Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Schwimmende Justiz Rechtsprechung am Amazonas Autor: Fabian Federl Regie: Yannic Hannebohn Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 11.10.2022, 19.15 Uhr Es sprach: Shalin Rogall und der Autor Ton und Technik: Alexander Brennecke Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - OT1 (Schnellboot Geräusche) (Wellen) T01 Two by Four - Hobi startet und duckt unter: Erzähler über OT 1 Eine Verfolgungsjagd mitten auf dem Amazonas. Ich sitze auf einem Schnellboot, neben mir drei Polizisten. Wir sind auf der Suche nach einem Flüchtigen, irgendwo hier, im Regenwald. Einer der Polizisten, Comandante Bartolomeu, bemerkt ein kleines Kanu auf dem Wasser, ein Mann sitzt darin, hält ein riesiges Paddel in der Hand. Bartolomeu zieht seine Waffe und winkt den Mann heran. OT1 Bom dia - Qual é seu nome? Wallace - Wallace - Você conhece o Adriano? Erzähler: Der Mann heißt Wallace. Bartolomeu fragt ihn, ob er den Flüchtigen, einen Mann namens Adriano, kennt. OT1 Adriano? Só um minutinho. Erzähler über OT1 Wallace ist verängstigt, zuckt mit den Schultern. Tut so, als würde er den Namen nicht kennen. Und zeigt schließlich auf einen kleinen Flussarm. Da lang, glaubt er. OT1 (Motorgeräusche) Erzähler über OT1 Gischt spritzt. Wir biegen in die Mündung ein. Der Mann, den wir suchen, wird in einem Vergewaltigungsfall gesucht. Werden wir den Verdächtigen finden? OT1 (Motorgeräusche) Sprecherin Schwimmende Justiz. Rechtsprechung am Amazonas. Ein Feature von Fabian Federl. T01 Musiktrack 01 schwillt an und endet unter: Erzähler Um die Verfolgung von Wallace aufzunehmen, bin ich früh aufgestanden. Um 6 Uhr am Morgen habe ich gemeinsam mit Bartolomeu und seinen Kollegen die Polizeiwache verlassen. Das temporäre Polizeihauptquartier der Gemeinde Vila Progresso in der Region Amapá, im äußersten Norden Brasiliens, ist in diesem Fall kein Gebäude, sondern besteht aus ein paar Hängematten auf einem Schiff, der "João Bruno II". Nicht nur Polizisten sind an Bord, sondern auch ein vollbesetztes, funktionsfähiges Gericht. Also Justizbeamte, Staatsanwalt, Verteidiger und eine Richterin, ihr Name ist Laura Costeira. Das Boot ist ein alter Amazonasdampfer, der umfunktioniert wurde, um die brasilianische Justiz dorthin zu bringen, wo ihr Arm normalerweise nicht hinreicht: in die entlegensten Gebiete des Amazonasbeckens. T02 Julia Kent - Arlanda spielt Erzähler Richterin Laura Costeira und ihre Crew sind für viele der Flussbewohner die einzige Möglichkeit, ihren Anspruch auf Gerechtigkeit vor dem brasilianischen Staat geltend zu machen. Denn der nächste Ort von hier aus ist Macapá, eine Stadt, 12 Stunden Schiffsreise entfernt. Ich habe beschlossen, die "João Bruno II" eine Weile auf ihrer Reise zu begleiten. OT2 (Autotür schließt, unterbricht T02 abrupt) - Bem vindo à Amazônia! Erzähler über OT2 Alles begann ein paar Tage zuvor mit Sueli Pini. Sie hat mich zum Hafen von Macapá gefahren, der Hauptstadt des amazonischen Bundesstaates Amapá im Norden Brasiliens. Pini ist Richterin im Ruhestand, und sie war es, die vor 25 Jahren das Programm "Justiça itinerante" ins Leben gerufen - auf Deutsch: Reisende Justiz. OT2b -Vocês marcaram lugar pra por a rede? -marcamos aqui -aqui mesmo -aqui, né Erzähler über OT2 Die Passagiere, also auch ich, sind früh am Hafen angekommen, um Plätze für die Hängematten zu reservieren. Einen guten Platz auf dem Schiff zu bekommen ist wichtig, man will nicht neben dem Motor, den Toiletten oder den Küchenarbeitern schlafen, die um 4 Uhr morgens aufwachen. Doch als ich auf dem Schiff ankomme, merke ich: ich bin schon zu spät! OT2d Olha...tem de casa, tem duma amiga. Daí eu trouxe um lençolzinho. Erzähler über OT2 Wir sind 72 Menschen auf dem Schiff, auf einer Fläche kleiner als ein Tennisplatz. Sueli wünscht uns alles Gute und überlässt uns der Obhut des Kapitäns. OT3 Oi, tudo bom, meu bem. Você me cuide muito bem das criancinhas, eles vieram de longe! Erzähler über OT3 Sueli hat diese Reise bereits 30 Mal mitgemacht, die letzten zehn Mal als Richterin. Obwohl sie die Fahrten genossen hat, sagt sie, möchte sie nicht unbedingt noch einmal auf dieses Schiff. In fünf Tagen, wenn wir wieder anlegen, werde ich verstanden haben, wieso... T02 T02 beginnt da, wo es die Autotür unterbrochen hat, duckt unter Erzähler Atmo1 (Motor startet, Vögel singen) Atmo2 (Passagiere unterhalten sich) Erzähler über Atmo Während der Reise habe ich regelmäßig Memos aufgenommen, damit ich später noch weiß, was in dem jeweiligen Moment in mir vorging, denn meist passiert hier entweder gar nichts, oder 20 Dinge auf einmal. MEMO 1 Die Leute neben mir, also meine Hängemattennachbarn, haben hier einen