Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Samen des Misstrauens Russland und der Westen während Jelzin und Clinton Autor: Andreas von Westphalen Regie: Fabian von Freier Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 08.06.2021, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 26.04.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Sigrid Burkholder, Josef Tratnik, Daniel Berger, Tom Jacobs, Anja Gawlick, Gerd Daaßen, Ralf Drexler und Carlos Lobo Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anton Blank Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik Sprecher 1: Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken. Sprecherin 1: So heißt es in der "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit", die die NATO-Länder und Russland feierlich am 27. Mai 1997 unterzeichneten. Für den US-Präsidenten Bill Clinton und den russischen Präsidenten Boris Jelzin war es ein historistischer Tag. O-TON Bill Clinton: For this new NATO will work with Russia, not against it. Sprecher 2 Clinton ?Diese neue NATO wird nicht gegen, sondern mit Russland arbeiten. O-TON Boris Jelzin: Everything that is aimed at countries present here, all of those weapons are going to have their warheads removed. Sprecher 3 Jelzin Von allen Waffen, die auf die hier anwesenden Länder gerichtet sind, werden die Sprengköpfe entfernt werden. O-Ton Goldgeier When NATO heads of state gathered to sign the NATO Russia founding act with president Boris Yeltsin which heralded a new era of cooperation few could have imagined that the ceremony would mark the end of good feelings rather than the beginning. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Als sich die Staatsoberhäupter der NATO versammelten, um mit Präsident Boris Jelzin die NATO-Russland-Gründungsakte zu unterzeichnen, die eine neue Ära der Zusammenarbeit einläuten sollte, konnten sich nur wenige vorstellen, dass diese Feierstunde nicht den Beginn guter Beziehungen, sondern vielmehr deren Ende markieren würde. Musik Sprecherin 1: Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Sprecherin 2: Die Samen des Misstrauens Russland und der Westen während Jelzin und Clinton Ein Feature von Andreas von Westphalen Sprecherin 1: Als sich die Sowjetunion Ende 1991 auflöste, sahen sich die USA als Sieger des Kalten Krieges. Russland fühlte sich ebenfalls als Sieger. Als Sieger gegen den Totalitarismus. Im Gegensatz zu sowjetischen Politikern war Boris Jelzin demokratisch legitimiert. 80 Prozent der Russen empfanden das Verhältnis zu den USA als positiv. Jelzin bezeichnete den ehemaligen Feind sogar als Verbündeten. Weder in Washington noch in Moskau stand zu diesem Zeitpunkt eine mögliche Erweiterung der NATO oben auf der Tagesordnung. Musik O-Ton Radchenko Russia emerged upon the ruins of that Soviet Union with lots of promises that there would be better life for everybody perhaps you know economic freedom political freedom liberalism. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Russland entstand auf den Trümmern der Sowjetunion mit vielen Versprechungen, dass es ein besseres Leben für alle geben würde, vielleicht wirtschaftliche Freiheit, politische Freiheit, Liberalismus. Musik Sprecherin 1: Prof. Sergey Radchenko von der Universität Cardiff. - Russland belasteten aber grundlegende Probleme: Von einem Tag auf den Nächsten fanden sich viele Millionen ethnische Russen außerhalb der Grenzen Russlands wieder, und verfügten nun teilweise nicht mehr über ihre vollen Bürgerrechte. Als Rechtsnachfolger musste Russland auch die Schulden der Sowjetunion übernehmen und war bereits durch die Wirtschaftskrise von 1990/91 massiv geschwächt. O-Ton Baranovsky The Soviet Union the USSR, a country which most Russian associated themselves with it had disappeared. Sprecher 5 Übersetzer Baranovsky Die Sowjetunion, die UdSSR, ein Land, mit dem sich die meisten Russen verbunden fühlten, war verschwunden. Sprecherin 1: Prof. Vladimir Baranovsky, Stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, Moskau. O-Ton Baranovsky The country which actually had proved to be unable to operate in the international system politically, economically. This was a kind of humiliation. Sprecher 5 Übersetzer Baranovsky Das Land, das sich faktisch als unfähig erwiesen hatte, im internationalen System politisch und wirtschaftlich zu agieren. Das war eine Art von Demütigung. Sprecherin 1: Nur wenige Tage nach der Auflösung der Sowjetunion lud Jelzin westliche Berater in praktisch jeden Zweig der Regierung ein. Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds sollten gemeinsam mit dem russischen Wirtschaftsminister die sogenannte "Schockstrategie" anwenden, den schnellen Übergang zur Marktwirtschaft durch Freihandelspolitik, völlige Preisliberalisierung und rasche Privatisierung von rund 225.000 Staats-Unternehmen. Atmo: Demonstrationen und Proteste gegen Armut und Wirtschaftspolitik O-Ton Radchenko The consequences were dire. The economic situation in Russia deteriorated dramatically. (...) In the early 1990s prices went through the roof.Tthere was hyperinflation. There was soaring unemployment. The consequences of this of course was great impoverishment of the population, poverty corruption and association that a lot of people developed thinking that this condition of near chaos was what democracy was about. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Die Folgen waren schrecklich. Die wirtschaftliche Situation in Russland verschlechterte sich dramatisch. In den frühen 1990er Jahren gingen die Preise durch die Decke, es gab eine Hyperinflation, die Arbeitslosigkeit stieg rasant. Die Folgen davon waren natürlich eine große Verarmung der Bevölkerung, Armut, Korruption, und eine Menge Leute entwickelten die Vorstellung, dieser Zustand des Beinahe-Chaos sei das, was Demokratie ausmacht. Sprecherin 1: Ein Drittel der Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze. Die Lebenserwartung von Männern sank von 1991 bis 94 um ganze sechs Jahre auf 57,5. O-Ton Radchenko What sort of memory can you carry from this decade? Very very poor memory. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Was für eine Erinnerung können Sie aus diesem Jahrzehnt mitnehmen? Eine sehr, sehr schlechte Erinnerung. O-Ton Goldgeier The feeling in Russia and for many in the United States was that in that crucial period (...) that the United States and its allies simply did not provide enough assistance to really help Russia with its transition to being an independent country that could potentially be a partner with the West. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Das Gefühl in Russland und für viele in den USA war, dass die USA und ihre Verbündeten in dieser entscheidenden Phase einfach nicht genug Unterstützung leisteten, um Russland wirklich bei seinem Übergang zu einem unabhängigen Land zu helfen, das potenziell ein Partner des Westens sein könnte. Sprecherin 1: Prof. James Goldgeier, Professor für Internationale Beziehungen an der American University in Washington, DC. O-Ton Sarotte Wenn die USA Ende 1991 angeboten hätte, die russischen Schulden in Höhe von 2,8 Milliarden US-Dollar zu erlassen, um Russland zu helfen, das hätte eine sehr positive Wirkung auf die russische Bevölkerung gehabt. Sprecherin 1: Prof. Mary Elise Sarotte, Center for European Studies an der Universität Harvard. Musik Atmo: Jubel über Wahl Clintons Sprecherin 1: Am 3. November 1992 gewann Bill Clinton die Wahl zum US-Präsidenten. Im Januar 1993 trat er sein Amt an. O-Ton Sarotte Es gab eine sehr enge Beziehung zwischen Clinton und Jelzin. Die Beziehung hatte sogar einen Namen: Bill und Boris. Sprecherin 1: Bill versprach Boris in ihrem ersten Telefonat: Sprecher 2 Clinton? Ich bin entschlossen, dass wir gemeinsam die engstmögliche Partnerschaft zwischen den USA und Russland erschaffen. Sprecherin 1: Kurz darauf kam auch Bewegung in die Frage nach der Erweiterung der NATO. Vaclav Havel, Präsident der Tschechischen Republik, die 1968 den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes erlebt hatte, überbrachte Clinton bei einer Unterredung eine klare Botschaft: Sprecher 1: Unser Hauptproblem ist, dass wir das Gefühl haben, in einem Vakuum zu leben. Deshalb wollen wir der NATO beitreten. Außerdem sind wir von unseren Werten und unserem Geist her ein Teil Westeuropas. Sprecherin 1: Dann traf Clinton Lech Walesa, Präsident Polens, das 1956 und 1980/81 mit der Gefahr einer sowjetischen Intervention konfrontiert gewesen war. Sprecher 1: Nach Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft haben wir alle Angst vor Russland. (...) Polen kann nicht ohne Verteidigung zurückgelassen werden. Wir brauchen den amerikanischen Schutz. Sprecherin 1: Ende August 1993 hieß Walesa Boris Jelzin in Warschau willkommen. Während eines mutmaßlich alkoholisierten Abendessens überzeugte er Jelzin der Aussage zuzustimmen, eine polnische Mitgliedschaft in der NATO stünde "nicht im Widerspruch zu den Interessen irgendeines Staates, auch nicht zu denen Russlands". Am nächsten Morgen versuchte Jelzin, seine Aussage zurückzunehmen, erfolglos. Als Walesa ihn fragte, ob Polen "ein souveränes Land" sei, bejahte Jelzin. Daraufhin erklärte Walesa, Polen würde "als souveränes Land" der NATO beitreten. Musik Sprecherin 1: 1993 gab es in der US-Regierung nur wenige Mitarbeiter, die für eine Osterweiterung waren. O-Ton Goldgeier There was mixed feeling at the State Department but anybody who worked on Russia issues at the State Department was likely to oppose the policy of NATO enlargement at that time because of concerns about the impact on Russia. - The opposition really existed at the Pentagon. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Im Außenministerium herrschten gemischte Gefühle, aber jeder, der sich im Außenministerium mit Russlandfragen befasste, war zu dieser Zeit wahrscheinlich gegen die Politik der NATO-Erweiterung, weil er Sorgen um die Konsequenzen für Russland hatte. Widerstand gab es vor allem im Verteidigungsministerium. Sprecherin 1: Dort herrschte die Sorge, dass eine Ausweitung der NATO mehr Verpflichtungen und höhere Ausgaben verursachen würde. Das Pentagon plädierte daher für eine "Partnerschaft für den Frieden". Das Ziel der "Partnerschaft für den Frieden" war, sowohl Russland als auch die mittel- und osteuropäischen Staaten in eine erweiterte militärische Zusammenarbeit einzubeziehen, während die Erweiterung der NATO-Mitgliederliste zurückgestellt würde. Eine Ausnahme im Pentagon bildete die Staatssekretärin für internationale Sicherheitsfragen Lynn Davis. Sie forderte in einem Memo an Außenminister Warren Christopher: Sprecherin 2: Wir sollten die Gelegenheit ergreifen, mit Jelzin und anderen wichtigen europäischen Staats- und Regierungschefs die Einzelheiten auszuarbeiten, um das Fundament für die langfristige Umgestaltung der NATO zu legen. Sprecherin 1: In diesem Dokument schlug sie sogar einen konkreten Zeitplan für die NATO-Osterweiterung vor: Sprecherin 2: Bis 1998: die Tschechische Republik, Polen, Ungarn und möglicherweise Bulgarien und Slowenien. Bis 2000: Rumänien, Albanien und die baltischen Staaten. Sprecherin 1: Die nächste geplante Stufe ist überraschend: Sprecherin 2: Bis 2005: die Ukraine, Belarus und Russland. Sprecherin 1: Dann traf am 15. September 1993 ein Brief Jelzins in Washington ein: Sprecher 3 / 2 Jelzin / Clinton Ich kann nicht umhin, auch unser Unbehagen darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Diskussionen über die Entwicklung der NATO immer häufiger um das Szenario einer quantitativen Erweiterung des Bündnisses um osteuropäische Länder drehen. (...) Es ist wichtig, zu berücksichtigen, wie unsere öffentliche Meinung auf einen solchen Schritt reagieren könnte. Nicht nur die Opposition, sondern auch gemäßigte Kreise würden dies zweifellos als eine Art Neo-Containment unseres Landes wahrnehmen, die im diametralen Gegensatz zu seiner natürlichen Aufnahme in den euro-atlantischen Raum stünde. Sprecherin 1: Es folgte ein erstaunlicher Hinweis: Sprecher 3: Jelzin Langfristig ist wohl nicht auszuschließen, dass auch wir der NATO beitreten. Aber vorerst ist das ein theoretischer Vorschlag. Sprecherin 1: Innenpolitisch war Jelzin unter Druck. Das Parlament, in dem die Kommunisten die Mehrheit innehatten, zeigte immer mehr Widerstand gegen Jelzins Wirtschaftsreformen. Sprecherin 1: Am 21. September 1993 traf Jelzin eine umstrittene Entscheidung. Anschließend telefonierte er mit Clinton. Sprecher 3 Jelzin Ich habe heute ein Dekret über die Wahlen zu einer neuen demokratischen Versammlung unterzeichnet, die am 11. und 12. Dezember stattfinden sollen. Bis dahin werden die Handlungen des Obersten Sowjets und des Kongresses keine Wirkung haben. Alles wird durch ein Präsidialdekret geregelt. Alle demokratischen Kräfte unterstützen mich. Sprecherin 1: Noch in der Nacht kam das russische Verfassungsgericht zusammen und stellte fest, Jelzin habe gegen die Verfassung verstoßen und könne angeklagt werden. Das Parlament entließ ihn und seine wichtigsten Minister. Atmo: Straßenschießereien Sprecherin 1: In Moskau gingen Zehntausende Menschen auf die Straße, um das Parlament zu unterstützen und gegen Jelzins Regierung zu protestieren. Es kam zu blutigen Zusammenstößen. Am 3. Oktober forderte der Parlamentspräsident die Stürmung des Kremls und die Inhaftierung Jelzins. Um 16:00 Uhr rief Jelzin den Ausnahmezustand in Moskau aus. Atmo: Sturm auf das Parlament Sprecherin 1 Sergey Radchenko. O-Ton Radchenko In the end Yeltsin resorted to force and opened fire on the parliament and of course that sent a very bad message. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Zuletzt griff Jelzin zur Gewalt und eröffnete das Feuer auf das Parlament, was natürlich eine sehr schlechte Botschaft war. Sprecherin 1: Eben jenes Parlament, vor dem Jelzin 1991 auf einen Panzer geklettert und für den Schutz der noch jungen sowjetischen Demokratie eingetreten war. 187 Menschen starben nach offiziellen Angaben. Darunter auch Abgeordnete. Am folgenden Tag telefonierten Jelzin und Clinton wieder: Musik Sprecher 2 Clinton? Guten Abend, Boris. Ich wollte dich anrufen und meine Unterstützung zum Ausdruck bringen. Ich habe die Ereignisse genau verfolgt und versucht, dich so gut wie möglich zu unterstützen. O-Ton Radchenko Bill Clinton felt that Boris Yeltsin was the best he had in Russia. Therefore if it wasn't Boris Yeltsin than who? Maybe you know those Reds and Browns. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Bill Clinton war der Meinung, dass Boris Jelzin der Beste war, den es für ihn in Russland gab. Daher, wenn es nicht Boris Jelzin war, wer dann? Vielleicht die Kommunisten und die Nationalisten? Sprecherin 1: Jelzins Gewalteinsatz sicherte den Erhalt einer pro-westlichen Administration im Kreml, aber sie hinterließ Russland auch ein superpräsidiales politisches System und führte zudem zum "Verlust des Glaubens an die Demokratie" in Russland. Musik Sprecherin 1: US-Außenminister Warren Christopher traf sich wenige Tage später mit Jelzin in Moskau. Diese Unterredungen liegen heute in Form von Gesprächsprotokollen vor. Sprecher 1 Christopher Als Ergebnis unserer Studie wird dem NATO-Gipfel eine "Partnerschaft für den Frieden" empfohlen. Sprecherin 1: Diese Partnerschaft, so Warren Christopher, solle allen Ländern der NATO, Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, allen postsowjetischen Ländern sowie den neutralen Staaten Europas offenstehen. Sprecher 1 Christopher Es wird keinen Versuch geben, jemanden auszuschließen, und es wird zurzeit auch kein Schritt unternommen, um jemanden zu bevorzugen. Sprecherin 1 Jelzin aufspringend. Sprecher 3 Jelzin Habe ich das richtig verstanden, dass alle Länder Mittel- und Osteuropas und die postsowjetischen Länder also gleichberechtigt sind und es sich hier um eine Partnerschaft und nicht um eine Mitgliedschaft handelt? Sprecher 1 Christopher Ja, das ist der Fall. Es wird nicht einmal einen assoziierten Status geben. Sprecher 3 Jelzin Das ist eine brillante Idee, ein Geniestreich. Das dient dazu, all die Spannungen abzubauen, die wir jetzt in Bezug auf die osteuropäischen Staaten und ihre Bestrebungen in Bezug auf die NATO haben. Es wäre vor allem für Russland ein Thema gewesen, wenn es uns in einem Status zweiter Klasse belassen hätte. Jetzt, nach Ihrer neuen Idee, wären wir alle gleichberechtigt, und es würde eine gleichberechtigte Teilnahme auf Basis dieser Partnerschaft sicherstellen. Sprecherin 1: Erst jetzt brachte Christopher einen entscheidenden Einwurf: Sprecher 1 Christopher Zu gegebener Zeit werden wir die Frage der Mitgliedschaft als eine längerfristige Möglichkeit betrachten. Es wird eine Entwicklung geben, die auf der Herausbildung einer Gewohnheit der Zusammenarbeit basiert, aber über einen längeren Zeitraum, und auch dies wird auf der Teilnahme an der Partnerschaft basieren. Sprecherin 1: Laut US-amerikanischem Gesprächsprotokoll reagiert Jelzin an dieser Stelle nicht. Das russische Protokoll ist bisher nicht veröffentlicht. Dieser