Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Heimkehr Der Weg der Sinti-Familie Reinhardt von Auschwitz nach Köln Autorin: Alexa Hennings Regie: Anna Panknin Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 29.3.2021, 19.15 Uhr Besetzungsbüro Ton und Technik: Eva Pöpplein und Thomas Widdig Sprecherin: Kerstin Fischer Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Philipp Reinhardt (1992) Wir sind weggekommen und sind wieder zurückgekommen, weil wir haben ja gedacht, wenn Verwandte überlebt haben, dann kommen sie immer auf den Ort zurück, wo sie weggekommen sind. Sonst hätten wir keinen mehr wiedergesehen. Wir sollten erst nach dem Krieg, wie wir aus dem Lager kamen, nach Amerika mit dem Zug, da waren nur Häftlinge. Und wir waren die einzige Familie Zigeuner. Der Zug fuhr bis Bonn. Das war ein Sonderzug. Und da hat mei Vater gesagt, wir steigen hier raus und dann gehen wir nach Köln. Und da war ein amerikanischer Major, der hat zu meinem Vater gesagt: Herr Reinhardt, schauen Sie mal, wie könnt ihr denn hier aussteigen, hier ist alles kaputt! Jetzt haben Sie fünf Jahre gelitten und jetzt fängt das Elend wieder an! Das geht nachher weiter mit Flugzeugen nach Amerika und dann wird für uns gesorgt. Natürlich, wenn wir nach Amerika gefahren wären, dann hätte die andere Verwandtschaft gedacht, wir sind alle tot. Ansage Die Heimkehr. Der Weg der Sinti-Familie Reinhardt von Auschwitz nach Köln. Ein Feature von Alexa Hennings. Sprecherin Philipp Reinhardt stammt aus einer Musikerfamilie. Er war 16 Jahre alt, als er nach langen Jahren in Konzentrationslagern in seine Heimatstadt Köln zurückkehrte. Nur sechs der zwölf Kinder der Familie Reinhardt hatten überlebt. Mit ihnen machte sich Vater Karl Josef Reinhardt, der Bruder der Jazz-Legende Django Reinhardt, 1945 auf den Heimweg von Polen nach Köln. Mitglieder der weit verzweigten Familie hatten in Auschwitz gelitten, in Lagern bei und in Treblinka, Lublin, Warschau und Litzmannstadt. Es ist dies die Geschichte einer Heimkehr. Der Heimkehr von Menschen und der Heimkehr ihrer Geschichten. O-Ton Philipp Reinhardt Hauptsache war ja, dass man die Verwandtschaft wieder sieht! Das war ja das Wichtige. Und dann ist es ja auch passiert, es kamen ja auch etliche Familien zurück und so haben wir uns dann wieder getroffen. Sprecherin Philipp Reinhardt starb 2004. Sein akustischer Lebensbericht wird im NS-Dokumentationszentrum in Köln aufbewahrt. Dessen damaliger Leiter, Werner Jung, interviewte ihn 1992. So kann man Philipp Reinhardt noch heute zuhören. Er berichtet von dem Tag, an dem die Deportation in Köln begann: 16. Mai 1940. Damals war er elf Jahre alt. O-Ton Philipp Reinhardt Da war der ganze Platz umstellt, ein paar hundert Mann. Da kam das Oberhaupt in Zivil und sagt: Ja, wir müssen jetzt nach Polen. Jeder bekommt ein Haus und vielleicht noch ein Stück Garten und muss das selbst bepflanzen, bis der Krieg Schluss ist. Jeder kriegt noch eine Kuh und ein Schwein. Und wenn der Krieg Schluss ist, kommen wir wieder zurück. Drei Tage Fahrt, und wie wir ausstiegen sind, dann haben wir schon gesehen, was läuft. Da sind schon etliche Schläge ausgeteilt worden. Und es sind Familien getrennt worden, dahin und dahin. Es waren ja momentan keine richtigen Lager fertig, da haben sie ein Ghetto gemacht. Da ging alles rein, Zigeuner und Juden. Ja, und dann ging die Arbeit los. Wir haben Straßenbau gemacht und Gleise mussten wir dann legen. Die Gleise von uns nach Treblinka haben wir gemacht. Tja, mit zehn Jahren musst du da arbeiten wie ein Mann. Im Ghetto haben sie dann die Juden alle nach Treblinka gebracht. Und wir sind noch dageblieben. Nachher haben sie uns in andere Lager gebracht. Es sind auch viele von uns weggekommen. Damals wusste man nicht - du hast mit Hoffnung immer gedacht: Wird doch anders, wird doch anders, wird doch anders. Und mit so einer Hoffnung jeden Tag hast du es überlebt. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble Sprecherin Nicht nur die Überlebenden der Lager sind 1945 an den Rhein heimgekehrt, sondern mit ihnen auch ihre Traditionen, ihre Art zu leben, ihre Geschichten, ihre Musik. Weil sie trotz allem, was man ihnen angetan hatte, in Deutschland blieben und nicht nach Amerika weiterfuhren, gibt es hier neue Generationen deutscher Sinti. O-Ton Markus Reinhardt Ich heiße Markus Reinhardt, bin 1958 geboren, in Köln auf einem Zigeunerplatz in Bickendorf. Also in einer Zigeuner-Community. Und die meisten, die dort gelebt haben, waren in Konzentrationslagern und sind diesem Holocaust entkommen - wenn man das so sagen kann. Sprecherin Der Geiger Markus Reinhardt ist der Sohn von Philipp Reinhardt. Er ist in seiner Familie mit dem Wort Zigeuner groß geworden. Er besteht darauf, Zigeuner genannt zu werden, so wie seine Großeltern und seine Eltern es taten. Sonja Reinhardt, Markus' Mutter, die ebenfalls das KZ überlebt hatte, hielt sich bei dem Interview mit Werner Jung vom NS-Dokumentationszentrum zurück - aber bei diesem Thema mischte sie sich im Hintergrund ein. O-Ton Philipp Reinhardt / Sonja Reinhardt /Werner Jung Das muss man schon sagen, dass wir Zigeuner sind. Wir können ja nicht sagen, dass wir keine Zigeuner sind! / Nee, da s tun wir auch nicht. Wir sind ja auch stolz darauf! / Jeder muss ja zugeben, was er ist. Wer das verleugnet, das sind schlechte Personen. / Das empfinden Sie also nicht als verächtlich oder so? - Nee, nee. / Wir haben ja keinen anderen Titel als Zigeuner. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Markus Reinhardt So bin ich großgeworden, ich bin in einer Zigeunerfamilie großgeworden wo - man muss sich das vorstellen: Du gehst abends mit Musik ins Bett und wachst auch eigentlich so auch auf. Unsere Alten waren Musiker, mein Vater war auch Musiker. Die haben auch eine Band gehabt, die haben gespielt und die Musik hat eine große Rolle gespielt. Damit haben sie sich ausgedrückt, damit haben sie ihre Gefühle ausgedrückt. Das war auch so ein Ventil für sie. Sie haben Kultur gebracht letzten Endes, und das hat sie unheimlich stolz gemacht. Sie waren wer, sie wurden dafür bezahlt. Das war ihr Beruf, das hat sie unheimlich stolz gemacht. Und deshalb hat meine Opa auch gesagt: Ich bin ein Zigeuner und bleibe ein Zigeuner. Und ich will auch so genannt werden. Das fand ich so stark von dem, das hat mich auch letzten Endes geprägt. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Markus Reinhardt Auf dem Platz, wo ich groß geworden sind, waren ja fast alle, die da waren, im KZ. Fast alle haben Familie verloren: die Mutter, der Bruder. Aber alle haben gesagt: Wir sind Zigeuner. Und dann kam noch: Wir sind deutsche Zigeuner. Das kam dann nochmal, da waren sie noch mal stolz! Schnuckenack Reinhardt, 70er, 80er Jahre, da wurde der richtig bekannt. Schnuckenack war ein Cousin meines Vaters. Dann haben sie die erste LP gemacht und sie haben ihn gefragt: Was ist der Titel für diese LP? "Musik der deutschen Zigeuner". Ich weiß noch, wir als Kinder haben gesagt: Guck mal, Musik der deutschen Zigeuner, das sind wir! Und unsere Alten auch, die waren richtig stolz. Sprecherin Die Familie Reinhardt sieht in dem Begriff Zigeuner das Positive, die Tradition, die Kultur. Das möchte sie sich nicht nehmen lassen, nur weil er auch - vergleichbar mit dem Wort Juden - für Demütigung und Verfolgung steht, nicht erst seit 1933. Offiziell heißt es Sinti und Roma - das ist auch Sprachgebrauch des Zentralverbands deutscher Sinti und Roma. Als Sinti bezeichnet man jene Roma, die in Mittel- und Westeuropa seit dem 15. Jahrhundert heimisch wurden. Es gibt jedoch noch viele andere Gruppen, die gewandert sind und auch immer wieder vertrieben wurden im Laufe der Geschichte: die Kalderasch, Gitanos, Pavees, Travellers und Jenischen. Nicht alle gehören zu den Roma, aber alle wurden