Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der Ausgräber - "Schliemann" der Oberpfalz Autorin: Agnes Steinbauer Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 19.07.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Eva Meckbach, Robert Levin und Joachim Schönfeld Ton: Christian Bader Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik/Atmo O-Ton 01 Helmut Roith/Ausgräber Des war ja a Urwald, wie ich das erste Mal herkumma bin, - da hast ja Du nix gsehn - des Schloss...des war alles mit Bäume und überwachsen... oben am Dorfplatz des Denkmal vom Nepomuk hat ma gesehn, da Friedhof war total verwuchert...von der Kirche hat ma überhaupt nix gsehn - und da hat mi des irgendwie interessiert... Musik Soundelement O-Ton 02 Marianne Fischer/Zeitzeugin Alles - drei Gasthäuser, a Schule, Kirche, so Tante Emma-Läden - drei - alle Handwerker: Schmid, Schreiner, drei Schneider - da war alles da... Musik Soundelement O-Ton 03 Helmut Roith/Ausgräber ... so 46/47 ... wie die Vertreibung zu Ende war, hams ja diese Gebäude alle niedergerissen. Die han mit einer Planierraupen oben drüber gfahrn und haben viel Material ins Hinterland gschafft... Musik Soundelement oder Musik Ansage Der Ausgräber - Der "Schliemann" in der Oberpfalz - ein Feature von Agnes Steinbauer Atmo 1b Grafenried außen Sprecherin Beim ersten Treffen, kraxelt er gerade aus einem Kellergewölbe - der Roith Helmut. Bedächtig klopft er sich den Staub aus den Arbeitshosen und balanciert eine Schubkarre voller Steine über unebenes Gelände. Die blaurote Bommel-Mütze sitzt dem Oberpfälzer Anfang 60 verwegen schräg auf dem Kopf. Er trägt sie häufig - als Schutz gegen den böhmischen Wind, der ihm auf "der Baustelle seines Lebens" oft um die Ohren bläst. Vorsichtig steigt er über freigelegte Fundamente und bröckelnde Mauerreste, die noch vor ein paar Jahren unter Schutt begraben lagen. Dass sie jetzt wieder sichtbar sind, ist zum großen Teil sein Werk. Roiths Hauptberuf - Polier in der Tiefbau-Branche - scheint wie geschaffen für das, was er in am liebsten macht - Graben: Atmo 02 Helmut Roith beim Graben/ schaufelt und sagt dabei: Des is ja alles Aufschüttung, z.B. Mauerschutt, sehr viel Steine natürlich zum Wegtransportieren, des andere is alles Mörtelschutt, Ziegelschutt....Atmo unter Text Sprecherin Vor zehn Jahren hat er angefangen, ein "verschwundenes" Dorf in Tschechien freizulegen - einen Ort direkt an der Grenze zur Oberpfalz, der heute Lucina heißt und früher Grafenried. Bei einer Wanderung nach Tschechien 2007 verirrte sich Roith in das von Gras und Gestrüpp überwucherte Gelände " und war - wie er es ausdrückt - gleich "vom Blitz getroffen": O-Ton 04 Helmut Roith/Ausgräber (trocken) ...richtig, so a schöner Herbsttag war des, da kimmi da hin und da war des damals noch so richtig unheimlich... die ganze Wildnis da und die Mauern...und da denkst da, da han Leute vertriebn worn ...die ganze Nacht hab i net gschlaffa - am nächsten Tag bin i gleich wieder rauf ...und des hat mi nimma loslassn bis heut... Musik Soundelement Sprecherin Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Grafenried ein sudetendeutsches Dorf - eingebettet in die traumhaft schöne Hügellandschaft des Böhmerwaldes. Über 800 Menschen wohnten in der Gemeinde - mit den Ortsteilen Anger, Haselberg und Seeg. Im 16. Jahrhundert gab es dort Glashütten. Später lebte die Bevölkerung von Landwirtschaft, Handwerk und Handel - dann kam der von den Deutschen angezettelte Zweite Weltkrieg, und im Anschluss, 1946, die Vertreibung. Grafenried gehörte nun zur CSSR. Eine ganze Region wurde buchstäblich geschliffen. Wie hunderte anderer Dörfer entlang der Grenze zur Tschechoslowakei, wurde auch Grafenried militärische Sperrzone. Nichts mehr, so schien es, sollte an die ehemals deutschen Bewohner erinnern. Die Gebäude wurden abgerissen, die Trümmer planiert, was noch stand, verfiel mit der Zeit - die Natur tat das Übrige. Jahrzehntelang war der Ort buchstäblich im Erdboden verschwunden. O-Ton 05 Helmut Roith/Ausgräber (trocken) ...Du musst Dir vorstellen, Du kommst als Fremder da hin und Du weiß ja gar nix - durch den Urwald, Du hast ja gar net feststellen können, wo was ist... Sprecherin Der Oberpfälzer Schliemann, so wurde er in der Region bekannt: Und Grafenried, das ist sein Troja. Ein Mann und seine Schubkarre, der beharrlich, Schaufel um Schaufel, ein ganzes Dorf freilegt. Die St. Georgskirche, mutmaßlich in den 60er Jahren vom tschechischen Militär gesprengt, war seine erste Großbaustelle. Er befreite das Gebäude aus einem riesigen Schutthügel, der von Bäumen überwuchert war und räumte den Pfarrhof frei. Mit einer Portion Oberpfälzer Understatement präsentiert er seine wertvollsten Funde: O-Ton 06 