Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature In der Dunkelkammer des Strafrechts Was mit psychisch Kranken im Maßregelvollzug passiert Autorinnen: Carolin Haentjes und Antonia Märzhäuser Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2020 Erstsendung: Dienstag, 25.08.2020, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 23.11.2021, 19.15 Uhr Es sprachen: Martin Engler, Cathlen Gawlich, Axel Wandtke und Carolin Haentjes Ton: Andreas Stoffels Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Intro Sprecher 1 "Das Landgericht Berlin spricht den Angeklagten wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit vom Vorwurf des Diebstahls mit Waffen und der gefährlichen Körperverletzung frei und ordnet zugleich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an." Autorin: 20. September 2012. Julian Scheele wird freigesprochen. Er hat mit einem Messer auf einen Bekannten eingestochen. Doch das Gericht ist von seiner Schuldfähigkeit nicht überzeugt. Denn Julian Scheele leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Statt der eineinhalb Jahre auf Bewährung, die die Staatsanwaltschaft gefordert hatte, soll er eine Therapie bekommen. Seine Eltern sind erleichtert: Martin Scheele (1): "Und da sagte er uns schon, er hätte einen Arzt getroffen, den er noch von früher aus Potsdam kennt und der zu ihm gesagt hätte: Herr Scheele passen Sie auf, dass Sie nicht nach 63 verurteilt werden, dann kommen sie da nicht mehr raus." **Musik** Autorin: Das Misstrauen ihres Sohnes halten sie für Paranoia. Aber acht Jahre später ist er immer noch eingesperrt. Nicht im Gefängnis. In einem Krankenhaus, das gesichert ist durch hohe Mauern, Stacheldraht und Eingangsschleusen. Doris Scheele (27): "Er kann nicht raus, er kann sich nicht beschäftigen. Liegt den ganzen Tag rum oder sitzt rum und konzentriert sich nur auf seine inneren Stimmen, das ist doch unglaublich. Und wenn man ein bisschen in der Fachliteratur nachliest, dann sieht man ja, dass gerade Schizophrene ne ganz günstige Prognose haben können, wenn sie eine entsprechende Beschäftigung haben, die richtige medizinische, medikamentöse Einstellung und eine adäquate Umwelt. Ja, und das alles ist dort nicht gegeben." Sprecherin 2 In der Dunkelkammer des Strafrechts. Was mit psychisch Kranken im Maßregelvollzug passiert. Ein Feature von Antonia Märzhäuser und Carolin Haentjes Autorin: Keine Strafe ohne Schuld. Das ist eines der wichtigsten Prinzipien des Strafrechts. Wer wegen psychischer Krankheit für schuldunfähig befunden wird, darf in Deutschland nicht bestraft werden. Egal, was die Person getan hat. Sie soll stattdessen im Maßregelvollzug Hilfe und Unterstützung bekommen. In einem Rahmen, in dem sie anderen keinen Schaden zufügen kann. Der Maßregelvollzug könnte eine Einrichtung der Humanität sein. Eigentlich. Martin Scheele (2): "Also eigentlich war es positiv. Dass er in einer schweren Situation, in einer Krise jetzt in einer sicheren Umgebung ist. Und wir dachten naja, wenn er jetzt ein Jahr wieder zur Ruhe gebracht wird, das ist vielleicht ganz gut." Autorin: Martin Scheele erinnert sich an den Tag vor acht Jahren im Landgericht Berlin. Den 20. September 2012. Sein Sohn Julian ist wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Es ist ein schwieriger Tag für Martin Scheele und seine Frau. Sie haben immer versucht dafür zu sorgen, dass ihre beiden Kinder behütet aufwachsen. Er ist Physiker, sie Lehrerin. Aber der ältere Sohn der beiden, Julian, versucht schon mit 16 aus den bürgerlichen Verhältnissen auszubrechen. Er fängt an zu kiffen, trinkt häufig und probiert alle möglichen Drogen. Seine junge Psyche kommt damit nicht zurecht. Mit 18 versucht er sich umzubringen. Danach diagnostiziert ein Arzt zum ersten Mal: paranoide Schizophrenie. Julian schafft noch das Abitur, fängt sogar ein Studium an. Aber er findet nicht wirklich den Weg in ein, wie man so sagt, "geordnetes Leben". Stattdessen: Alkohol, Amphetamine, Heroin und eine Schizophrenie, die sich in mehreren psychotischen Phasen verfestigt. Er hat Wahnvorstellungen, hört Stimmen, hat Angst, glaubt sich verfolgt. Im Sommer 2012 ist er 37, lebt in Berlin und verbringt seine Zeit damit, Geld oder Drogen aufzutreiben. **Akustischer Akzent** (atmosphärische Verortung im Gerichtssaal) Sprecher 1: "Am 26.06.2012 gegen 20:30 Uhr traf der Angeklagte auf dem U-Bahnhof Kottbusser Tor mit dem Zeugen Hardi K. zusammen. Da der beim Verkauf des Obdachlosenmagazins Motz besonders erfolgreich gewesen war, lud er den Angeklagten ein, mit ihm einen Joint zu rauchen." **Musik: Spannung** Autorin: Hardi K. und er kennen sich aus der Junkie-Szene. Während Hardi K. den Joint baut, greift Julian Scheele nach dessen Geldbeutel und versucht zu verschwinden. Als der andere den Diebstahl bemerkt, rennt er hinterher. Draußen auf der Straße erwischt er ihn am Ärmel. Sprecher 1: "Der Angeklagte, der auch aufgrund einer psychotischen Verkennung der Situation annahm, der Zeuge wollte ihn schlagen, versuchte sich loszureißen und zog sodann ein Küchenmesser." Autorin: Julian Scheele sticht Hardi K. mit dem Messer in Arm, Brust und Bauch. Hardi K. muss drei Tage in einem Krankenhaus behandelt werden. Die Staatsanwaltschaft fordert eineinhalb Jahre auf Bewährung. Doch das Gericht entscheidet anders. Es spricht Julian Scheele frei, nicht weil er die Tat nicht begangen hat, sondern weil es von seiner Schuldfähigkeit nicht überzeugt ist. Damit folgt es der Einschätzung eines psychiatrischen Gutachters. Martin Scheele (2a - noch nicht produziert): "Und