Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der verlorene Frieden Deutschlands Einsatz in Afghanistan 6-teilige Serie - Folge vier: (4/6) Es gärt in den Provinzen Autor: Marc Thörner Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 23.02.2021 Wiederholung: Dienstag, 28.12.2021 Es sprachen Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch und der Autor Ton und Technik: Wolfgang Rixius, Gunther Rose und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Jung: das war ja an diesem vierten September. Da hab ich morgens eine SMS bekommen, noch in der Nacht: ‚Schlag gegen Taliban gelungen'. Autor: Franz Josef Jung, CDU, damals Verteidigungsminister: O-Ton Jung: Daraufhin hab ich an dem Samstagabend, das weiß ich noch wie heute - da war hier in Stadt Allendorf "50 Jahre" - und dann hab ich, was etwas ungewöhnlich ist, zugegeben, hab ich selbst Oberst Klein angerufen. Und hab mit ihm gesprochen. Da hat er gesagt: Sie waren noch einmal an dem Ort. Es war alles weg. Er hat gesagt: "Wenn es da zivile Opfer gegeben hätte, dann wären die mit Sicherheit liegen geblieben, um genau das zu demonstrieren." So. Am Samstagabend. Am Freitag war der Anschlag. Am nächsten Tag. Ja? Autor: Zu den wenigen Beobachtern, die am Tag nach dem Bombenaburf im Herbst 2009 vor Ort sind, gehört Zubayr Babarkhamal von der afghanischen Nachrichtenagentur Pahjwok. Er kann den ISAF-Oberkommandierenden General McChrystal begleiten, als der den Schauplatz inspiziert. Zubayr Babarkhamal, Pahjwok: Übersetzer: Ich sprach im Krankenhaus mit einem der Verletzten. Er hatte keine Schuss-, er hatte Brandverletzungen. Er sagte mir, dass er etwa eine Stunde lang gegangen, sei, um an die Stelle zu kommen, um gratis Benzin abzuschöpfen. Er war vielleicht 15, 16 Jahre alt. Ein Arzt erklärte mir: Als Mediziner scheren wir uns nicht darum, wer jemand ist. Wir behandeln ihn. In diesem Fall werde ich zum ersten Mal meine persönliche Ansicht äußern: Was ich hier sehe, ist eine Kollektivstrafe. Ja, es stimmt, es sind Taliban unter diesen Leuten. Ebenso wie Kinder, ebenso wie ältere Personen, ebenso wie Diebe. Die Taliban sollten meinetwegen die Todesstrafe bekommen. Aber, wissen Sie, Kinder sollte man doch anders bestrafen. Stattdessen wurden alle kollektiv bestraft. Sprecherin: Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan. Feature-Serie von Marc Thörner. Folge 4: Es gärt in den Provinzen. O-Ton Jung: Ich vergesse nie, als ich sonntags vor die Presse bin, nachmittags, und hab das geschildert, dann kam ich abends nach Hause und dann kam ein Fax aus Afghanistan, wo im Grunde genommen der Regionalpräsident, das Regionalparlament, der Polizeipräsident, der Geheimdienstchef, es waren sechs Institutionen, gesagt haben: ‚Es waren 56 Tote. Es waren alles nur Taliban oder deren Verbündete. Das kam aus Afghanistan! O-Ton Marc Lindemann: Selbstverständlich waren Zivilisten dabei. Die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums am nächsten Tag unter Minister Jung kann ich nicht nachvollziehen. Autor: Marc Lindemann war bis kurz vor dem Bombenabwurf Nachrichtenoffizier im Feldlager von Kundus und kennt die Konfliktlage vor Ort genau. O-Ton Marc Lindemann: Bei so einem Angriff, so einem Szenario sind selbstverständlich zivile Opfer zu beklagen, das ist gar keine Frage. Was die zivilen Schäden betrifft, so sagt die Kriegsvölkerregel, dass es in einem angemessenen Ergebnis