Helmut Roith/Ausgräber ...Des interessanteste, was ma an der Kirche gfunden ham, des wär der Gedenkstein da, des war a Grundsteinlegung... a Zufallsfund von 1775... Atmo 03 Roith erzählt unter Text von Kirche Sprecherin Der Stein mit der eingehauenen Jahreszahl war wahrscheinlich in den einst mächtigen Zwiebelturm aus dem 18.Jahrhundert eingemauert, durch den man früher ins Kircheninnere gelangte - auch die Stufen zum Portal sind wieder sichtbar: glatt poliert, ausgetreten von den zahllosen Füßen - und ein anderes Zeugnis aus der Vergangenheit: Atmo 04 Gehen auf der Grabungstätte O-Ton 07 Helmut Roith/Ausgräber ...was noch da is, ist der Taufstein, der war zerbrochen, den hab ich dann zsammagsetzt... Atmo 05 Roith erzählt über Kirche - Unter Text Sprecherin Die Bruchstücke des Taufbeckens, an dem Generationen von Grafenrieder Kindern getauft wurden, hatte er einzeln aus den Trümmern geborgen und in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammengesetzt. Heute sind die Fundamente des Pfarrhofs und große Teile des Kirchenareals vom Schutt befreit. Den Altarraum krönt die Kopie eines Marienbildes: O-Ton 08 Helmut Roith/Ausgräber Des Orginalbild, des hat damals der Pfarrer Gehrl, des war der letzte Pfarrer und der is nach der Vertreibung auf Spittl kumma und hat da oben a Kirche baut - und der hat des Bild aus dem Rahmen rausgnumma und hat nur des Bild mitgnumma... Musik Soundelement Sprecherin Den Vertriebenen, die noch in der Nähe wohnten, blieb jahrzehntelang nur der sehnsüchtige Blick über den Stacheldraht - sonntags pilgerten die Grafenrieder scharenweise an die Grenze, um ihr Dorf zu sehen, erinnert sich die 91jährige Marianne Fischer: O-Ton 09 Marianne Fischer/Zeitzeugin Da waren ganze Prozessionen, da hat man rübergschaut, hat man geweint, dann ist man wieder ganga, hat man ja nichts machen können und in die 60er Jahre haben sie es ja noch gsprengt... Sprecherin Die Vertreibung und die Zerstörung ihres Dorfes ist für die noch lebenden Grafenrieder bis heute ein Trauma. Cäcilia Laubmeier, die von allen Cilly genannt wird, war damals 16 Jahre alt. Die Sehnsucht nach der Heimat - "Zeitlang haben", wie es auf oberpfälzisch heißt, hat sie ihr Leben lang begleitet. O-Ton 10 Cäcilia Laubmeier/Zeitzeugin ...soviel zeitlang hamma ghabt und ich hab a Schulfreundin, die hat imma no so viel zeitlang... Sprecherin Cilly wuchs in einer Handwerker- und Bauernfamilie auf. Ihr Vater war Schneider, ihre Mutter arbeitete in der Landwirtschaft. Mit 92 Jahren ist sie die älteste Zeitzeugin. Sie flüchtete schon kurz vor der Vertreibung in ein benachbartes bayerisches Dorf, wo sie als Kindermädchen arbeitete. Ihre Familie musste am 6.Juni 1946 gehen - das weiß sie noch auf den Tag genau. Vater und Bruder hatte sie seit 1945 nicht mehr gesehen. O-Ton 11 Cäcilia Laubmeier/Zeitzeugin Der Vater war inTaus eingesperrt, mein Bruder auch, alle die an Beruf gehabt haben, die haben sie nach Taus zum arbeiten...mei Bruder war ein Schneider, mein Vater war ein Schneider, die Spengler, die Schuster, alle hams furt... Sprecherin In Taus, dem heutigen Domažlice waren Cillys Vater und Bruder in Haft und zur Zwangsarbeit rekrutiert - tagsüber als Schneider in Privatbetrieben, nachts in einer Kaserne eingesperrt: O-Ton 12 Cäcilia Laubmeier/Zeitzeugin Prügel, hams kriegt, Prügel, da bist in der Gefangenschaft gwen und da hats nix gem, nix anders...ich weiß bloß, dass wir sie dann in Taus omoi besucht ham und der Vater hat uns gar net anschauen dürfen, der hat müssen mim Gsicht gegen die Wand steh, der hat uns net gsehn... Musik Soundelement Atmo 07 Graben ohne Stimme (eine Zeit stehenlassen) O-Ton 13 Helmut Roith/Ausgräber Des hat no lang dauert ...2012 da hat ja der Laubmeier Hans den Procházka kennaglernt ghabt, nacha is der Wunsch kemma, mir könnten die Kirche vielleicht amal freimacha...Da ist zsert amal ...abgeholzt worden, dann hat der Prochazka angefangen, mit so einem kleinen Bagger habens den Innenraum freigemacht...und wie der Procházka seine Arbeiten beendet hat, hab i dann weitermacht... Sprecherin Der Laubmeier, Hans, und der Procházka, Zdenek. Ein Deutscher und ein Tscheche. Ohne die beiden hätte es die Ausgrabung wohl ebenfalls nie gegeben, wäre Grafenried wohl nicht Schicht für Schicht wieder aufgetaucht aus der Vergangenheit. O-Ton 14 Hans Laubmeier/Zeitzeuge/ehemaliger Ortbetreuer Ich wollte den Spuren von meinen Eltern nachgehen, wo sind die gewandelt? Wo könnte mein Vater über die Grenze sein - zum Viehandel? wo ist das Haus? Sprecherin Der heute 82jährige Hans Laubmeier wuchs im Grafenrieder Ortsteil Seeg auf und war bei der Vertreibung ein Kind von fünf Jahren - Der gelernte Spengler und Installateur, der heute in der Nähe von Regensburg