Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Isolation der Alten Pflege in Zeiten der Corona-Pandemie Autorinnen: Sonja Ernst und Christine Werner Regie: Philippe Brühl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2020 Erstsendung: Dienstag, 15.12.2020, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 28.03.2023, 19.15 Uhr Es sprachen Christoph Wittelsbürger, Katrin Baumhöfer und die Autorinnen Ton und Technik: Michael Morawietz und Hanna Steger Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - (1 O-TON ISFORT) Isolation ist Folter. Das ist in der UN-Menschenrechtskonvention auszuschließen. Soziale Isolation, das wissen wir aus allen Gefängnisanstalten, das ist eine der härtesten Zwangsmaßnahmen, die man über jemanden verhängen kann. (2 O-TON KÄMPCHEN) Es nutzt mir nichts, wenn ich am Balkon stehe und vier Meter weit weg, unter mir stehen Angehörige und winken mir zu, wenn ich nichts sehen und hören kann. (3 O-TON STEGGER) Jemand der stirbt, der muss vor gar nichts mehr geschützt werden, der möchte nur Abschied nehmen. (4 O-TON RÖMISCH) Das ist natürlich eine Katastrophe, wenn das jemand, der das nicht begreift, also der nicht weiß, warum sein eigener Ehemann nicht mehr kommt, die Tochter nicht mehr kommt, die jeden Tag da war. Das war für viele ganz schwer. Und ganz traurig. (5 O-TON Brückner) Am meisten fehlt mir der Kontakt zu meinen Kindern, auch so das Begrüßen, mit Umarmung. Jetzt seit März nicht mehr. Es fehlt mir am meisten. ANSAGE Die Isolation der Alten Pflege in Zeiten der Corona-Pandemie ein Feature von Sonja Ernst und Christine Werner (1 ATMO: STERN SPRICHT) SPRECHERIN SE Oktober 2020: Nicole Stern schlägt ein Treffen im Kurpark, in Wiesbaden, vor. Der Springbrunnen plätschert. Stern ist 53. Lange blonde Haare, sportliche Kleidung. Der Ort ist ihr wichtig: Sie war hier oft mit ihrer Mutter; hat sie in der Nähe im Altenheim abgeholt, im Pflege-Rollstuhl durch den Park geschoben, Torte gegessen, die Sonne genossen. Die Mutter, Karin Ludwig, ist am 6. August verstorben. Sie wurde 80 Jahre alt. (6 O-TON STERN) Meiner Meinung nach ist es ein zu Tode schützen. Und das heißt jetzt nicht, dass ich Corona-Leugner bin. Also auf keinen Fall. Nur die Verhältnismäßigkeit stimmte nicht und sie stimmt auch jetzt nicht. Das Abwägen zum normalen Sterberisiko. SPRECHERIN SE Vieles habe sich ausschließlich um das neuartige Virus gedreht. (7 O-TON STERN) Es hieß immer nur Corona. Und was meinen Sie, wenn Corona im Heim ist. Na also, koste es, was es wolle. Kein, ja kein Corona ins Heim. Aber dass Menschen durch die Isolation verkümmern und versterben wie meine Mutter und auch viele andere, das ist erschreckend. Es hätte nie so weit kommen dürfen. SPRECHERIN CW In Deutschland wird Ende Januar der erste Coronavirus-Fall bestätigt. Die Infektionszahlen steigen rasant. Am 22. März einigen sich Bund und Länder auf strenge Kontaktbeschränkungen. Die konkrete Umsetzung ist Sache der Länder: Die erlassen Corona-Schutzverordnungen, die auch Altenheime betreffen. Es folgen Besuchsverbote oder -einschränkungen. SPRECHERIN SE Ab April darf Nicole Stern nicht mehr ihre Mutter sehen: Auch in Hessen gilt ein generelles Besuchsverbot in Altenheimen. Bis dahin war die Tochter fast täglich bei ihrer Mutter. (8 O-TON STERN) Es lag mir halt auch sehr am Herzen, sie da nicht alleine zu lassen. Und sie hat ja auch sehr vieles noch verstanden. Sehr vieles mitbekommen. Nur dass sie sich nicht so äußern konnte wie früher. Ich denke auch jeder, der eine Erkrankung hat, weiß, wie wichtig das ist, man hat jemand um sich, der sich um einen kümmert. Fürsorglich. Liebevoll. Das ist halt sehr wichtig. SPRECHERIN SE Die Mutter hat eine Demenz. Ab 2002, die Mutter ist Anfang 60, pflegt die Tochter sie; teils als Vollzeitjob. Irgendwann ist das nicht mehr zu schaffen. 2009 sucht sie eine Pflegeeinrichtung und besucht regelmäßig ihre Mutter. Sie unternehmen gemeinsam "Stadttage", so nennt das Stern. Dann schlendern sie durch Kaufhäuser, gehen essen: Ihre Mutter soll weiterhin am Leben Teil haben. Im Heim hilft sie beim Essen anreichen, trinken, geht mit zum Arzt. Die Nähe und Vertrautheit zur Tochter sind existentiell für die Mutter: Seit die Demenz stärker wurde, hat sie ihre Sprache verloren. (9 O-TON STERN) Ich habe das dann ganz schnell gemerkt und dann versucht, mehr körperlich mit ihr zu kommunizieren. Also Händchen halten, in Arm nehmen. Und so konnten wir ganz gut kommunizieren. SPRECHERIN SE Nicole Stern ahnt, dass ihre Mutter nicht verstehen kann, warum sie wegbleibt. Sie will nicht einfach abwarten. Sie geht zum Hausarzt, der die Mutter weiterhin im Heim betreut. Der schreibt ein Attest und empfiehlt der Heimleitung, eine Ausnahme zu machen - es geht um zwei Stunden die Woche. Die Besuche seien wichtig und die Tochter könne die Pflegekräfte entlasten. Die Einrichtung könnte darauf eingehen: Schon am 5. April ändert Hessen seine Corona-Verordnung - Ausnahmen vom Besuchsverbot werden für engste Familienangehörige im Einzelfall möglich - und zwar aus ethisch-sozialen Gründen, wie es in dem Dokument heißt. Oder wenn der behandelnde Arzt es empfiehlt. Doch das Heim lehnt ab. SPRECHERIN CW Uns schreibt das Heim, die Mutter sei nicht unter die behördlich festgelegten Ausnahmefälle gefallen: HAUSSPRECHER Besuche waren nur noch in