Augenblick ihres Treffens ist entscheidend. Für Jelzin ersetzte die "Partnerschaft für den Frieden" auf absehbare Zeit die mögliche NATO-Osterweiterung. Für die USA war diese Entscheidung aber noch nicht getroffen. Musik Sprecherin 1: Im Dezember 1993 fand die vorgezogene russische Parlamentswahl statt. Sprecher 7: Einige von uns waren schon auf den Knien. Wir sind beleidigt, gedemütigt. Sprecherin 1: Die Botschaft des Rechtsextremen Wladimir Schirinowski. Seine Liberal-Demokratischen Partei wurde mit fast 23 Prozent der Stimmen zur stärksten Kraft. Ganze sieben Prozentpunkte mehr als die Partei Jelzins, die nur knapp vor der Kommunistischen Partei landete. Musik Sprecher 1: Wir haben nicht Jahre damit verbracht, Solidarnosc zu unterstützen, nur um die Demokratie in Polen zu verlieren. Wir haben nicht die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei gefeiert, nur um zu sehen, wie diese Geburt der Freiheit durch Vernachlässigung stirbt. (...) Die neue NATO muss sich um die Belange der Nationen kümmern, die zwischen Russland und Westeuropa liegen. Sprecherin 1: US-Vizepräsident Al Gore, Anfang 1994. Wenige Tage später, am 10. Januar 1994, beschloss die NATO die "Partnerschaft für den Frieden". Anschließend flog Clinton nach Prag. Dort traf Clinton die politischen Spitzen Polens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns. O-TON Bill Clinton While the Partnership is not NATO membership, neither is it a permanent holding room. It changes the entire NATO dialog so that now the question is no longer whether NATO will take on new members but when and how. Sprecher 2 Clinton? Während die Partnerschaft zwar keine NATO-Mitgliedschaft ist, stellt sie aber auch kein ständiges Wartezimmer dar. Sie verändert den gesamten NATO-Dialog, so dass die Frage jetzt nicht mehr lautet, ob die NATO neue Mitglieder aufnimmt, sondern wann und wie. Sprecherin 1: Befürworter einer NATO-Osterweiterung waren begeistert und wiederholten fortan den Slogan "Nicht ob, sondern Wann", wobei sie Clintons "Wie" unter den Tisch fallen ließen. Atmo: Sarajevo unter Beschuss O-Ton Sarotte Man kann die Geschichte der Nato-Osterweiterung nicht verstehen, ohne die Geschichte des Bosnien-Krieges miteinzubeziehen. Sprecherin 1: Mary Elise Sarotte. - Seit 1992 war die Republik Bosnien und Herzegowina im Chaos versunken. Im Konflikt zwischen den drei wichtigsten ethnischen Gruppen - den bosnischen Muslimen, den Serben und den Kroaten - kam es zu Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und zu ethnischen Säuberungen, wie sie der Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. (Atmo: Belagertes Sarajevo ) Sprecherin 1: Die USA hatten lange den seit 1991 tobenden Jugoslawienkonflikt als europäische Angelegenheit betrachtet. Nachdem Europa sich jedoch als nicht in der Lage erwies, den Konflikt beizulegen, nahm sich Clinton des Themas an. Seine Lösung: die Aufhebung des Waffenembargos gegen bosnische Muslime, während gleichzeitig selektive Luftangriffe gegen serbische Stellungen geflogen werden sollten. Jelzin lehnte einen Militäreinsatz gegen Serbien, das viele Russen als christlich-orthodoxes Bruderland betrachteten, entschieden ab: Sprecher 3 Jelzin Es gibt zu viel Blutvergießen. Wir brauchen einen weiteren politischen Versuch. Sprecherin 1: Die unterschiedlichen Positionen verhärteten sich. Nach einem serbischen Angriff auf das belagerte Sarajevo, der 68 Menschen das Leben kostete, verkündete die NATO ein Ultimatum, ohne mit Russland Rücksprache zu halten: Entweder die schwere Artillerie würde aus Sarajevo abgezogen, oder es würden Angriffe geflogen. Erst zwei Tage später rief Clinton bei Jelzin an. Angeblich wegen technischer Verbindungsschwierigkeiten. Jelzin warnte Clinton: Sprecher 3 Jelzin Wir sollten in dringenden Angelegenheiten, die sogar Atomwaffen beinhalten könnten, in engem Kontakt bleiben. Sprecherin 1: In dieser explosiven Situation startete Russland eine diplomatische Friedens-Offensive. O-Ton Radchenko Certain Russian diplomats wanted to show that they had something to contribute to this process as you know serving as the superpower patrons or great power patrons of the regime in Belgrade and exercising influence (in bringing) in helping political settlement in this particular way. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Bestimmte russische Diplomaten wollten zeigen, dass sie etwas zu diesem Prozess beizutragen hatten, weil man als Großmacht Schutzherrin des Regimes in Belgrad war und Einfluss ausüben konnte, um bei einer politischen Lösung zu helfen. Sprecherin 1: Die bosnischen Serben erklärten sich bereit, den Flughafen von Tuzla zu öffnen, der für die Lieferung von humanitärer Hilfe nach Bosnien und Herzegowina von entscheidender Bedeutung war. Daraufhin bot Jelzin Clinton an, eine Konferenz zur Lösung des Jugoslawienproblems zu organisieren. Clinton ging darauf nicht ein. O-Ton Radchenko Now what they realized very soon was that they were somehow ignored in this process. Not entirely ignored I think that the Russians at least got a hearing and on occasion were even able to hammer out particular agreements or settlements to avoid NATO air strikes for example against targets. But on the other hand they felt that they were there almost like for decoration. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Was sie nun sehr bald merkten, war, dass sie in diesem Prozess ignoriert wurden. Nicht völlig ignoriert, ich denke, dass die Russen zumindest Gehör fanden und gelegentlich sogar in der Lage waren, bestimmte Vereinbarungen oder Kompromisse auszuhandeln, um zum Beispiel Luftangriffe der NATO zu vermeiden. Aber auf der anderen Seite hatten sie das Gefühl, als ob sie fast nur zur Dekoration da waren. Sprecherin 1: NATO-Kampfflugzeuge schossen vier serbische Flugzeuge ab, die Munitionsfabriken in Bosnien bombardierten. Dies war der erste Kampfeinsatz der NATO in ihrer Geschichte. Da die Aktion aber der Durchsetzung der UNO-Flugverbotszone über Bosnien diente, der Moskau zuvor zugestimmt hatte, protestierte Russland nicht. Atmo: Luftschlag O-Ton Sarotte Das Einsetzen von NATO verlieh der Allianz neues Leben nach dem Ende des Kalten Krieges. Sprecherin 1: Dann flog die NATO einen Luftangriff gegen serbische Stellungen, die die Stadt Gorazde belagerten. Wiederum ohne zuvor Moskau zu konsultieren. Nach dem Angriff rief Clinton Jelzin an, und entschuldigte sich, er habe gedacht, "die UNO habe alle informiert." O-Ton Radchenko The West was not really willing to listen to Russia when it came to crucial questions of how to effect political settlement and of course as we know the Dayton accord which put an end to this very bloody war were pretty much ironed out by the Americans with very minimal Russian involvement. (19'') Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Der Westen war nicht wirklich gewillt, auf Russland zu hören, wenn es um entscheidende Fragen ging, wie man eine politische Lösung herbeiführen könnte. Und natürlich wurde das Dayton-Abkommen, das diesen sehr blutigen Krieg beendet hat, bekanntlich von den Amerikanern ausgearbeitet - mit sehr geringer russischer Beteiligung. Musik Sprecher 1: 1994 war das Jahr, in dem die Clinton-Regierung den Rubikon überschritt, als sie beschloss, die NATO zu erweitern. Sprecherin 1: So die rückblickende Einschätzung von Ronald Asmus, Mitarbeiter des US-Außenministeriums. Tatsächlich kam in diesem Jahr Tempo in die Frage einer möglichen Osterweiterung. Im Frühjahr hatte der republikanisch geführte US-Kongress den "NATO Expansion Act" verabschiedet, der den Präsidenten autorisierte, Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei beim Übergang zu einer NATO-Mitgliedschaft bis 1999 zu unterstützen. Clinton wurde vorgeworfen, zu soft und naiv gegenüber Russland zu sein. Zudem forderten die Republikaner eine konkrete Antwort nach dem Wann und einen Plan zu einer schnellen NATO-Osterweiterung. In Russland verdunkelte sich die Stimmung. Atmo: Jubel Sprecherin 1: Die Republikaner gewannen die Midtermwahlen, und der Druck auf Clinton stieg weiter. Am 1. Dezember 1994 kündigten die Außenminister der NATO-Länder eine Studie zur NATO-Osterweiterung an: Sprecher 1: Wir erwarten und würden eine NATO-Erweiterung begrüßen, die bis zu den demokratischen Staaten in unserem Osten reichen würde. Sprecherin 1: Jelzin forderte daraufhin seinen Außenminister auf, die auf dem NATO-Treffen für denselben Tag vorgesehene Unterschrift zum Eintritt Russlands in die "Partnerschaft für den Frieden" zu verweigern. Musik Sprecherin 1: Wenige Tage später schrieb Jelzin an Clinton. Sprecher 3 Jelzin Wir haben mit ihnen vereinbart, dass es keine Überraschungen geben wird, dass wir zunächst diese Phase der Partnerschaft durchlaufen sollten, während Fragen der weiteren Entwicklung der NATO nicht ohne Berücksichtigung der Meinung und Interessen Russlands entschieden werden sollten. Die Verabschiedung eines beschleunigten Zeitplans, der vorsieht, die Verhandlungen mit den Kandidaten bereits Mitte des nächsten Jahres aufzunehmen, wird nicht nur in Russland als Beginn einer neuen Spaltung Europas interpretiert werden. O-Ton Sarotte Diese Partnerschaft für den Frieden, (...) sie ist erstaunlich schnell über Bord geworfen von ihren Gegnern, und Jelzin bekam nicht mit, dass das passiert war. (...) Er meinte, das sei eine Täuschung, was es meines Erachtens nicht war. Aber es gab ja eine rasante Entwicklung in eine andere Richtung und Jelzin hat diese rasante Entwicklung nicht erkannt. Sprecherin 1: Im Dezember 1994 versammelten sich mehr als fünfzig Staats- und Regierungschefs in Budapest, um die Aufwertung der KSZE in die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) zu beschließen. Insbesondere Russland hoffte auf eine bedeutendere Rolle der OSZE in der Zukunft und hatte in den letzten beiden Jahren hierzu eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Clinton erklärte in seiner Rede, neue Mitglieder würden Land für Land schrittweise und offen der NATO beitreten können. O-TON Bill Clinton: NATO will not automatically exclude any nation from joining. At the same time, no country outside will be allowed to veto expansion. Sprecher 2 Clinton? Die NATO wird kein Land automatisch vom Beitritt ausschließen. Gleichzeitig wird keinem Land außerhalb der NATO erlaubt, ein Veto gegen die Erweiterung einzulegen. Sprecherin 1: Anschließend sprach Jelzin vor den versammelten Staatschefs: O-TON Boris Jelzin: Europe, even before it has managed to shrug off the legacy of the cold war, is at risk of plunging into a cold peace. History demonstrates that it is a dangerous illusion to suppose that the destinies of continents and of the world community in general can somehow be managed from one single capital. Why are you sowing the seeds of mistrust? Sprecher 3 Jelzin Noch bevor es Europa gelungen ist, das Erbe des Kalten Krieges abzuschütteln, läuft es Gefahr, in einen kalten Frieden zu stürzen. (...) Die Geschichte zeigt, dass es eine gefährliche Illusion ist, anzunehmen, die Geschicke der Kontinente und der Weltgemeinschaft im Allgemeinen könnten irgendwie von einer einzigen Hauptstadt aus gesteuert werden. (...) Warum säen Sie die Samen des Misstrauens? Atmo: Tschetschenien-Krieg Sprecherin 1: Eine Woche nach dem KSZE-Gipfel marschierten russische Soldaten in die abtrünnige Republik Tschetschenien ein. Atmo: Feierlichkeiten in Moskau Sprecherin 1: Mai 1995. Obwohl Clinton dafür kritisiert wurde, ein Land zu besuchen, dass sich seit einem halben Jahr in einem Krieg befand, flog er nach Moskau, um den offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs beizuwohnen. Anschließend traf er Jelzin: Sprecher 3 Jelzin Ich möchte ein klares Verständnis von deiner Idee der NATO-Erweiterung bekommen, weil ich jetzt nichts anderes als Demütigung für Russland sehe, wenn du weiter machst. Was meinst du, wie es für uns aussieht, wenn ein Block weiterbesteht, während der Warschauer Pakt abgeschafft wurde? Es ist eine neue Form der Einkreisung, wenn sich der eine überlebende Block des Kalten Krieges bis an die Grenzen Russlands ausdehnt. Viele Russen haben ein Gefühl der Angst. Für mich wäre es ein Verrat am russischen Volk, wenn ich zustimmen würde, dass sich die Grenzen der NATO in Richtung Russland erweitern. Ich wäre bereit, über eine Alternative zu sprechen: Sagen wir, dass Russland jedem Staat, der der NATO beitreten will, eine Garantie gibt, dass wir seine Sicherheit nicht verletzen werden. Auf diese Weise hätten sie vom Osten nichts zu befürchten. O-Ton Radchenko This was the last effort on Yeltsin's part to derail NATO enlargement. Sprecher 7 Übersetzer Radchenko Dies war der letzte Versuch Jelzins, die NATO-Erweiterung zu verhindern. Sprecherin 1 Sergey Radchenko. O-Ton Goldgeier The United States has the power to do what it wants. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Die USA haben die Macht zu tun, was sie wollen. Sprecherin 1: James Goldgeier. O-Ton Goldgeier There's really not much Russia can do about it and Clinton makes very clear what the policy is and how the United States is going to proceed and Yeltsin is not going to have the ability to change the policy. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Es gibt wirklich nicht viel, was Russland dagegen tun kann, und Clinton macht sehr deutlich (...), was die Strategie ist und wie die USA vorgehen werden, und Jelzin (...) hat nicht die Möglichkeit, die Politik zu ändern. Sprecher 2 Clinton Unser Ziel ist es, dass die USA in Europa bleiben und ein geeintes, integriertes Europa fördern. Ich schlage Folgendes vor: Erstens, dass wir aus der "Partnerschaft für den Frieden" das Beste machen, was wir können (...). Zweitens, dass es eine Rolle für Russland in der "Partnerschaft für den Frieden" gibt und eine klare Aussage der USA, dass für Russland eine NATO-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen werden sollte. Drittens, dass es eine besondere Beziehung zwischen Russland und der NATO gibt (...). (...) Es gibt einen weiteren Punkt, den du verstehen solltest. Du solltest meine Herangehensweise an die NATO im Zusammenhang mit einer stärkeren Integration Russlands in andere internationale Institutionen, wie die G-7, sehen. (...). Ich möchte für euch eine klare Partnerschaft mit dem Westen, die die rechtmäßige Rolle Russlands schützt und eure Sicherheit respektiert. Ich will euren Interessen nicht schaden. Und ich möchte, dass die USA sicherstellen, dass euch alle Türen offenstehen. Aber ihr müsst durch die Türen gehen, die wir für euch öffnen. Deshalb habe ich dich gedrängt, die Dokumente für die "Partnerschaft für den Frieden" zu unterzeichnen und den NATO-Russland-Dialog zu beginnen. (...) Sprecherin 1 Nach einer langen Pause: Sprecher 3 Jelzin Ich verstehe deine Argumentation. Aber Bill, es geht hier nicht nur um eine strategische Frage, sondern um eine Überlagerung von politischen Problemen - dieses Jahr die Parlamentswahlen, nächstes Jahr die Präsidentschaftswahlen. Eine falsche Bewegung jetzt könnte alles ruinieren. Also bitte verschieb dieses Thema, wenn nicht bis zum Jahr 2000, dann zumindest für die nächsten Jahre, bis wir beide die Wahlen hinter uns gebracht haben. (...) Sprecherin 1: Clinton verwies darauf, dass er wegen seiner eigenen Wiederwahl im folgenden Jahr unter Druck stehe. Die Republikaner drängten auf eine schnelle NATO-Osterweiterung, um entscheidende Bundesstaaten mit starker osteuropäischer Diaspora zu gewinnen. Sprecher 2 Clinton ?Lass es mich deutlich sagen, Boris: Ich feilsche nicht mit dir. (...) Wir werden bei unserem Plan bleiben, bei unserer Entscheidung - keine Beschleunigung, keine Verlangsamung (...). Du kannst sagen, dass du gegen eine Beschleunigung bist - ich habe dir gesagt, dass wir das nicht machen werden. Aber fordere auch nicht von uns, langsamer zu werden, sonst müssen wir immer wieder "Nein" sagen. Sprecherin 1: Drei Wochen später unterzeichnete Russland seine Teilnahme an der "Partnerschaft für den Frieden". Musik Sprecherin 1: 1996 hatte Jelzin ein drängenderes Problem. Bei den Mitte Juni anstehenden Präsidentschaftswahlen lag er in den Umfragen weit zurück. Im einstelligen Prozentbereich. Einen Monat vorher telefonierte er mit Clinton: Sprecher 3 Jelzin Bill, für meinen Wahlkampf brauche ich für Russland dringend einen Kredit von 2,5 Milliarden Dollar (...) Ich brauche Geld, um Renten und Löhne zu bezahlen. Ohne eine Lösung in dieser Frage wird es sehr schwierig sein, in den Wahlkampf zu gehen. Sprecher 2 Clinton? Ich werde das mit dem Internationalen Währungsfond und mit einigen unserer Freunde abklären und sehen, was getan werden kann. Sprecherin 1: Die Gefahr einer Niederlage Jelzins und eines Wahlsiegs der Kommunisten wäre auch für Clintons eigene Wiederwahl im November eine Katastrophe gewesen. Der mögliche Vorwurf: Sprecher 1 "Reagan und Bush besiegten den Kommunismus; Bill Clinton brachte ihn zurück." Sprecherin 1 Jelzin brauchte Hilfe und Clinton half. Auch ein amerikanisches Wahlkampfteam unterstützte ihn. Jelzin gewann die Stichwahl gegen