lebt, ist ein heimatverbundener Familienmensch, der über all die Jahrzehnte immer und immer wieder an sein Dorf zurückdachte. Als Anfang der 90er Jahre der "Eiserne Vorhang" aufging, sah er seine Stunde gekommen. Zusammen mit seiner Frau machte er sich auf in die Wildnis. Auf der Suche nach seinem Elternhaus orientierte sich Laubmeier an den alten Bäumen seiner Kindheit. Eine Brücke über die Schwarzach ließ ihn hoffen, dass er auf dem richtigen Weg war. Obwohl seine Frau schon Blasen an den Füßen hatte, kämpften sie sich immer weiter durchs Gestrüpp und fanden schließlich die Stelle, wo die Laubmeiers gewohnt hatten - früher die Hausnummer 33 in Seeg: O-Ton 15 Hans Laubmeier/Zeitzeuge/ehemaliger Ortsbetreuer ...wie ich das erste Mal da gestanden bin, hab ich zur Frau gesagt, da bin ich zu Hause... Sprecherin Zur gleichen Zeit war auch Zdenek Procházka im ehemaligen Sperrgebiet unterwegs - Laubmeier und er liefen sich zum ersten Mal zufällig im "verschwundenen Dorf" über den Weg. Procházka lebt im nahegelegenen Domažlice, war schon immer fasziniert gewesen von den historischen Überresten in Lucina. Als Verleger und Autor hat er zahlreiche Bücher über Burgen, Schlösser und Kirchen in der Region veröffentlicht. Obwohl sich der Tscheche und der Deutsche nur mit Händen und Füßen verständigen konnten, entstand eine langjährige Freundschaft - gebaut auf eine gemeinsame Vision: O-Ton OV 16 Zdenek Procházka, Historiker/Verleger ... Im Archiv in Horšovský Týn trafen wir uns wieder und unterhielten uns über die sogenannten "verschwundenen Dörfer", dass da Kirchen freigelegt werden und damals kam der Gedanke auf, dass wir das vielleicht auch mit der Sankt Georgs Kirche in Grafenried tun könnten. Atmo 08 Man hört Umschichten von schweren Steinen - mit Text verblenden Sprecherin Diese Idee setzte Helmut Roith mit Schaufel und Kelle in die Tat um: Procházka wurde zum wichtigen Vermittler für die Grabungsgenehmigungen bei den Behörden in seinem Land. Denn am Anfang war man dort gar nicht begeistert. Und nicht wenige auf tschechischer Seite wollten die Vergangenheit lieber im Boden lassen. O-Ton 17 (trocken)Helmut Roith/Ausgräber Sie müssen erna vorstellen, ich geh da rüber, als deutscher Staatsbürger ins ehemalige Sperrgebiet und mach da Grabungen - gar net vorstellbar eigentlich, aber es halt so entstanden, weil mir an Herrn Procházka kennaglernt ham und heut is ja des etwas worn, was bleibt - bleibende Geschichte, des is für mi scho a Erfolg... Atmo 09 Graben Roith/erzählt von Funden, Tonscherben unter O-Ton Sprecherin Helmut Roith begann, ein Doppelleben zu führen, über Jahre. In der Woche als Polier auf der Baustelle, an den Wochenenden als Amateurarchäologe in Grafenried. Alles, was aus dem Boden kam, faszinierte ihn. Die Wintermonate nutzte er für "Ahnenforschung", beschäftigte sich mit alten Bauplänen, recherchierte in Kirchenbüchern und Archiven. Mittlerweile ist ein ganzes Dorf freigelegt, zumindest die Grundmauern - mit Kirche, Friedhof, Brauerei und 42 Wohnhäusern. Auch das Haus von Marianne Fischer. Beim ersten Besuch ihres ehemaligen Grundstücks wurde die alte Dame von ihrer Tochter begleitet: O-Ton 18 Marianne Fischer/Zeitzeugin ... na hats gsagt: Mama, wie ist Dir jetzt da? Dann hab ich gsagt: Auf einer Seite kannt i schreia, und auf der anderen Seite bin i dankbar, dass noch amal her derf, auf mei Heimat... MUSIKAKZENT O-Ton 19 Ondrej Matejka Ich würde sagen, dass die Auseinandersetzung mit den Deutschen der böhmischen Länder, eine der großen Herausforderungen der tschechischen Gesellschaft nach der demokratischen Revolution 1989 war. Es wurde sehr stark regional geforscht, es wurden diverse Gewaltakte nicht nur erforscht, sondern auch erinnert...das brachte einen Wandel...die Tschechen waren sicher Opfer des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur und Okkupation, aber, dass man nach dem Krieg sich eben auch an Gewalt beteiligte, das brachte einen Wandel in der Wahrnehmung der Vertreibungsgeschichte. Sprecherin Ondrej Matejka, stellvertretender Direktor des "Instituts für das Studium totalitärer Regime" in Prag. In der totalitären Phase der CSSR war das Thema Vertreibung tabu, Kritik an den Kriegsverbrechen der Regierung verboten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen Ängste auf, die Deutschen könnten zurückkommen und ihren Grund, ihre Häuser zurückfordern. Doch der befürchtete Ansturm blieb aus. 2015 strich selbst die konservative Sudetendeutsche Landsmannschaft den Verbandszweck "Rückgewinnung der Heimat" aus ihrer Satzung - freilich erst nach langen internen Kämpfen. Heute sind in Tschechien sogar Ausstellungen wie die von Petr Koura möglich. Der Historiker ist Kurator einer Dauerausstellung