dringenden Notfällen und zur palliativen Betreuung im Rahmen der Sterbebegleitung zulässig. SPRECHERIN SE Die Einrichtung bietet allen Bewohnern Videotelefonie an, um Kontakt zu den Angehörigen zu halten. Doch Menschen mit einer schweren Demenz bringt das wenig - körperliche Nähe kann sie nicht ersetzen. SPRECHERIN CW Nicole Stern und viele andere Angehörige wenden sich in diesen Wochen an die "Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen", kurz BIVA. Der Verein setzt sich seit 1974 für Pflegebedürftige ein und bietet auch Rechtsberatung an. Ulrike Kämpchen, Leiterin der Rechtsabteilung, erinnert sich. (10 O-TON KÄMPCHEN) Also die erste Anfrage war tatsächlich: Ich stehe hier vor dem Heim. Die Türen sind zu. Was hat das zu bedeuten? Warum darf ich nicht rein? Warum sagt mir keiner, was los ist. Bleibt das jetzt so? Nach dem ersten Schock kamen dann die Fragen: Ist das überhaupt erlaubt? Und vor allem die Frage war: Wann darf ich wieder rein? Und da mussten wir wirklich antworten: Das wissen wir im Augenblick nicht. Wir untersuchen die Verordnungslage und halten Sie auf dem Laufenden. SPRECHERIN SE In Deutschland gibt es über 11.000 vollstationäre Einrichtungen - mit über 800.000 Bewohnern. (11 O-TON ISFORT) Jede dieser Einrichtung hat natürlich in der Frühphase der Pandemie eine Wahnsinnsangst gehabt. Man wusste sehr wenig über das Virus. Oder über das Ausmaß der Schädigung ... SPRECHERIN SE Michael Isfort ist Pflegewissenschaftler in Köln. (12 O-TON ISFORT) Man hatte Berichte aus Spanien, aus Italien, aus Frankreich, auch aus Schweden - aus den Altenheimen, wo wir gesehen haben, das ist gravierend, was dann passiert, wenn das Virus in diese Einrichtung kommt. Davor hatte jede Einrichtung massiv Angst, weil man es nicht kontrollieren kann. (2 ATMO EINGANG HEIM, RÖMISCH SPRICHT) SPRECHERIN CW Diese Angst hatte auch Elisabeth Römisch. Sie leitet zwei Kölner Seniorenzentren der Arbeiterwohlfahrt, eins davon ist das Theo-Burauen-Haus in Köln-Ehrenfeld: 177 Bewohnerinnen und Bewohner, Durchschnittsalter 92, der Großteil ist an einer Demenz erkrankt. Elisabeth Römisch sitzt jetzt in einem hellen Pavillon mit Blick in den Garten und erzählt vom Frühjahr. (13 O-TON RÖMISCH) Diese Angst, alles richtig zu machen. Die Angst, wir könnten befallen werden, die ich ja selber auch hatte. Also ich hab das am Anfang gar nicht gemerkt. Ich wurde, glaube ich, immer ernster, immer strenger mit den Regeln und habe nicht gemerkt, dass diese Angst mich so drückt. Also nicht die Angst um mich oder um meine Kinder, sondern die Angst, es könnte hier was schieflaufen. Und dadurch könnte Corona ausbrechen. Das war schon hart. SPRECHERIN CW Schutzausrüstung fehlt, Masken, Schutzkittel, Handschuhe - alles ist auf einmal knapp. Die AWO-Häuser in Köln wurden bis dahin täglich beliefert. Für eine Grippe-Saison sind sie gerüstet, aber nicht für eine Pandemie. Denn Lagerhaltung kostet Geld und auch Schutzmaterialien haben ein Haltbarkeitsdatum, sie können nicht ewig eingesetzt werden. Plötzlich kann der Händler nichts mehr liefern. Weltweit kaufen Krankenhäuser und Seniorenheime die Bestände auf. (14 O-TON RÖMISCH) Und ich habe, bevor der Schutzschirm eingerichtet war, gesagt, es ist mir völlig wurscht, was das Zeug kostet. Ich kaufe - und ich habe gekauft. Also das glaubt man ja nicht für welche Preise. Also, das ist ja wirklich, also die Menschen sollten sich schämen, die das verkauft haben. Nee also, um mal eine Zahl zu nennen: Ich habe in zwei Monaten für die Häuser 300.000 Euro ausgegeben, in denen ich normal 10.000 ausgebe. Nur für Schutzausrüstung, Dimensionen - das ist unfassbar. SPRECHERIN SE Das Theo-Burauen-Haus ist ein offenes Haus, es ist ins Stadtviertel eingebunden. Die Quartiersmanagerin hat hier ein Büro. Im Garten gibt es regelmäßig Konzerte, Lesungen, einen kleinen Weihnachtsmarkt oder ein Frühstück mit den Nachbarn. Es gibt auch keine Öffnungszeiten. Bewohnerinnen und Angehörige können zu jeder Tag- und Nachtzeit kommen und gehen. (15 O-TON RÖMISCH) Also, ich war total schockiert, dass ich plötzlich als Einrichtungsleitung sagen muss: Sie dürfen hier nicht mehr zusammen an einem Tisch zu sechst sitzen, ich muss die Tische auseinander ziehen. Sie dürfen nur noch so sitzen, sie dürfen nicht raus. SPRECHERIN CW Ausgangsverbote hat es in Nordrhein-Westfalen offiziell nie gegeben. Die Bewohner dürfen jederzeit die Häuser verlassen, wenn sie die Abstands- und Hygieneregeln beachten, heißt es in der Corona-Schutzverordnung von Ende März. SPRECHERIN SE Das Problem ist: Demente Menschen verstehen diese Regeln meist nicht. Einmal führt Elisabeth Römisch eine demente Bewohnerin mit Personal durchs Viertel. Sie hofft, dass diese die Regeln dann besser akzeptiert. (18 O-TON RÖMISCH) Die ist trotzdem ein paarmal abgehauen, also, dann musste sie ja unter Quarantäne, weil, das war ganz klar, die hatte die Abstandsregeln nicht eingehalten. Und die tat uns dann auch so leid und sie hat es auch gar nicht eingesehen, dass sie unter Quarantäne muss, das waren damals die Bestimmungen. Hat, dann auch wieder gebettelt, lasst mich doch wenigstens aus dem Zimmer raus. SPRECHERIN CW Elisabeth Römisch sagt, sie möchte keine geschlossene Einrichtung leiten. Doch all die neuen Regeln und Verordnungen verändern das sonst so offene Haus und alle die dort