wusste, was zu tun ist. Aber es war schwierig, den Widerstand meines Herzens zu überwinden, und aus Petersburg zu fliehen. Innerhalb eines Tages habe ich meinen Koffer gepackt, und bin nach Georgien gefahren. Gott sei Dank wohnen meine Eltern weder in Moskau, noch in Petersburg, weit entfernt von den Großstädten, wo die Polizei häufig bei Verwandten von Oppositionellen Wohnungsdurchsuchungen durchführt und sie erpresst. Autor: Die russische Justiz schämt sich nicht sich zu rächen. Iwan Schdanow, ehemaliger Geschäftsführer der Nawalny-Stiftung war im Ausland, als er erfuhr, dass gegen ihn ein Verfahren eingeleitet ist. 031 Sprecher1 Schdanow OT: Es sind sechs oder sieben Artikel des Strafgesetzbuches. Sie aufzuzählen wäre sinnlos, weil es nur ein Ziel gibt: uns zu verfolgen und ins Ausland zu vertreiben, damit wir unsere Tätigkeit in Russland nicht fortsetzen können. Autor: Eine Rückkehr war nicht mehr möglich. In dieser Zeit wurde sein Vater, Rentner und Offizier a.D., wegen angeblichen Betrugs bei der Verteilung von sozialen Wohnungen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Als sein Sohn im Ausland blieb, wurde seine Bewährungsstrafe per Gerichtsurteil in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. 031 Sprecher1 Schdanow OT: Es gibt keinen Tatbestand in seinem Verfahren, wir haben das genau erforscht. Die Gesellschaft "Memorial International" stufte dieses Verfahren als politisch motiviert ein. Mein Vater versteht sehr genau, was passiert und warum. Er macht sich keine Illusionen, dass es nur um Rache an seinem Sohn geht. Autor: Der Rest des Nawalny-Teams hat seinen Sitz in Vilnius. Aber seine alten und neuen Mitarbeiter arbeiten nicht nur in Litauen. Auch Tbilissi in Georgien ist zu einer Stadt geworden, wo sich viele russische Polit-Emigranten zusammenfinden. 032 Sprecherin 2 FatjanowaOT: In der ersten Zeit wollte ich mich gar nicht mehr mit Politik beschäftigen. Ich war einfach total ausgebrannt nach allen diesen Gerichtsterminen und Durchsuchungen, den Repressalien gegen mich und meine Kollegen. Doch der Krieg in der Ukraine hat mich und viele meiner neuen Freunde mobilisiert. Autor: Mit dem Kriegsbeginn ist in Tbilissi ein Team entstanden, das Flüchtlinge in der Ukraine unterstützt. Über das Internet und mit Hilfe vieler Freiwilliger in verschiedenen Ländern lotst es Menschen zur Westgrenze der Ukraine und organisiert medizinische und materielle Hilfe. Danach werden die Flüchtlinge in die Hände weiterer Hilfsorganisationen übergeben. Außerdem ist Irina immer noch in der Nawalny-Antikorruptions-Stiftung tätig - diesich jetzt als eine europäische Organisation registriert hat. 033 Sprecherin 2 Fatjanowa OT: Ich moderiere Livestreams auf dem Youtube-Kanal "Nawalny live". Ich lade oft Gesprächspartner ein, die sich in der Ukraine befinden, die in der Lage sind,ein reales Bild zu zeichnen, konträr zu den Fake-News der Kreml-Medien. Autor: Auf einigen YouTube-Kanälen wie "Populäre Politik" oder "Nawalny Live" und in allen sozialen Netzwerken werden Filme und Talkshows gesendet - für Millionen Zuschauer und Leser. Einer der wahren Gründe, warum die russische Aufsichtsbehörde für Information und Kommunikation am 22.März 2022 Facebook und Instagram zu extremistischen Organisationen erklärt hat. Es wird erwartet, dass bald auch "YouTube" in Russland gesperrt wird. 034 Sprecher 1 Schdanow OT: Ich darf die genaue Zahl unserer Mitarbeiter nicht nennen, aber es sind einige Dutzende. Zu unseren Aufgaben zählt, unseren Informationseinfluss zu erweitern. Die Logik der Geschichte sagt uns, dass Diktaturen nicht lange auf dem Höhepunkt der Repressalien existieren können. Wir müssen aber auf jede mögliche Situation vorbereitet sein und Unterstützung in Russland haben. 