in Ústí nad Labem mit dem Titel "Unsere Deutschen". Sie zeigt das Leben der deutschen Bevölkerung in den böhmischen Ländern über Jahrhunderte - auch die Vertreibungsgeschichte: O-Ton 20 Petr Koura/Direktor "Collegium Bohemicum" Nach dem Krieg, das wurde so präsentiert: Das ist Rache für Lidice - vom Regierung, vom Präsident Beneš. ... aber natürlich kann ich sagen, dass die Betrachtung von diese Thema hat sich geändert...und ich begegne junge Generation an der Universität und dort kann ich sagen, fast alle Studenten das betrachten als Problem, die Gewaltakten an den Deutschen im 1945. Sprecherin Lidice - das war ein tschechisches Dorf in der Nähe von Kladno, 20 Kilometer westlich von Prag. Aus Rache für das Attentat auf den Leiter des Reichssicherheitshauptamts und Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, statuierte die SS damals ein Exempel: Sie ermordete alle 173 Männer, deportierte die Frauen und Kinder ins KZ Ravensbrück und machte das Dorf dem Erdboden gleich. Das Ereignis ging als "Massaker von Lidice" in das kollektive Gedächtnis des ganzen Landes ein. Sprecherin Für Grafenried wünscht sich Hans Laubmeier Versöhnung mit den tschechischen Nachbarn. Als erster "Ortsbetreuer" des verschwundenen Dorfes wurde er zum großen "Brückenbauer" für die versprengte Dorfgemeinschaft. Laubmeier kann gut mit Leuten und überzeugte die Bürgermeister auf beiden Seiten der Grenze, dass Grafenried ein ganz besonderer Ort für die Region werden könnte. Er trug alle Informationen über sein Dorf zusammen, forschte in Archiven, sammelte Fotos und Familiengeschichten. Außerdem organisierte er alljährliche Gottesdienste in deutscher und tschechischer Sprache in der Ruine der Kirche, machte eine alte Grafenried-Chronik wieder lesbar und suchte seine früheren Nachbarn, die verstreut in ganz Deutschland lebten - viele fand er in der Schwarzwälder Gegend, aber auch in der Region um Grafenried: O-Ton 21 Hans Laubmeier/ehemaliger Ortsbetreuer/Zeitzeuge ... ich habe mich von Familie zu Bekannten immer wieder durchgefragt. Dann hab ich Pfarrgemeindetreffen organisiert - alle Jahre Ende April, Anfang Mai... Sprecherin Die Vertreibung: Obwohl er damals ein kleines Kind war, wird er den Tag im Juni 1946 nie vergessen. Seine Mutter, die in Grafenried einen Lebensmittelladen betrieb, hatte schon vorher notwendige Dinge - Bettwäsche, Geschirr und die Nähmaschine - über die Grenze geschmuggelt - legal war man auf 50 Kilogramm beschränkt. Vor dem Abtransport musste sie die Hausschlüssel abgeben. Dann wurden Mutter und Sohn auf einen Lastwagen gehievt: O-Ton 23 Hans Laubmeier/ehemaliger Ortsbetreuer von Grafenried ... und ich stand in der Menge, mittendrin, so eng beisammen, dass ich nur oben den Himmel sehen konnte...und dann gings ab, eine wilde Fahrt...der Fahrer hat keine Rücksicht genommen, dass da Leut hint oben waren... und während der Fahrt - man hat dann Hunde bellen hören, Vieh hat geschrien...teilweise konnte das nicht mehr gemolken werden, das hatte Schmerzen, das war schlimm...und dann ist es nach Taus gegangen... Sprecherin Ein Sammellager im heutigen Domažlice war die erste Station. Laubmeier erzählt schmunzelnd, dass er als "verwöhnter Bursch" den Eintopf dort nicht mochte und mit Milch aufgepäppelt wurde, weil sein Gesundheitszustand als bedenklich eingestuft wurde - Später ging die Fahrt mit der Bahn weiter - nach Furth im Wald jenseits der tschechischen Grenze - unter miserablen Bedingungen: O-Ton 24 Hans Laubmeier/Zeitzeuge Da waren wir in Viehwaggons drin...eine große Büchse...Stroh und oben Öffnungen, die Schubtüre zu und dann gings dahin Sprecherin Beim Erzählen werden immer weitere Erinnerungen lebendig - An die Entlausungsaktion unter dem Kommando der amerikanischen Besatzungstruppen, an den aufgeregten, kleinen Hans, der Feuerwehrleute in Uniform mit tschechischen Soldaten verwechselte, aber auch an einen fürsorglichen Tschechen, der das Kind von einem Baum holte, als es zu hoch geklettert war - und an einen Koffer, den der 82jährige bis heute aufbewahrt: O-Ton 25 Hans Laubmeier/Zeitzeuge ...Koffer ist noch oben am Speicher, des war das Handgepäck, das meine Mama überall mitgenommen hat, auf dem Koffer konnte ich mich immer mal ausrasten... Soundelement Atmo 10 man hört Bewegen von Steinen. Autorin sagt: Des sind ganz schön schwere Brocken? Roith: Die genga no, da hama schon noch schwerere...die sind alles vom Schloss, die han deswegen so glatt, weil da mal a Viehtränke da war und da san die Kühe immer über die Steine, deswegen san die so glatt worn...san schöne Steine....grabungsgeräusche O-Ton 26 Helmut Roith/Ausgräber Des ist scho a traurige Geschichte, die Vertreibung, die muss ma scho verkraften...die ham ja alles