dann fingen wir an, uns eigentlich auch mit diesen Paragrafen und zu beschäftigen. Wir haben Juristen in der Familie. Die haben das alle nicht gewusst, dass das eine endlos Story werden kann. Damals waren wir erst einmal beruhigt. Jetzt kann nichts passieren, ihm kann nichts passieren. Uns kann nichts passieren. Aber dass nach dem Prozess so drei, vier Wochen nach dem Prozess war uns dann die Gefahr klar nach dem Gespräch, das die zeitliche Dauer überhaupt nicht geregelt wird." Autorin: Der Paragraf 63 Strafgesetzbuch, nach dem Julian Scheele verurteilt wird, regelt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Und diese Unterbringung ist nicht befristet. Anders als bei der Einweisung in eine Entzugsklinik nach Paragraf 64, die auf zwei Jahre beschränkt ist. Aber Julian Scheele hat auch eine Schizophrenie. Die brachte ihn dazu, Hardi K. anzugreifen, und die könnte dafür sorgen, dass so etwas wieder passiert. Deswegen Paragraf 63. Und deswegen: keine Befristung. In den Krankenhäusern des Maßregelvollzugs wird das gesamte Spektrum psychischer Krankheiten behandelt: Sprecherin 2: "Die Bandbreite der begangenen Delikte ist sehr groß: Sie reicht von Beschaffungsdiebstählen über Brandstiftung bis hin zu schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Sexualstraftaten machen etwa ein Viertel aller Einweisungsdelikte aus, wobei das Spektrum von Exhibitionismus bis zur Vergewaltigung reicht." Autorin: Ein großer Teil der Untergebrachten leidet an Schizophrenie- so wie Julian. Das Krankheitsbild gilt als gut behandelbar. Und tatsächlich geht es Julian dort - trotz seines Misstrauens - erst einmal besser: Er bekommt Medikamente gegen die Wahnvorstellungen und die festen Strukturen des Klinik-Lebens helfen ihm, die Antriebslosigkeit zu überwinden. In der Stellungnahme, in der die Klinik einmal im Jahr den Stand der Behandlung dokumentiert, heißt es 2014: Sprecher 1: "Sowohl an der Arbeitstherapie selbst als auch an den gemeinsamen Ausflügen war er erfreulich beteiligt. Insgesamt spielen Angst und Suchtdruck keine so große Rolle mehr wie im Vorjahr." Autorin: Wegen der guten Fortschritte bekommt Julian Scheele Lockerungen. Er darf seine Eltern besuchen, sogar für ein paar Tage mit ihnen wegfahren. Die Ärzte sprechen mit ihm nach zweieinhalb Jahren über eine Verlegung in einen halboffenen Vollzug. Das wäre ein großer Schritt in Richtung Entlassung. **Akustischer Akzent** Fünf Jahre später treffen wir seine Eltern, die uns von seinem Fall erzählen. Julian ist immer noch in der Klinik. Aber inzwischen geht es ihm gar nicht mehr gut. Doris Scheele (3): "Wir können es ja nur an den Erfolgen in Anführungszeichen beurteilen. Und die sind unserer Meinung nach gleich Null, weil sich sein Verhalten ja nicht verändert, weil er nach wie vor seine Psychose hat (...) Und also sein Dasein dort, so nehmen wir das wahr ist geprägt durch Angst, Ekel, Verzweiflung. Und damit versucht er irgendwie umzugehen." Sprecher 1 (Stellungnahme KMV): "Zum aktuellen Handlungsverlauf: Die medikamentöse Einstellung Herrn Scheeles erfolgt inzwischen mit den atypischen, antipsychotisch wirksamen Präparaten. Auch unter dieser Medikation konnte innerhalb der letzten Wochen keine ausreichende Stabilität des psychischen Zustandsbildes des Patienten erreicht werden." Autorin: Die Klinik setzt bei der Behandlung von Julian stark auf Medikamente, darunter auch Betäubungsmittel wie Valium mit einem hohen Suchtfaktor. Sprecher 1: "Zudem wirkte er depressiv. Im Kontakt war er kaum erreichbar, er schien wie weggetreten." **Musik** Autorin: Von Entlassung ist jetzt nicht einmal mehr die Rede. Seit der Einweisung sind sieben Jahre vergangen. Wie kann das sein? Helmut Pollähne (4): "Weil er in die Falle des 63er geraten ist. Also das ist das Hauptproblem des 63er, die Unbefristetheit. Muss man schon so sehen." "Mein Name ist Helmut Pollähne, ich bin Rechtsanwalt hier in Bremen und Professor an der hiesigen Universität und beschäftige mich seit über 30 Jahren mit Maßregelvollzug. Das ist so als Jurist und Rechtswissenschaftler eins meiner Steckenpferde." Autorin: Mit seinem Spezialgebiet ist er ein Sonderfall. Die meisten Juristinnen und Juristen wissen kaum etwas über den Maßregelvollzug. Helmut Pollähne (5): "Das ist so ein Orchideengebiet. Das hat allgemein damit zu tun, dass in der Ausbildung die Folgen der Entscheidung selten eine große Rolle spielen. Was dann mit denen passiert im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Klinik interessiert die Juristen nicht mehr. Wenn man denen sagt, es könnte sein, dass der dann nie wieder rauskommt, weil ihr dem jetzt einen Paragrafen 63 im Strafgesetzbuch verordnet habt, der unbefristet ist, dann können die sich das nicht vorstellen so richtig. Ja, der kommt irgendwann wieder raus. Ja, aber ich sage ja, aber vielleicht auch nicht. Und Sie wissen nicht, wie lange dauert das. Fünf Jahre? Zehn Jahre? Zwanzig? Weiß keiner. Das haben die nicht auf dem Schirm." Autorin: Diese Ungewissheit quäle viele seiner Mandanten, mehr als das Eingesperrt-Sein, sagt Helmut Pollähne. Obwohl der Maßregelvollzug keine Strafe sein soll, empfinden viele es eben doch als genau das: Als Strafe. Als potenziell lebenslängliche Freiheitsstrafe. Helmut Pollähne (6): "Das zweite zentrale Problem ist das Ausgeliefertsein an ärztliche Macht. Das sind so die beiden zentralen Problemfelder des ganzen Maßregelvollzugsystems. Das hat sehr viel mit Menschenrechten zu tun." Autorin: Der Maßregelvollzug wird oft als "Dunkelkammer des Strafrechts" bezeichnet. Man