wohnen und arbeiten. (19 O-TON RÖMISCH) Was ich schwierig fand auch war, also, dass Mitarbeiter nicht zu Polizisten wurden. Also das habe ich auch immer wieder thematisiert. Nee also, das ist so - die Eigenverantwortung von Angehörigen ist da. Und wenn dies nicht eingehalten wird, wir sind keine Polizisten, und wir sind auch nicht der verlängerte Arm, sondern wir können immer nur reden, appellieren und sagen gucken Sie mal, wenn hier was passiert, dann wird gleich wieder ganze Haus oder eine Etage unter Quarantäne gesetzt. Dann dürfen Sie alle wieder nicht rein. SPRECHERIN CW Fast täglich kommen in dieser Zeit neue Anordnungen vom Ministerium. Oft Freitagsabends und am Wochenende. Im Internet kann man die Taktzahl nachvollziehen. HAUSSPRECHER Erlass am Freitag, 13. März, neuer Erlass am Sonntag, 15. März, Ergänzung des Erlasses am 17. März.... (20 O-TON RÖMISCH) ... und dann muss man erst einmal jemanden finden, der das dann definiert und bis man da Auskünfte gekriegt hat, weil dann wurde so allgemein auf RKI, aber dann fand man das gerade nicht, was man gesucht hat ... HAUSSPRECHER Fortschreibung der Erlasse vom 16. und 17. März zu weiteren Maßnahmen ab dem 18. März ... SPRECHERIN CW ... - und so weiter. Meist mit dem Schlusssatz: HAUSSPRECHER Die sofortige Vollziehung ist anzuordnen. (21 O-TON ISFORT) Also ich glaube, es gibt eine doppelte Form der Entmündigung, die wir wahrnehmen können. Das eine ist: Die Heime haben innerhalb von relativ kurzer Zeit eine hohe Flut von Allgemeinverfügungen durchführen müssen, mit der sie hoffnungslos überfordert waren. Man hat die Heime entmündigt und nicht die Gespräche mit ihnen gesucht. Was könnt ihr leisten? Wie wollt ihr das - wie denken wir, welche Unterstützung braucht ihr? Und wir haben in den Heimen die Entmündigung der Angehörigen und der Pflegebedürftigen, denn auch die wurden ja nie gefragt. Welche Risiken seid ihr denn bereit einzugehen? Und es kann ja sein, dass Menschen die zustimmungsfähig gewesen wären, gesagt hätten: Woran ich sterbe, ist mir doch egal. Aber ich verzichte doch nicht die letzten anderthalb Jahre meines Lebens auf Berührung. Und diese Diskussion hätte man natürlich an der Stelle führen müssen. SPRECHERIN SE Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz können ihre Zustimmung oder Ablehnung nicht formulieren. Nicole Stern glaubt, ihre Mutter hätte sich für Nähe entschieden statt Abstand - trotz Corona. Sie kämpft weiter: SPRECHERIN CW Am 28. April stellt sie auf der Internet-Plattform Change.org eine Petition ein: "Pflegeheim-Besuchsrecht in Corona Zeiten. Wann kommst Du endlich wieder?" SPRECHERIN SE Darin fordert sie ein sofortiges Ende des Besuchsverbots in Heimen; verbunden mit den richtigen Schutzmaßnahmen sollen Angehörige wieder Zutritt haben. (22 O-TON STERN) Ich habe am Anfang noch gedacht, oh, mein Gott, wenn es tausend werden, das wäre schon mal toll. Und dann ging dat richtig, ging dat richtig los. Das sprudelte aus den Leuten auch regelrecht heraus. Endlich. Und dass sie diese Petition gemacht haben, das ist so wichtig, also, haben mir sehr viele Leute auch geschrieben, und das fand ich dann toll. Das hat mich richtig mitgerissen. Sag ich mal. SPRECHERIN CW Über 35.000 Menschen haben bis Ende November online unterschrieben. Es gibt nur wenige Kommentare, in denen die Pandemie verharmlost wird. Den Unterzeichnern geht es vor allem um die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen, um Würde und Menschlichkeit, Einsamkeit und Isolation. Viele teilen ihre eigenen Erfahrungen, dass sie Eltern oder Ehepartner nicht sehen dürfen. (3 ATMO, Birck kramt im Regal, Geräusche) SPRECHERIN SE: Ein gemütliches Einfamilienhaus in Essen. Hier lebt Sabine Birck, 67. Auch sie unterstützt die Petition. Wir sitzen in ihrem ehemaligen Büro, Parterre; sie sucht verschiedene Dokumente zusammen, auf dem Tisch steht selbstgebackener Hefezopf, der Garten ist in Herbstfarben getaucht. SPRECHERIN CW Auch ihre Mutter ist an einer Demenz erkrankt. Dorothee Birck von Bistram, 94, früher Flötistin, lebt seit einem Jahr in einem Pflegeheim in Hannover. Vor Ausbruch der Pandemie fährt die Tochter jede Woche für drei Tage von Essen dorthin. Sie weiß viel über die Erkrankung, kann Studien zitieren. Und sie versucht ihre Mutter anzuregen: Sie schreiben kurze Texte, reimen, manchmal packen sie die Flöte aus; machen lange Spaziergänge mit dem Rollstuhl. (23 O-TON BIRCK) Ich war ein Teil der Pflege, das ist ganz klar. Es gibt viele Dinge - vom verlorenen Hörgerät, was man sucht, und zwar im ganzen Heim unter Umständen. Dann kommen die vielen Toilettengänge. Das sind Dinge, bei denen man merkt, dass ein Heim personell unterbesetzt ist, chronisch, weil die viel zu selten durchgeführt werden und der Wechsel der Einlagen viel zu selten passiert. SPRECHERIN CW Sabine Birck oder auch Nicole Stern sind für den Pflegeforscher Michael Isfort mehr als Besucher. (24 O-TON ISFORT) Das sind Co-Therapeuten. Wenn die wegbrechen, wenn du denen den Zugang nicht mehr erlaubst, dann kann das durch keinen anderen aufgefangen werden. Das kann auch nicht durch die professionell Pflegenden aufgefangen werden. Weil die Pflegebedürftigen hören zum Beispiel auf zu essen, wenn die Tochter das nicht macht. Die hören auf zu trinken, die ziehen sich zurück, die isolieren sich selbst. Und die