liegen und stehn lassen müssen, und ham fortmüssen und grad in ihren Jugendzeit... Sprecherin Auf die Frage, warum er das eigentlich macht, das Ausgraben, Wochenende für Wochenende, hat der Helmut Roith einmal geantwortet: Weils an der Zeit war. Schon als Kind hörte er die Geschichten der Sudetendeutschen, die von drüben kamen und alles verloren hatten. Viele hatten sich in seinem Geburtsort Treffelstein angesiedelt. Atmo 11 Gehen auf Kiesweg O-Ton 27 Helmut Roith/Ausgräber Ich hab ja des erlebt, wie die Grenze noch war, wie die Wachtürme no gstandn san, des können sich ja die jungen Leute gar nicht mehr vorstellen...man müssat ja diese Vertreibung viel mehr dokumentieren, da brauchat ma jetzt an Raum, wo ma des richtig dokumentieren kann, auch mit am Film, wie die Vertreibung stattgfunden hat, da könnt ma noch so viel macha... Soundelement O-Ton 28 Marianne Fischer/Zeitzeugin ..ich war am Sonntag wieder oben, weil ich hab da noch zwei Gräber am Friedhof, wo ich noch pfleg, die Urgroßeltern und die Großmutter. Naja, solange ich kann... Atmo 12 Grafenried außen Sprecherin Der Friedhof von Grafenried. Für die noch lebenden ehemaligen Bewohner ein wichtiger Ort. Das frühere Eingangstor steht noch, aber - wie überall im "verschwundenen Dorf" - war auch hier alles zerstört und überwachsen gewesen. O-Ton 29 Helmut Roith/Ausgräber ... die letzten Jahre hama des von da vorn bis hinten alles mit der Hand abgegrabn - die Wurzelstöcke, alle aussa - mit der Hand... Atmo 13 Grafenried außen unter Text Sprecherin Mia - das sind Helmut Roith und Alois Rötzer. Der 66-jährige Rentner stieß im Jahr 2014 dazu, er wurde zu Roiths treuem Grabungskollegen. Viele Eisenkreuze fehlen, die meisten Grabsteine liegen umgekippt auf der Erde, die Namenstafeln sind nur noch Scherben: O-Ton 30 Helmut Roith/Ausgräber ...die han alle zerschlagen, die sin praktisch in den Grabsteinen dringwesen...da hint, da is die Christusfigur gwen, die schöne, da wo der Oberlehrer drin is - der Linsmeier...des war der Oberlehrer von Grafenried... Atmo 14 Grafenried außen unter Text Sprecherin Hier stießen Roith und Rötzer auch auf ein dunkles Kapitel von Grafenried, Im April 1945, kurz vor Kriegsende, wurden zwei russische Kriegsgefangene in Grafenried ermordet - die Namen der Russen sind unbekannt. Im digitalen Archiv nemusbohemorum des Altphilologen Markus Gruber, der Berichte zum Kriegsgeschehen zwischen 1939 und 1945 in der Region zusammengefasst, ist zu lesen, dass sich die beiden - wahrscheinlich Vater und Sohn - von einer Gefangengruppe abgeseilt hatten - mutmaßlich auf einem "Todesmarsch" aus dem KZ Flossenburg. In Grafenried, wurden sie aufgegriffen, mussten im Wald ihr eignes Grab schaufeln und wurden erschossen. Die Tschechen betteten sie später auf den Friedhof um. Heute kümmert sich Helmut Roith um ihr Grab: O-Ton 31 Helmut Roith/Ausgräber ...hinter der Kapelle sind die begraben und da hab ich selber so a Gedenkkreuz hingmacht... Sprecherin Wer die Täter genau waren, ist bis heute nicht geklärt. Auch Helmut Roith hat versucht, das herauszufinden - vergebens: O-Ton 32 Helmut Roith/Ausgräber Mir ham Zeitzeugen, die han mit dabei gwen, aber da sagt koiner, wer die umbracht hat, bis heut is da no Stillschweigen da...mi dad des a interessieren, wer des war, weil da hats an Ortgruppenführer gebn do im Dorf und a ganz a Schlimmer war des, war a richtiger Nazi... Musik Soundelement Collage Besucher: Frau 1: ... der Weg hierher war schon ein bisschen schwierig...ich würde mir wünschen, dass mehr Reklame gemacht wird, dass man mehr Leute Frau 2: ...es ist schon sehr beklemmend, grade in den jetzigen Zeiten...da oben ist ein Haus, da sind Leute gestorben, als die Amerikaner des beschossen haben. Mann: Ich finds hochinteressant und die Leute sollten in der heutigen Zeit mal wieder dran denken, was alles passieren kann...man muss mehr reden miteinander, dass so etwas nicht mehr passiert...es bräuchte in der heutigen Zeit kein Krieg mehr stattfinden... Sprecherin Über die Jahre hat sich viel verändert in Grafenried. Der Ort ist zu einem Geheimtipp für Ausflugstouristen geworden - für deutsche und tschechische Besucher. Vor jedem Haus steht eine Tafel, mit Fotos und biographischen Daten der früheren Bewohner - auf Deutsch und Tschechisch. Sie sind Teil eines Rundgangs, des "Lehrpfads Grafenried - Freilichtmuseum der entdeckten Vergangenheit". Dafür hat es sogar eine EU-Förderung gegeben - mit Eigenbeteiligung der Grenzgemeinden beider Länder Nemanice und Waldmünchen. Organisiert hatte das Zuzana Langpaulová. Die junge Frau aus Nemanice ist die "Finanzchefin" im "Projekt Grafenried". Gemeinsam mit Thomas Schrödl, dem heutigen "Ortsbetreuer" und Nachfahre einer Grafenrieder