stehen muss zum militärischen Erfolg. Wenn ich das mal einfach runterbreche, heißt das, der militärische Erfolg muss so groß sein, dass ich die zivilen Opfer akzeptieren kann und die zivilen Opfer wurden im Prinzip in Kauf genommen, um noch größere Schäden für die eigenen Soldaten, aber auch für afghanische Sicherheitskräfte und Zivilbevölkerung geringer zu halten. Zubayr Babarkhamal, Pahjwok: Übersetzer Als wir am Tag nach dem Bombenabwurf im deutschen Feldlager bei einer Erfrischung zusammensaßen, da äußerte der Chef des Provinzrats von Kundus im Gespräch mit General McChrystal: Alle, die getroffen wurden, waren Taliban. Und wenn wir noch mehr von solchen Operationen haben, wird die ganze Gegend sich beruhigen und es wird keine Taliban mehr geben. Ich war entsetzt, als ich das hörte. Ich sagte mir: Was redet der denn da? Ich kann dich zu den Gräbern führen, zusammen mit den Frauen, die dir sagen werden: "Das da ist mein vierzehnjähriger Sohn". Warum redet der Chef des Provinzrats so? O-Ton Jung: Wir haben ja dann auch entsprechend die Untersuchung gemacht, Ich hab ja noch am Sonntag mit dem amerikanischen General telefoniert und habe ihm gesagt: Hören Sie zu: Wir machen keine Untersuchung der Bundeswehr, das sieht sonst einseitig aus. Wir machen nur eine Untersuchung der NATO. Und deshalb hat es auch nur eine Untersuchung der NATO gegeben. Autor: Die Untersuchungen ergeben Wochen nach dem Bombenabwurf eine verheerende Bilanz. Etwa 140 Tote, die meisten von ihnen Zivilisten. Verstümmelte, Verbrannte. Und viele, die bis ans Lebensende unter Spätfolgen leiden werden. O-Ton Jung: Dann haben aber einige Feldjäger gemeint, sie wären trotzdem schlauer und haben dann diesen Bericht geschrieben, den sie nachher der BILD-Zeitung hin... forciert haben. Die NATO hat den Bericht weggeworfen! Aber Sie wissen, was aus diesem Bericht gemacht worden ist. Sprecherin "Die Wahrheit über den Luftangriff in Afghanistan. (...) Hat Minister Jung die Wahrheit verschwiegen? In einem Interview mit BILD am SONNTAG vom 6. September - zwei Tage nach dem Luftangriff - sagte der damalige Verteidigungsminister (...): "Nach allen mir zurzeit vorliegenden Informationen sind bei dem durch ein US- Flugzeug durchgeführten Einsatz ausschließlich terroristische Taliban getötet worden." ABER: Bereits am Abend des 4. September - also nur wenige Stunden nach dem Luftschlag - meldete das deutsche Regionalkommando in Masari-Sharif an das Einsatzführungskommando in Potsdam klare Hinweise auf zivile Opfer. Das geht aus Anlage 25 des Feldjägerberichts hervor. O-Ton Jung: Mein Problem war, dass ich am Morgen, am Samstagmorgen natürlich noch diese Botschaft, die positive (lacht), die ich Ihnen gerade geschildert habe, gegenüber der BILD AM SONNTAG gesagt habe. Die ist natürlich erst am Sonntag veröffentlicht worden. Am Sonntag war aber schon ein ganz anderer Sachverhalt. Sprecherin Nach dem Angriff hatte ; der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung tagelang behauptet, es habe keine zivilen Opfer gegeben. Dabei hätte er es besser wissen müssen. O-Ton Jung: Am Sonntag stellte sich doch... ist ja morgens dann der amerikanische General ziemlich... Und dann kamen doch Botschaften, dass es eventuell zivile Opfer gegeben hat. Und dann bin ich vor die Presse - ich weiß es noch wie heute, wir waren ja vorm Bundestagswahlkampf, es war eine Großveranstaltung in Dortmund - und hab gesagt: Also, wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann tut uns das leid, dann haben wir entsprechend Mitgefühl mit den Angehörigen und so weiter, werden auch unsere Verantwortung wahrnehmen. Autor: Der von Wikileaks ins Netz gestellte Feldjägerbericht entwickelt sich zu einer der Quellen der kritischen Aufarbeitung des Bombenabwurfs. Disziplinarrechtlich wird Oberst Klein nicht belangt, obwohl er einen angeblichen Feindkontakt fingiert hat. Auch ein Gericht spricht ihn auch von dem Vorwurf frei, er habe bewusst zivile Opfer in Kauf genommen. Für Franz Josef Jung führt die "Kundus-Affäre" zur Absetzung als Verteidigungsminister und später auch dazu, dass er von seinem neuen Amt als Bundesarbeitsminister zurücktritt. Bei den Afghanen hingegen, davon ist Jung noch heute überzeugt, stieß der Bombenabwurf auf breite Zustimmung. O-Ton Jung: Die afghanische Bevölkerung hielt das alles für richtig. Den Eindruck hatte ich schon. Autor: Die Annahme, dass deutsche Soldaten als Täter oder Mitwirkende bei einer Massentötung angesehen werden könnten, bringt ihn noch mehr als zehn Jahre danach in Rage. Ein Kriegsverbrechen gar? O-Ton Jung: Nein. Eindeutig nein. Das war Schutz für unsere Soldaten. Autor: Monate nach dem Kundus-Zwischenfall in einem der betroffenen Dörfer. Im Gespräch mit einigen der Einwohner zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Wut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit Verbitterung. Karim Mohammed Yaqub aus Kundus hat bei dem von Oberst Klein angeordneten Bombenabwurf Nachbarn und Freunde verloren. O-Ton Karim Mohammed Yaqub: Übersetzer: Natürlich hat sich der Gouverneur von Kundus bei den Deutschen bedankt. Das liegt daran, dass unsere Gouverneure und Regierungsleute Marionetten sind. Sie haben keine andere Wahl. Sie können nicht die Wahrheit sagen. Wenn ein Gouverneur die Wahrheit sagen würde, wie könnte er dann Gouverneur sein? Autor: Was denkt sein Bekannter, Rahmanullah über die Bundeswehr in Kundus? O-Ton Bewohner Kundus: Übersetzer: Seit diesem Bombardement sind die Deutschen nicht länger in der Bevölkerung beliebt. Wir haben von ihnen nichts gesehen, als Bomben. Ich habe nichts von irgendeiner Hilfe festgestellt. Die ganzen internationalen Truppen sollten abziehen, das wäre für uns besser. O-Ton Karim Mohammed Yaqub: Übersetzer: Wenn ich zu richten hätte, wenn ich Richter wäre, dann müsste dieser deutsche Oberst an den Galgen. Aber nicht nur er, sondern auch viele afghanische Landsleute von mir. Und auch noch andere der ausländischen Militärs. Ich würde sie hängen lassen. Das ist meine Meinung. Autor: Kann der damals verantwortliche Verteidigungsminister Franz-Josef Jung verstehen, jemand in einem der betroffenen Dörfer für Oberst Klein die Todesstrafe fordert? O-Ton Jung: Das war vielleicht ein Verbündeter der Taliban. Dass das absurd ist, ist doch völlig klar. Autor: Während viele Afghanen die Deutschen nicht mehr als uneigennützige Helfer sehen, sondern als Teil einer brutal vorgehenden ausländischen Besatzungsmacht, wandelt sich auch in der Bundeswehr bei vielen das Verhältnis zur Bevölkerung. Rechtsaufbau und Demokratisierung; Nation Builiding - für Afghanen? O-Ton Marc Lindemann: Also, wenn ich Kultur akzeptiere, dann in Gänze. Ich bin dafür. Aber wir stehen dann vor unschönen Wahrheiten. Autor: Marc Lindemann, ehemaliger deutscher Nachrichtenoffiziers in