Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Kindermord und Ordnungswahn Fritz Langs erster Tonfilm "M" Autor: Werner Dütsch Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Hermann Theißen, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2013 Erstsendung: Dienstag, 05.02.2013, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 03.01.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Ulrich Marx, Sabine Postel und Michael Weber Ton und Technik: Michael Morawietz und Beate Braun Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Zitator "Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ‚Ware' auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung." Karl Marx, Abschweifung über produktive Arbeit Kindermord und Ordnungswahn Fritz Langs erster Tonfilm - M, 1931 Ein Feature von Werner Dütsch O-Ton Loslassen! Loslassen! Reiß'm doch die Füße weg! Haltet ihn feste! Gib ihm doch'n Tritt vors Schienbein! Ho ruck....Hoch ruck...feste! Totschlagen! Totschlagen, jawohl! Totschlagen wie'n tollen Hund! Kaltmachen den Hund! Abkillen! Totschlagen, totschlagen! Du musst unschädlich gemacht werden! Du musst weg! Bravo! Sehr richtig! Der Kerl muss weg. Aber er kann doch nichts dafür. ...dieser Mensch muss ausgelöscht werden wie ein Schadenfeuer! Bravo! Dieser Mensch muss ausgerottet werden. Dieser Mensch muss weg! Sprecherin Der Brüllerei eines selbsternannten, mordwütigen Gerichts folgt die kürzest denkbare Szene eines ordentlichen Verfahrens. O-Ton Im Namen des Volkes! Sprecherin Das Urteil ist nicht zu hören. Zu vermuten ist eine Verurteilung zum Tod. Sprecher In der letzten Einstellung des Films drei Mütter, ganz in Schwarz. Eine mahnt - in die Kamera schauend - die Zuschauer. Sprecherin Eine Mahnung mit dem Beigeschmack drohender Fürsorge. O-Ton Davon werden unsre Kinder auch nicht wieder lebendig. Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben. Sprecherin Wie jedermann weiß, geht es in M um Morde an Kindern. In Berlin. Die Taten sind nicht zu sehen, es gibt nur die Nachrichten, die eine entsetzliche Hysterie ausbreiten. Aufwendig sucht die Polizei den Mörder. Das stört die Geschäfte der Unterwelt, also suchen auch die Ganoven aufwendig, sind etwas schneller als die Polizei und stellen den Verdächtigen vor ein Femegericht. Sprecher Lynchstimmung wechselt mit einem Diskurs über die Todesstrafe. Der, den alle für den Mörder halten, legt ein schreckliches Geständnis ab. Die Polizei greift ein. Sprecherin Der Mörder, der mutmaßliche, ist der Schauspieler Peter Lorre. Die Mörderrolle brachte ihm Ruhm ein und ein Problem: Man ließ ihn zeitlebens viele ähnliche Rollen spielen. Sprecher M beginnt in einem Berliner Hinterhof. O-Ton Warte, warte nur ein Weilchen, Bald kommt der schwarze Mann zu dir, Mit dem kleinen Hackebeilchen Macht er Schabefleisch aus dir. Ihr sollt det verfluchte Lied nicht singen, hab ich Euch gesagt. Könnt ihr denn nicht hören? Sprecherin Welches Lied? Da singt niemand. Sprecher Aber es gibt ein Lied, das scheltende Mütter, Kinder, ganz Berlin, ja ganz Deutschland kannte - und wohl noch immer kennt. Der gesprochenen Text genügt, es heraufzubeschwören. Sprecher Musikalische Rückblende: O-Ton Warte, warte nur ein Weilchen, Bald kommt auch das Glück zu dir. Mit dem ersten blauen Veilchen Klopft es leis' an deine Tür. Sprecherin Operettenseligkeit, 1923, Marietta, Operette von Walter Kollo. Ein Lied daraus wurde populär mit einem drastisch veränderten Text. Die neue Kombination war so haltbar, dass sie noch 1961 in die Charts aufrücken konnte. O-Ton Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Hackefleisch aus dir. Sprecherin Und Friedrich Heinrich Karl Haarmann? Sprecher 24 Morde an Jungen und jungen Männern. Kannibalismus. Hinrichtung 1925. Haarmann war nur einer der vielen Totmacher der Weimarer Republik. Sprecherin Der bekannteste Serienmörder: Peter Kürten, der Vampir von Düsseldorf. Sprecher Neun Morde, 32 Mordversuche, Überfälle, versuchte Notzucht, Brandstiftungen. Unter den Opfern Kinder. Verhaftung 1930, Prozess und Urteilsverkündung während der Produktion von M. Knapp acht Wochen nach der Premiere wird ihm im Klingelpütz in Köln der Kopf abgeschlagen. Sprecher Das Haarmann-Lied als Abzählvers: Mit jeder Wiederholung wird ein Kind ausgeschlossen. Sprecherin Ein Zufall, dass es genau zehn Kinder sind, die da im Hinterhof versammelt sind? Erinnern sie nicht an "The Ten Little Indians" und die "Zehn kleinen Negerlein", diese lustigen Einübungen in kindgerechten Rassismus? Sprecher Für seinen Film Die Frau im Mond hat Fritz Lang 1929 den Countdown erfunden: Nicht hochzählen - eins, zwei, drei usw. - und keiner weiß, wann's losgeht, sondern runterzählen, von zehn - auf Null. Sprecherin Auf die makabre Kinderfolklore folgt in M eine Sequenz, die einen Kindermord nicht zeigt, aber nachdrücklich