Familie, gestaltete sie auch die Haustafeln: O-Ton 33 Zuzana Langpaulová/Projektbegleiterin ...insbesondere bei den kleinen Haustafeln hat mir Thomas hervorragend unterstützt, weil er hat die Kontakte zu einigen der Familien und er konnte noch sehr viele Fotos beschaffen und konnte die Schicksale noch überprüfen, da wären wir ohne ihn ziemlich verloren... Sprecherin Im neuen "Info-Zentrum" des Dorfes gibt es sogar ein interaktives Spiel, eine Art Schnitzeljagd durch die Ruinenstätte: Atmo 15a Schrödl freistehend...Blättergeraschel..da haben wir eine echte Grafenrieder Person gewählt, den Alois, den gabs wirklich und der zeigt dem Kind, der diesen Bogen in der Hand hält den Ort und dann müssen verschiedene Fragen beantwortet werden... Atmo unter Text Sprecherin ...zum Beispiel, wann die Vertreibung stattgefunden hat und was dabei passiert ist. Wenn die Antworten richtig sind, gibt es einen Schatz gewinnen: Der Schatz, das ist die "Tschechische Erklärung" von 1997 - ein "Freundschaftsvertrag" zwischen Deutschland und Tschechien. Mit diesem Dokument bekannten sich damals beide Seiten dazu, ihre Beziehungen nicht mit politischen und rechtlichen Fragen aus der Vergangenheit zu belasten. Zuzana Langpaulová hat sich dieses Spiel ausgedacht: O-Ton 34 Zuzana Langpaulová/Projektbegleiterin ...weil, wir wollten nach vorne schauen und den Leuten sagen: Es ist schrecklich, was passiert ist, aber wir alle können uns daran beteiligen, dass es besser wird, dass nie mehr so was passiert, dass wir uns nachbarschaftlich, partnerschaftlich treffen können, kennenlernen können und dass wir die Zukunft in eigenen Händen haben. Sprecherin Und die ehemaligen Grafenrieder? Nicht alle können dem neuen Rummel etwas abgewinnen. Cilly Laubmeier und Marianne Fischer betrachten den neuen "Erlebnisort" Grafenried mit gemischten Gefühlen. O-Ton 35 Cilly Laubmeier/Zeitzeugin ...mit dene Ausgrabungen hab ich nicht viel zu tun mehr...i find des niat so guat, weil ich hab allaweil unser alts Dorf im Kopf, unser Heimat - des is nimma unser Heimat... O-Ton 36 Marianne Fischer/Zeitzeugin Des is so, wie wenn mir ins Ausland fahren, da schaut man sich des an und des - dann hat man es halt amol gsehn, aber die berührt ja nix... Traurigkeit ist immer, aber des nützt nichts. Des vergisst man net, wie man an Menschen nicht vergisst, der gstorben ist, aber kann man nix ändern - mir hams schlucka müssen... Sprecherin: Doch für die meisten Grafenrieder und ihre Nachfahren ist es eine Erleichterung, endlich über das erlittene Leid, den Verlust ihrer Heimat sprechen zu können. Denn auch in Deutschland war ihr Schicksal lange Zeit Tabu. Nach vielen Gesprächen mit den ehemaligen Dorfbewohnern bilanziert Thomas Schrödl die Gefühlslage so: O-Ton 37 Thomas Schrödl/Ortsbetreuer Grafenried Ich glaube es war wichtiger rüberzubringen: Wir Deutschen waren nicht nur Täter, wir waren auch Opfer und ich glaube über viele Jahrzehnte ist das in der deutschen Öffentlichkeit nicht groß thematisiert worden...da wurde Vertreibung und Verbrechen als Kollateralschaden gesehen, den die Deutschen selbst zu verantworten haben... Sprecherin Denn den Grund für die Vertreibung lieferte Nazi-Deutschland. Das "Münchner Abkommen" von 1938 ist noch heute tief im kollektiven Gedächtnis der Tschechen verankert. Es zwang die damalige Tschechoslowakei, ihre Gebiete mit überwiegend deutscher Bevölkerung an Hitler abzutreten. Damals vertrieben die Nazis die tschechoslowakische Bevölkerung aus den besetzen Gebieten. Tatsache ist auch, dass Millionen von Deutschen das Terrorregime der Nazis ermöglichten - darunter viele Sudetendeutsche. Der "Kollateralschaden" des Krieges - Gewalt und Elend der Vertreibung - war jedoch unter den Deutschen höchst ungleich verteilt. Und er war in dieser Region immens. Zuerst der blutige Terror der Vertreibungen von 1945. Grausames Beispiel: Der "Todesmarsch von Brünn", der am 31.Mai 1945 begann und mutmaßlich bis zu 8000 Deutsch-Böhmen das Leben kostete - Kurze Zeit später die Enteignung und Vertreibung von fast drei Millionen Sudetendeutschen. Allerdings sei es nicht richtig, dass die Tschechoslowakei alles vernichten wollte, was an die Deutschen erinnerte, glaubt der Historiker Ondrej Matejka: O-Ton 38 Ondrej Matejka/stellvertretender Direktor des "Instituts für das Studium totalitärer Regime" in Prag Nein, Racheakt war es nicht... Es war einfach so, dass die Häuser leer standen. Sie wurden dann sehr schnell baufällig, In wenigen Jahren waren die unbewohnten Häuser gefährlich, deswegen wurden die abgerissen...dann gab es Fälle von Häusern, in dem Sperrgebiet vor allem an der westlichen Grenze. Diese wurden gezielt abgerissen, um nicht den Flüchtlingen Grenzflucht zu erleichtern... Musik