Ventilator, einen dieser billigen Ventilatoren, die man im Kaufhaus bekommt, an der Decke des Oberdecks des Bootes befestigt, mit, ich glaube, Geschenkband. Aus der Decke kommt so eine Art elektrisches Verlängerungskabel raus, das, wenn man den Ventilator einsteckt, einen kleinen Funken gibt. Ja. Also und meine Nachbarin hat mich auch offiziell willkommen geheißen, mit den Worten: Willkommen im Chaos. Atmo3 Regen, langsamer Fade-In, T02 bleibt stehen. Erzähler über OT3 Ich berichte seit einigen Jahren aus Brasilien. Selten war ich so schlecht vorbereitet. Meine Hängematte vergessen und das Mückenspray. Ich habe aber zwei Mikrofone und 124 Batterien dabei. Atmo4 (Kurzer Ton wie Batterien eingelegt werden.) Erzähler Nachdem alle ihre Hängemattenplätze reserviert haben, ihre Rucksäcke sicher darunter verstaut, sind wir bereit. Im strömenden Regen verlässt das Schiff den Hafen. Atmo5 Motor, bleibt stehen, Fade-Out unter dem nächsten Erzähler T02 Fade Out T03 Ensemble 0 - Juhachi Fade In, duckt unter: Erzähler Die Joao Bruno II ist ein altes Schiff, früher wurde es für den Passagiertransport eingesetzt, von Macapá nach Bailique, einem spärlich besiedelten Archipel, mitten im Regenwald. Auf dem Unterdeck gibt es eine kleine Küche, in der die Schiffsbesatzung zweimal am Tag Reis, Bohnen und ein Stück Fleisch serviert. Auf dem Oberdeck schwingen hunderte Hängematten im Wind, und ganz oben gibt es ein kleines Sonnendeck, auf dem die Richterin in den kommenden Tagen ihre Anhörungen abhalten wird. MEMO 2 Ich bin 1,88 groß, was nicht riesig ist, aber ich muss mich hier ständig ducken, also permanent geduckt laufen. Und ich werde zählen, wie oft ich mir den Kopf an verschiedenen Dingen stoße, die nicht für Menschen meiner Größe gebaut sind. Atmo 5 (Schiffsgeräusche, man hört eine Frauenstimme) Erzähler Ich bin nicht alleine unterwegs. Zwei Freunde, Kristin und Welket, die wie ich, in Rio und Berlin leben, sind mit an Bord. Kristin ist Fotografin, Welket Schauspieler. Die Gespräche, die ich mit Welket führte, halfen mir, das Geschehen zu reflektieren. Manchmal lenkten sie mich aber auch einfach nur von der Monotonie ab. OT 4 Fabian: Try it. Oh. Oh, now. Okay. Seagulls following us. Oh, look. Where did you learn to talk to the seagulls? Erzähler Eine Gruppe Möwen fliegt uns hinterher, wir rufen sie, Welket scheint darin geübt zu sein. Theatermarotten, sagt er. Da lernt man die seltsamsten Dinge. Auch, sich in Tierlauten zu unterhalten. OT 5 Welket: It's nice. It's free. It frees your mind. Atmo auslaufen lassen, bis Erzähler spricht. T03 ebenfalls Fade Out Erzähler darüber Einige Stunden nach der Abreise treffe ich zum ersten Mal Richterin Laura Costeira. Ihre offiziellen Titel aufzusagen, dauert, wie oft in Brasilien, ziemlich lang: OT 6 Sou Laura Costeira Araújo de Oliveira, sou juíza titular do Juizado da Infância e Juventude, das áreas políticas públicas e execução de medidas sócio-educativas e coordenadora da Justiça Itinerante do Tribunal de Justiça do Estado do Amapá. MEMO 3 Ich habe gerade mit der Richterin gesprochen. Es ist ihre zweite Reise. Sie sagt, dass sie das erste Mal vor 12 Jahren als junge Richterin hier war. Sie ist tragische Geschichten gewohnt. Sie warnt mich außerdem: Ich soll mich nicht von der Abenteuerstimmung hier täuschen lassen. Sobald einmal der Reiz des Neuen nachlässt, sei das hier überhaupt kein Spaß mehr. Atmo 6 fortlaufend (Schiffsgeräusche) Erzähler 12 Stunden nachdem wir Macapá verlassen haben, kommen wir in Vila Progresso an, unserem ersten Ziel. Es ist ein Dorf mit etwa 1000 Einwohnern, mitten im Nirgendwo, aber es gehört noch immer zum Bezirk der Hauptstadt, Macapá. Um zu einer Bank, zu den örtlichen Behörden oder zur Polizei zu gehen, müssen die Anwohner eine 12-stündige Bootsfahrt unternehmen. Genau deshalb gibt es dieses Schiff... Als wir ankommen, ist die Sonne bereits untergegangen. MEMO 4 Nicht alle auf dem Boot gehören zur Justiz. Es gibt Leute von der Receita Federal, der Steuerbehörde in Brasilien. Es gibt Leute von der Behörde, die Personalausweise druckt und ausstellt. Die Justiz ist der Träger dieser Mission. Doch mit ihr kommt der gesamte brasilianische Staat und seine Verwaltung. Erzähler Als wir uns dem Hafen nähern, sehen wir, dass wir bereits erwartet werden. Hunderte Menschen stehen an den Docks, bereit zu helfen. Bevor wir uns am Abend in unsere Hängematten legen, werden die Bewohner von Vila Progresso, gemeinsam mit der Schiffsbesatzung, einen voll funktionsfähigen Gerichtssaal eingerichtet haben, nur wenige Meter vom Fluss entfernt. Atmo 7 (Der Motor wird leiser) Erzähler über Atmo7 Vila Progresso ist ein Loch. Unser Bild von Amazonien ist immer noch stark idealisiert und