suggeriert. Und es gibt gleich einen Verdächtigen. Sprecher Verdächtig für die Zuschauer, nicht für die Leute in dieser Geschichte, die ihn lange nicht aufspüren können. Fritz Lang konditioniert die Fantasie seines Publikums: Sprecherin Peter Lorre hat einem Mädchen Süßigkeiten gekauft, nun stehen beide auf der Straße. Lorre greift in seine Hosentasche, ein Springmesser blitzt auf. Nahaufnahme. Der Zuschauer weiß, was der Mann jetzt tun wird, den er für den Mörder hält. Ein Verbrechen, das nur im Kopf des Zuschauers stattfindet. Peter Lorre wird eine Apfelsine schälen. Sprecher Eine Szene am Stammtisch. O-Ton Wer ist der Mörder. Wie sieht er aus. Wo verbirgt er sich? Niemand kennt ihn. Und doch ist er mitten unter uns; und jeder, der neben dir sitzt, kann der Mörder sein. Jawoll. Sehr richtig. Was kiekst'n mich denn dabei so an? Wirste schon wissen. Wat soll ick wissen? Na denk mal nach, wird dir schon einfallen! Wat willst'n damit sagen? Dass ick dir ooch schon mal jesehn habe, wie du hinter der Kleeen aus dem vierten Stock die Treppe ruffjejangen bist! Du bist wohl verrückt, du Schweinskerl. Sprecherin Schon vor dieser Szene waren zwei Mädchen oben auf einem Treppenabsatz zu sehen. Die Kamera schaut von unten zu. Lang zwingt dem Zuschauer die heftig inkriminierte Perspektive auf - die aber ist ganz unverdächtig. Sprecher Eine Zeitung hat ein Bekennerschreiben abgedruckt. Der Innenminister reagiert besorgt. Sprecherin Seine Sorge gilt weniger den Kindern. Wie auch der Film interessiert er sich mehr für die Reaktionen und Effekte die von den Morden ausgelöst werden. O-Ton Es ist ein Skandal sondergleichen! Was glauben Sie, Herr Polizeipräsident, was eine solche Notiz für einen Eindruck auf die Öffentlichkeit machen wird! So etwas ist einfach unverantwortlich. Sprecher Der Polizeipräsident setzt an zu einer umfänglichen Darstellung der Polizeiarbeit. O-Ton Selbstverständlich ist es beinahe ausgeschlossen, auf einem Blatt Papier, das durch so viele Hände gegangen ist, noch irgend einen brauchbaren Fingerabdruck festzustellen. Sprecher Fingerabdrücke galten und gelten ihrer höchst wahrscheinlichen Einmaligkeit wegen als unverzichtbare und sichere Identifikationsmerkmale. Doch die am Tatort gefundenen Abdrücke, sogenannte "latente Abdrücke", sind unvollständige, verwischte, sich überlagernde Spuren. Wieviele Kennzeichen des gespeicherten Abdrucks müssen mit dem "latenten Abdruck" übereinstimmen? Das ist von Land zu Land verschieden und reicht heute von neun bis sechzehn. Sprecherin In M gibt es einen einzelnen Fingerabdruck, der die ganze Leinwand füllt - da sind fünf Merkmale bezeichnet. Bei welcher Zahl beginnt die Wahrheit zu sprechen? Sprecher Lang zeigt noch eine Einschränkung. Eine Fingerabdruckkarte aus dem Vorrat der Polizei. Es sind aber nur vier Abdrücke zu sehen. Zu lesen ist auch der Name, den die Person im Milieu und bei der Polizei hat: Vierfinger-Emil. O-Ton Anschließend geht der Brief sofort zur graphologischen Begutachtung. Sprecherin Vor einer Wand aus unzähligen Karteikästen schreitet der Gutachter diktierend auf und nieder. Eine sogenannte Expertise: O-Ton Der oben erwähnte Rautenzug oder Schwellzug, Klammer, am deutlichsten in dem Worte bald, dritte Zeile von unten, Klammer zu, haben Sie? Ja. Registriert die die pathologisch starke Sexualität dieses Triebmenschen. Punkt. Die zerbrochene Schreibart mancher anderer Buchstaben ist in ihrer zeichnerischen Weise ein Ausdruck von Schauspielerei, die nach außen hin die Form der Indolenz, ja der Trägheit wählen kann. Im ganzen Schriftbild liegt ein schwer erweisbarer, aber intensiv fühlbarer Zug von Wahnsinn. Sprecherin Der Wahnsinn ist schwer erweisbar. Pathologisch starke Sexualität wird einem Mann bescheinigt, der für einen Triebtäter gehalten wird. Als Ausdruck von Schauspielerei gilt eine gebrochene Schreibart, Sprecher - die, wie sich zeigen wird - einer rauhen Schreibunterlage geschuldet ist. O-Ton Die Beamten der Mordkommission kommen nicht mehr aus den Kleidern heraus, leben beständig auf dem qui vive, ständig in der Hochspannung der Alarmbereitschaft. Sprecher In einem Büro, recht entspannt, zwei Beamte - rauchend, mit Butterbroten und Bier. O-Ton Mit jedem Tag erweitern wir das Fahndungsgebiet. Sprecher Zu sehen: Ein Zirkel der auf einer Stadtteilkarte dreimal einen Radius zieht, jeder mit einem Datum versehen. Im Zentrum, da wo offenbar ein Tatort ist, steht das winzige dreidimensionale Modell der Laubenkolonie, die zuvor durchsucht wurde. Sprecherin Polizisten haben zeitraubend an einer nutzlosen, aber hübsch anzuschauenden Miniatur ihres Arbeitsplatzes gearbeitet. "Reichlich viel Humorsituationen" hat die zeitgenössische Kritik dem Film bescheinigt. O-Ton Zeugenvernehmung Nummer 1478, Mordsache Beckmann. Sie ham keene Ahnung! - Mehr wie Sie, Herr! - Aber meine Herren, meine