muss sich therapieren lassen, hat keine freie Therapeutenwahl und kein Mitspracherecht bei den Methoden. Wann und ob man herauskommt, ist vor allem abhängig von der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Sie prognostizieren, ob der oder die Patient_in noch gefährlich ist. Die Entscheidung fällt dann zwar eine Strafvollstreckungskammer, aber die urteilt fast immer nach der Empfehlung der Ärzte. Sprecher 1: " Für Herrn Scheele wurden zwei Punkte berechnet für "instabile Beziehungen", ebenfalls zwei Punkte für "Probleme im Arbeitsbereich" und zwei Punkte für Substanzmissbrauch. Addiert man die Faktoren, ist die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten bei 26/40 Punkten als moderat erhöht einzuordnen." - aus dem forensisch-psychiatrisches Gutachten, September 2019 Helmut Pollähne (8): "Die können sich Gedanken machen über statistische Zusammenhänge und was man weiß über bestimmte Gruppen von Leuten mit bestimmten Merkmalen. Und dann kann man Aussagen darüber treffen, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass jemand, der so und so dies und das wahrscheinlich wieder dieses Vergehen tut. Was das für den Einzelnen bedeutet, weiß keiner." Autorin: Das heißt: Das Grundrecht auf Freiheit wird auf unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Auf der Grundlage von etwas, das noch gar nicht passiert ist. So ist es auch bei Julian. Er hat einmal eine schwere Körperverletzung begangen. Und jetzt wird ihm Jahr für Jahr prognostiziert, dass das wieder passieren könnte. Sprecher 1: "Der weitgehend fehlende Behandlungserfolg ist dem chronifizierten Krankheitsbild des Beschwerdeführers geschuldet, der seinen Mangel an Antrieb und Lebensperspektiven durch den Konsum von Amphetaminen zu kompensieren suche." - Stellungnahme des Kammergerichts, 20. Februar 2020 Autorin: Die Klinik sagt, das Problem sei, dass er den Drogen nicht abschwören will. Die Kammer zitiert die Ärzte und beschließt, dass Julian Scheele untergebracht bleiben muss. Aber könnte es nicht auch sein, dass die Klinik mit ihrem Therapieansatz daneben liegt? Immerhin behandelt sie einen Süchtigen mit einem hoch süchtig machenden Medikament wie Valium. Könnte die Antriebslosigkeit vielleicht daher kommen, dass Julian Scheele nach fast acht Jahren in der Klinik aufgegeben hat? Er schreibt in einem Brief 2019 an das Gericht: "Ich fühle mich angesichts einer solchen Sachlage ohnmächtig, allein gelassen, hilflos, im Grunde genommen auch voll verarscht. Ich möchte auch nochmal darauf hinweisen, dass der Staatsanwalt während der Hauptverhandlung vor 7 Jahren ein Strafmaß von 1-1,5 Jahren auf Bewährung beantragt hat, da es keine ähnlichen Vorstrafen in meiner Biografie gegeben hat. Mir fehlt für das verhängte Strafmaß wie auch für die Forderungen, die an mich gestellt werden, mittlerweile jedes Verständnis. Ich appelliere und vertraue aber auf Ihr eigenes Gewissen wie auch die Ihnen eigene Moral. Mit freundlichen Grüßen." Geändert hat der Brief nichts. Und auch die Eltern Scheele haben kaum noch Hoffnung. Seitdem sie nach Erklärungen gefragt und Alternativen gefordert haben, habe die Klinik die Kommunikation eingestellt. Doris Scheele (9): "Diese Klinik muss sich nicht rechtfertigen für ihre Handlungsansätze, es gibt eben kein Kontrollinstrumentarium. Wenn ein Unternehmen gegen die Wand läuft, dann ist da auch viel passiert. Dann wird es Menschen geben, die sagen, die analysieren, was hier schiefläuft. Ich finde, dass da von außen auch geguckt werden muss. Nachgefragt werden müsste, wie lange ist jemand hier, wie haben sie ihn medikamentös eingestellt, mit welchen Ansätzen." Autorin: Die für die Klinik zuständige Senatsverwaltung erklärt uns, dass sie auf Fragen zu Einzelfällen nicht eingehe, auch weil die verschiedenen Aspekte der bestehenden Störung, ihrer Behandlung sowie unterschiedlicher Sichtweisen nicht umfassend dargestellt und diskutiert werden könnten. Alle Unterbringungen würden jedoch mindestens jährlich gerichtlich überprüft, wobei eine umfassende Darstellung des Einzelfalls erfolge. Kapitel 2 **Szenischer Ton: Maßregelvollzug sprechen und bei google eingeben. Für den Hintergrund Klick-Geräusch.** Autorin: Maßregelvollzug Sprecher 1: "Hannover: Vergewaltiger auf Freigang belästigt Kinder." (17.10.2019) Sprecherin 2: "Straftäterin entkommen: Sie hatte ihre Mutter mit dem Schwert getötet. Jetzt ist sie aus dem Maßregelvollzug Moringen geflüchtet." (04.03.2020 ) Autorin: Vergewaltiger, die Kinder belästigen. Wahnsinnige auf der Flucht. Wer "Maßregelvollzug" googelt, findet vor allem Schlagzeilen und Schreckensnachrichten. Es geht immer darum, was passiert, wenn jemand aus dem Maßregelvollzug entlassen wird oder ausbricht. Nicht darum, was in diesen Kliniken passiert. **Szenischer Ton beim Googlen: Berlin, Moringen, Straubing, Brandenburg an der Havel, Straubing, Eickelborn, Teupitz....