geprägt vom kolonialen Blick: als Ort der Natur und der Ursprünglichkeit. In der Realität ist es, je nachdem, wo man hinsieht, Wildnis oder Moloch, Paradies oder Müllhalde. Die Kriminalitätsrate ist hoch. Hier regelt man seine Probleme selbst, entzieht sich der Obrigkeit, wo immer es geht. Und der Staat interessiert sich seinerseits kaum für die Menschen hier. "Ordem e progresso", Ordnung und Fortschritt, wie es auf der Nationalflagge versprochen wird, gibt es hier beides nicht. T04 Minim von Dustin O'Halloran & Victor Axelrod Laura Costeira und die Reisende Justiz sind dafür da, einmal alle zwei Monate hier her zu fahren, und zumindest die drängendsten Angelegenheiten zu klären. Rechte, die jedem Brasilianer, der Verfassung nach, zustehen: Faire Rechtsprechung und Sozialleistungen. Aber kann sie ihrer Mission überhaupt gerecht werden? Atmo 8 (Motorgeräusche) MEMO 5 Mein Eindruck am Ende des ersten Tages: Dieses Schiff scheint für seinen Zweck ungeeignet zu sein. Es ist laut, es ist unbequem und es gibt keinen Platz für irgendwas. Man muss im Stehen essen, sich durch einen Wald von Hängematten zwängen, wenn man auf die Toilette will. Wenn es regnet, wird alles nass, wenn die Sonne scheint, sind es 45 Grad. Ich weiß nicht, wie man unter diesen Bedingungen Recht sprechen soll... MEMO 6 Mir fällt nicht mehr viel ein, ich gehe jetzt schlafen, gute Nacht. T04 Colleen - Going forth by day bleibt eine Weile stehen und endet. Erzähler Am nächsten Morgen werde ich um 5 Uhr morgens von 72 Leuten geweckt, die sich gleichzeitig fertig machen. Und von einer Menschenmenge vor dem Boot. Die Richterin hat heute ein volles Programm. Der erste Fall beginnt in zwei Stunden. Ich mache mich bereit. Sprecherin Kapitel 1: Der Schiffskapitän und das tote Baby Atmo 9 (Geräusche und Bewegungen im Gerichtssaal) MEMO 7 Ich komme gerade aus der Anhörung. Es ging um den Fall eines Mannes mittleren Alters, ein Kapitän für Schnellboote. Er wurde beschuldigt, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein. Erzähler Das provisorische Gerichtsgebäude ist eine Hütte, ein paar Minuten Fußweg vom Schiff entfernt. Man erreicht sie über Holzplankenbrücken, die die Stelzenhäuser in Vila Progresso miteinander verbinden. Der Gerichtssaal ist kleiner als ein Grundschulklassenzimmer, ausgestattet mit fünf Plastikstühlen, zwei Tischen, einem Drucker und keinem Fenster. OT7 Processo 40 8 8 21, Ato especial criminal... Erzähler Richterin Laura Costeira bittet den Angeklagten zu erklären, was in jener Nacht geschah. OT8 Que foi que aconteceu? -Eu fui chamado às 3 horas da manhã em casa para levar essa senhora que estava em processo de parto... MEMO 8 In einer regnerischen Nacht, gegen drei Uhr morgens, bat eine schwangere Frau den Piloten, sie nach Macapá ins Krankenhaus zu fahren. Die Flut aber drückte das Wasser gerade in die Gegenrichtung, deshalb, sagte der Kapitän, er könne nicht den sogenannten toten Fluss nehmen, also den Nebenarm. Er müsse auf dem Hauptfluss fahren, dem Amazonas. Das wäre in diesen kleinen Booten sehr gefährlich, besonders nachts und wenn es regne. OT9 Negociar fazer o transporte... MEMO 9 Also sagte der Kapitän der Frau, dass er nicht losfahren könne, aber sie war schon in den Wehen, hatte offenbar Komplikationen, sie stand im Grunde kurz vor der Entbindung. OT10 Só dá pra mim ir às 5 horas da manhã MEMO 10 Also sagte er, er werde sie zuhause abholen, sobald die Flut sich wendet, was dann zwei Stunden später, also um fünf Uhr morgens, der Fall war. Als er aber im Haus der Frau ankam, war das Kind schon tot. Erzähler Der Staatsanwalt liest die Anklageschrift vor. Die Familie des Opfers argumentiert, dass der Bootskapitän für den Tod des Kindes verantwortlich ist. Der Fall ist schnell entschieden: Richterin Laura Costeira macht deutlich, dass es hier um höhere Gewalt ging, dass den Kapitän deswegen keine Schuld trifft. Der Angeklagte hat aber noch eine ganz andere Sorge. MEMO 11 Nachdem das Kind gestorben war, begannen die Bürger, den Kapitän online zu schikanieren und vor seinem Haus zu demonstrieren, und er verlor seine Arbeit als Schnellboot-Kapitän, seine Lebensgrundlage. Der Prozess ist also auch dazu da, ihn vor allen Augen freizusprechen: mit dem Urteil, das Richterin Laura gerade gefällt hat, wird er im Dorf rehabilitiert. OT11 Ele saiu beneficiado daqui. O processo foi arquivado. Atmo 10 (an OT11) (Geräusche und Bewegungen im Gerichtssaal) Erzähler Für alle sichtbar, übergibt Richterin Laura dem Mann einen Stapel höchstoffiziell aussehende Dokumente. Das ist wichtig! MEMO 12 Diese Dokumente machen die Angelegenheit offiziell, auch wenn sie dem Gerechtigkeitsgefühl der Volksseele im Dorf widersprechen. T05 Yo La Tengo - Sera Urchins beginnt Erzähler Der Fall ist so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein Mann, der eines Verbrechens beschuldigt wird, ein Richter, der die Sache aufklärt. Ein Unrecht, das von der Justiz mit Amt und Siegel korrigiert wird. Aber keiner der folgenden Fälle wird wie dieser sein. T05 bleibt kurz stehen und duckt unter Sprecherin und bricht danach ab: Sprecherin: Kapitel 2: Die Vormundschaft, Teil 1 Atmo 11 (Atmo auf dem Boot, nächster Morgen) Erzähler Alle kehren zum Mittagessen auf das Schiff zurück, und ich belausche ein Gespräch zwischen zwei Sozialarbeiterinnen. Es geht um eine Vormundschaft. Es scheint ein simpler Fall zu sein. Doch so einfach es in einer Stadt wie Macapá wäre, so kompliziert ist das hier. Es wird drei Tage, zwei Sozialarbeiter, mehrere Sachbearbeiter, einen Richter und ein halbes Dutzend Fahrten mit dem Schnellboot brauchen, um diesen Fall abzuschließen. Morgen früh um sieben geht es los, erklärt mir die Sozialarbeiterin Sueli Lima. OT12 amanhã, de manhã, e cedo... Nós vamos sair daqui às 7 horas da manhã... (unverständlich) MEMO 13 In diesem Fall werden wir jetzt einen sehr alten Mann besuchen. Sein Neffe hat einen Antrag auf Vormundschaft gestellt. Doch niemand weiß, ob diese Person wirklich noch lebt. Das Gericht, und Richterin Laura, braucht erst mal einen Lebensnachweis für diesen Mann. Atmo 12 (Menschen sprechen auf dem Deck) (Unverständlich) (Schnellboot startet und wird schneller) Erzähler Wir verlassen das Schiff auf einem Schnellboot, die beiden Sozialarbeiter Sueli und Leo und ich. Wir fahren in ein kleines Dorf zehn Kilometer entfernt. Atmo 13 (Ankunft am Dock, Schrittgeräusche, Vögel) MEMO 14 Wir sind in diesem Dorf mit sieben Häusern, die alle mit diesen Passarela, diesen Brücken, diesen kleinen gebauten Brettern verbunden sind. Und das letzte Haus ist in der Mitte auseinandergerissen, weil eine Hälfte des Hauses von diesen Schlammlawinen, die hier in der Region immer häufiger vorkommen, weggespült wurde. OT13 A erosao levando tudo Boa tarde, boa tarde... MEMO 14 Als wir da ankamen, sehen wir einen Mann auf dem Boden sitzen. Erzähler Der Mann ist Seu Benedito, der Onkel, um den es geht. Er ist 91 Jahre alt. Dass der Mann Hilfe braucht, ist offensichtlich. Er ist gehbehindert, und das Haus ist von Holzplanken, Treppen und kleinen Leitern umgeben. Erst vor kurzem hatte er einen Unfall. OT14 Eu andava pouco, mas andava... (unverständlich)... corrimão Quando fui levar corrimão, errei o corrimão, (unverständlich), cai ai pra terra... MEMO 15 fortlaufend ...er stürzte von einer dieser Balkenbrücken, brach sich etwas im Kniegelenk und konnte nicht mehr gehen. Mittlerweile ist er auch inkontinent. Die Frau sagte gerade, dass er ihnen jeden Tag sagt, dass er sich wünscht, tot zu sein, weil er dann keine Last mehr wäre. Erzähler In den letzten Jahren konnten seine Familienmitglieder bürokratische Angelegenheiten für ihn erledigen, weil sich die Leute in den Dörfern untereinander kennen, einschließlich der Bankangestellten oder Verwaltungsbeamten. Aber dann... MEMO 16 Die Rentenbehörde in Macapá hielt ihn für tot. Also wurden die Zahlungen eingestellt. Erzähler Die Familie ist arm, Seu Beneditos Rente macht den größten Teil des Familieneinkommens aus. Deshalb ist sein Neffe zu Richterin Laura gegangen. MEMO 16 Hier sammeln Sueli und Leo nun also die Beweise, dass er am Leben ist. Er ist da. Er ist geistig anwesend und wirkt klar. Sie werden das morgen in den Prozess einbringen. Der Neffe ist aber nicht da. Er muss sich morgen dringend auf dem Schiff mit weiteren Unterlagen vorstellen. Dann können die Leistungen wieder beginnen, und er wird der Vormund sein. OT15 Vocês conversaram a respeito de quem seria a pessoa mais adequada, melhor educada, para receber esse dinheiro dele regularmente através de uma curatela, que é o documento... MEMO 18 Sueli und Leo sprechen in juristischen Begriffen mit der Familie über die Vormundschaft... MEMO 18 ...um sicherzustellen, dass sie wissen, wonach sie fragen ...Und weil es hier in der Region eine Eigenheit gibt: Vormundschaft wird hier häufig dafür benutzt, um Alte und Kranke buchstäblich zu bestehlen. Erzähler Jemand übernimmt die Vormundschaft über einen älteren Verwandten, nimmt ihm sein gesamtes Geld ab, vertreibt ihn von seinem Land und lässt ihn, im Grunde genommen, alleine sterben. Laut Richterin Laura ist das eine der häufigsten Straftaten in diesem Bezirk. Doch in diesem Fall scheint das Ansinnen der Familie berechtigt zu sein. Atmo 14 (Schrittgeräusche, Vögel) MEMO 19 Sueli und Leo meinen, es scheint alles in Ordnung zu sein. Der Neffe kümmere sich wirklich um Seu Benedito. T06 Colleen - Going forth by day Erzähler Für