Herren! Sie müssen doch wenigstens wissen, welche Farbe die Mütze von dem kleinen Mädchen hatte, das sie heute Mittag mit dem Unbekannten gesehen haben wollen! - Natürlich Herr Kommissar, die Mütze war rot! - Herr Kommissar, die Mütze war grün! - Die Mütze war rot! - Die Mütze war grün! - rot - grün - rot - grün - rot - grün - rot - grün - rot - grün - Also Schluss, Schluss, Schluss! Hat ja keinen Zweck! Ich danke ihnen meine Herren! - Bitte! - Der Nächste bitte! Sprecherin Der Film ist nicht klüger als die beiden Herren: Wäre die Mütze zu sehen, wäre nichts gewonnen - es ist ein Schwarz-Weiß-Film. O-Ton Seit dem Auftauchen des Mörders hat die Polizei Nacht für Nacht die Obdachlosenasyle kontrolliert und die Insassen einer eingehenden Prüfung unterzogen. Selbstverständlich erhöht dieses Verfahren weder die Beliebtheit der Polizei, noch mindert es die Nervosität der Bevölkerung. Die Überwachung der Bahnhöfe wird ununterbrochen aufrechterhalten. Trotzdem haben die Nachforschungen bis jetzt nicht das geringste Resultat gezeitigt, ebensowenig wie die allnächtlichen Razzien in den Verbrechervierteln. Sprecher "Besonders die Baustellen werden geradezu durchgekämmt" - hieß es in einem verloren gegangene Dialogstück des Films. O-Ton Was nützt mir das alles! Herr Polizeipräsident! Dass Sie nicht faulenzen, das weiß ich! Aber damit schaffen wir die Tatsache nicht aus der Welt, dass ein unbekannter Mörder viereinhalb Millionen Menschen terrorisiert, und dass die Polizei versagt. Sprecherin Warum sucht die Polizei in Obdachlosenasylen, auf Baustellen, bei Razzien in den Verbrechervierteln? Vorurteile von Beamten, die den Mörder bei armen Leuten, unter Arbeitern und in der Gesellschaft von Verbrechern vermuten. Sprecher Der vergnüglichste Teil des Films ist eine für die Suche nach dem Mörder ganz nutzlose Razzia, bei der Polizei und Ganoven jovial und familiär miteinander verkehren, ein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Die Verbrecher nennen den Kommissar mit humorigem Respekt "Papa Lohmann" und der redet die Gesetzesbrecher fürsorglich herablassend an mit "Kinder, Kinder". Sprecherin Lohmann, der Film-Kommissar, hatte als reales Vorbild: den ungewöhnlichen, erfolgreichen und beliebten Berliner Kriminalbeamten Ernst Gennat. Sprecher Gennat wurde auch nach Düsseldorf gerufen, um den Serienmörder Peter Kürten zu fangen. Das misslang trotz großen Aufwands. Kürten wurde schließlich von seiner Ehefrau bei der Polizei gemeldet. Sprecherin Von der vielen und erfolglosen Arbeit der Polizei empfindlich gestört, beschließen die Verbrecher, den Mörder zu fangen. Sie mobilisieren dazu die Bettler. Sprecher Ein Heer von Bettlern, unter ihnen Krüppel, die auf den 1. Weltkrieg verweisen. Bedürftige, ohne Frage Arbeitslose, 1931. Sprecherin Deren Koordination besorgen die Ringvereine, Bündnisse von Gangstern und Gaunern, die ehemalige Häftlinge und die Angehörigen einsitzender Kumpane versorgten. Die Vereine gaben sich illustre Namen - Libelle, Der Freie Bund, Apachenblut. Der schönste Namen in Berlin: Immertreu. Wie aber soll die Jagd auf den Mörder nun weitergehen? O-Ton Verschärfung der Paßkontrolle. Durchsieben der ganzen Stadt. Razzien, immer neue, immer schärfere Razzien. Spitzel, Spitzel müssen wer haben. Jeder Wohnungsinhaber, jeder Hausbesitzer, jeder der ein Gundstück hat, muss verpflichtet werden, eine peinlich genaue Durchsuchung seines Besitztums nach irgendwelchen Spuren durchzuführen. Ich meine, die augesetzte Belohnung ist auch viel zu gering, Herr Präsident. Eine... ein Vermögen müsste dem Auffinder des Mörders winken. Das ist alles kein neuer Weg! Das ist alles nischt! Ja, aber was dann? Sollen wir vielleicht warten, bis die Polizei den Kerl erwischt hat? Es gäbe vielleicht noch einen Weg. Über die als Täter in Betracht kommende Person ist zweifellos irgendwo bereits Material vorhanden. Er ist doch sicher, als ein schwer pathologischer Mensch schon einmal mit den Behörden, im allgemeinen Sinne, in Berührung gekommen. Darum müssen alle Fürsorgeanstalten, Gefängnisse, Nervenkliniken und Irrenanstalten zu schärfster Mitarbeit angeregt werden. Sehr richtig! Speziell über die Leute müssen wir Auskunft bekommen, die als harmlos entlassen wurden, die ihrer ganzen Veranlagung nach aber mit dem Mörder identisch sein könnten. Wir müssen die Stadt mit einem Netz von Spitzeln überziehen! Jeder Quadratmeter muss unter ständiger Kontrolle stehen. Kein Kind dieser Stadt darf einen Schritt tun, von dem wir nichts wissen. Ja...gut...aber wie? ... Wer? Es müssen Menschen sein, die überall hinkommen, ohne Aufsehn zu erregen, die jedem auf der Strasse nachgehen können, ohne aufzufallen, die jedem Kind in jedes Haus folgen können, ohne Misstrauen zu erwecken, mit einem Wort: Menschen, die unmöglich den Verdacht des Mörders erregen können. Sprecherin Es sind