Angehörigen haben natürlich in extremster Weise berechtigte Sorgen gehabt, nämlich zu sagen: Wenn ich da nicht mehr rein kann, wenn ich nicht mehr täglich meine Mutter sehen kann, wer kümmert sich dann um sie? Wer kümmert sich so um sie, wie ich das könnte? Und die einfache Antwort ist: niemand. SPRECHERIN SE Diese Sorge hat auch Sabine Birck von Anfang an. Niedersachsen erlässt Mitte März ein Besuchsverbot in Heimen. Ende April, nach gut fünf Wochen, macht sie einen ersten Balkonbesuch bei ihrer Mutter. (25 O-TON BIRCK) Das war zwei Tage vor dem 94. Geburtstag, als ich sie zum ersten Mal auf dem Balkon sehen konnte. Wie hoch ist so ein Balkon? Erster Stock; ich stand unten in der Einfahrt. Sie kam raus, hat mich mit ja fast ausdruckslosem Gesicht angeguckt. Verzagt. Leise gesprochen. Hat gesagt, ganz leise, hallo Mauselchen. Und wollte dann nach wenigen Minuten wieder weg. Sie war innerlich abgewendet. SPRECHERIN SE Bei diesem Besuch erfährt die Tochter - zwischen Tür und Angel, wie sie sagt - von einer Pflegekraft, dass die Mutter abbaue. Sie sei aggressiv; lehne die Versorgung ab. Später, so Birck, erfährt sie, dass die Mutter in dieser Zeit knapp acht Kilogramm abgenommen hat - obwohl eine Pflegekraft sie nun extra beim Essen betreut. SPRECHERIN CW Bei der Biva melden sich Angehörige, die nach ersten Fenster- oder Balkon-Besuchen ähnliches berichten. Der Verein wird in dieser Zeit überrannt. Im Mai veröffentlicht er auf der Webseite eine Umfrage zur Situation in den Heimen. 1000 Menschen nehmen daran teil. 700 schreiben teils lange Kommentare. Manfred Stegger, ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender: (26 O-TON STEGGER) Ich lese Ihnen mal eine Meldung vor, die man uns geschickt hat. 'Nach der Lockerung durfte ich meinen Vater beim Sterben begleiten. Aber meine demente Mutter, die auf der gleichen Station wohnt, nicht aufsuchen. Nach dem Tod meines Vaters wurde mir dies erlaubt. Jedoch zwei Tage nach der Beerdigung beziehungsweise eine Woche nach seinem Tod nicht mehr, obwohl sie mit der Situation überhaupt nicht recht klarkommt. Trauern muss die alte Frau ... die 74 Jahre verheiratet war, alleine'. SPRECHERIN SE Ulrike Kämpchen treibt als Juristin von Anfang an eine Frage um ... (27 O-TON KÄMPCHEN) Wer darf entscheiden über die Grundrechte der Bewohner in Einrichtungen? Es geht ja um den Kontakt mit Familienangehörigen, es geht um ein Selbstbestimmungsrecht. Wer darf darüber entscheiden? Mein Vertragspartner, mit dem ich einen Einrichtungsvertrag geschlossen habe? Oder hat der über die Fürsorge, die er mir schuldet ein höheres Recht dazu? Das wird derzeit noch rechtlich geklärt, aber da können Sie sehen, wie dieser Ball der Verantwortung und Entscheidung immer weiter gegeben wird. Und letztendlich eben dort landet - in der Einrichtung. (4 ATMO EINGANG HEIM + BÜRO HELMUT WALLRAFEN) SPRECHERIN CW Fiebermessen im Eingang des Städtischen Altenheims Hardterbroich in Mönchengladbach. Den Kontaktbogen hat das Büro von Helmut Wallrafen schon vorher verschickt. SPRECHERIN SE Der gelernte Altenpfleger leitet seit 25 Jahren die Sozial-Holding GmbH der Stadt Mönchengladbach - mit sieben städtischen Altenheimen, einer Kurzzeitpflege und zwei Tagespflegen. Er ist außerdem in einigen Verbänden aktiv - kennt die Pflege also von vielen Seiten. SPRECHERIN CW Im Konferenzraum stellt er eine dritte Plexiglasscheibe auf den Tisch - nimmt erst dann die Maske ab - und erzählt, wie er mit unterstützenden Angehörigen umgeht. (28 O-TON WALLRAFEN) ... [dass] die die eine ganz, ganz große Stütze für uns sind die Angehörigen, die total empathisch uns unterstützen, das sind die Leisen in der Regel. In Extremsituationen sind die auch in dieser schwierigen Zeit, da stehe ich zu, das sage ich offen, auch leise in die Einrichtungen gekommen. Um zum Beispiel als Ehefrau dem dementen Bewohner Essen zu reichen. Weil sonst wäre er verhungert. Von niemandem von uns hätte er Essen angenommen. Aber diese Frau, das glauben Sie mir, war so was von geschützt, war so achtsam ihrem Ehemann gegenüber, da musste ich mir weniger Gedanken machen wie bei Teilen des Personals. SPRECHERIN CW Eine menschenwürdige Pflege ist ihm wichtig. Und daran hält er fest. (29 O-TON WALLRAFEN) Niemand hat mir verboten, ehrenamtliche Mitarbeiter weiter zu beschäftigen. Niemand. Wir sind mit Ehrenamtlern sehr vorsichtig umgegangen. Wir haben einen Teil der Ehrenamtler auch eine Zeit lang erst mal nicht ins Haus gelassen. Aber wir bestimmen, wir haben Hausrecht, wer Ehrenamtler ist, und das war eine sehr engagierte, sehr zuverlässige ehrenamtliche Mitarbeiterin. SPRECHERIN SE Helmut Wallrafen hat den Spielraum genutzt, andere Heimleitungen haben das nicht getan. Der Pflegewissenschaftler Michael Isfort. (30 O-TON ISFORT) Die einen orientieren sich an der Frage, welche Tätigkeiten und welche Maßnahmen und welche Organisationsbedingungen haben wir hier und der Fokus liegt auf der Aufrechterhaltung der Organisation. Das ist ein anderer Fokus, als wenn du sagst, das wichtigste, woran ich mich orientiere, sind bestimmte Werthaltungen. Und das sind dann die Einrichtungen, die gesagt haben unser größter Wert in der Pflege besteht daraus Begegnung, soziales Miteinander und gemeinsames Leben zu ermöglichen. Wenn das meine Werthaltung ist, dann werde ich eine Corona-Schutzverordnung