die Sozialarbeiter bedeutet das jetzt einiges an Papierkram. Noch wichtiger aber ist es, Ariton, den Neffen des alten Mannes, zu finden. Diesen Morgen kam er auf das Schiff, um den Prozess zu beginnen. Aber er hat keine Adresse hinterlassen, denn niemand hat Adressen hier. Und es gibt keinen Handyempfang, Also keine Möglichkeit, jemanden zu finden, es sei denn, man sucht ihn dort, wo man ihn vermutet. Morgen legt das Schiff ab. Wenn Ariton bis dahin nicht da ist, müssen Seu Benedito und seine Familie auf die nächste Reisende Justiz warten - in zwei bis drei Monaten. T06 Track kommt kurz hoch, duckt dann unter: OT16 Fabian: So where are the buffaloes? Welket: Straight ahead and then.... Erzähler Zwischen den Fällen, in den Pausen, erkunden Welket und ich Vila Progresso. Es gibt einen kleinen Laden, einen Friseursalon und sogar ein behelfsmäßiges Fitnessstudio. Es gibt eine einfache Klinik, aber keine Ärzte darin, eine Bankfiliale, die aber seit Jahren nicht mehr geöffnet war und keinen Geldautomaten hat. Es gibt kein Internet und keine Straßenbeleuchtung. Und was noch wichtiger ist: keine Müllabfuhr. T06 Track kommt kurz hoch, duckt dann unter: OT17 Fabian: One thing that's always amazed me in the Amazon is how much trash there is everywhere. Erzähler über OT17 Überall liegt Müll. Weil ihn hier auch keiner abholt, wer denn auch? T07 Dictaphone - Sonne free startet über die Atmo Erzähler Es wird langsam dunkel, in der Ferne hört man den Schiffsmotor, bald ist Zeit für das Abendessen. Schnell noch duschen, bevor alle 72 Passagiere gleichzeitig die vier Duschen nutzen wollen. OT19 F21 Welket: Yeah, this maybe I will follow your example. (F21 duckt unter) Sprecherin Kapitel III - Der flüchtige Vergewaltiger T07 Dictaphone - Sonne free endet Erzähler Am nächsten Morgen füllt sich der Fluss um das Schiff herum mit immer mehr kleinen Booten. Alles Menschen, die ihre Verwaltungsangelegenheiten klären wollen. MEMO 20 Die Leute kommen von weit her. Ein Paar hat mir erzählt, dass sie wegen des Geburtenregisters hier sind. Sie wollen eine Geburtsurkunde für ihr Neugeborenes. Und sie sind von über einer Stunde Entfernung mit dem Schnellboot gekommen. Erzähler Eines der Schnellboote gehört der Polizei... MEMO 21 Das Boot der Polizei heißt Tubarao - Der Hai. Ich warte hier auf die Policia Civil. Die wird mich hier abholen. Und wir werden jemanden verhaften. Erzähler Kommandant Taniel ist der Leiter dieser Operation. Atmo 15 (Wir springen auf das Boot, Seufzen, Gemurmel) MEMO 22 Taniel hat gesagt, dass wir in ein anderes Dorf fahren werden, sobald wir dort ankommen, werden Bartolomeu und Antonio aus dem Schiff springen und versuchen, diesen Typen zu verhaften, der seit einer Weile vor der Polizei flüchtet. Er soll sein Stiefkind missbraucht haben, er bekommt eine Vorladung auf das Gerichtsschiff. Ich soll im Boot bleiben, bis die Lage geklärt ist. Das ist also der Plan. Atmo 16 (Schnellboot startet) Erzähler daüber Wir verlassen das Schiff und fahren auf das offene Wasser hinaus. Die Flussufer verschwinden. Die Wellen werden höher, die Strömung ist so stark, dass man nach einer Weile vergisst, in welche Richtung der Fluss fließt. Atmo 16 (Motor geht langsam aus) Erzähler darüber In der Mitte des Flusses, nach 30 Minuten Fahrt... OT01 (click) Bom dia Erzähler daüber 1 ...treffen wir Wallace, den Mann auf dem Ruderboot, von dem wir zu Beginn gehört haben. OT01 Qual é seu nome? - Wallace Wallace... Você conhece o Adriano? Atmo 17 (Hintergrund Fluss, Polizei spricht) Erzähler daüber Die Richterin hat mehrmals versucht, Adriano vorzuladen. Doch er hat sich immer wieder entzogen. Wir wissen nicht, wo er wohnt. Im Amazonasgebiet gibt es wie gesagt keine richtigen Adressen, nur Hinweise. Man wohnt in der Nähe eines Referenzpunktes, "7 Kilometer flussabwärts von Vila Progresso, linkes Ufer, blaue Tür", oder: "in dem Flussarm gegenüber des Schulgebäudes". Ich kann Adrianos Adresse hier nicht nennen, aber sie klingt so ähnlich wie diese Beispiele. Und wir haben keine Ahnung, wo das sein könnte. Also versuchen wir es mit Wallaces Tipp. Atmo 17 fortlaufend (Motor startet wieder) T08 Andy Benz - Kismet startet Erzähler Nach 20 Minuten kommen wir an. Wir scheinen Glück zu haben. Atmo 18 (Wir kommen mit dem Schnellboot an) ele mora aqui? mora aqui! Ele tá aqui? nao ta... MEMO 23 Es niemand ist da, außer einem Mann. Er sagt, er sei nur ein Nachbar des Beschuldigten. Atmo19 (Polizei kommt an) MEMO 23 Er sagt, dass der Verdächtige, Adriano... anscheinend mitten in der Nacht abgehauen ist. Die Polizisten haben diesem Mann hier nicht getraut, weil sie nicht wussten, was er auf dem Land des Verdächtigen zu suchen hat. In genau der Nacht, in der er