zwei gut zu unterscheidende Konferenzen, die sich um die ausgedehnte Fortsetzung der bisher so erfolglosen Fahndung bemühen. Eine Sitzung beim Polizeipräsidenten und eine Zusammenkunft der Unterwelt. Sprecher Kontrolle ist immer auch das Ziel von Fritz Langs populärster Kinofigur: Dr. Mabuse. Für den unangenehmen Akademiker beginnen mit Macht und Kontrolle Chaos und Zerstörung. Noch 1960 geistert Mabuse durch Langs letzten Film - Die 1000 Augen des Dr. Mabuse. Die 1000 Augen, das sind Kameras in den Zimmern eines Berliner Hotels, das die Nazis unvollendet hinterlassen haben. Der Nachfolger Mabuses hat die Spionage-Anlage vollendet. Was immer die Gäste auch tun, Mabuse versucht, es zum Teil seiner Pläne zu machen - mit Hilfe einer Zentrale, in der alle Bilder abrufbar sind. Sprecherin Die Allmachtsfantasie eines Filmemachers: Übersicht, Kontrolle, Regie. Sprecher Überwachungskameras: In Großbritannien wird deren Zahl für 2008 auf knapp viereinhalb Millionen geschätzt. Nur weiß die Polizei der produzierten Bilderflut nicht mehr Herr zu werden. Sprecherin Inzwischen gibt es eine Big-Brother-Maschine, die herausfindet, wer in naher Zukunft in ein Verbrechen verwickelt sein wird, gleich ob Opfer oder Täter. Nur kann die Maschine zwischen beiden nicht unterscheiden. So 2012 in der US-Fernseh-Serie Person of Interest. Sprecher Der Unterscheidung zwischen Täter und Opfer: Der gebricht es auch in M an Eindeutigkeit: Die Mitglieder der Ringvereine begreifen sich als Opfer der Polizeiarbeit. Verängstigte Bürger werden zum lynchenden Mob. Die Polizei erzwingt die Aussage eines Ganoven mit einer falschen und unerlaubten Beschuldigung. Der mutmaßliche Mörder entgeht gerade noch der Ermordung durch ein Femegericht. Sprecherin Zur Premiere von M hat Fritz Lang sein Interesse an Serienmorden formuliert: Zitator " ... eine fast gesetzmäßig sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, die Selbstbezichtigung geistig minderwertiger, Denunziationen, in denen sich der Haß und die ganze Eifersucht, die sich im jahrelangen Nebeneinanderleben aufgespeichert hat, zu entladen scheinen, Versuche zur Irreführung der Kriminalpolizei, teils aus böswilligen Motiven, teils aus Übereifer." O-Ton Können Sie mir sagen wie spät es ist? Ja, mein Kind. Jetzt musst du aber schnell nach Hause gehen! Wo wohnst du denn, mein Kind? Wat jeht'n det Sie an, wo det Kind wohnt? Wie bitte? Wat woll'n Se denn von die Kleene? Gar nichts will ich! Was wollen Sie denn überhaupt? Das wirste gleich sehen, wat ick von Dir will! Lassen Sie mich doch los! Das ist ein, eine Unverschämtheit! Was ist denn los hier? Eine Unverschämtheit Was will der Brillenaffe? Hab Dir man nicht so! Erst Kinder anquatschen... ... Hau ihm doch eins in de Schnauze! Was hat'r gesagt? ... und denn noch kess werden ... Aber bitte, lassen Sie mich doch los! Ich hab das Kind doch gar nicht angesprochen. ... Hast wohl die Kleene verschleppen wollen, wat? ... ja, und dann umbringen...wie die anderen, was? ...Vielleicht ist det der Mörder! ...Mädchenmörder!... ... Halt'n feste!... ...Ruft doch die Polizei ... ... Natürlich is wieder keen Schupo hier!... ... Herr Wachmeester! ... ... Herr Wachmeester! ...Herr Wachmeester! ...Herr Wachmeester! Platz machen, meine Herrschaften. Den Eingang freimachen. 'n kleen' Taschendieb festnehmen, det könnt'r. Weiter nischt! Fangt doch lieber den Kindermörder! Was - der Kindermörder?! ... Kindermörder? War das der Kindermörder? Weitergehen! Nicht stehen bleiben! Weitergehen! Bestie! Schlagt'n tot, die Bestie! Sprecherin Der Verdächtige wird von aufgebrachten Passanten umringt, geht zu Boden; es wird auf ihn eingeschlagen. Totschlag? Eine Lynchszene? Sprecher 1929, zwei Jahre vor M erscheint ein Buch, in dem ein Dieb in Berlin gejagt wird. Den Verfolgern wird klar, dass es nicht reicht, ihn mit Spionen zu umzingeln. Zitator "Wir müssen ihn regelrecht hetzen, von allen Seiten". Sprecherin Die ihn da umzingeln und zur Hatz ansetzen sind Emil und die Detektive, für die der Autor - Erich Kästner - ein reichhaltiges militärisches Vokabular bereitstellt. Das mag man eine spielerisch ironische Aneignung soldatischen Jargons nennen - aber das Soldatenspiel ist zugleich Menschenjagd. Sprecherin "Mindestens zwanzig Jungen" - schreibt Kästner - umringen den Mann. In der Verfilmung, die zwei Monate nach der Premiere von M beginnt und noch im selben Jahr Premiere hat, sind es sehr viel mehr. Inmitten der kindlichen Verfolger ist der Dieb plötzlich nicht mehr zu sehen. Haben sie ihn niedergemacht, niedergeschlagen? Sprecher Im Buch wird er von einem Polizisten befreit. Im Film braucht es dazu zwei. Sprecherin Der Verdächtige in M wird von der Unterwelt aufgespürt - und etwas später von der Polizei. Beiden Jagdgesellschaften gelingt das ganz ohne Massen von Polizisten und Bettlern, ohne eine alarmierte