als adäquaten Sparringpartner identifizieren und werde sagen: Ich mache so lange gallisches Dorf, bis mir jemand von außen konkret Sachen verbietet. SPRECHERIN CW So gesehen ist Wallrafen Chef eines gallischen Dorfs. (31 O-TON WALLRAFEN) Meine erwachsenen Kinder habe ich zwei-, dreimal getroffen und das in drei Meter Entfernung hinter Plexiglas. Das ist jetzt so. Ich denke, ich habe da eine Vorbildfunktion. Jetzt werde ich gefordert und dann muss ich das auch bieten. Und das schaffe ich. SPRECHERIN SE Er schließt gleich im März einen eigenen Vertrag mit einem privaten Labor. und bekommt die Corona-Testergebnisse innerhalb von 24 Stunden - auch nachts auf sein Handy. SPRECHERIN CW Und er ist der Erste, der in Deutschland Besuchscontainer aufstellt. Bei den niederländischen Nachbarn hat er die Container mit Plexiglastrennung gesehen und gleich für jedes Haus einen bestellt. Ende April können sich Bewohner und Angehörige dort treffen. Von 9 bis 18 Uhr, für jeweils 20 Minuten. (32 O-TON WALLRAFEN) Wir waren so früh mit den Besuchscontainer wieder offen, dass uns Gesundheitsminister Laumann in NRW auch mit seiner Öffnung der Heime zum Muttertag, das fand ich so lustig, auch nicht überraschen konnte. Bei uns war es eher so, das muss man ja auch mal deutlich sagen, dadurch, dass Wochen vorher schon in den Besuchscontainer die Kontakte möglich waren, hatten wir an Muttertag sogar Zeiten in den Besuchscontainern noch frei. Es ist ja nicht so, dass jeder Bewohner, jede Bewohnerin Besuch bekommt. Nur in einer Situation, wo in Deutschland was verboten wird, wollen es plötzlich alle. Es gibt aber auch Angehörige, die sind froh, wenn die Alten einfach nur untergebracht sind. SPRECHERIN CW Spricht man mit Helmut Wallrafen über Pflege geht es irgendwie immer auch um das "System" Pflege. Schon lange kritisiert er, dass mit der Einführung der Pflegeversicherung die Pflege ein Markt geworden ist, dass manchem Träger die Rendite wichtiger ist als das Wohl der Bewohner. Corona macht dies jetzt sichtbar, sagt er. (33 O-TON WALLRAFEN) ... die fehlende Transparenz, die gab es ja auch schon vor Corona. Die Renditeorientierung gab's, Entschuldigung, deutlich vor Corona. Dass im Bereich der privaten Heimträger, die sind ja nicht schlecht, weil sie privat sind, ja, aber dass immer mehr im privaten Bereich Konzerne, Hedge-Fonds entstehen, aber auch im Freigemeinnützigen, Entschuldigung, das ist doch kein Zufall. Und dann wiederholte ich das: Dann gibt es Renditen bis zu 14 Prozent. Das lehnt jeder ab, dass das stimmt. Aber bis heute hat mich noch keiner verklagt. Weil, es ist so. Und das ist etwas, was jetzt natürlich rausbricht. SPRECHERIN SE Die Situation bei Sabine Birck und ihrer Mutter spitzt sich zu. Das Heim informiert sie: Die Mutter sei zunehmend aggressiv. Man empfiehlt ein Antipsychotikum, das soll die Aggressionen dämpfen, sonst stehe ein Wechsel in ein Heim für alte Menschen mit psychischen Erkrankungen an. Die Tochter will ein solches Medikament vermeiden, das teils starke Nebenwirkungen haben kann. Und das aus ihrer Sicht an der Ursache selbst nichts ändert - die ist für Birck das Nicht-Sehen-Dürfen. (34 O-TON BIRCK) Das war also völlig klar, dass die nahe Person, die ihr Sicherheit vermittelt, dass die existenziell gefehlt hat. Das war ein Gefühl von Verlassenheit. SPRECHERIN SE Birck will lange Spaziergänge machen. Draußen sein hilft ihrer Mutter, Unruhe und Anspannung loszuwerden, sagt sie. Doch das Heim habe abgelehnt. Die Tochter will das nicht akzeptieren: Anfang Juni schreibt sie an das Gesundheitsministerium Niedersachsen, erklärt die Situation. Vier Wochen später kommt eine Antwort: Basierend auf dem Einzelfall seien Spaziergänge und das Schieben des Rollstuhls erlaubt; der Mindestabstand dürfe ausnahmsweise unterschritten werden - eben bei Bewohnern mit Demenz, wenn die Kontaktaufnahme anders nicht möglich sei. Sabine Birck und ihre Mutter machen wieder Spaziergänge. (35 O-TON BIRCK) Ein ander Mal saßen wir auf einer Bank. Und sie wollte wie immer, dass ich sie umarme. Hat die Hand nach mir ausgestreckt. Ich saß im Abstand von ihr. Habe auch die Hand ausgestreckt. Und dann haben sich das erste Mal unsere Fingerkuppen berührt. Beide mit lang ausgestrecktem Arm. Und da hat sie gesagt, in ihrer sehr, sehr einfachen und absolut treffenden Art: Ach, das ist Heimat. Und das hat mir gezeigt, wenn vielleicht auch keine Erinnerung an Ereignisse der vergangenen Wochen da war, dann war doch ein ganz starkes Gefühl für die Schwere dieser Zeit. SPRECHERIN SE Diese Schwere lässt sich nicht mehr ganz auflösen. Die Aggressionen gegenüber den Pflegekräften bleiben; auch gegenüber den Mitbewohnern. Irgendwann stimmt Sabine Birck der Gabe eines Antipsychotikums zu. Notgedrungen, sagt sie. Denn mittlerweile sei das Heim für die Mutter zur feindlichen Umgebung geworden. Und für Demenzerkrankte sei die Situation besonders schwierig: sich selbst beruhigen, können sie nicht. (36 O-TON BIRCK) Es ist ein großer Unterschied, ob ein Mensch sich selbst trösten kann oder nicht. Ich formuliere das sehr drastisch: Man kann sich nicht klar genug machen, was es bedeutet, wenn ein Mensch das nicht kann. Weder sich selbst zureden, noch sich selbst in einer Tätigkeit nicht nur die Zeit vertreiben, sondern einen Sinn finden. Wenn ein Mensch das nicht