von den Nationalsozialisten als "mindere Rasse" angesehen und verfolgt, ihre Ausrottung wurde geplant - und durchgeführt. Mindestens 220 000 Menschen dieser Gruppen aus ganz Europa fielen dem Rassenwahn zum Opfer. O-Ton Markus Reinhardt Wir machen eine Gedenkfeier jedes Jahr an der Messe, wo die alle abtransportiert worden sind. Da ist ein Mahnmal. Und dieses Mahnmal, da ist ein Text drauf. Der Text hat mich gar nicht interessiert. Ich wusste, dass meine Familie von dort abtransportiert worden ist. Also haben wir da eine Gedenkfeier gemacht. Und dann treffe ich einen Kalderasch, der auch im KZ war. Er war über 90. Ich habe gesagt: Wir machen eine Gedenkfeier, komm dahin. Da sagt er: Mein Junge, ich wäre so gern gekommen. Aber ich komme da bewusst nicht hin, weil: Wir werden da gar nicht erwähnt. Ich sag: Wie? Sagt er: Lies mal den Text da! Ich bin dahin, und da steht wirklich drauf: Für Sinti und Roma. Die fallen da durch, die kommen da gar nicht vor! Dass die dann beleidigt sind, das ist doch ganz normal. Man wird dem ja auch nicht gerecht. Es gibt nicht nur Sinti und Roma. Es gibt so viele Stämme. Ich habe auch kein Problem, wenn andere sagen: Ich will nicht mehr Zigeuner genannt werden. Dann ist es auch gut. Das ist sein Recht. Aber uns muss man dann auch lassen. Atmo Raum, Stimmen, NS-Dokzentrum, Markus, Krystiane Sprecherin Köln im Januar 2022. Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, das sogenannte EL-DE-Haus. Einst war hier das Hauptquartier der Gestapo. Markus Reinhardt und seine Frau Krystiane Vajda stehen in einem Raum, in dem es um die Verfolgung der Sinti und Roma geht. Gleich rechts am Eingang drei Porträts: Ein Mädchen und zwei Männer. Atmo ...das ist von ihr die Mutter gewesen. - / Von der Bluma? / Von der Bluma. Die haben wir auch im Interview drin. Das war die Mutter und das war der Onkel und das ist Blumas Opa. Genau./ Ist hier auch ein Bild von deinen Großeltern? / Ja, von meinem Opa... Sprecherin Ein Raum voller dicht gedrängter, mannshoher Stelen. Auf jeder ein Schicksal. Oben Fotos, darunter Dokumente. Atmo Genau. Das ist mein Opa gewesen. Der Karl Josef Reinhardt... Sprecherin Werner Jung, der vor 30 Jahren das Interview mit dem Vater von Markus Reinhardt führte, kommt dazu. Bis vor kurzem leitete er das NS-Dokumentationszentrum, jetzt ist er im Ruhestand. Den Raum über die Geschichte der Kölner Sinti-Familie Reinhardt und der Roma-Familie Wernicke hat er gemeinsam mit den Familien konzipiert. O-Ton Werner Jung Das ist jetzt die Geschichte von Karl Josef Reinhardt. Geboren am 12.5. 1900, das ist der Großvater von Markus Reinhardt. Und man sieht jetzt hier Erkennungsdienst K - das ist die Kripo. Das heißt, die Kripo war zuständig für die Überwachung, nicht die Gestapo. Die half dabei mit, bei Deportationen, aber die Kripo war es. Sie sehen also jetzt hier von der sogenannten Reichsstelle Ritter, die die Leute rassistisch vermessen haben, in der Form Messungen im Gesicht und sonst was. Das ist die erste Deportation, die stattgefunden hat, da war er mit dabei. Und er würde, wenn er ins Reichsgebiet zurück kommt, zwangssterilisiert. Das gilt dann jetzt hier für die meisten, das ist 1940 die erste überhaupt größere Deportation. Die Kölner Juden sind dann ab Oktober 1941 deportiert worden. Man hat aber auch direkte Einweisungen und Deportationen nach Auschwitz, das gibt es hier auch. Atmo Raum Sprecherin Wer direkt nach Auschwitz deportiert wurde, wurde meist sofort ermordet. Die frühe Deportation 1940 bedeutete etwas größere Überlebenschancen, weil die Tötungsmaschinerie im besetzten Polen noch nicht aufgebaut war. Wohin sich Markus Reinhardt wendet - seine Vorfahren blicken herab von den erkennungsdienstlichen Fotos: Profil rechts, Profil links, Blick geradeaus, kein Lächeln. Abdrücke von Händen. Auch von Kinderhänden. O-Ton Markus, Werner in Ausstellung ...Das ist meine Tante. Die hieß