Öffentlichkeit, ohne flächendeckende Beobachtung: Ein Blinder identifiziert den Verdächtigen - mit seinen Ohren. Der Kommissar erinnert sich an eine Zigarettenmarke. Das war es dann auch schon. Sprecher Aber wer wird da gefangen genommen? Sprecherin Das ist ein kleiner, etwas rundlicher Herr, ganz sicher Junggeselle, so um die 30. Er geht freundlich und großzügig mit Kindern um - was sich von den Müttern des Films kaum und von den abwesenden Vätern schon gar nicht vermuten lässt. Dieser Flaneur mit weichen, sanften Zügen kann den Eindruck erwecken, selbst Kind zu sein. Dafür findet der Film ein schönes Bild: Lorre zusammen mit einem Mädchen - beide glückstrahlend, mit fast identischen Gesichtzügen - beide vor Puppen, Masken und einem schlenkernden Hampelmann. Sprecher Nur sind die beiden von dieser Kinderlandschaft unmissverständlich ausgeschlossen - es ist eine Schaufensterauslage. Sprecherin Auffällig zwei Manien des Kinderfreundes. Sprecher Die eine: Immerfort machen sich seine Hände an seinem Gesicht zu schaffen. Rauchen, Trinken, auf der Straße einen Apfel essen - was in diesem Film wie eine infantile, für einen Erwachsenen ungehörige Disziplinlosigkeit erscheint. Sprecherin Oder er hat die Finger gleich am Mund, wie in jenen 15 Sekunden, in denen er in den Spiegel schaut, mit den Mittelfingern beide Mundwinkel nach unten zieht und die Augen soweit öffnet, dass sie hervorzutreten scheinen. Sprecher Vor dem Spiegel sieht es aus wie auf dem Toilettentisch einer Dame: eine Haarbürste, Shampoo, Dosen, Fläschchen. Die Einstellung ist als entlarvendes Bild beschrieben worden, Beleg für die abgründige Selbstbeobachtung eines Mörder. Sprecherin Vielleicht aber ist es kindliche Lust am Fratzenschneiden. Ein Halloween-Spiel. Nicht zufällig, dass gleichzeitg ein Gutachten zu hören ist: O-Ton ...ein Ausdruck von Schauspielerei, die nach außen hin die Form der Indolenz, ja der Trägheit wählen kann. Lorre pfeift Sprecher Die andere Manie des Verdächtigen: sein häufiges Pfeifen - nervös, wenig perfekt, immer wieder abgebrochen. Sprecherin Das ist der Anfang der Komposition In der Halle des Bergkönigs von Edvard Grieg - für das Drama Peer Gynt von Henrik Ibsen. Diese Musik beginnt leise und langsam, steigert sich dann mit immer mehr Instrumenten und zunehmendem Tempo zum lauten Prestissimo. Aber davon ist nur ein kläglicher Anfang zu hören. Ein Aufbruch, der sofort abbricht. O-Ton Lorre pfeift Sprecher Nach der Gefangennahme eröffnen die Verbrecher im Gewölbe einer verlassenen Schnapsfabrik die böse Karikatur einer Gerichtsverhandlung. Ein Feme-Gericht: Das Urteil ist schon gefällt. O-Ton Wollt Ihr mich denn einfach kaltmachen? Wir wollen Dich unschädlich machen, das wollen wir. Und ganz sicher unschädlich bist Du nur, wenn du tot bist. Sprecher Vor der brüllenden, blutrünstigen Meute, deren Sprecher wegen dreifachen Mordes gesucht wird, beginnt der Gefangene eine Verteidigung, die eine furchtbare Wende nimmt: O-Ton Wer seid Ihr denn alle miteinander? Verbrecher! Bildet Euch womöglich noch was ein drauf! Weil Ihr Geldschränke knacken könnt oder Fassaden klettern oder Karten zinken. Lauter Sachen, denk ich mir, die Ihr geradeso gut lassen könntet, wenn Ihr was Ordentliches gelernt hättet oder wenn Ihr Arbeit hättet oder wenn Ihr nicht so faule Schweine wärt! Aber ich, kann ich denn, kann ich denn anders? Hab ich denn nicht dieses Verfluchte in mir? Das Feuer - die Stimme, die Qual? Immer - immer muss ich durch Straßen gehen...immer spür ich, da ist einer hinter mir her, das bin ich selber, und verfolgt mich - lautlos. Aber ich hör es doch. Ja manchmal ist mir, also ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon - vor mir selber davonlaufen - aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss den Weg gehen, den es mich jagt, muss rennen, rennen, - endlose Straßen, ich will weg - ich will weg - und mit mir rennen die Gespenster von Müttern und Kindern - die gehen nie mehr weg, die sind immer da, immer, immer, immer. Nur nicht wenn ich's tue. Wenn ich... Dann weiß ich von nichts mehr! Dann - dann steh ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe - und lese - und lese, das habe ich getan?! Aber ich weiß doch von gar nichts. Aber wer glaubt mir denn? Wer weiß denn, wie es in mir aussieht? Wie es schreit und brüllt da innen! Wie ich's tun muss - will nicht - muss - will nicht - muss! Sprecher Die lynchwütige Versammlung ist sich ganz sicher: Es gibt zwischen ihren Untaten und dem Mörder einen grundsätzlichen Unterschied: O-Ton Meine Herren, wenn sich mir bei Ausübung meines Berufes ein Kriminalbeamter in den Weg stellt, dann weiß er, welches Risiko er eingeht, und ich weiß es auch. Wenn einer dabei drauf geht - im Beruf gestorben. Schön! Geht in Ordnung. Aber zwischen dem, den die Kriminalpolizei sucht und zwischen uns, da ziehen