** Über 70 Forensiken gibt es in Deutschland. So werden die Krankenhäuser des Maßregelvollzugs auch genannt. **Musik im Hintergrund** Wie viele Menschen dort leben, warum sie eingewiesen wurden und wie lange sie bleiben: Das sind Fragen, die einfach klingen, aber schwer zu beantworten sind. Denn der Maßregelvollzug in Deutschland ist eine Blackbox. Die Zahl der Untergebrachten wird nirgendwo zentral erfasst. Es gibt keine verlässlichen Angaben zur Aufenthaltsdauer. Zumindest Anhaltspunkte liefert das statistische Bundesamt. Es zählt über 6200 Personen, die 2017 nach Paragraf 63 untergebracht gewesen sein sollen. Damit hätte sich die Zahl seit 1995 mehr als verdoppelt. Allerdings liefern manche Bundesländer Zahlen aus dem Vorjahr, die Angaben aus Brandenburg und Sachsen-Anhalt fehlen komplett. Nur eins ist klar: In den Krankenhäusern des Maßregelvollzugs ist es ziemlich eng geworden. Sprecherin 2 und Sprecher 1 im Wechsel (Schlagzeilen) "Maßregelvollzug platzt aus allen Nähten." "Klinik-Skandal in Hamburg: Psychiatrie rappelvoll." "NRW fehlen 750 Plätze für psychisch kranke Straftäter." "Ravensburg: Maßregelvollzug in der Region ist völlig überfüllt." **Musik Ende* Zena Wolf (10): "Dunkel und kalt. Vom Gefühl her. Dunkel und kalt da drinnen gibt es nur schwarz-weiß. Es gibt kein Links, kein Rechts. Es gibt nix Buntes." Autorin: Zena Lilly Wolf hat 19 Jahre im Maßregelvollzug verbracht. Sie war auf verschiedenen Stationen untergebracht, erst in Brandenburg, dann in Berlin. Weil sie Angst hat, erkannt zu werden, haben wir ihren Namen geändert. Zena Wolf (11): "Als Transidentin, hatte ich es erst recht schwer. Ja, ich hatte Therapeuten gehabt, die der Meinung waren, man muss so leben, wie Gott mich geschaffen hat als Mann." Autorin: Die Trans-Frau ist ein komplizierter Fall: Ihre Kindheit in der DDR war geprägt von Gewalt. Jedes Zeichen ihrer weiblichen Identität wurde unterdrückt und drakonisch bestraft. Zu Hause wurde sie von ihrem Vater geschlagen und vergewaltigt. In den Heimen, in denen sie immer wieder lebte, zur Kinderarbeit gezwungen. Als Jugendliche gerät sie außer Kontrolle. Das belegen Gerichtsakten. Sie lügt, sie stiehlt, sie fährt ohne Führerschein und sie wird extrem gewalttätig gegenüber Mädchen. Mit 16 dann die erste Verurteilung wegen Vergewaltigung, mit 17 wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes. Im Jugendgefängnis greift sie ihre Therapeutin an und versucht sich an ihr zu vergehen. Sie wird zu zwei weiteren Jahren verurteilt, aber die Strafe wird ausgesetzt: 1999 wird sie in den Maßregelvollzug eingewiesen. Sprecher 1: "Frau Wolf* ist von zierlicher blasser Gestalt, mit ihrem blassen Gesicht, langen Rock bzw. Leggins und den glitzernd leicht pastelligen Oberteilen, ihrer stillen Art und dem ausweichend -entrückten Blick möchte ich ihre Wirkung auf mich am ehesten als die eines zarten, androgynen Wesens bezeichnen." Autorin: Aus einem Psychiatrischen Gutachten 2014. Zeena Wolf sagt, sie habe sich immer weiblich gefühlt und aus Eifersucht auf die Mädchen gehandelt. Sie habe versucht, so zu sein wie ein Mann. Zena Wolf (12): "Ich find's schlimm, was ich getan habe, weil ich habe es ja selbst erlebt, jetzt nicht nach den Straftaten, sondern schon vorher. Ich weiß, was es mit einem macht." Autorin: Erst im Maßregelvollzug fängt sie an, offen als Frau zu leben. Kein einfaches Umfeld für eine Transition. Trans-Identität gilt zu dem Zeitpunkt, 1999, noch als Geisteskrankheit und die Ärzte befürchten, dass sie sich mit der Transition ihrer Verantwortung entziehen könnte. Jenseits davon scheint es schwierig gewesen zu sein, sich auf eine Diagnose festzulegen. Was auch daran liegen könnte, dass ihre Therapeutinnen im Jahrestakt wechseln. Zena Wolf (13): "Ich habe ja in 20 Jahren Maßregelvollzug 18 Therapeuten hinter mir. Aber nicht wegen mir. Sondern weil sie gekommen und gegangen sind. Du konntest dich an niemand dran gewöhnen und jedes Mal, wenn du einen neuen Therapeut oder Therapeutin hast, haste wieder andere Diagnosen gehabt. Ach, Persönlichkeitsstörung. Ach, Narzissmus und alles so ne Dinge." Autorin: Diagnosen werden aufgestellt und wieder verworfen: Sprecher 1 (Stellungnahme KMV): "Für die früher gestellte Diagnose einer sadistischen Paraphilie gibt es aktuell keine Anhaltspunkte. Ebenso ist derzeit keine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung im eigentlichen Sinne zu beobachten." (Stellungnahme, Krankenhaus des Maßregelvollzugs, 2014) Autorin: Zumindest auf das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung können sich die meisten Ärzte und Gutachter einigen, wenn auch nicht auf die spezifische Ausprägung. Als Persönlichkeitsstörung wird eine Verfestigung problematischer Charaktereigenschaften bezeichnet. Anders als die Schizophrenie von Julian, gelten Persönlichkeitsstörungen als schwer zu therapieren. Mit Medikamenten ist ihnen nicht beizukommen. Eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen, sei aber schwierig, vermerkt das Berliner Krankenhaus 2014. Sprecher 1 (Stellungnahme KMV 2014): "Die Patientin hat in ihrem Leben viele Beziehungsabbrüche erlebt, sodass diese Reaktion verständlich ist. Sie erschwert die psychotherapeutische Arbeit, da permanentes Misstrauen vorhanden ist, was der andere wohl (Nachteiliges) macht, wenn man seine Gefühle offenbart. Daher ist anzunehmen, dass die Therapie wie bisher eher in kleinen Schritten voranschreiten wird." Autorin: Was sie also bräuchte: Langfristigkeit und Kontinuität in der Therapie. Tiefgreifende Beziehungsarbeit. Trotzdem geht aus den Stellungnahmen der Klinik hervor, dass vor allem der Wechsel der Therapeutinnen kontinuierlich ist. Mitunter sind auch Ärztinnen in Ausbildung mit wenig Berufserfahrung zuständig. Nicht die besten Voraussetzungen, um sich eines komplizierten Falles anzunehmen. **Stimme aus dem Hintergrund, lauter werdend** Sprecher 1: "Über die Themen "Ritzdruck" und "Bulimie" Gespräche mit Frau N., die als Hospitantin für drei Monate auf der Station war." Sprecherin 2 "Im Februar 2014 fand ein Therapeutenwechsel statt." Sprecher 1 "Im Februar fand aus organisatorischen Gründen ein Therapeutenwechsel statt. Frau Wolf* wird seitdem von der Psychotherapeutin