mehr kann, dann vergeht man sich an ihm, wenn man ihn einer solchen Isolation aussetzt. Das ist passiert. (5 ATMO THEO-BURAUEN-HAUS (Temperaturmessen am Eingang)) SPRECHERIN CW Noch einmal ins Theo-Burauen-Haus in Köln-Ehrenfeld. Im Eingangsbereich wird auch hier die Temperatur gemessen. "Normale Temperatur", sagt der Apparat, alles okay. Kontaktdaten werden aufgenommen, ein Fragebogen muss ausgefüllt werden. Im Pavillon im Garten wartet diesmal schon Uta Brückner. (37 O-TON BRÜCKNER) Am meisten fehlt mir der Kontakt zu meinen Kindern, auch so das Begrüßen, mit Umarmung. Jetzt seit März nicht mehr. Es fehlt mir am meisten. SPRECHERIN CW Uta Brückner, 77, ist seit knapp zwei Jahren hier. Ihr musste die Hüfte entfernt werden, sie sitzt seitdem im Rollstuhl. Einsam fühlt sie sich nicht. Sie macht sich eher Gedanken um ihre Kinder. Seit März telefonieren sie viel. (38 O-TON BRÜCKNER) Wir haben gelernt am Telefon, uns das zu sagen, was sonst gefühlt wurde. Wir schreiben bestimmt jeden Tag drei, vier WhatsApps hin und her und die sind liebevoll, diese WhatsApps - und das hilft mir. SPRECHERIN SE Auch in dem Kölner Heim wird sehr früh ein Besucherbereich mit Plexiglasscheiben eingerichtet. Ihr Enkel kommt, um mit seiner Großmutter durch die Scheibe zu sprechen ... (39 O-TON BRÜCKNER) ... aber das hallte so sehr, dass man kaum den anderen verstand, nee. Und dann haben wir so die Hände gegeneinandergehalten. Von der einen Seite da, von der anderen Seite da. Und unten drunter war auch offen, da haben wir so mit den Füßen. SPRECHERIN CW Uta Brückner kriegt im Haus viel mit. Sie ist im neugegründeten Bewohnerbeirat und erzählt von einer Tafel im Eingang, auf der positive und negative Stimmen gesammelt werden. Es gibt Konzerte im Garten, die Küche serviert Eis, Betreuer schreiben mit den Bewohnerinnen Postkarten für die Angehörigen, Nachbarn bringen Kuchenbleche. Die Solidarität ist groß - die Stimmung aber bedrückt. (40 O-TON BRÜCKNER) Viele runde Geburtstage fielen ins Wasser, wenn man 90 wird, wenn man 100 wird, wie soll man das feiern zu Corona-Zeiten. Das war ganz, ganz schwer für die Menschen. Das merkt man an der Stimmung. Die Lachen nicht mehr, sprechen weniger. SPRECHERIN SE Und dann gibt es im Mai im Theo-Burauen-Haus die ersten Corona-Fälle. Die Testergebnisse bekommt Leiterin Elisabeth Römisch am Abend: Drei Bewohnerinnen müssen isoliert werden, zwei davon sind dement. Sofort werden im Wohnbereich 5 Wände hochgezogen und eine Quarantäne-Station eingerichtet. Noch in der Nacht werden die positiv Getesteten aus ihren Zimmern geholt, mit ihren Privatsachen verlegt. SPRECHERIN CW Ein Dilemma für Elisabeth Römisch, denn es geht um die Privaträume der Bewohner. (41 O-TON RÖMISCH) Ich habe ja auch am Anfang gesagt: Ist ja alles schön, was die da schreiben in ihren Verordnungen, das darf ich ja gar nicht. Der hat mit uns einen Vertrag, da steht auch die Zimmernummer drin und das nehme ich auch ganz ernst. Und dann kam die nächste Verordnung, und da stand dann drin, ich darf und ich muss es. Also das ist schon ein Bruch in einem selber irgendwie auch. Die Bilder, wie wir nachts dann die Bewohner mit Betten da rum gekarrt haben. So, anders kann man es ja auch nicht sagen und ihre Privatsachen mitgenommen haben. Da sind schon auch Bilder, die waren schwer ... SPRECHERIN CW Damit möglichst wenig Personal Kontakt zu den Infizierten hat, wird ein festes Team eingeteilt, die Dienstzeiten werden geändert. Drei Pflegerinnen und Pfleger arbeiten in 12 Stunden-Schichten auf der Quarantäne-Station, immer in voller Montur, mit Schutzkittel, Handschuhe, Mundschutz. Uta Brückner wohnt im Wohnbereich 5 und bekommt die Belastungen mit. (42 O-TON BRÜCKNER) ... derjenige, der gerade dran war, die zu pflegen, der musste in jedem Zimmer sich an und ausziehen, hin und her, alles rund um die Uhr. Und wir auf der anderen Seite, wir waren gesund, uns ging es gut, aber wir merkten, dass es den Pflegern nicht gut ging, nee. SPRECHERIN SE Pfleger Fabian Mihaly ist auf der Station im Einsatz. Im Podcast der Kölner AWO-Häuser erzählt er davon. (43 O-TON PODCAST AUSSCHNITT mit Fabian Mihaly) Also am Anfang habe ich auch in mein Mittagessen reingeheult, weil mir das echt viel zu viel wurde. Also man war erstmal komplett alleine und die anderen 12 Stunden, die man Zuhause wäre, die wollte man nicht mit anderen verbringen, weil man ja doch mit Positiven zu tun hatte und man will ja seine Freunde und Familie nicht anstecken, Und von daher hat man noch mehr aufgepasst, als man es sonst tut. Und da ist mir die Decke einfach auf den Kopf geflogen. SPRECHERIN CW Elisabeth Römisch hat von Mitte März bis Anfang Juni durchgearbeitet, erzählt sie. Da waren die vielen Verordnungen, die Fragen der Angehörigen, die Sorge um die Bewohner. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe sie in der Zeit etwas aus dem Blick verloren. Sie haben dann Umfragen gemacht, arbeiten das jetzt auf. (44 O-TON RÖMISCH) Und das war schon erschreckend zu hören, wie schlecht es den Mitarbeitern letztendlich da ging. Und wir haben ja versucht, die aufzunehmen. Wir sind, glaube ich, ein ganz gutes Team, ganz gutes Führungsteam aufzunehmen. Wir haben Chill-Räume für die Mitarbeiter eingerichtet und so was. Aber in der Dimension war mir das nicht klar, ist vielleicht auch gut so. Aber es war mir nicht klar. SPRECHERIN SE Es gibt aber auch positive Erlebnisse. Das Quarantäne-Team und die Infizierten lernen sich in ihrem abgetrennten Bereich ganz neu kennen. Denn sie haben jetzt Zeit füreinander, berichtet Pfleger Fabian Mihaly im Podcast. (45 O-TON PODCAST AUSSCHNITT mit Fabian Mihaly) Man nimmt an, man hat ungefähr 20 Minuten bis eine halbe Stunde pro Bewohner und dann muss man schon los zum nächsten. Da hat man ja den täglichen Zeitdruck und da ist man so in der Routine drin, dass man dann die psychosoziale Pflege nicht mehr so wahrnehmen kann. Und jetzt hatten wir wirklich Zeit für die Bewohner und das war eine ganz krasse Erfahrung, wie die Bewohner reagieren, wenn man wirklich eine Stunde nur für diesen einen Bewohner da ist. Der einen Bewohnerin hat das richtig gutgetan. SPRECHERIN CW Die drei Infizierten kommen nach zwei Wochen wieder auf ihre Zimmer. Die Quarantäne-Station im Wohnbereich 5 wird sofort abgebaut. Elisabeth Römisch hat einen Entschluss gefasst. (46 O-TON RÖMISCH) Die Leute ziehen sofort wieder zurück, es ist mir egal, ich mache die Wände wieder weg, ich gehe wieder in die Normalität. Also ich habe mir dann Alternativen überlegt. (47 O-TON BRÜCKNER) Ich weiß ja nicht, wie es in anderen Heimen ist. Ich weiß nur, dass viele es nicht so gut haben. Wenn Sie mich jetzt fragen, was würden Sie gern anders haben? Könnte ich Ihnen nicht sagen. Insofern möchte ich aus der Zeit auch das Beste machen. Ich hoffe, ich schaffe das. Auch ein bisschen mit für andere da zu sein. (6 ATMO STERN SPRICHT, ZEIGT FOTOS) SPRECHERIN SE Nicole Stern zeigt Fotos ihrer Mutter. Sie erinnert sich gerne zurück - an die Zeit vor Corona. Am 30. Mai - nach zwei Monaten - sieht sie ihre Mutter zum ersten Mal wieder. Sie sollen in den Hof dürfen. Die Tochter steht vor der Eingangstür des Heimes; auf der anderen Seite wird die Mutter im Rollstuhl an die Glastüre geschoben. Die Mutter hat stark abgenommen; wirkt apathisch; wie eine lebende Tote, so erinnert sich die Tochter. Nicole Stern verkraftet die Situation nicht, bricht den Besuch ab und läuft weg. SPRECHERIN SE Sie will Spaziergänge machen. Informiert sich beim Land Hessen, bei der Biva und es wird klar: In Hessen gibt es keine Regelung für den Ausgang. Die Mutter darf jederzeit das Heim verlassen und auch zurückkehren. Sie muss keine Quarantäne befürchten. SPRECHERIN CW Wir fragen beim Heim nach, ob Besuche und Spaziergänge nicht früher möglich gewesen wären. Das Heim antwortet, dass ...: HAUSSPRECHER ... ab dem 4. Mai Besuche unter bestimmten Auflagen und Einschränkungen wieder möglich waren. Die Angehörigen sind darüber in einem Rundschreiben am 1. Mai informiert worden. SPRECHERIN CW: ... und weiter ... HAUSSPRECHER Auch unterstützte Spaziergänge außerhalb der Einrichtung waren ab dem 4. Mai möglich. Diese könnten jedoch die Abholung durch Angehörige erfordern. Zu den Gründen, warum Frau Stern diese Möglichkeiten nicht wahrgenommen hat, haben wir keine Kenntnisse. SPRECHERIN SE Nicole Stern sagt: Nach dem ersten Wiedersehen am 30. Mai seien ihr am 3. Juni Besuche bei ihrer Mutter auf dem Zimmer - mit mobiler Plexiglaswand - angeboten worden. Die lehnt die Tochter ab: Sie befürchtet, dass die Plexiglaswand die Mutter eher irritiert und stark verunsichert. Deshalb habe sie sich um die Spaziergänge bemüht - und auch die Biva eingeschaltet. SPRECHERIN CW Am 20. Juni holt Nicole Stern ihre Mutter zum ersten Spaziergang ab. (48 O-TON STERN) Also, das ist wirklich tief in meiner Erinnerung. Ja, ich habe sie abgeholt und war natürlich ganz aufgeregt. SPRECHERIN SE Die beiden gehen in den Kurpark - wie vor der Pandemie. (48_1 O-TON STERN) Es war natürlich völlig anders, als ich es mir vorgestellt habe. Meine Mutter hatte überhaupt nicht reagiert. Sie war sehr apathisch und auch in sich zusammengesunken. Sie hatte ihr Teddybärchen in der Hand, und das wollte sie auch gar nicht loslassen. Also, es ist mir nicht gelungen, ihre Hand zu nehmen und so. Aber ich habe sie trotzdem umarmt und habe dann irgendwie gesagt, Mama, wir sind in Freiheit, und die Tränen sind mir gelaufen. Also, das ist unvorstellbar. Das kann man gar nicht in Worte kleiden. SPRECHERIN SE Es folgen mehr Spaziergänge. Dafür muss sich die Tochter in eine Liste eintragen. Das tut sie jeweils im Voraus für jeden Tag der nächsten Woche. Die Besuche werden sorgloser. Die beiden essen wieder Torte. (49 O-TON STERN) Je öfter ich dann mit ihr raus konnte, umso freier, unbeschwerter bin ich geworden. Weil ich gedacht habe, Mensch, das kann mir jetzt keiner nehmen. Das habe ich dann auch meiner Mutter gesagt, und das hat auch meine Mutter gespürt. Na also, sie fing dann auch wieder an zu lächeln. Und das Schönste war, dass sie dann meine Hand wieder genommen hat. SPRECHERIN SE Doch dann kommt die Mutter Ende Juli ins Krankenhaus. Nicole Stern besucht sie täglich. Bis zum 6. August, als ihre Mutter verstirbt. SPRECHERIN CW Anfang Oktober steigen die Corona-Infektionszahlen wieder: Immer mehr Städte werden zu Risikogebieten. So auch Essen. Das hat Folgen für Sabine Birck: (50 O-TON BIRCK) Nun wurde das zum Argument gemacht, dass ich meine Mutter nicht mehr im Rollstuhl spazieren fahren darf. Es wurde zum Argument gemacht, dass ich sie nur noch am Fenster oder auf dem Balkon-Besuch sehen darf. Und das heißt, es