wir einen dicken Strich. Sehr richtig! Da ist Schluss! Bravo! Wir üben unseren Beruf aus, weil wir existieren müssen. Aber diese Bestie hat kein Recht zu existieren. Die muss weg! Die muss ausgerottet werden, vertilgt, ohne Gnade und Barmherzigkeit! Meine Herren, unsre Mitglieder müssen wieder in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können, ohne durch die überhand nehmende Nervosität der Kriminalpolizei andauernd gestört zu werden. Sprecherin Eine robuste, Ordnung benötigende Geschäftswelt hier, dort unkontrollierbare Triebe: So möchten die Verbrecher das gern unterschieden wissen. Sprecher Das macht der Film so nicht mit. Während des Geständnisses heißt es: O-Ton Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon - vor mir selber davonlaufen - aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Sprecherin Zu sehen sind währenddessen nachdenklich werdende Gesichter von Ganoven, die durch Kopfnicken zu erkennen geben, dass sie genau das kennen, wovon der Verdächtige spricht: Komplizenschaft. Sprecher Fritz Lang hat viele Jahre nach M erklärt: Zitator "Selbstverständlich konnte ich den schrecklichen Sexualmord an diesem Kind nicht zeigen, und so, durch das ‚Nicht-zeigen' der Tat erreichte ich mehr Reaktionen der Zuschauer als wenn ich die Szene im Detail gezeigt hätte. Ich zwang den Zuschauer, seine eigene Vorstellungskraft zu gebrauchen." Sprecher Sexualmord? Sprecherin Das lässt der Film vermuten - und er verbirgt es. Alle haben als Aufklärer oder Verdächtige damit zu tun, doch es bleibt unausgesprochen. Sexualität ist in M beschädigt, versteckt, abwesend. Es gibt in M kein Liebespaar und keine Beziehungen, die man freundschaftlich, innig, erotisch nennen könnte. Sprecher Die Frauen in M? Verhärmte, arbeitende Mütter und Prostituierte. Sprecherin Die Männer? Legale und illegale Horden mit verschleierten und versteckten Neigungen. Oder erotisches Interesse, das gar keinen Partner braucht. Der Treffpunkt der Bosse der Ringvereine ist ausgestattet mit Drucken von Haremsbildern, die damals auch Schlafzimmerbilder hießen. Ein Herr am Stammtisch raucht eine Pfeife, auf der liegt eine winzige Figur - eine nackte Frau. Ein anderer Mann treibt sich verdruckst und schlechten Gewissens auf der Damentoilette herum. Der Kommissar sitzt in einer von ganz unten aufgenommen Einstellung breitbeinig auf einem Stuhl. Sehr wohl sichtbar zeichnet sich sein Gemächt ab. Wenig später erfährt er ganz unerwartet, wohin die Ganoven den Verdächtigen verschleppt haben: Fassungslos und wie von einem Schwindel erfasst, wird er seinen erhitzten Kopf unters Wasser halten - um dann mit geradezu postkoitaler Zufriedenheit ins Büro zurückzukehren. Sprecher Warum ist der Blick einer Mutter, die zur Uhr aufschaut - es schlägt 12 und die Tochter wird aus der Schule zurückerwartet - geradezu andächtig und verklärt, - und erinnert an die auch sexuell konnotierte Verzückung, mit der Märtyrerinnen dargestellt worden sind. Sprecherin Während des grauenvollen Geständnisses - genau dann, wenn Lorre davon spricht, vor sich selbst und vor den Gespenstern von Müttern und Kindern auf der Flucht zu sein, ist Verzückung in seinen Gesichtszügen zu lesen und aus seinen Worten zu hören. O-Ton Nur nicht, wenn ich's tue, wenn ich... Dann weiß ich von nichts mehr! Sprecher Bevor er ermattet zusammensinkt, ist er für einen Moment ganz außer sich, fast besinnungslos. Sprecherin Das weckt die Erinnerung an eine andere Szene: Lorre vor einem Schaufenster. In der Auslage Etuis für die Maniküre und viele Messer, streng angeordnet. Ein Mädchen tritt vor das Schaufenster, Lorre sieht es als Spiegelung, als Bild. Für einen Moment - bevor das Mädchen wieder verschwunden ist - scheint er ganz wie von Sinnen, ganz außer sich zu sein. Das Mädchen stand neben ihm. Was ihn verwirrte, ihn plötzlich willenlos und wie betäubt dastehen lässt, das war ihr Bild. O-Ton Straßenlärm, Lorre pfeift Fein Lorre pfeift Danke schön Lorre pfeift Sprecher Wie beschreiben die Leute im Film den Verdächtigen, von dem das Publikum stets sicher ist, er sei der Mörder? O-Ton Niemand kennt ihn. Und doch ist er mitten unter uns. Und jeder, der neben Dir sitzt, kann der Mörder sein. Das ist vielleicht ein Mensch, der außerhalb des Zustands, in welchem er tötet, ein harmlos aussehender, gut bürgerlicher Mensch ist, der keiner Fliege was zu leide tut! Vielleicht spielt er in normalem Zustand mit den Kindern seiner Wirtin Murmeln, oder er kloppt mit dem Manne Skat. Ohne diese, ich will mich mal ausdrücken, private Harmlosigkeit bei Mördern, ist es doch gar nicht denkbar, dass ein Mann wie Großmann, Haarmann, jahrelang Tür an Tür mit anderen Mietsparteien leben konnte, ohne auch nur die Spur eines Verdachtes auf sich zu lenken. Aber die Polizei steht vor der fast unlösbaren Aufgabe, einen Täter zu fassen, der bisher auch