in Ausbildung, Frau B. betreut." Autorin: Im Zuge der Therapeutenwechsel scheint auch der Überblick über die verabreichten Medikamente verloren zu gehen. Den Mix nennt die Klinik in ihren Stellungnahmen "polypragmatisch". **Akustischer Akzent** Sprecherin 2: "Die Polypragmasie bezeichnet in der Medizin die sinn- und konzeptlose Diagnostik und Behandlung mit zahlreichen Arznei- und Heilmitteln sowie anderen therapeutischen Maßnahmen." Zena Wolf (14): "Ja, ich war da drin zur Therapie. Aber was gibt's da für Therapien, außer dass man einen zu doped mit Psychopharmakas, dann biste ruhig und das war's. Das nennen sie Therapie. Einzelgespräche? Natürlich finden so 'ne Einzelgespräche statt. Aber die fallen so oft aus." Autorin: Auch Ausgänge in die Stadt oder zum Supermarkt werden ihr immer wieder gestrichen. Dass Therapiestunden "im Einzelfall" wegen Personalmangels ausfallen können und genehmigte Ausgänge in Begleitung nicht immer planmäßig durchgeführt werden können, räumt die Senatsverwaltung auf Anfrage ein. Nähere Angaben macht sie nicht. Grundsätzlich würden die Patienten nach dem aktuellen wissenschaftlichen Standard behandelt. Sprecher 1 (Stellungnahme KMV): "Die Behandlungsprognose ist aktuell als "eher ungünstig" zu beschreiben." (Stellungnahme KMV 2016) ** Akustischer Akzent** Jürgen Beckmann (15): "Berlin gehört mit zu den Maßregelvollzügen, die am, ich sage mal, am preiswertesten sind in der ganzen Republik. Mit einem Defizit an Pflegepersonal, mit einem Defizit an ärztlichem Personal und auch an den anderen Berufsgruppen. Ansonsten arbeitet man auf viel zu großen Stationen unter Bedingungen der Personalknappheit und der Überfüllung der forensischen Psychiatrie. Das macht es schon mal schwierig." Autorin: Jürgen Beckmann war über 20 Jahre im Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Berlin tätig. Erst als Assistenz-, dann als Oberarzt. Zuletzt leitete er eine Abteilung, die Patienten auf die Resozialisierung vorbereiten sollte. Beckmann sieht viele Entwicklungen in der Forensik kritisch. Letztes Jahr ist er in Rente gegangen. Jetzt könne ihm niemand mehr verbieten, sich zu äußern, schrieb er als wir das Interview vereinbarten. Jürgen Beckmann (16):" "Wenn ich höre, was da für Veränderungen passiert sind, denke ich manchmal: setzen, sechs." Autorin: Dass das Krankenhaus aktuell überbelegt sei und auf vielen Stationen Betten eingeschoben werden müssten, bestätigt auch die Senatsverwaltung auf Nachfrage. Genauso bestehe die Schwierigkeit, in der Pflege und im ärztlichen Bereich qualifiziertes Personal zu finden. Jürgen Beckmann sagt, das Problem sei nicht nur die Überlastung. Jürgen Beckmann (17): "Ich habe schon manchmal das Gefühl, dass manche Kollegen den Kontakt zu Patienten nicht haben, weil sie nicht beziehungsfähig sind. Die halten es zum Beispiel nicht aus, wenn Patienten einfach lange reden. Und dann reden die auch manchmal wirklich Salat. Das ist dann ein total durcheinanderes Gespräch, dem man sich irgendwie stellen muss. Und man kann da nicht so mal eben sagen: Der ist so durcheinander, dem geben wir jetzt mal ein paar Pillen. Das machen einige. Das ist nicht in Ordnung." Autorin: Aus seiner Sicht fehlt es an Kompetenz. Vorerfahrung mit psychisch Kranken hätten längst nicht alle Ärzte, die dort anfangen. Eine fundierte Ausbildung fast keiner. Jürgen Beckmann (18): "Wir haben kein einheitliches bundesdeutsches Curriculum für die Ausbildung von forensischen Psychiatern. Man lernt das sozusagen on the Job. Und Forensik "doing on the job", das sollte man wirklich nicht tun, weil man da eine sehr verantwortliche Tätigkeit hat." Autorin: Die Senatsverwaltung entgegnet auf Anfrage, dass alle Mitarbeitenden über die notwendige Qualifikation für ihre Tätigkeit verfügten. Psychotherapeut*innen in Ausbildung würden wie auch die Assistenzärzt*innen, unter Supervision von psychologischen Psychotherapeut*innen bzw. unter oberärztlicher Anleitung arbeiten. Von allen werde ein hohes Maß an Fachwissen und Empathie im Umgang mit der besonderen Klientel des Maßregelvollzugs eingebracht. **Akustischer Akzent** Zena Wolf (20): "Also bequeme Patienten ok. Unbequeme Patienten, die werden fertiggemacht. Auch vom Personal. Seelisch und psychisch." Autorin: Zena Lilly Wolf hat sich erkämpft, als Frau leben zu können. Seitdem ist sie anderen gegenüber nicht mehr gewalttätig gewesen. Gegen sich selbst schon. Sie ritzt sich und leidet seit ihrer Jugend unter einer starken Bulimie. Zena Wolf (21): "Die wurde ja immer schlimmer. Ich habe alle drei Arten der Bulimie jetze." "Um Therapien habe ich gekämpft, damit ich ne Bulimie-Therapie kriege." Autorin: Mehrere Male am Tag erbricht sie, auch Blut. Sie klagt beim Pflegepersonal über Bauchschmerzen. Auf Initiative ihrer Anwältin wird sie im Dezember 2018 extern untersucht. Es wird eine krankhafte Vergrößerung der Galle festgestellt und dringend eine Behandlung der Bulimie empfohlen - so schnell wie möglich. Helmut Pollähne (22): "Und wenn dann jemand drin ist, der hat neben seiner psychiatrischen Diagnose dann noch was anderes. Dann müssen sie sich auch darum kümmern. Zweifellos. Können die nicht sagen: das ist nicht unser Thema, das wäre... so etwas kommt vor. Aber das ist auch grob rechtswidrig. Das sind Krankenhäuser, das sind Patienten, und die sind in vollem Umfang dafür verantwortlich ärztlich. In jeglicher Hinsicht." Autorin: sagt Strafverteidiger Helmut Pollähne. Zena Wolfs Anwältin versucht eine Behandlung der Bulimie zu erwirken. Aber die Klinik reagiert nicht auf ihre Anfragen. Auch