verschwunden ist. Atmo 20 (Polizist wird wütender) -mestre, deixa eu te falar um acoisa aqui... Erzähler Taniel versucht, mit dem Nachbarn zu sprechen, aber der antwortet nur mit: Ich weiß nichts. Atmo 20 (schreit)... serio, serio, e serio, nao é brincadeira nao! Erzähler Taniel sagt, das sei kein Spiel mehr. Sie seien schon dreimal hier gewesen. Wo sind sie, schreit er den Mann an. Nicht nur Adriano ist weg. Sondern auch seine Frau, und das Kind, das mutmaßliche Vergewaltigungsopfer. Atmo 20 (fortlaufend) (schreien) Agora, agora! Agora! -Vai encontrar ele so la na Cutias Erzähler Schließlich fällt dem Mann doch ein, wohin das Paar gegangen ist. Nach Cutias, wo Adriano offenbar noch ein anderes Haus hat. Sagt der Nachbar. Atmo 20 durchlaufend Eles foram pra Cutias? -Nao falaram, mas acho que foram Mas eles saiam com toda coisa deles? Correndo? -Eles tem casa la. (Streit fade-out) Erzähler Unverrichteter Dinge fahren wir zur "João Bruno II." zurück. Später frage ich Jorge, den Einsatzleiter an Bord, was der Mann eigentlich genau getan hat. Atmo 21 (Jorge erklärt, was Adriano getan hat) MEMO 24 Adriano lebt mit einer Frau zusammen. Diese Frau hat ein Kind, ein 12-jähriges Kind, und der Vater dieses Kindes, der neben ihnen wohnt, hat der Polizei vor ein paar Tagen gesagt, dass sein Kind von Adriano vergewaltigt wird, und zwar regelmäßig seit drei Jahren - seit sie neun Jahre alt ist. Atmo 21 (Jorge spricht weiter) Erzähler Das traurigste, sagt Jorge, ist, dass es so aussieht, als würde die Mutter des Mädchens Adriano helfen. Das Haus, in dem sie sich vermutlich verstecken, sei das Haus der Großmutter des Kindes. Atmo 22 (Regengeräusche, duckt unter Erzähler) Erzähler Im letzten Fall haben wir gehört, dass der Mann, der eine Vormundschaft beantragt, unbedingt rechtzeitig auf das Schiff kommen muss, um seine Dokumente zu sortieren. Sonst muss er drei Monate lang warten. Ich frage mich: Gilt das auch für die Strafverfolgung? Muss sich der Verdächtige also nur solange verstecken, wie die Reisende Justiz in der Nähe ist? T09 (deutet sich an) Atmo 23 läuft durch (Fabian spricht auf Portugiesisch) Erzähler Am Abend laufe ich durch Vila Progresso. Es regnet leicht, ich war seit drei Tagen nicht mehr im Internet, und es soll hier eine Bar geben, die minutenweise Zugang verkauft. Auf einer Bank sehe ich einen Mann, der über sein Telefon gebeugt ist. Als ich näher komme, sehe ich, dass es der Leiter der Polizeitruppe an Bord ist, der Chef von Jorge, Taniel, Bartolomeu und Antonio. Ich stelle ihm meine Frage. Atmo 24 Ele tinha fugido -Fugiram, esse com certeza vou pedir prisão Erzähler Immerhin: Ich erfahre: Diesmal wird der mutmaßliche Vergewaltiger der Justiz nicht entkommen, nur weil das Schiff abfährt. Er ist schon so oft vor der Vorladung geflohen, dass Richterin Laura nun einen Haftbefehl ausstellen wird. Damit werden Polizeiboote aus Macapá hierherfahren, um ihn festzunehmen. T09 Julia Kent - Gardemoen startet. Atmo 25 Welket: We need... Fabian: Oof, we need mosquito spray today. Welket: I can... Fabian: borrow it. Cool. Can I borrow some? (moskito spray sounds) Erzähler Am späten Nachmittag füllt sich das Schiff mit Wolken aus Moskitos. MEMO 26 Überall auf diesem Boot ist es heiß und eng. Es sind 35, 36 Grad. Es gibt kein Internet. Der Motor, wie man hören kann, läuft die ganze Zeit. Und ich sitze gerade neben einem Schwein, das Dreck vom Boden frisst. Und alles ist irgendwie, deprimierend, weil so viele dieser Gerichtsverfahren Väter betreffen, die Kinder mit ihren eigenen Kindern haben. Es gab gerade einen Vaterschaftstest von einem jungen Mann von 19 Jahren und die Frau war 12 und das Kind war schon fast zwei, was bedeutet, dass sie mit zehn Jahren schwanger wurde. Erzähler Es gibt diese extremen Fälle, die hier so normal zu sein scheinen. Es sind die Verbrechen und die Verwahrlosung der Menschen, die vom Staat nicht versorgt werden. Es fehlt an allem - Bildung, Aufklärung, Empathie. Und Schutz für die Schwächsten. T08 Julia Kent - Gardemoen zieht hoch und endet nach Sprecherin: Sprecherin Kapitel 4 - Die Vormundschaft, Teil 2 Atmo 26 (Wellen brechen am Schiff, ein Motor in der Ferne) Atmo 27 (Leo und Sueli kommen bei der Schule an) Erzähler daüber Wir haben gerade das Dorf verlassen, in dem wir Seu Benedito getroffen haben, den 91-Jährigen, der sich verletzt hat und nun auf die Hilfe seines Neffen Ariton angewiesen ist. Atmo 28 (fortlaufend) Ariton! Erzähler Wir suchen den Neffen mit dem Boot an mehreren Stellen am Ufer des Amazonas. Etwa 30 Minuten später finden wir ihn. Ariton steht am Ufer, auf einem kleinen Hügel, vor einem Schulgebäude. Er arbeitet dort als Handwerker. Atmo 28 (Leo spricht mit Ariton) Erzähler darüber