Kundus, tritt nach seiner aktiven Zeit als Publizist zu sicherheitspolitischen Fragen hervor und veröffentlicht im Januar 2010, kurz vor dem Gespräch, sein erstes Buch "Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert." O-Ton Marc Lindemann: Die Wahrheit heißt nämlich: Ja, wir lassen den Afghanen ihre oft in unseren Augen brutale Kultur und versuchen für uns quasi einen Gewinn (/) zu erlangen und der Gewinn kann nur heißen: wir wollen, dass Afghanistan stabil ist, (/) damit wir unsere Sicherheit erhöhen. Autor: Die ursprüngliche Zielvorgabe "Nation Building", der Aufbau einer Zivilgesellschaft, scheint auch in der Bundeswehr inzwischen durch das neue Ziel "Aufstandsbekämpfung" abgelöst worden zu sein. Und das bedeutet praktisch: Statt mit der Zivilgesellschaft arbeitet man eher mit lokalen Kriegsherren und "Power Brokern" und ihren bewaffneten Gefolgsleuten zusammen. O-Ton Marc Lindemann: In meinen Augen ist es utopisch, Afghanistan eine blühende Demokratie zu bringen. Das ist nicht möglich. Übrigens auch eine interessante Frage in dem Zusammenhang: Wollen die Afghanen eine Demokratie nach unserem Vorbild? Ich bin der Meinung: Die große Masse der Bevölkerung will sie nicht. Und da ist es für mich auch ein Aspekt, ehemalige Kriegsfürsten und Warlords an der Macht zu beteiligen. An der Macht zu beteiligen und an der Sicherheit zu beteiligen - ihnen in einer Art Milizsystem Macht übertragen, sie vielleicht auch ausstatten, technisch wie finanziell, um das Land zur Ruhe zu bringen. O-Ton Hashemi: Sie gehen in die falsche Richtung Autor: Die Warlords stärken - für Ahmed Hashemi, den jetzt im Hamburger Exil lebenden ehemaligen Chefredakteur, genau die falsche Entscheidung - das falsche Signal an die afghanischen Politiker, die ja in der Regel selber Warlords sind. O-Ton Hashemi: Alle Politiker - Warlord. Die afghanische Regierung insgesamt, egal, Atta, Ashraf Ghani, Abdullah - alles fast das Gleiche. Autor: Weil Warlords mit Verbindungen in die Regierung seine kritische Zeitung nicht gefiel, blieb Chefredakteur Hashemi und seiner Familie am Ende nur die Flucht aus Afghanistan. Warlords - für Hashemis Sohn Mirad, im deutschen Exil aufgewachsen, sind das die denkbar schlechtesten Ansprechpartner. Mirad Hashemi: Ich finde, diese Menschen, die ihr Land genau(so) verkaufen, sind mindestens genau so schuldig wie die Taliban. Ich finde das ja komplett falsch, weil es wird sich ja nichts ändern. Dann wird ja auch alles, was fürs Land bis jetzt investiert wurde; Menschen, die ihr Leben verloren haben, es wurden ja Millionen von Euro investiert aus den verschiedenen Ländern. Dann wäre das ja alles umsonst gewesen. Ich sehe nicht, dass man dadurch irgendeinen Gewinn für das Land erzielt. Sprecherin: "Der Umgang mit Milizen durch das deutsche Einsatzkontingent ISAF wurde mit Weisung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 17. Februar 2010 geregelt. Autor: erklärt zwar offiziell die Bundesregierung. Sprecherin: "Absicht ist es - mit Blick auf die traditionelle regionale Organisation afghanischer Sicherheitsstrukturen - das Verhalten und die Absichten der Milizen zu beobachten. Eine Einbindung der Milizen in die eigene Operationsführung ist nicht vorgesehen." Autor: Doch vor Ort in Kundus scheint das niemanden mehr zu interessieren. Im Spätherbst 2010, plant Oberstleutnant von Blumröder, der Chef der deutschen Task Force Kundus mithilfe von