nach den externen Warnungen beginnt keine fachgerechte Behandlung. Die Anwältin erstattet Anzeige wegen Körperverletzung durch Unterlassen. Zena Wolf (23): "Sechs Monate später musste sie rausgeholt werden, weil da hat es Peng gemacht, notoperiert." Autorin: Die Galle muss entfernt werden. **Musik** Kapitel 3 Sprecher 3 ( Pfleger Tilman Boeckh): "Sie können den Leuten mit ihrer hohen Ansprüchlichkeit nicht mehr in dem Maße widmen, wie es sein müsste. Weil alles überall brennt." Autorin: Tilman Boeckh arbeitet seit über 30 Jahren als Pfleger im Maßregelvollzug. Sprecher 3 (Pfleger Tilman Boeckh): "Da entwickelt sich dann auch eine eigene Dynamik in der Patientenschaft, wenn immer alles permanent zu kurz kommt. Und dann sind die natürlich nicht mehr positiv unterwegs. Die sind dann schlecht zu sprechen auf die Ungerechtigkeiten, die eine solche Unterversorgung mit sich bringt. Und dann wird der Grundton insgesamt angespannter und aggressiver." Autorin: Jemanden zu finden, der uns vom Alltag in der Klinik berichtet, war nicht einfach. Auch Boeckh macht sich Sorgen, dass er Nachteile haben könnte bei Vorgesetzten oder in der Kollegschaft. Deswegen haben wir seinen Namen geändert und sein Interview nachsprechen lassen. Als Pfleger muss er die Doppelrolle des Maßregelvollzugs, zu bessern und zu sichern, täglich ausführen. Sprecher 3 (Pfleger Tilman Boeckh): Das belastet das Verhältnis zu den Patienten natürlich. Oder wenn wir die Zimmer durchsuchen, auf Drogen oder Flucht-Werkzeuge oder so. Aber wir sind verpflichtet dazu. Ich war dann immer dafür, dass wir einen eigenen Sicherheitsdienst dafür bemühen. Das hat sich aber leider nicht durchgesetzt. Autorin: Ihm sollen sich Patienten anvertrauen können - gleichzeitig muss er, wenn etwa jemand ausrastet, denjenigen isolieren, im Zweifel auch fixieren und mit Medikamenten ruhigstellen. Sprecher 3 ( Pfleger Tilman Boeckh): "Das eskaliert dann halt schneller. Je weniger Personal es gibt, desto mehr Gewalt gibt es. von beiden Seiten. Und da kam ich auch relativ oft zu so irgendwelchen Vorkommnissen, die meines Erachtens nach ziemlich suboptimal gehandelt wurden." Autorin: Das sagen auch viele Studien. Zum Beispiel eine Umfrage der Gewerkschaft ver.di aus dem Jahr 2017. Danach haben wegen der Personalnot in Psychiatrien die Übergriffe von Patienten stark zugenommen. Dokumentiert wird Gewalt allerdings selten. Sprecher 3 ( Pfleger Tilman Boeckh): "Je extremer die Situation auf der Station, desto größer ist der Korps-Geist. Und desto weniger Raum gibt es natürlich für so etwas wie kritische Reflexion." Autorin: Oder für den zwischenmenschlichen Austausch. Dabei sei genau der essentiell für seine Arbeit. Für die Patienten gestaltet dieser Umgang den Alltag in der Klinik, in dem sie zur Ruhe kommen sollten. Für das Personal seien die ruhigen Momente wichtig um sich zu erinnern, dass sie es mit Menschen zu tun haben. Sprecher 3 ( Pfleger Tilman Boeckh): "Das sieht man dann nicht mehr so gut. Dann ist das auf einmal nicht mehr der freundliche Herr Müller, der auch gut Kuchen bäckt. Dann ist das nur noch der, der seine Nachbarin abgemurkst hat." **Musik Ende** Autorin: Die Kliniken des Maßregelvollzugs sind keine Gefängnisse. Die Patienten sollen dort nicht bestraft werden, ihnen soll geholfen werden. Offenbar aber wird dieser Anspruch von der Wirklichkeit konterkariert. Zena Wolf (24): "Wie würde man das anders ansehen als Bestrafung. Is ja genauso wenn ich Ausgänge hatte und die dann gestrichen wurden und dann gesagt wurde: Denken Sie an Ihre Bulimie. Ich wurde für meine Krankheit bestraft. Und irgendwann habe ich dann das alles nicht mehr gemacht, dann war ich den ganzen Tag auf Zimmer." "Es sei denn, die haben wieder überlegt, mir eine reinzuwürgen, und sind alle mein Zimmer eingerückt und haben erstmal eine Riesenfilzung gemacht." Autorin: Zena Wolf bekommt 2019 vor Gericht Recht: Die Klinik dürfe sich nicht nur mit ihren Taten beschäftigen, sie müsse auch ihre Transition unterstützen und ihre Bulimie behandeln. Der Alltag in der Klinik ist dadurch aber nicht leichter für sie geworden. Sie hat den Eindruck, benachteiligt zu werden. Niemand habe mit ihr geredet, sie sei von morgens bis abends allein gewesen. Ihre Anwältin beschwert sich bei der Strafvollstreckungskammer: Sprecherin 2: "Die Klinik (hat) jede Kommunikation mit meiner Mandantin und auch mit mir eingestellt.""Das Verhältnis zwischen meiner Mandantin einerseits und der Klinik andererseits muss als zerstört bezeichnet werden." Autorin: Auch zum Fall von Zena Wolf bezieht die Senatsverwaltung keine Stellung. Wolf bleibt auch nach dem gewonnenen Rechtsstreit in derselben Klinik. Sie verliert immer mehr Gewicht, kollabiert mehrmals die Woche. Sie schläft kaum, hat Alpträume und Flashbacks. **Musik** Zena Wolf (25): "Ich habe es im Knast hinter mir. Ich habe es als Kind hinter mir, als Jugendliche und jetzt Maßregel... Das Witzige ist, alle sagen immer, das ist ein geschützter Rahmen. Gerade der geschützte Rahmen ist der Gefährlichste." Autorin: Anfangs, also ab 1999, war Zena Wolf im Maßregelvollzug in Brandenburg untergebracht. Auf der Männerstation. Dort zeigt sie sich schon als Frau, wird aber auf Anweisung der ärztlichen Leitung als Mann behandelt. Der verantwortliche Chefarzt erklärt bei einer Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer noch 2009, dass er ihre weibliche Identität für unglaubwürdig halte und deswegen die Behandlung mit Hormonen verweigert habe. Und das obwohl wiederholt Gutachten ihre weibliche Identität