nicht die geringste Spur hinterlassen hat. Sprecherin Ein Jedermann. Ein Jedermann, ausgestattet mit genau den Eigenschaften, die der Sprecher der Ringvereine für die Verfolger verlangt hat: Es müssen Menschen sein, O-Ton die überall hinkommen, ohne Aufsehn zu erregen, die jedem auf der Straße nachgehen können, ohne aufzufallen, die jedem Kind in jedes Haus folgen können, ohne Misstrauen zu erregen, ... Sprecher Wie nahe kommen sie sich, wie ähnlich sind sie einander: der mögliche Täter und das Heer derer, die ihn fangen wollen? Sprecherin In der Szene des falschen Gerichts stehen sie sich gegenüber, aber wer steht da für Mordlust, wer für Lustmord? Sprecher 1930 - ein Jahr vor M, erscheint Sigmund Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur. Zitator "Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes. Die Unwiderstehlichkeit perverser Impulse, vielleicht der Anreiz des Verbotenen überhaupt, findet hierin eine ökonomische Erklärung... Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter all dem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten .... man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich' sei, ist im Plan der ‚Schöpfung' nicht enthalten." Sprecher Peter Lorre spielt seine Szenen mit einer solchen Überzeugungskraft, dass Zweifel an seiner Täterschaft und an seinem Geständnis nicht aufkommen wollen. Doch das Geständnis erklärt nicht viel. Da fühlt sich einer getrieben, aber von was und von wem? Und wie ist zu verstehen, wenn er betont, von nichts zu wissen, wenn er die Taten bekannt gemacht sieht - sich aber zugleich an die Taten erinnert wie an eine Erlösung von der Verfolgung, der er sich ausgesetzt sieht? Erinnerung an Mord als Augenblick höchster Lust oder ein Äußerstes an destruktiver Imagination? Die Polizei benutzt bei ihrer Suche eine Liste, auf der vormalige Insassen von Nervenkliniken oder Irrenanstalten verzeichnet sind. Auch das ein Grund, Zweifel an einem schrecklichen Geständnis zu wecken. Sprecherin Das Problem der Leute im Film ist auch das Problem des Erzählers Fritz Lang: Beide brauchen einen einzelnen, identifizierbaren, wiedererkennbaren Täter. Wenn es Lorre nicht ist, dann kann es jeder andere sein, und jedem muss misstraut werden, jeder gehört überwacht. Eine Krise, gut für Sündenböcke. Sprecher Und wie kann das Erzählkino ohne unverwechselbaren Täter auskommen? Mit einem Ende, das nichts zuende erzählt? Mit einer am Ende erfolglosen Polizei? Mit einer am Ende immer noch hysterischen Öffentlichkeit? Mit einem Publikum, das am Ende im Ungewissen bleibt? Sprecherin Die Öffentlichkeit in diesem Film, die im Kino und die draußen - Premierenberichte. Sprecher Berliner Tageblatt, 12. Mai 1931: Zitator "Premierenbeifall, zuvor Widerspruch. Dann Diskussionen". Sprecher Berliner Börsen-Zeitung,12. Mai: Zitator "Dabei geriet das Premierenpublikum so in Aufregung, dass einzelne in höchster Erregung für und wider Partei nahmen. Als durch eine Dialogbemerkung die Anwendung des berühmtern §51 ironisiert wurde, schrie eine Stimme aufgeregt: 'Das ist der Pferdefuß der Reaktion!', auch andere Bemerkungen flogen munter durch den Saal. Jemand sagte nachher, er hätte noch nie einen so widerwärtig brutalen Film gesehen." Sprecher Filmkurier,12. Mai: Zitator "Nach Schluß dieses ersten Tonfilms von Harbou-Lang stauten sich vor dem Ufa-Palast die Gruppen. Es erfolgte die Fortsetzung der bereits während der Vorführung spontan einsetzenden Diskussion für oder gegen die Todesstrafe. Aus einer Anzahl von 'Vorhängen' wurde eine Unzahl: Und die Debatten auf der Strasse gemahnten an die Zeiten politischer Hochstimmung. Was war geschehen? Dies ist der Anfang erst einer über das gewohnte Intensitätsmass der Filmwirkung an sich herausgehenden Beeinflussung. Auseinandersetzung wird hineingetragen in Haus und Familie. Keiner kann sich dem Zwang entziehen. Das Lichtspiel wird, endlich, zur Waffe im Kulturkampf. Ein Stück vom Fragenkomplex der Zeit ward zum Zeitstück geformt. Fritz Lang schafft bewußt für die Millionen der Kinobesucher. Produzent und Film-Gestalter in einem, formt er das Bild, wie er es sieht. Innerhalb der Gemeinschafts-Leistung ist er Anreger und Führer. Kein Filmstar, sondern ein Filmstalin." Sprecher Vossische Zeitung, Postausgabe, 13. Mai 1931: Zitator "Wir sind Gegner der Filmzensur. Aber wenn wir es noch nicht wären, so würden wir es jetzt werden. Denn wirklich aufklärende, ein Problem mit Verantwortung anpackende Werke, wie etwa Kinder vor Gericht, werden verboten. Dieser hier aber, der die brennendsten und heikelsten Themen der Kriminalistik und der Sexualpathologie zu einem, freilich technisch und streckenweise auch künstlerisch hervorragenden Reißer verarbeitet, in dem Verbrecher zu Heroen romantisiert werden, damit sie als Moralwächter den noch größeren Verbrecher zu Tode verurteilen