Warlord-Milizen eine Offensive. Sie trägt den Titel "Operation Halmazag" - zu deutsch "Der Blitz". Zitator (Blumröder): "Als gemeinsamer Angriffstermin wurde der 31. Oktober (2010) vereinbart. In der Planung der Operation stimmte sich die Task Force Kunduz nicht nur mit den afghanischen, sondern auch mit den amerikanischen Partnern eng ab. Schließlich sollte eine US-Infanteriekompanie mit afghanischer Polizei und regierungstreuen Milizen vom Süden her ansetzen." Autor: Johannes Clair war damals Fallschirmjäger in der Task Force Kunduz. Bei der Operation Halmazag, sagt er, sei es darum gegangen... O-Ton Johannes Clair: Dass praktisch die Aufständischen im Raum Kundus in die Zange genommen werden sollten in diesem Distrikt Schahardarah, dass dann irgendwann der Sack zugemacht wird und dass während wir die Stellung im Norden die Stellungen halten sollten, im Süden Milizionäre und amerikanische Soldaten die in unsere Richtung treiben sollten. Ich habe es während meines Einsatzes im besten Fall als schwierig empfunden, mit denen zusammenzuarbeiten. Von den Auswirkungen mal abgesehen, wie zum Beispiel, dass sie auch selber die Bevölkerung für sich ausgenutzt haben Autor: Überall im Operationsgebiet der Bundeswehr hätten sich schwer bewaffnete Zivilisten herumgetrieben. O-Ton Johannes Clair: Dass es `ne Weisung gegeben hat, mit denen nicht zusammenzuarbeiten, mit diesen Milizen, davon wusste ich damals nichts. Uns wurde nur gesagt, "wenn ihr welche mit gelben Armbinden seht, schießt nicht drauf." Wir haben dann natürlich Gerüchte gehört, als wir dann weg waren: dass die dann selber angefangen haben, sich wie im Selbstbedienungsladen bei der Bevölkerung zu bedienen, auch von den Sprachmittlern, die haben mir erzählt, dass das zwielichtige Halunken sind teilweise. Autor: Die Truppen, die die Bundeswehr zu einem Teil mit einplant, unterstehen Nawid, einem von der afghanischen Polizei gesuchten Auftragskiller. Monate nach der Bundeswehroperation ist er in der Region quasi unangreifbar geworden. Nur Mohammed, Chef der Kriminalpolizei von Kundus, kann nur mühsam seinen Zorn verbergen. O-Ton Nur Mohammed: Übersetzer: Nawid, woher kennen Sie denn den? Er ist ein Verbrecher. Er hat drei Menschen in einer Sekunde getötet, als sie in einem Friseurladen saßen. Wenn ich ihn finde, werde ich ihn sofort verhaften. Aber er ist spurlos verschwunden. Als ich in noch verhaften konnte, ging das nicht, weil der damalige Polizeichef von Kundus ihn beschützte. Er benutzte Nawid, damit er gegen die Taliban kämpft. Die Taliban sind wie die Tiere und Nawid ist ein Krimineller. Genau deswegen setzte der Polizeichef ihn gegen die Taliban kämpft ein. Autor: Kann man zu Nawid Kontakt aufnehmen? Mit ihm über seinen Beitrag an der Bundeswehroperation sprechen? Mein lokaler Begleiter zeigt sich skeptisch. O-Ton Begleiter: Übersetzer: Er auf der Flucht. Die Polizei sucht ihn. Dürfte ausgesprochen schwer werden, ihn zu interviewen. Er ist untergetaucht. Autor: Rahman, unser Informant aus Kundus, ist anderer Meinung. Selbst, wenn es hier Polizei geben sollte - Nawid wäre das doch völlig egal. Seit seiner Einbindung im Kampf gegen die Taliban sei seine Macht so angewachsen, dass er sich in der Kleinstadt Khanabad, nur wenige Kilometer von Kundus als örtlicher Herrscher festgesetzt habe. Die Polizei wisse das, könne aber gegen ihn nichts machen. Rahman nimmt sein Handy und wählt