den Kommunisten Sjuganow überraschend deutlich. Musik Sprecherin 1: Wenig später musste Clinton sein Amt gegen Bob Dole verteidigen. Der republikanische Herausforderer kritisierte Clintons zögerliche Haltung zur NATO-Erweiterung scharf und warb seinerseits mit einem konkreten Plan zur Osterweiterung. Clinton verkündete im eigenen Wahlkampf vor Vertretern der polnischen Diaspora: O-TON Clinton Today I want to state America's goal. By 1999, NATO's fiftieth anniversary and ten years after the fall of the Berlin Wall, the first group of countries we invite to join should be full-fledged members of NATO. Sprecher 2 Clinton Heute möchte ich das Ziel Amerikas bekunden. Bis 1999, zum fünfzigsten Jahrestag der NATO und zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, soll die erste Gruppe von Ländern, die wir zum Beitritt einladen, vollwertige Mitglieder der NATO sein. Sprecherin 1: Clinton wurde mit deutlichem Vorsprung wiedergewählt. Atmo: Jubel Sprecherin 1: Im März 1997 startete Jelzin bei einem Gipfeltreffen noch einmal eine Initiative: Sprecher 3 Jelzin Unsere Position hat sich nicht geändert. Es bleibt ein Fehler, dass sich die NATO nach Osten bewegt. Aber ich muss Schritte unternehmen, um die negativen Folgen für Russland zu mildern. Ich bin bereit, ein Abkommen mit der NATO zu schließen, nicht weil ich es will, sondern weil es nicht anders geht. Sprecherin 1: Jelzin bat um die Zusicherung, dass postsowjetische Länder niemals Teil der NATO werden würden und bot im Gegenzug eine mündliche Zusicherung, deren Sicherheit zu garantieren. Clinton lehnte ab. Was Russland für die NATO-Osterweiterung erhielt, war trotz seiner verhältnismäßig geringen Wirtschaftskraft die Aufnahme in den Club der G-7-Länder, der nun G8 heißen sollte, und in die Welthandelsorganisation. Musik Sprecherin 1: Im Juli 1997 wurde auf dem NATO-Gipfel in Madrid offiziell die NATO-Osterweiterung verkündet und Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik Beitrittsverhandlungen angeboten. Atmo: Heftige Demonstrationen in Russland Sprecherin 1: Zu diesem Zeitpunkt hatte die Finanzkrise Asiens auch Russland erreicht. Bis Mitte 1998 büßte der russische Aktienmarkt vier Fünftel seines Wertes ein. Der Wechselkurs des Rubel geriet unter Druck, und der russische Staat zusehends in eine Schuldenfalle. Der russische Wirtschaftswissenschaftler Andrei Illarionov erklärt im Rückblick: Sprecher 1: Die schwerwiegendste ideologische Folge der Krise war eine starke Verschiebung der öffentlichen Meinung. Die Worte "Demokratie", "Reformen" und "liberal" sowie die damit verbundenen Begriffe und Personen wurden diskreditiert. Die Ideen der Marktwirtschaft, des Liberalismus und der Freundschaft mit dem Westen wurden ernsthaft unterminiert. Sprecherin 1: Am 17. August 1998 gab Jelzin, der in seiner zweiten Amtszeit sehr häufig krank war, den Rubelkurs frei und die Krise brach offen aus. Der Finanzinvestor George Soros warnte, dass sich Russland nun im Endstadium befände. Am selben Tag erreichte eine andere Krise ihren Höhepunkt. Bill Clinton musste vor der Grand Jury aussagen und den Vorwurf entkräften, dass er das US-amerikanische Volk mit seiner Versicherung, "keinen Sex" mit der Praktikantin Monica Lewinsky gehabt zu haben, belogen habe. Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen rückte aus dem öffentlichen Interesse. Musik Sprecherin 1: Am 12. März 1999 wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik neue Mitglieder der NATO. Sprecher 1: Das wichtigste Ereignis, das Polen seit dem Beginn des Christentums widerfahren ist. Sprecherin 1: So der polnische Außenminister Bronislaw Geremek. Atmo: Kosovo-Krieg O-Ton Goldgeier The Kosovo war is incredibly important. IThe United States with its NATO allies went to war against Serbia which was a Russian ally. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Der Kosovo-Krieg ist unglaublich wichtig. Die Vereinigten Staaten zogen mit ihren NATO-Verbündeten in den Krieg gegen Serbien, das ein russischer Verbündeter war. O-Ton Baranovsky I think that this was actually the most important point in the changing attitude of Russians towards NATO. Sprecher 5 Übersetzer Baranovsky Ich denke, dass dies tatsächlich der wichtigste Punkt für die veränderte Haltung der Russen gegenüber der NATO war. Sprecherin 1: James Goldgeier und Vladimir Baranovsky. O-Ton Baranovsky Before this it was possible to argue in favor of NATO relations with NATO in positive forms. After that it was very difficult to find some serious arguments against the accusation in address to NATO that it was an organization which actually was behind the real war in the center of Europe. Sprecher 5 Übersetzer Baranovsky Davor war es noch möglich, zustimmend für gute Beziehungen zur NATO zu argumentieren. Danach war es sehr schwierig, ernsthafte Argumente gegen den Vorwurf zu finden, die NATO sei die Organisation, die tatsächlich hinter dem realen Krieg in der Mitte Europas stehe. Sprecherin 1: Im Kosovo-Konflikt, der im Frühling 1998 ausgebrochen war, waren Clinton und seine europäischen Amtskollegen überzeugt, die NATO müsse Serbien bombardieren, um Präsident Slobodan Milosevic an den Verhandlungstisch zu zwingen. Jelzin war strikt dagegen und betrachtete die Krise im Kosovo als innere Angelegenheit eines souveränen Landes. Wegen Russlands Vetorecht im UN-Sicherheitsrat war ein Mandat für einen Militäreinsatz durch die UN nicht zu erwarten. O-Ton Goldgeier And going to war without U. N. security council authorization highlighted Russia's weakness. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Den Krieg ohne die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates zu beginnen, machte Russlands Schwäche deutlich. Sprecherin 1: Knapp zwei Wochen nach dem Beitritt von Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn entschloss sich die NATO zur Bombardierung Belgrads. Ohne Russland zu konsultieren. Ohne eine Entscheidung der UN abzuwarten, dem einzigen internationalen Gremium in dem Russland noch Gewicht hatte. O-Ton Sarotte Es gab natürlich enormes Leiden damals im Kosovo. Und es war klar, dass der Westen etwas dagegen tun müsste. Aber das Einsetzen der NATO so kurz nach Vollzug der NATO-Osterweiterung schien ein Zeichen für Russen zu sein, dass NATO zukünftig keine Grenzen respektieren würde. (...) Und auch sogar Russland Opfer werden könnte. Sprecherin 1: Unmittelbar vor Beginn der Luftschläge rief Clinton Jelzin an und versuchte, Verständnis für die Entscheidung zu gewinnen. Jelzin antwortete: Sprecher 3 Jelzin Ich erinnere mich, wie schwierig es für mich war, zu versuchen, die Köpfe unseres Volkes, die Köpfe der Politiker in Richtung Westen, in Richtung der USA zu drehen, aber es ist mir gelungen, das zu tun. - Und jetzt, all das zu verlieren! Nun, da es mir nicht gelungen ist, den Präsidenten zu überzeugen, bedeutet das, dass sich unsere künftigen Kontakte sehr, sehr mühsam gestalten werden, sofern wir den Kontakt überhaupt weitererhalten können. Auf Wiederhören. Atmo: Bombardement Sprecherin 1: 90 Prozent der Russen hielten im April 1999 das NATO-Bombardement für einen Fehler. Zwei Drittel sahen die NATO als den eigentlichen Aggressor im Kosovo-Krieg. Musik Sprecherin 1: Auf dem NATO-Gipfel im Frühjahr 1999 verabschiedete die NATO den sogenannten Membership Action Plan, der den Beitrittsprozess zur NATO regelte. Sieben Länder stellten Anträge: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Die zweite Runde der NATO-Osterweiterung war eröffnet. - In ihrem letzten Telefonat als Präsidenten dankte Bill Boris: Sprecher 2 Clinton Du hast dein Land durch eine historische Zeit geführt und du hinterlässt ein Vermächtnis, das die Russen für die kommenden Jahre besser dastehen lässt. (...) Boris, ich glaube, dass die Historiker sagen werden, dass du der Vater der russischen Demokratie warst... Sprecherin 1: Jelzin beendete ihr Gespräch, wie er es in den vergangenen sieben Jahren öfters getan hatte: Sprecher 3 Jelzin Ich möchte Dich aus tiefstem Herzen umarmen. O-Ton Goldgeier By the end of the 1990s, the mood in U.S.-Russian relations had more affinity with the cold war era than with the more optimistic times in 1991. Sprecher 6 Übersetzer Goldgeier Ende der 1990er Jahre hatte die Stimmung in den amerikanisch-russischen Beziehungen mehr Ähnlichkeit mit der Ära des Kalten Krieges als mit den optimistischeren Zeiten von 1991. Sprecherin 1: 80 Prozent der Russen hatten nun eine negative Meinung von den USA. Musik O-Ton Sarotte Es gab damals die Möglichkeit einer besseren Zukunft für ganz Europa inklusive der post sowjetischen Republiken. O-Ton Baranovsky Actually this was a failure by United States, European powers, major European powers and Russia. They all failed to find an appropriate place for Russia in this emerging architecture in Europe. Sprecher 5 Übersetzer Baranovsky Tatsächlich haben die USA, die wichtigen europäischen Mächte und Russland versagt. Sie alle haben es versäumt, einen angemessenen Platz für Russland in dieser neu entstehenden Architektur Europas zu finden. O-Ton Sarotte Die 90er Jahren waren an und für sich eine neue Zeit der Gnade und Geschenk. Die Zeit nach dem Kalten Krieg (...) und ich meine, wir wussten (...), diese Gnade, dieses Geschenk nicht zu schätzen. Den Fehler dürfen wir nicht noch mal machen. Sprecherin 2 Die Samen des Misstrauens Russland und der Westen während Jelzin und Clinton Ein Feature von Andreas von Westphalen mit Prof. Vladimir Baranovsky, Prof. James Goldgeier, Prof. Sergey Radchenko, Prof. Mary Elise Sarotte. Wissenschaftliche Beratung: Dr. Christian Nünlist. Es sprachen: Sigrid Burkholder, Josef Tratnik, Daniel Berger, Tom Jacobs, Anja Gawlick, Gerd Daaßen, Ralf Drexler und Carlos Lobo Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anton Blank Regie: Fabian von Freier Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021. LITERATUR: Goldgeier, James: Not Whether But When. The U.S Decision to Enlarge NATO Power and Purpose: U.S. Policy toward Russia After the Cold War Hill, William:No place for Russia. European Security Institutions Since 1989 Klein, Naomi:Die Schock-Strategie Krastev, Ivan:Europadämmerung. Krotkin, Stephen:Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970-2000 Sakwa, Richard:Russia against the Rest. Spohr, Kristina: Wendezeit: Die Neuordnung der Welt nach 1989 Ther, Philippp:Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent ARTIKEL: Adomeit, Hannes:NATO's Eastward Enlargement. What Western Leaders Said Goldgeier, James:Promises Made, Promises Broken Bill and Boris: A Window Into a Most Important Post- Cold War Relationship Goldgeier, James: und Shifrinson, Joshua: Evaluating NATO enlargement: scholarly debates, policy Kozyrew, Andrei: Russia and NATO Enlargement Marten, Kimberly:Reconsidering NATO expansion: a counterfactual analysis Nünlist, Christian:Contested History: Rebuilding Trust OECD Back to Diplomacy Radchenko, Sergey: 'Nothing but humiliation for Russia': Moscow and NATO's eastern enlargement, 1993-1995 Russia and the West - the path not taken Sarotte, Mary Elise:How to Enlarge NATO Perpetuating U.S. Preeminence The Convincing Call from Central Europe: Let Us into NATO Savranskaya, Svetlana: Yeltsin and Clinton Trenin, Dmitri:Deutschland und Russland: Von der Entfremdung zu einer neuen Nachbarschaft Zagorski, Andrei:Russia and NATO in the 1990s 31 32