Leo winkt Ariton heran Atmo 28 vai la com o documento, vai que ela vai estar Erzähler darüber Leo sagt Ariton, dass er morgen früh vor 9 Uhr auf dem Schiff der Reisenden Justiz erscheinen muss. Das Schiff soll am Nachmittag auslaufen, und wenn er will, dass die Sache geklärt wird, muss er da sein. Atmo 28 fortlaufend ...resolver logo... Atmo 29 combinado entao! -combinado de manha eu to la! ta beleza obrigado aí! (Das Boot startet und fährt los) T05 Yo La Tengo - Sera Urchins beginnt Atmo 30 (Gemurmel und Gerede im Wartebereich) Erzähler Am nächsten Morgen kommt Ariton eine Stunde zu früh zum provisorischen Gerichtssaal. Richterin Laura sichtet die Dokumente des Antrags auf Vormundschaft, den ihr die Sozialarbeiter vorbereitet haben. T05 Yo La Tengo - Sera Urchins endet unter: OT 20 Eu nao gosto do nome curatela, curatela é um tipo de interdição... Erzähler Und sie sagt, sie mag das Wort Vormundschaft nicht. Vormundschaft bedeute, dass der Vormund die Rechte des Mündels erhält. Sie sieht es genau andersherum: Der Mündel verliert seine Rechte. OT 21 Eu quero outro título. É só pra suprir a incapacidade parcial. Porque esse idoso ta são do que eles tão falando aqui... ele tem problema de locomoção. Erzähler Richterin Laura entscheidet: Sie will keine Vormundschaft erteilen. Erzähler Seu Benedito, so argumentiert sie, sei bei klarem Verstand. Er sei lediglich gehbehindert. Für sie ist das nicht genug, um sein Leben komplett von jemand anderem übernehmen zu lassen. OT 22 Porque vai que esse povo é doido aqui e faz como todo mundo aqui e leva cartão do outro e some Erzähler Was wäre, wenn der Vormund einfach seine Leistungen einstreicht und verschwindet... genau wie in all den anderen Fällen, die es hier schon gab... OT 23 Eu quero comer peixe. se eu interditar, ele poderia dizer, não vai comer peixe, vai comer frango! Erzähler Richterin Laura erklärt es den Leuten in einfachen Worten: Wenn du einen Vormund hast und sagst: "Ich möchte Fisch essen", kann der Vormund sagen: "Nein, du isst Hühnchen". Seu Benedito kann zwar nicht laufen, aber er kann denken und sich ausdrücken, er kann selbst über sein Leben entscheiden. OT 24 A gente tem que se acautelar para tomar uma decisão menos prejudicial. T10 Penguin Cafe Orchestra - Sketch spielt aus (beginnt mit den Trommeln schon vorher), duckt mit Atmo unter Erzähler Atmo 31 (Geräusche aus dem Gerichtssaal, immer mehr Menschen kommen rein, eine Frau spricht in der Ferne) Erzähler Ariton hat seine Vormundschaft nicht bekommen. Aber er geht auch nicht mit leeren Händen nach Hause. Richterin Laura bezweifelt nicht, dass Seu Benedito Hilfe braucht. Deshalb hat sie seinem Neffen den Status eines juristischen Assistenten zuerkannt, eine Art gesetzlicher Betreuer. Damit kann Ariton ihn auf Behörden vertreten. Atmo 32 (Eine Tür quietscht, neutrale Atmo/Musik) Erzähler Ich habe vier Tage mit Richterin Laura Costeira verbracht, jeden Tag viele Stunden lang, und es hat einige Zeit gedauert, bis ich verstehen konnte, wie sie denkt und entscheidet: Sie hat hier die Macht, aber auch die Verantwortung. Es ist klar, wer hier der Chef ist. Richterin Laura hat ein eigenes Zimmer, ein Bett, eine Klimaanlage. Sie hat einen persönlichen Leibwächter. Ihr Verhalten hat eine Grandesse, und das ergibt auch Sinn: In ihrer Position braucht sie Ornat und sichtbare Autorität, vor allem, weil sie auf einem Plastikstuhl Recht spricht. Aber ihr Urteil scheint hier, wie in allen anderen Fällen, die ich miterlebt habe, gut durchdacht zu sein. Sie wirkt nicht besonders sympathisch oder gar nett, eher technokratisch und distanziert. Aber sie schaut genau hin und hört zu. Und sie versucht, den Leuten hier in ihrer Situation gerecht zu werden. T08 Penguin Cafe Orchestra - Sketch endet mit der nächsten Memo. MEMO 27 Das war ein sehr intensiver Tag. Es sind die ganze Zeit Leute um einen. Es gibt keinen Ort, an den man sich zurückziehen kann. Und es ist eine sehr kleine Stadt. Ich habe heute mit einer Reihe von Leuten über eine Sache gesprochen, die ich zentral fand. Über viele Dinge, die die Richterin tut, weil fast alle Fälle hier die Familie betreffen. Das kann alles Mögliche sein. Ähm, ja. Es gibt eine Menge verschiedener Familienangelegenheiten. Aber am schockierendsten ist, dass auch fast alle Strafverfahren hier Familienangelegenheiten sind. T08 Julia Kent - Gardemoen beginnt MEMO 28 Manchmal, wenn wir hier junge, sehr junge Frauen mit Kindern auf dem Arm gesehen haben, haben wir manchmal ich oder ein Kind oder jemand anderes gefragt, oh, ist das deine Tochter? Und die Antwort war immer: Das ist meine Schwester oder mein Bruder. Und wir haben später herausgefunden; Ja, das stimmt. Aber es ist die Schwester, aber