können, - ein derartig die Begriffe verwirrender, in seiner ganzen ,Ethik' tief asozialer Film darf gezeigt werden." Sprecherin Dieselbe Ausgabe der Vossischen Zeitung berichte von "Zuchthausanträgen für Hitlerleute". Gemeint ist ein Prozess, in dem am 8. Mai Adolf Hitler vor Gericht zur Verantwortung der NSDAP befragt worden ist - im Verfahren gegen einen Mörder aus den Reihen der SA. Sprecher Dr. Joseph Goebbels, Tagebuch vom 21. Mai: Zitator "Abends mit Magda Film M von Fritz Lang gesehen. Fabelhaft! Gegen die Humanitätsduselei. Für Todesstrafe! Gut gemacht. Lang wird einmal unser Regisseur. Er ist schöpferisch." Sprecher Arbeiterbühne und Film, Juni 1931: Zitator "Der Kulturelle Bankrott des Bürgertums ... Jeder weltanschauliche oder moralische Maßstab fehlt." Sprecherin Der berühmteste und meist analysierte Teil des Film zeigt, wie Lorre ein ballspielendes Mädchen anspricht und ihm einen Luftballon schenkt. O-Ton Du hast aber einen schönen Ball ...Wie heißt du denn? Elsie Beckmann. Sprecherin Es folgt die Szene mit der Mutter, die vergeblich auf die Tochter wartet. O-Ton Elsie! Elsie! Elsie! Elsie! Elsie! Elsie! Sprecherin Dann ein Gelände mit Gebüsch, ein Ball rollt ins Bild, bleibt liegen. Es folgt die Einstellung auf eine Telegrafen-Leitung in deren Drähten sich ein Ballon verfangen hat und dann davonfliegt. Kein Täter, kein Opfer ist zu sehen. Der Mord hat - von Fritz Lang programmiert - im Kopf des Zuschauers stattgefunden. Sprecher M ist eingerahmt von Müttern - am Beginn eine Schwangere, die mit den Kindern schimpft: O-Ton Ihr sollt det verfluchte Lied nicht singen, hab ich Euch gesagt. Könnt ihr denn nicht hören? Sprecherin Das allerletzte Bild: drei trauernde Mütter, in Schwarz. Sie versperren das ganze Bild. Frau Beckmann wendet sich verzweifelt der Zukunft und den Zuschauern zu. Sie schaut in die Kamera. O-Ton Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben. Sprecherin Natürlich haben die Mütter recht. O-Ton Ein Paar Süssigkeiten, ein Spielzeug, ein Apfel kann Verlockung genug sein, um einem Kinde zum Verhängnis zu werden. Sprecherin Natürlich haben die Kinder recht, wenn sie harmlose Verlockungen einer Fürsorge vorziehen, die mit Geboten, und peinigendem Eifer bei den Tischsitten daherkommt. Elsie Beckmanns Mutter wischt offenbar saubere Teller für das Mittagessen noch einmal gründlich aus. Damit nicht genug, gehört zum Gedeck für Elsie auch eine Serviette in einem Serviettenring. Eine Einstellung widmet Fritz Lang ausschießlich dem Tisch mit dem Gedeck für Elsie. Eine sehr nachhaltige Demonstration für Reinlichkeit und feine Manieren. An diesem Tisch sollte besser nicht gekleckert werden. Sprecher Frau Beckmanns Wohnung ist sorgfältig aufgeräumt - und von der Straße her hört sie den Aufruf, aufzuräumen und sich des Abfalls zu entledigen. Sprecherin Die Fürsorge der Mütter ist im Kino entschieden in Verruf geraten. Sprecher Nicht nur da: Während des 2. Weltkriegs glaubten Psychiater der US-Army entdeckt zu haben, dass 2,4 Millionen Soldaten Mama's Boys waren, Psychoneurotiker, deren Probleme mit ihren schrecklichen Müttern erklärt wurden. Gefahr für die Armee, Ursache posttraumatischer Störungen. Einer hat das witizg erklärt: O-Ton I think my mother scared me when I was three months old. You see, she said BOO. It gave me the hiccups. Yes And she apparently was very satisfied. All mothers do it, you know. That's how fear starts in everyone. Sprecherin Alfred Hitchcock konnte das auch als Horror erzählen, besonders schrecklich in Psycho, 1960. Da sind Mutter und Sohn in inniger mörderischer Verbindung. Sprecher Diese Restfamilie hat einen Vorläufer. Der Fritz-Lang-Film While the City Sleeps erzählt 1956 von der Suche nach einem Mörder. Der hinterlässt am Tatort mit Lippenstift die Botschaft: "Ask Mother","Fragt Mutter". Der Lipstick-Killer wohnt bei seiner Mutter. Die fürsorgliche und leicht schusselige Mama erinnert an die Dame, bei der Peter Lorre zur Untermiete wohnt. Sprecherin Warum wohnt Peter Lorre nicht bei seiner Mutter? Sprecher Das ist eine ganz andere Geschichte. Sprecherin Wirklich? O Ton Lorre pfeift "In der Halle des Bergkönigs" Zitator "Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ‚Dienst'. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners Schuld und Schillers Räuber, sondern selbst Ödipus und Richard der Dritte beweisen. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn." Karl Marx: Abschweifung über produktive Arbeit O Ton Lorre pfeift "In der Halle des Bergkönigs" Absage Kindermord und Ordnungswahn Fritz Langs erster Tonfilm M Ein Feature von Werner Dütsch Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2013. Es sprachen: Ulrich Marx, Sabine Postel und Michael Weber Ton und Technik: Michael Morawietz und Beate Braun Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Hermann Theißen 1