eine Nummer. Der vermeintlich Untergetauchte meldet sich sofort: Atmo: Stimme Nawid Autor: ‚Klar könnt ihr mal bei mir vorbeischauen. Ich habe nichts zu verbergen,' sagt er ‚ich kontrolliere hier die ganze Gegend, herzlich willkommen'. Atmo: Stimme Begleiter "He's living in this compound." Autor: Ein Jugendlicher öffnet uns das Tor, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Pilzkopffrisur, Kalaschnikow über der Schulter. Lächelnd führt er uns über den Hof zum Gästehaus an der Stirnseite. Auf der Veranda stehen fünf Kämpfer, mitten zwischen einem beeindruckenden Waffenarsenal. Schwere Maschinengewehre russischer Bauart, Bazookas, jede Menge Munition. Hinter ihnen taucht ein dünner rasierter Mann auf und geht auf uns zu. Ich schätze ihn auf ungefähr 35 Jahre. Ein traditionelles Shalvar-Khamis-Gewand mit einem ziemlich extravaganten Nadelstreifen-Muster. Langes, nasses Haar das ihm an seinen Schultern klebt. Er wirkt verwirrt, unausgeschlafen, tranig, wie leicht betäubt. Nicht wie ein brutaler Mörder, eher wie ein Popstar. Einer, der die Nacht durchgemacht hat und am Morgen nach dem Auftritt unter Kopfschmerzen leidet. An einem seiner Finger prangt ein dicker bläulich schimmernder Ring. Lapislazuli, golden eingefasst. Autor: Nawid lächelt. "Gläschen Tee?" - fragt er mit schwerer Zunge. Und dann bestätigt er: Ja richtig, vom damaligen Polizeichef sei er zur Führer einer Hilfstruppe gemacht und dadurch dem deutschen Oberkommando unterstellt worden. O-Ton Nawid: Übersetzer: Wir haben mit den Deutschen gemeinsam im Distrikt Schardarah gekämpft, gemäß dem Auftrag der Regierung. Als wir dort eingesetzt waren, kamen bei unserer Stellung ein paar Mal Deutsche vorbei. Sie haben uns gefragt, ob wir ihre Hilfe brauchen. Aber dann verschwanden sie und wir haben keine Hilfe von ihnen gesehen. Autor: Dass ihm Morde und andere Verbrechen angelastet werden, löst bei ihm nur Schulterzucken aus. O-Ton Nawid: Übersetzer: Wisst Ihr, es gibt hier in dieser Gegend viele persönliche Feindschaften. Ich werde beschuldigt eine Menge Dinge getan zu haben, aber daran ist kein wahres Wort. In Wirklichkeit bin ich es, der die Sicherheit in diesem Teil von Khanabad garantiert. Ich kontrolliere ein Gebiet mit zehn Moscheen inklusive einer Schule und arbeite eng mit der Regierung zusammen. Die Menschen sind glücklich, dass ich hier bin. Ihr könnt ruhig bei der Regierung fragen. Autor: Für die Zivilbevölkerung war die Einbindung von Nawid ein Albtraum. Abderrahmen, Gemeindeführer eines der Dörfer rund um Kundus: O-Ton Abderrahman: Übersetzer: Genauso wie die Deutsche die Milizen benutzt haben, haben die Milizen auch die Deutschen ausgenutzt. Die Milizionäre gingen dann bei uns von Haus zu Haus, sie sagten zu den Bewohnern: Ihr seid alle Taliban, gebt uns eure Waffen, sie brachen die Truhen auf und stahlen alles, was wir aufbewahrt hatten. Nawid hat fünf Tage lang bei uns gewütet. Viele wurden während der Plünderungen mißhandelt und gefoltert. Sie wurden mit Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen oder in den Bauch gestoßen. Sie sollten Angst bekommen, damit die Milizionäre in Ruhe stehlen konnten Autor: Nawids Misshandlungen der paschtunischen Bevölkerung führen dazu, dass die Taliban auf immer mehr Sympathien rechnen können. Polizeioffizier Nur Mohammed merkt das in seinem Arbeitsalltag. O-Ton Nur Mohammed: Übersetzer: Ich bin nur noch zivil