auch die Tochter. In der Regel ist es die oder nicht in der Regel, aber es ist irgendwie oft das Ergebnis der elterlichen Vergewaltigung. Erzähler Und wenn es nicht um Vergewaltigung geht, geht es um bittere Armut. MEMO 29 Da gibt es also diese Gruppe von jungen, meist jungen Leuten, die für das Ministerium für ländliche Entwicklung arbeiten und die die Interviews mit den Anwohnern machen. Und es sind immer die gleichen Fragen. Arbeiten Sie? Nein. Mein Mann fischt ein bisschen oder ist Bootsführer und der Rest ist Subsistenzlandwirtschaft und Viehzucht. Die meisten der Leute gehen nicht zur Schule. T08 Julia Kent - Gardemoen endet düster Erzähler Es ist fast Zeit, von Bord zu gehen. Und Richterin Laura hatte Recht, so wie auch Sueli Pini Recht hatte. Das hier ist kein Spaß. Es ist bedrückend. Emotional und körperlich. Ich kann die Menschen, die diese Reise regelmäßig machen, nur bewundern. Atmo 33 Schiffsmotor am Abend MEMO 30 Es hat wirklich niemand mehr Bock. Mit diesem blöden Motor, der die ganze Zeit läuft. Ich habe irgendwie langsam genug. Ich habe genug gesehen. T10 Philipp Glass - Concerto For Violin And Orchestra beginnt. Erzähler Wir packen die Stühle zurück ins Schiff, ich bin bereit zu gehen, als in einem Raum, im Zimmer der Schlichtungsrichterin, immer noch ein Kampf im Gange ist. Sie winkt mich herein. Sprecherin Kapitel 5 - Der garstige, alte Mann. T11 Philipp Glass - Concerto For Violin And Orchestra stoppt abrupt. Atmo 34 (Fabian betritt den Raum) Erzähler Es handelt sich um einen Fall zwischen zwei Kollegen, einem Älteren, Seu Antonio, 72 Jahre alt, und einem Jüngeren, Seu Edilson, 49. Alles begann mit Schulden. MEMO 31 Seine Schulden beliefen sich auf 90 Reais, etwa 13 €. Er zahlte sie seinem Kollegen nicht zurück. Es war für ein Parfüm. Seu Antonio ging morgens zu ihm, in die örtliche Bäckerei, und sagte, ich will mein Geld. Daraufhin nannte Edilson ihn einen velho safado, einen "garstigen, alten Mann", vai tomar no cu, was so viel heißt wie "verpiss dich" und vai se fuder, sowas wie "geh dich ficken". Erzähler Die Reaktion von Seu Antonio darauf: er drohte, den anderen umzubringen. Atmo 35 Falei que ele merecia um tiro Erzähler Und so begann der Gerichtsprozess. Nicht wegen der angedrohten Kugel - es ging gegen Seu Edilson. Seu Antonio fühlte sich gedemütigt, weil der ihn einen "garstigen alten Mann" genannt hat. MEMO 32 Seu Antonio nahm sich also einen Anwalt und verklagte ihn. Er verklagte also Seu Edilson wegen der 90 Reais. Die Schlichterin sagte mir später, solche Dinge enden hier manchmal damit, dass Leute erschossen werden. Erzähler Die beiden sitzen sich kühl gegenüber, verziehen keine Miene. Schließlich legt Seu Antonio drei Zettel vor sich aus. Als die Schlichterin die drei ausgesprochenen Beleidigungen erwähnt, nimmt er die Zettel in die Hand, auf denen jeweils einer der bösen Sätze geschrieben steht. Melodramatisch lässt er seine Finger an den Worten entlang gleiten und bewegt dazu seine Lippen ohne sie auszusprechen. Es wirkt wie aus einer Telenovela. Als die Schlichterin Seu Antonio bittet, die Zettel wegzulegen, zieht er eine Sonnenbrille aus seiner Hemdtasche, setzt sie auf und verschränkt die Arme. So sitzt er bis zum Ende der Anhörung. MEMO 34 Edilson zahlt 90 Reais zurück. Und die Sache ist erledigt, und das ist ein Prozess, der über ein Jahr gedauert hat, und dieser Streit ging weiter, und niemand war in der Lage, zu vergeben oder sich zu entschuldigen. Und das haben sie auch nach der Schlichtung nicht getan, sie haben nur gesagt, jetzt wird die Schuld beglichen, aber das ist nur eine Sache. T01 Two by Four - Hobi startet aus der Mitte Erzähler So enden viele Fälle auf der Joao Bruno II. Mir wird klar: Die Reisende Justiz kann nur wenige Probleme der Region wirklich lösen. Aber manchmal reicht schon ihre Anwesenheit, damit Konflikte behoben werden. Und das ist mehr als nichts. OT 25 -A justiça está mais proxima da realidade--ela ta vindo, né Erzähler Das Schiff bringt etwas Gerechtigkeit zu uns, sagt Ariton, der Mann, der endlich ein Dokument in der Hand hält, das ihm erlaubt, für seinen Onkel die Bankgeschäfte zu übernehmen. Und wieder Geld in die Familie zu bringen. Erzähler Die Joao Bruno II ist ein Stück Rechts- und Sozialstaat, das alle paar Monate hier am Amazonas vorbeitreibt. Mehr nicht - aber auch nicht weniger. OT 26 Isso facilita muito a vida do ribeirinho. Resolve. T01 Zwischenende, geht dann weiter unter: Sprecherin: Schwimmende Justiz. Rechtsprechung am Amazonas. Ein Feature von Fabian Federl. Es sprach: Shalin Rogall und der Autor. Ton und Technik: Alexander Brennecke Regie: Yannik Hannebohn Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022 T01 Endet 25