035 Sprecher 3 Wolkow OT: Die Menschen würden gerne etwas Anderes ausprobieren. Jährlich erhalten etwa zwei Millionen junge Menschen das Wahlrecht. Und auch etwa zwei Millionen verlieren es, nicht zuletzt wegen Corona. Diese demografischen Veränderungen sind kein Vorteil für Putin. Autor: Auch Leonid Wolkow ist überzeugt, dass die Putin-Ära zu Ende geht. Drei Wochen vor Kriegsbeginn reiste der engste Mitarbeiter Nawalnys und ehemaliger Koordinator aller Nawalny-Büros, aus Vilnius zu einer Konferenz nach Köln. 035 Sprecher 3 Wolkow OT: Die Bürger Russlands sind sehr verärgert, dass ihr Lebensniveau schon drei Jahre hintereinander immer weiter sinkt. Es sind 60% der Bevölkerung, wie unsere eigenen Umfragen zeigen. Putin ist weder in der Lage, die Wirtschaft zu verbessern, noch die Korruption zu beseitigen. Wo und wodurch ist Putin noch verletzbar? Ich glaube die Antwort ist seine "Kohle". Das wurde klar, als unser Film über den Palast Putins erschien. Deswegen war Putin so wütend auf uns. Der Typ hatte 3Billionen Dollar aus dem Gas - und Ölgeschäft Russlands und 20 Jahre Zeit. Er hätte eine Expedition auf den Mars fliegen lassen können, die beste Universität der Welt schaffen oder das beste Autobahnnetz bauen können. Aber sein größter Traum war, sich einen bombastischen Palast zu bauen. Das sagt sehr viel über ihn. Unsere lieben Landsleute beginnen zu begreifen, dass Korruption ihnen die Zukunft und die ihrer Kinder raubt. Etwa 60% der Befragten sagen, dass sie das größte politische Problem sei. Im Vergleich zu 15% vor zehn Jahren. Schon seit sehr langer Zeit kann Putin keine guten Nachrichten über die Wirtschaft liefern. Das ist ein großes Problem für ihn - trotz seiner perfekt organisierten und sehr effektiven Propagandamaschine. Diese kann wirklich aus jeder Sackgasse einen Weg hinausfinden. Aber auch die perfekteste Maschine braucht Sprit. Und gerade das fehlt ihr auf dramatische Weise. Autor: Ein Blitzkrieg sollte die Popularität des Diktators steigern. Neue Thesen für die Propaganda wurden konzipiert: Die Ukraine wird zum Ursprung der russischen Nation erklärt. Dort werde alles Russische von ukrainischen pro-amerikanischen Nationalisten unterdrückt.Die Ukraine solle entnazifiziert werden. Der größte Nazi sei der Präsident und ehemaligeKomiker Selensky. Dass er Jude ist, spielt keine Rolle. Die sogenannte Russische Welt müsse dort befreit und vereint werden. Russland als eine von Feinden belagerte Festung soll stark und groß sein, damit die Anderen vor Russland Angst und Respekt haben. "Kein Russland ohne Putin" - proklamiert von Jahr zu Jahr der ewigeParlamentsvorsitzende WlatscheslawWolodin. 037 Sprecher 3 Wolkow OT:Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ja ich meine es ernst. Im System der kollektiven Sicherheit, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, war es wirklich nicht vorgesehen, dass ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates und eine Atommacht sozusagen nicht alle Tassen im Schrank hat. Putin ist nicht mehr zurechnungsfähig. Es wird immer schlimmer und er hat den Finger auf dem Atomknopf. Das bedeutet: Die Risiken, die durch ihn für die ganze Welt entstehen, werden steigen. 038 Sprecher 2 Putin OT: 10 52 Wenn jemand die Entscheidung trifft, Russland zu vernichten, haben wir das gute Recht darauf zu antworten. Ja, für die Menschheit wird es eine globale Katastrophe bedeuten. Aber als Bürger Russlands und Staatsoberhaupt möchte ich fragen: Wozu brauchen wir die Welt, wenn es dort kein Russland mehr gibt?" Autor: Sagte Putin schon 2018 in einem Propagandafilm. Antirussische Verschwörungstheorien wirken offensichtlich wie ein schweres Narkotikum auf ihn selbst, wie auch auf Millionen von Menschen, die sonst keine anderen Informationen haben oder nicht haben wollen. Ein Volk, das so stolz auf den Sieg über den Faschismus ist, lässt nun die Panzer mit einem "Z" - einem halben Hakenkreuz - ins Bruderland