gekleidet, wenn ich meine Polizeiuniform anziehen würde, würde mein eigener Fahrer mich nicht mehr fahren. Die Menschen, diese Kommandeur Nawid in Khanabad getötet hat, waren Paschtunen. Und er ist ein Tadschike. Tadschiken gegen Paschtunen, diese Dinge haben unser Land zerstört. Autor: Aus deutscher Sicht ist bei der Kundus-Offensive alles planmäßig gelaufen O-Ton Moritz Jahncke: Das komplette Gebiet wurde befreit von Insurgenten. Im November war die Operation abgeschlossen und da hatten wir bereits den Bau der Straße, die quer durch das südliche Schardaraeh führt, vorbereitet und binnen sechs Wochen haben wir angefangen mit den Bauarbeiten. Autor: Clear. Hold, Build. Die Gegend von Aufständischen säubern, dann stabilisieren und die Bevölkerung belohnen, wenn sie den Taliban abschwört. Moritz Jahncke, stellvertretender Leiter des PRT Kundus: O-Ton Moritz Jahncke: Dies ist jetzt ein Projekt des Auswärtigen Amts. Das liegt daran, dass das Auswärtige Amt im Bereich der Umfeldstabilisierung aktiv ist. Wir haben das umgesetzt zusammen mit der GIZ. Das ist ein unglaublich sichtbares Projekt für die Bevölkerung. Sie sieht, wenn die afghanische Regierung wieder die Kontrolle über die Gebiete gewinnt, dass das dann einen unmittelbaren Impact für sie hat. Autor: Reinhard Erös, Ex-Oberst der Bundeswehr und nun als Entwicklungshelfer in Afghanistan vor Ort, hält es für fatal, dass die Bundeswehr in Kundus zum Erreichen dieses Ziels einen gesuchten Kriminellen in ihre Operation mit eingebunden hat. O-Ton Erös: Kundus ist ja `ne Paschtunenexklave, der Typ ist ein Tadschike. Also, in einer Paschtunenexklave mit Tadschiken zusammenarbeiten, ist sowieso so `ne Sache, also mein lieber Mann! Ich arbeite als nordrheinwestfälische Polizei in bestimmten Gebieten ja auch nicht mit Clankriminellen zusammen, damit ich irgendwelche Verbrecher - also mit arabischen Clans, mit irgendwelchen Drogenhändlern aus dem Kosovo, also das sind so Dinge - sollte man nicht machen. Autor: Im Frühjahr 2013 wird Oberst Klein zum Brigadegeneral befördert. Nichts könne ihm vorgeworfen werden, meint Ex-Verteidigungsminister Jung. O-Ton Jung: Und von daher ist Oberst Klein nach seinen Leistungen zu beurteilen und nicht unmittelbar nur aus dieser damaligen Situation, was die Presse draus gemacht hat. Sondern, was wirklich war. Und von daher glaube ich - es war dann nach meiner Zeit, die Beförderung, war das auch gerechtfertigt. Autor: Eine Fehlentscheidung, findet dagegen der Entwicklungshelfer Reinhard Erös. O-Ton Erös: Das Ansehen der Deutschen hat durch die Tatsache, dass wir den befördert haben, das hat massiv gelitten. Sprecherin In der nächsten Folge: O-Ton Talib: Übersetzer: Wenn die Deutschen Informationen über die al Kaida in jeder Provinz haben möchten, ist das möglich. Aber die Bedingung muss ganz klar sein: Ich brauche die besagten Garantien über unser Land und unsere Häuser. Wenn ich es nicht schaffe, die Taliban und die al Kaida innerhalb von drei Monaten lahmzulegen, bin ich bereit, mich selber der Justiz zu stellen. Sprecherin Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan Feature-Serie von Marc Thörner Folge 4 - Es gärt in den Provinzen Es sprachen Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch und der Autor Ton und Technik: Wolfgang Rixius, Gunther Rose und Oliver Dannert Regie Matthias Kapohl Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021 1