bestätigt haben. Auf Nachfrage, schreibt das für die Klinik zuständige brandenburgische Sozialministerium, dass die Patientin ab ihrer offiziellen Personenstandsänderung 2010 als Frau angesprochen wurde, und körperliche Kontrollen nur durch weibliches Personal durchgeführt wurden. Da ist sie bereits mehr als zehn Jahre dort untergebracht. Weil es nachweislich keine therapeutischen Fortschritte gibt, wird Zena Wolf einige Jahre von einem externen Therapeuten behandelt. Dieser zeigt am 31. August 2010 einen Mitpatienten von Zena Wolf an: Er soll sie vergewaltigt, misshandelt und Beihilfe zur Vergewaltigung durch andere geleistet haben. **Musik Ende** Sprecher 1: "Die Morddrohungen, die er gegen Frau Wolf* ausspricht, werden als Hirngespinste abgetan. Frau Wolf* hatte mehrere Versuche unternommen, beim Personal Gehör zu finden, seitdem steht in der Personalakte, sie leide an Wahnvorstellungen." Autorin: Das schreibt der Therapeut an Gericht und Krankenkasse. Sprecher 1: "Das Personal sieht nichts. Es ist teils im Urlaub, teils krank, meist hält sich nur ein einziger Pfleger im ganzen Haus auf und bleibt im Stationszimmer." Autorin: 2010 werden die mutmaßlichen Vorfälle bekannt. Boulevardzeitungen berichten. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mitpatienten ein, unter anderem wegen Vergewaltigung. 2012 wird das Verfahren wieder eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hält Zena Wolf für nicht glaubwürdig. Wir bitten um Stellungnahme. Das zuständige brandenburgische Sozialministerium verweist auf Staatsanwaltschaft Potsdam und erklärt, dass ihm keine Ermittlungen oder Verurteilungen von Mitpatienten oder Beschäftigten der Klinik bekannt seien. Es gäbe außerdem keine Anhaltspunkte für ein grundsätzliches Personalproblem. Über kurzfristige Personalausfälle in dem Zeitraum habe man keine Informationen. Zena Wolf wird nach Berlin verlegt. Hier soll es einen Neuanfang geben: Ein Umfeld, in dem sie als Frau anerkannt und behandelt wird. Ihre Missbrauchserlebnisse im Brandenburger Maßregelvollzug werden hier zunächst als glaubwürdig eingestuft. Das legen zumindest die ersten Stellungnahmen nahe. Aber auch in Berlin gelingt es in sieben Jahren nicht, das notwendige therapeutische Verhältnis aufzubauen. Die Berliner Klinik erklärt in einer Zusammenfassung des Behandlungsverlaufs 2019: Sprecher 1: "Selbst in den Zeiträumen, in denen Frau Wolf* regelmäßig an Therapiegesprächen teilnahm, kam es aus unserer Sicht nie zu einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und daraus resultierend nie zu einer ausreichenden Deliktbearbeitung." Autorin: Die Gründe dafür sind allerdings aus Sicht der Klinik nicht die wechselnden Therapeutinnen oder die wechselnden Diagnosen. Das Problem seien die Probleme der Patientin. Die habe sie immer zu sehr in den Vordergrund gerückt. Sprecher 1: "Transsexualität, Essstörung, "Traumata". Erst wenn all diese Probleme gelöst seien, könne sie sich mit ihrem Delikt auseinandersetzen." Autorin: Als wären das alles Ausreden: Die Trans-Identität, die lebensbedrohliche Bulimie. Ausreden um sich der "eigentlichen" Behandlung zu entziehen. Als ließe sich das psychologisch haarklein auseinanderhalten. - Traumata geschrieben in Anführungszeichen. So, als könnte jemand, der vor Jahren Grauenhaftes getan hat, nicht selbst Grauenhaftes erleben. Als wäre ihr selbstverletzendes Verhalten nur ein weiterer Ausdruck ihres bösartigen Charakters. Als handelte es sich um ein Monster, nicht um einen Menschen. Zena Wolf notiert in ihrem Tagebuch: **Musik** Sprecherin 2: Ich frage mich, ob es für mich doch besser wäre zu sterben. Ich habe keine Kräfte mehr in meiner Seele und im Herzen. Der Ekel vor mir selbst ist so groß. Ich zerstöre mich immer mehr und brutaler. Ich bin nichts Halbes und nichts Ganzes. Vielleicht haben die alle Recht, dass ich ein Ding bin. Monster. Mutant. Und nur Dreck. Aber ich habe doch auch Seele, Herz und Gefühle. Aber mich müssen alle zerstören, weil ich nicht in die Welt passe. Dann zerstöre ich mich doch lieber selbst, bevor es so schmerzhaft wird. Kapitel 4 Martin Scheele (26): "Sehr geehrter Herr Minister Maas, mit Unverständnis mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass eine Einweisung in ein Krankenhaus des Maßregelvollzugs prinzipiell ohne zeitliche Begrenzung erfolgt. Gegen diese Rechtspraxis wollen wir uns zur Wehr setzen. Es entspricht nicht unserem elementaren Rechtsempfinden, das unabhängig von der Schwere der Straftat eine beliebig lange Unterbringung in einem KMV möglich ist." Autorin: Anfangs haben die Eltern von Julian Scheele noch viele solcher Briefe geschrieben: An den damaligen Justizminister, an den Bundespräsidenten, an die Gesundheitssenatorin. Gebracht hat es nichts. Es gibt keine Aufmerksamkeit für das Thema. Und niemanden, der sich politisch für Menschen mit psychischen Krankheiten einsetzt, die auch noch rechtsbrüchig geworden sind. Eine Erfahrung, die auch Ärzte machen, die in diesem Bereich arbeiten, sagt Jürgen Beckmann. Jürgen Beckmann (28): "Die Forensische Psychiatrie hat keine Lobby. Es gibt eine Hierarchisierung in der Medizin, und die ist eigentlich ganz eindeutig. Ganz oben kommen die Herzchirurgen. Darüber gibt es nur noch den lieben Gott. Und dann kommt irgendwann eine Weile gar nichts. Und dann kommt forensische Psychiatrie. Forensische Psychiatrie ist wirklich am allerletzten Ende dieser hierarchischen Gliederung." Autorin: Damit lässt sich vielleicht auch erklären, dass die groß angekündigte Reform aus dem Jahr 2016 dann doch eher ein "Reförmchen" wurde, wie der Rechtswissenschaftler Helmut Pollähne sagt. Ziel war, dass weniger Menschen untergebracht werden und dass sie kürzer bleiben. Jetzt muss eine "gewisse Schwere" der Anlasstat vorliegen und nach sechs und zehn Jahren gesondert geprüft werden, ob die Unterbringung noch "verhältnismäßig" ist. Das sind vage Formulierungen, deren Erfolg sich kaum überprüfen lässt. Denn es gibt immer noch keine Statistiken. Keine Behandlungsstandards. Und immer noch keinen Grund für die Verantwortlichen im Zweifel auch einmal für die Untergebrachten zu entscheiden. Helmut Pollähne (29): "Momentan kann man sozusagen mit lieber drin bleiben, nichts falsch machen. Als Richter, als Gutachter, als Anstalt. Wer soll denn da kommen und sagen was macht ihr da eigentlich? Ein Skandal! (...) die meisten Gerichte ticken so. Wenn wir den nicht rauslassen, können wir nichts falsch machen. An Freiheitsberaubung denken die dabei nicht."[1:05:34] Autorin: Auch dass Patienten jetzt häufiger von externen Psychiatern begutachtet werden müssen, nütze kaum. Denn solange psychisch Kranke in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem weit weg und sicher verwahrt sein sollen, bedeuten mehr Gutachten im Zweifel einfach nur, dass öfter bestätigt wird, dass jemand drinbleiben muss. Das sei eine grundlegende Diskriminierung psychisch Kranker, sagt Helmut Pollähne. Denn nicht die Tat, sondern allein die Krankheit und ihr Verlauf bestimmen den Aufenthalt. Julian Scheele geht es unverändert schlecht. Bei der letzten Anhörung im Oktober 2019 hat die Gutachterin die Klinik zwar mitverantwortlich gemacht für ausbleibende Erfolge. Aber ihre Prognose für ihn war trotzdem negativ. Und das Gericht hat seine Unterbringung verlängert. Wieder einmal. Martin Scheele (30): "Also das ist ein pathologisches Sicherheitsgefühl, dass der Bevölkerung gegeben wird, dass also psychisch kranke Straftäter so lange wie möglich von der Öffentlichkeit ferngehalten werden, das ist so, das glaube ich, ist das Opfer, was er erbringen muss, was wir nicht richtig finden." Autorin: Nach der Anfrage des Deutschlandfunks meldet sich die Klinik das erste Mal seit Monaten bei den Eltern von Julian Scheele. Die ärztliche Leitung habe in dem Gespräch zugegeben, dass die Situation in der Berliner Klinik wegen des baulichen Zustands und der Überbelegung schwierig sei. Ob und wie ihrem Sohn besser geholfen werden soll, hat sich für sie aus dem Gespräch nicht ergeben. Martin Scheele (30a): "Wie sollen denn hoffnungslose Fälle leben, was sind denn da gesellschaftliche Normen? Und wenn jemand als hoffnungslos eingestuft wird, ist er dann Freiwild? Natürlich nicht. Man muss auch diesen Personen ein würdiges Leben ermöglichen und das ist im KMV nicht gegeben." Autorin: Keine Lobby, keine Aufmerksamkeit, ein kollektives Wegschauen. Im Maßregelvollzug führt das offenbar zu Unterversorgung in allen Bereichen. Es ist ein täglicher Kampf für alle Beteiligten. Für Patienten mitunter ein tödlicher. Im Juni 2020 wird in der Berliner Maßregelvollzugsklinik ein Patient getötet. Von einem Mitpatienten. Die Berichte danach: Schlagzeilen. Ein Verrückter hat einen anderen totgeschlagen. Kein Wort zur Überbelegung. Kein Wort zum Personalmangel. Und keine Erklärung von Seiten der Klinik. **Musik** Zena Wolf (31) : "Es war schweinekalt aber ich wollte mal die Sterne beobachten und es ist schön, wenn man Fenster aufmacht, raus guckt hier sind Eichhörnchen, kloppen sich, oder wenn man nur die Vögel. Das ist schön." Autorin: Auch Zena Wolf hätte den Maßregevollzug fast nicht überlebt. Im April 2019 schluckt sie fünf Rasierklingen. Das Personal habe das zuerst nicht ernstgenommen, sagt ihre Anwältin, die eine Abschiedsnachricht bekommen hat und den Notruf wählt. Erst zwei Stunden nach dem Notruf sei Zena Wolf dann ins Krankenhaus gekommen, wo ihr die Rasierklingen entfernt worden seien. Die Klinik stuft das nicht als "ernstzunehmenden Suizidversuch" ein. Ein halbes Jahr nach dem Suizidversuch wird sie entlassen. Ein externes Gutachten bezweifelt Zena Wolfs Gefährlichkeit. Zena Wolf (32): "Ich saß gestern vier Stunden hier draußen auf dem Hof, im Dunkeln hab mir die Sterne angeguckt, mit meiner E-Zigarette und hab mir die Sterne angeguckt. Ich hab einen Schlüssel, kann ich immer rein und raus, wie ich will." Autorin: Zena Wolf lebt heute in einem betreuten Wohnheim in Hamburg. Vor der Entlassung gab es keine Lockerung. Sie konnte sich nicht auf die Freiheit vorbereiten. Jetzt hat sie oft noch Schwierigkeiten sich zurecht zu finden, nach fast zwei Jahrzehnten im Maßregelvollzug. Sie hat kaum Schulbildung, nie allein gelebt und bis heute keine Hilfe bei ihren psychischen Problemen bekommen. Sie hat immer noch Alpträume, Panikattacken und nervliche Fehlfunktionen, die vermutlich durch Traumata ausgelöst wurden. Um Hilfe muss sie sich jetzt selbst bemühen. Das ist auch deswegen schwierig, weil sie Ärzten und Therapeuten nur noch schwer vertrauen kann. Zena Wolf (33): "Ja also der Maßregel steckt noch in mir drinne... sagen wir einfach mal so." Sprecherin 2 In der Dunkelkammer des Strafrechts. Was mit psychisch Kranken im Maßregelvollzug passiert. Ein Feature von Antonia Märzhäuser und Carolin Haentjes Es sprachen: Martin Engler, Cathlen Gawlich, Axel Wandtke und Carolin Haentjes Ton: Andreas Stoffels Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Wolfgang Schiller Die Recherche wurde unterstützt von der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche" Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 1