rollen, um es zu vernichten. "Spezialoperation" heißt es in den russischen Medien, das Wort "Krieg" darf gar nicht ausgesprochen werden. Ein Demonstrierender hielt kürzlich in Moskau das Plakat "Stoppt den Faschismus" hoch. Er wurde zu einer hohen Geldstrafe wegen Diskreditierung der russischen Streitkräfte verurteilt. Seit einem Monat vor Kriegsbeginn wurden in Russland mehr als 15 000 Demonstranten festgenommen. Das ist viel, wenn man die Brutalität der russischen Polizei und die drakonischen Strafen bedenkt. Und wenig, wenn man die getöteten Kinder in der Ukraine vor Augen hat. 039 Atmo: Demo Autor: Der Blitzkrieg ist nicht gelungen, Russland ist ein Paria-Staat geworden und steht kurz vor einem wirtschaftlichen Kollaps. Ein Zerfallsszenario für Russland und ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen. In diesem Fall hätte Wladimir Sorokin mit einer utopischen Prophezeiung Recht. Sorokin ist ein Moskauer, der heute in Berlin, der zweiten Heimat vieler russischen Schriftsteller, lebt. In seinem Roman "Telluria", verlegt von Kiepenheuer und Witsch 2015 in Köln, wird das Russland und Europa der Zukunft beschrieben - eine surrealistische Karikatur ... Sprecher 2 Zitat aus "Telluria": (bis 10.5.2023 im Internet) ...Und endlich waren wir da. Das Dickicht tat sich ein bisschen auf, eine Art Lichtung wurde sichtbar und darauf ein Stein. Ein riesiger Felsblock, zwei mal mannshoch. Wir gingen näher heran, um den Brocken herum, und in ihm drin war eine Nische ausgehöhlt. Und in der Nische drei Büsten, aus dem Granitblock herausgehauen. ... Drei Büsten! Direkt aus dem Stein gehauen, als würden sie aus der Höhlung hervortreten. ... Sonni und ich standen da, leicht benebelt, unsere Omi ging dagegen gleich hin, verbeugte sich und sprach laut: Dank sei Euch, Ihr Drei Großen! Omi sagte: Meine lieben Enkel, dies sind die drei Bildnisse dreier schicksalhafter Herrscher Russlands, vor euch seht ihr die Drei Großen Glatzen, die drei großen Ritter, die den bösen Drachen vernichtet haben. Der erste von ihnen, sagte sie, dieser Verschlagene mit dem Spitzbart, erledigte das Russische Imperium, der zweite, der Brillenträger mit dem Fleck auf der Glatze, zerstörte die UdSSR, und dieser hier mit dem kleinen Kinn richtete das fürchterliche Land namens Russische Föderation zugrunde. ... Russland wäre zu allen Zeiten ein fürchterlicher, inhumaner Staat gewesen, meinte sie, doch ganz besonders hätte das Ungeheuer im 20. Jahrhundert gewütet, als das Blut in Strömen floss und die Menschenknochen nur so knackten im Drachenmaul. Und zur Vernichtung des Ungeheuers sandte der Herrgott drei Ritter, die mit dem gleichen Mal gezeichnet waren, nämlich einer Glatze. Und die vollbrachten dann Heldentaten, jeder zu seiner Zeit. ... Dem Spitzbart gelang das, sagte sie, durch Kühnheit, dem Brillenträger durch Schwäche, dem dritten aber durch List. Und diesen letzten der drei Glatzköpfe liebte Omi offenbar am meisten. Sie murmelte zärtlich, streichelte ihn, legte ihm viele Bonbons auf die Schultern. Und schüttelte die ganze Zeit den Kopf: Wie schwer habe es der dritte, der letzte gehabt, am schwersten von allen. Hat er doch, so sagte sie, heimlich und weise gewirkt, seine Ehre, seinen Ruf geopfert, Zorn auf sich gezogen. Was musstest du an Kränkungen erdulden, sagte sie, an törichtem Hass, an blödem Volkszorn, an Lästerreden! Und streichelte ihn, küsste und umarmte ihn, nannte ihn "mein kleiner Kranich", vergoss Tränen. ... Kinderchen, er hat viel erduldet und Großes bewirkt. Absage: Russland ohne Zukunft? Die zerschlagene Opposition gibt nicht auf Ein Feature von Mario Bandi Es sprachen Jonas Baeck Lisa Bihl Martin Bross Mark Oliver Bögel Edda Fischer Stefko Hanushevsky Ton und Technik Eva Pöpplein und Gunther Rose Regie Mario Bandi Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022 21