Soundelement Atmo 16 Grafenried außen/Vogelgezwitscher unter Text Atmo 17 Flaschenklirren O-Ton 39 Alois Rötzer/Ausgräber ...die sind Original ...Des san Flaschen mit Bügelverschluss...die schönen Flaschen, da wo der Name der Grafenrieder Brauerei Wiesner draufsteht, die hab ich scho aufd Seitn do... Atmo 18 Alois Rötzer/Ausgräber/erzählt unter Text Sprecherin Alois Rötzer führt stolz durch die Ruinen der alten Dorfbrauerei. Dass man die Überreste heute besichtigen kann - das ist vor allem ihm zu verdanken. Der Rentner aus Schönthal interessierte sich besonders für dieses Gebäude. Schließlich war er selbst einmal Brauer. Ab 2014 le gte er es alleine frei. Unter den Schuttmassen fand er auch diese Flaschen der letzten Brauerfamilie, die 1924 den Betrieb aufgab. Als Fachmann kann Rötzer all die Funde, die auf die traditionelle Bierherstellung hinweisen, einordnen - etwa gut erhaltene "Darrbleche" - für die Trocknung von Getreide - und die dazugehörige "Schüre", einen Ofen, der die "Darren" beheizte. O-Ton 40 Alois Rötzer/Ausgräber da ist eine Öffnung hier, war alles zugemauert...und da war a Eisentürl, Gußeisen - Schüre von da aus hams die Malzdarre geschürt...und des war das Treppenhaus für die Getreidespeicher auffi, da hams Gerste gelagert und Malz gelagert ghabt Soundelement Atmo 20 Ausstellung / Führung O-Ton 42 Petr Koura/Direktor "Collegium Bohemicum"/Kurator Bei uns sind einige Strömungen, welche nicht Frieden mit Deutschen wünschen... die nationalistischen Kreisen und die Kommunisten, sie haben vom Anfang Ausstellung kritisiert... Sprecherin Petr Koura, Leiter des "Collegium Bohemicum", in der Stadt Usti nad Labem. 250 Kilometer sind es von hier bis Grafenried. Der Historiker führt durch die Ausstellung "naši Nemci" - "Unsere Deutschen". Noch heute klingt der Name der Ausstellung in manchen Ohren hier wie eine Provokation. O-Ton 43 Petr Koura/Direktor "Collegium Bohemicum"/Ausstellungsmacher Die Ausstellung ist gewidmet dem deutschsprachigen Bevölkerung in böhmische Länder - die Geschichte von frühe Mittelalter bis zu 20. Jahrhundert... "Unsere Deutschen" - das ist ein Zitat. Diese Wörter hat erste tschechoslowakische Präsident Masaryk benutzt, wenn er über die sogenannten Sudetendeutschen gesprochen hat, er hat gesagt "unsere Deutschen". Atmo 21 Rundgang in Ausstellung Koura erklärt unter Text Sprecherin Tomáš Garrigue Masaryk war zwischen 1918 und 1935 Präsident der ersten tschechoslowakischen Republik. Er hatte selbst deutsche Wurzeln. Auch seine Geschichte ist Thema der Ausstellung, die die engen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen über Jahrhunderte zeigt. Die geschichtliche Spannbreite reicht vom böhmischen König und deutschen Kaiser Karl IV bis ins 20. Jahrhundert - mit der Annexion des Sudetenlandes, dem Holocaust, den Kriegsverbrechen der Nazis - und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Atmo 22 Film über Vertreibung unter Text Sprecherin In einem Film sind Deutsche in Lagern zu sehen - gekennzeichnet mit einem Hakenkreuz auf der Stirn. Ein besonders eindrucksvolles Exponat ist ein Buch, in dem man digital blättern kann und das sich mit den Kriegsverbrechen an der deutschen Bevölkerung beschäftigt: Der Titel: "Blutiger Sommer 1945 - Nachkriegsgewalt in den böhmischen Ländern". Der Autor, ein tschechischer Historiker namens Jirí Padevet, veröffentlichte es bereits 2016. Er hat dafür akribische Quellenforschung betrieben, gibt allen Toten einen Namen. Er listet sämtliche Orte auf, an denen nachweislich Sudetendeutsche ermordet wurden und benennt die Täter. Er habe die grausamen Ereignisse nur unter großen Mühen beschreiben können, so Padevet. Denn: Sprecher/Zitat "...Während im letzten Buch wir, die Tschechen auf der Seite der Opfer standen, befinden wir uns hier sehr oft auf der Seite der Täter...ja die Soldaten und Beamten des nazistischen Staates waren für die Entfesselung der Hölle verantwortlich. Das allerdings berechtigt niemanden dazu, die Hölle auf Erden fortzusetzen..." Sprecherin Während der totalitären Phase unter den Kommunisten wurde die Vertreibung "Umsiedlung" genannt. Oppositionelle, die eine offene Debatte dazu forderten - etwa Mitglieder der "Charta 77" gerieten in Schwierigkeiten. O-Ton 44 Petr Koura/Direktor "Collegium Bohemicum" ...ein slowakischer Historiker wurde auch verhaftet, wegen seine Publikationen, in welcher er sagte: Die tschechoslowakische Gesellschaft muss sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Er hat das im Westen publiziert unter einem Pseudonym, aber er wurde entdeckt und wurde verhaftet. Er war im Knast wegen dieser Ideen. Sprecherin Die Rede ist von Ján Mlynárik. Der bereits verstorbene Historiker setzte sich schon in den 60er Jahren