ist eine Quälerei, die ich ihr nicht zumuten kann. SPRECHERIN SE Sabine Birck kämpft wieder. Sie liest nach, ob die Corona-Verordnung in Niedersachsen geändert wurde, fragt beim Gesundheitsamt an. Das Heim erlaubt ihr, das Haus wieder zu betreten. Doch sie muss den Mindestabstand einhalten - ohne Ausnahme: Grund dafür seien die hohen Infektionszahlen. SPRECHERIN SE Ihre Mutter darf sie deshalb nicht länger im Rollstuhl bei Spaziergängen schieben. Dabei sieht das Muster-Hygiene-Konzept des Landes Niedersachsen weiterhin Ausnahmen für Demenzerkrankte vor: Zum Beispiel, um das Schieben eines Rollstuhls zu ermöglichen. SPRECHERIN CW Wir fragen bei der Einrichtung nach. In der Antwort heißt es: Die örtliche Heimaufsicht sowie das Gesundheitsamt Region Hannover hätten bestätigt, dass die Hygienemaßnahmen des Heims HAUSSPRECHER ... im Rahmen des derzeit sehr dynamischen Infektionsgeschehen als geeignet und zielführend betrachtet werden ... SPRECHERIN CW Außerdem werde... HAUSSPRECHER ... das Verlassen der Einrichtung unabhängig vom Infektionsgeschehen zu jeder Zeit und ohne jede Einschränkung ermöglicht ... SPRECHERIN SE Die Zuspitzung geht weiter. Das Heim informiert das Gesundheitsamt, dass Sabine Birck bei den Besuchen im Zimmer ihrer Mutter wiederholt den Mindestabstand unterschreite. Die Tochter fühlt sich zu Unrecht beschuldigt; sie formuliert eine drastische Antwort: SPRECHERIN 3 (Zitate aus der E-Mail): Wenn Sie sich nun vorstellen, dass meine Mutter ihren Kot nicht mehr als solchen erkennt, die Fingernägel dunkelbraun gerändert sind, sie sich aber von den Pflegekräften nicht sauber machen lässt oder die schlicht keine Zeit haben, sich geduldig und beruhigend neben sie zu setzen, dass sie dann mit diesen verschmutzten Fingern ihre Augen reibt; wenn Sie sich weiter vorstellen, dass ihre Fußnägel so exorbitant in die Höhe gewachsen sind, dass die Zehen im Schuh schmerzen, sie aber niemanden außer mir dran lässt ... dann werden Sie vielleicht verstehen, worum es geht, wenn ich in solchen Fällen eben die notwendigen Handgriffe erledige, dabei kaum spreche, FFP2-Maske trage und gleich wieder die geforderte Abstandsposition einnehme. SPRECHERIN SE Sabine Birck hat für ihre Mutter ein neues auf Demenz spezialisiertes Heim gefunden. Der Umzug bedeutete Unruhe für die Mutter. Doch die Situation sei jetzt viel besser. SPRECHERIN CW Am 02. November wird das öffentliche Leben zum Teil wieder heruntergefahren. Diesmal will die Politik Besuchsverbote in Heimen vermeiden. Manche Bundesländer haben in ihren Corona-Schutzverordnungen nun das Recht auf Besuche festgeschrieben. Doch im Einzelfall müssen die Angehörigen darum kämpfen. SPRECHERIN SE Denn nicht nur bei Sabine Birck werden Ausnahmen zurückgenommen. Bei der Biva mehren sich wieder die Anrufe und E-Mails. Für Manfred Stegger und Ulrike Kämpchen geht es um grundsätzliche Fragen: (51 O-TON KÄMPCHEN) Wie will eine Gesellschaft im Angesicht einer Pandemie, und das wird nicht die letzte sein, mit ihren alten und schützenswerten Menschen umgehen. Soll es die Taktik sein mit schützen um jeden Preis und wegsperren, ob sie es wollen oder nicht. Oder wollen wir in einem Land leben, wo die Menschen selbstbestimmt sind und wo man individuelle Lösung erarbeiten muss? (52 O-TON STEGGER) Die Bewohner müssen geschützt werden, aber Ihnen sollen grundsätzlich Möglichkeiten gegeben werden, ihre Persönlichkeitsrechte und ihre Freiheit auszuleben. SPRECHERIN CW Um die Bewohner zu schützen brauchen die Heime ausreichend Schutzkleidung. Und alle hoffen auf Schnelltests, damit keine Infektionen mehr eingeschleppt werden. Doch dafür braucht es auch ausreichend Personal. SPRECHERIN SE Pflegewissenschaftler Michael Isfort sagt, man hätte die Zeit seit Ausbruch der Pandemie besser nutzen können. Die Erfahrungen der Heime systematisieren, auswerten und einheitliche Hygiene-Konzepte entwickeln müssen. Jetzt sei die Politik wieder getrieben durch Infektionszahlen ... (53 O-TON ISFORT) ... wir haben ein Dreivierteljahr Erfahrung damit sammeln können. Und ich hätte erwartet, dass die Politik stärker unterstützt, stärker darauf guckt und sagt: Wie müssen wir denn für den Fall einer zweiten Welle mit diesen Problemen umgehen? Wie können wir denn verhindern, dass diese Kollateralschäden oder eben diese Corona-Opfer tatsächlich vermieden werden können? SPRECHERIN CW Im Theo-Burauen-Haus waren im Herbst 15 Bewohner und 19 Mitarbeiterinnen infiziert. Es hing eine Schwere über der Einrichtung, sagt Elisabeth Römisch. Aber sie hat die Bewohner nicht mehr aus ihren Zimmern verlegt und hält das Haus offen. Alle Besucher müssen jetzt FFP-2-Maske tragen. Sie hat zwischen all den Verordnungen einen Weg gefunden. Für sich - und für die Bewohner, die Angst haben vor einer erneuten Isolation. (54 O-TON RÖMISCH) Also die Stimmung ist schon so, dass die Bewohner sagen, alles bloß nicht mehr zumachen, alles bloß nicht mehr dieses ganz zumachen. Ansonsten halte ich das aus, ist das alles gut, aber nicht mehr zumachen. ABSAGE Die Isolation der Alten Pflege in Zeiten der Corona-Pandemie Ein Feature von Sonja Ernst und Christine Werner Es sprachen Christoph Wittelsbürger, Katrin Baumhöfer und die Autorinnen Ton und Technik Michael Morawietz und Hanna Steger Regie Philippe Brühl Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 1