mit dem Vertreibungsthema auseinander - in Büchern über den "Todesmarsch von Brünn" und anderen Publikationen kritisierte er die "Maulkorb-Politik" der Regierung. Mlynárik war ein Vorkämpfer der offenen Debatte. Später, in den 90er Jahren, gründeten Studierende der Universität Prag die Bürgerrechtsbewegung "Antikomplex", die bis heute besteht. Sie machte die "verschwundenen Dörfer" in Filmen und Dokumentationen öffentlich. Die junge Generation heute will eine Auseinandersetzung auch mit diesem Teil der eigenen Geschichte, meint Petr Koura. Das spiegelten auch die Reaktionen auf die Ausstellung. viele Besucher fänden das Thema längst überfällig. Doch es gibt auch Hass und Anfeindungen, sagt Koura. O-Ton 45 Koura (Erster Teil des O-Tons trocken) ... von einige tschechische Nationalisten, Die Kritik war immer, dass wir verherrlichen die Faschisten... und dass wir nicht die Wirklichkeit über die Vergangenheit sagen. Musik Soundelement Atmo 23 außen Grafenried unter Text Sprecherin Im "verschwundenen Dorf" Grafenried kommt die "Wirklichkeit", die Geschichte der Vertriebenen, immer mehr ans Licht. Die Ausgrabungen der vergangenen Jahre ließen das Dorf zum "sichtbarsten" Ort dieser Art werden: Etwa 1000 deutsch-böhmische Dörfer entlang der Grenze erlitten ein ähnliches Schicksal. Die Bewohner wurden vertrieben, ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht, sie verschwanden buchstäblich von der Landkarte. Für Ivan Bartošek, den Bürgermeister von Nemanice, der tschechischen Nachbargemeinde, ist das "Projekt Grafenried" daher ein Mikrokosmos für Völkerverständigung: O-Ton 46/OV Ivan Bartošek/Bürgermeister Nemanice Was da gemacht wurde und wie das gemacht wurde, finde ich ziemlich einzigartig an der deutsch-tschechischen Grenze. Wir haben uns wirklich gegenseitig geholfen, haben Informationen ausgetauscht, uns gegenseitig Werkzeuge geliehen, auf unserem Gebiet hatten wir deutsche ehrenamtliche Helfer und dabei ist etwas entstanden, was die Leute interessant finden. Hier kann man gemeinsam aus der Geschichte lernen - und das in einer wunderschönen Landschaft. Jetzt müssen wir erhalten und pflegen, was wir freigelegt haben. Atmo 23 Gehen Durch Gestrüpp unter Text Sprecherin Dazu ist auch in den nächsten Jahren noch viel ehrenamtliche Arbeit nötig. Die Fördergelder sind aufgebraucht, wie es weitergeht, ist unklar. Grafenried ist nicht denkmalgeschützt und, bis auf die Brauerei, keine archäologische Grabungsstätte. Die Freilegungsarbeiten sind für die nächste Zeit auf Eis gelegt. Die vorerst letzte Grabungsstätte des "Oberpfälzer Schliemann" ist das sogenannte "Schloss", eher ein Gutshaus, das in Grafenried als Schulhaus diente - Obwohl - der Archäologe in ihm hätte gerade hier "Blut geleckt", denn im Schloss-Bereich warten rätselhafte Mauern und weitere "Filetstücke" im Untergrund: Keller mit außergewöhnlich gemauerten Gewölben, in die er mit Thomas Schrödl hinabsteigt: O-Ton 47 Helmut Roith/Ausgräber/Thomas Schrödl ...die han aber nachträglich baut worden, diese Keller da... die Haken, da is as Gräucherte auffighängt gwen...Fleisch! - (Schrödl), ach geräuchertes Fleisch...(Roith) ...also bis da oben war des ois voll Schutt - meterhoch... Atmo 24 Grafenried außen unter Text Sprecherin Ein Mann, der ein Dorf ausgräbt. Weil es an der Zeit war. Auch wenn es doch er allein war, am Ende viele mitgeholfen haben - ohne ihn, den Roith Helmut, wäre man hier nicht weit gekommen. Manchmal kann er es selbst ja kaum glauben. O-Ton 48 (trocken)Helmut Roith/Ausgräber Was mir da an Kubikmeter wegschafft ham, des is unvorstellbar. Da wenn da jetzt jemand auffikimmt und sagt: Du hast jetzt des mit die Händ ausgraben - des glaubt dir ja keiner... Atmo 25 Gehen auf Kies O-Ton 49 Helmut Roith/Ausgräber A Normaler sagt doch: Lecks doch mi am Arsch, oder? Sprecherin Wenn man den "Ausgräber von Grafenried" treffen will, wird man ihn auch in den nächsten Jahren noch auf seiner Baustelle finden - mit Schubkarre und Schaufel und seiner blauroten Bommel-Mütze - irgendwo zwischen altem Gemäuer und Gestrüpp wird er schon auftauchen. Denn die Arbeit geht ihm nicht aus: O-Ton 51 Helmut Roith/Ausgräber was jetzt mir momentan macha - mir müssen jetzt alles restaurieren, da han mir beschäftigt genug - Jahre... Atmo 26 Gehen durch Gestrüpp O-Ton 52 Helmut Roith/Ausgräber ... des werden wir vielleicht a no a bissel herrichten da - den Eingang auffi macha ...mir kannten buddeln und buddeln und buddeln... Atmo 27 Graben Musik? Darüber: Absage Der Ausgräber - Der "Schliemann" in der Oberpfalz. Ein Feature von Agnes Steinbauer. Es sprachen: Eva Meckbach, Robert Levin und Joachim Schönfeld Ton: Christian Bader Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2022. 25