Traubena in unsere Sprache. Und er war ein Bruder von meiner Oma. Wo ist er? Dahinten, der, der Albert Reinhardt. Akribische Bürokratie. Unfassbar./ W: Hier wird ja dann in Prozenten ausgerechnet, teilweise hinter dem Komma, etwa 40 Messungen im Kopfbereich, Abstand der Nase zum Ohr. / M: Die haben wirklich alles aufgeschrieben, sogar die Dicke des Fleisches haben sie aufgeschrieben. Schon verrückt, wie pedantisch und präzise die das gemacht haben. / W: Es ist ja nur deswegen erhalten geblieben, weil die Leute, die das zusammengestellt haben, nach 1945 da weiter geforscht und publiziert haben. Es wurde weiter gemacht! Auch die Verfolgung ging ja weiter. Ihnen wurde ja sogar das Recht genommen, dass sie verfolgt gewesen waren. Sondern dass sie als Asoziale, als sogenannte, mit Recht so behandelt worden seien! Oder die Tatsache, dass man staatenlos eingeschätzt wurde, weil die Pässe in den Räumen des Polizeipräsidiums lagen. Das ist eindeutig eine zweite Schuld, die es abzutragen gilt. Sprecherin Deutsche Sinti und Roma, die die Lager überlebt hatten, wurden nach dem Krieg von den Behörden als "Ausländer" und "staatenlos" angesehen. Die deutschen Pässe hatte man ihnen vor der Deportation abgenommen. Die Überlebenden siedelten sich nach dem Krieg wieder in Köln-Bickendorf an. Es war derselbe Platz, auf dem Nationalsozialisten schon 1935 ein sogenanntes Zigeunerlager geschaffen hatten, wo fast alle Sinti und Roma der Stadt leben mussten. Genau dorthin gingen die Familien nach dem Krieg zurück, um auf das Wiedersehen mit anderen Überlebenden zu warten. Auf diesem, dem sogenannten "Schwarz-Weiß-Platz" - benannt nach dem benachbarten Fußballverein - wurde Markus Reinhardt 1958 geboren. Kurz darauf mussten die Baracken der Sinti-Familien einem Gewerbegebiet weichen. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Markus Reinhardt Und dann haben die uns in Eisenbahnwaggons getan. Und in diesen Eisenbahnwaggons sind die Alten zum Teil abtransportiert worden in die Konzentrationslager. Ich habe ganz oft das Ding gehört: Jetzt hat man uns schon wieder in ein Lager getan! Das habe ich ganz oft gehört. Im Sommer war es tierisch heiß und im Winter hat man da total gefroren. Klar. Da waren ungefähr 250 bis 300 Personen, die lebten auf diesem Platz. Am Anfang haben sie dort nur einen Brunnen gehabt, da musste wir das Wasser holen. Und es war auch erst kein Strom. Dann haben sie erst später Strom gelegt. Das war für unsere Alten unerträglich letzten Endes. Aber für uns Jungen, für uns Kinder war es schön. Wir haben da gespielt. Sprecherin Schuld abtragen. Für Werner Jung heißt das auch: Sinti erzählen ihre Geschichte selbst. Als er den Kölner Musiker Philipp Reinhardt interviewte, war das Neuland in der deutschen Erinnerungskultur. Diese Gruppe der Verfolgten hatte sich bis dahin - abgesehen von Funktionären der Sinti-und Roma-Verbände - nur sehr selten öffentlich geäußert. Bis heute ist die Stimme von Markus' Vater an einer Medienstation im NS-Dokzentrum zu hören. O-Ton Philipp Reinhardt / Werner Jung 1992 Die haben die Zigeunerschule gemacht 1939. Wir sind ja in die Wochenschule gegangen. Und dann haben wir Bescheid gekriegt, dass wir in die Stadt in die Zigeunerschule mussten. Da war unser Lehrer praktisch sprachlos. Wie kommt das, dass die Jungens an eine eigene Schule kommen? Der wusste noch gar nicht, was läuft. Da war ich ungefähr zehn Jahre alt. Und neben uns war auch ein großer Schulhof. Wir wussten nicht, was für Kinder das waren. Später haben wir erfahren, dass es eine jüdische Schule war. Wenn die Pause hatten, hatten wir auch Pause, wir waren zusammen. Ja und dann nachher kam keiner mehr von der Klasse, von den jüdischen Kindern. Ein Tag, zwei Tage, eine Woche war vorbei. Da haben wir das Fräulein gefragt: Die haben ja überhaupt keine Pause mehr! Sagt die: Ja, die haben Ferien. Ja, so? Die haben Ferien? Da müssen wir ja auch bald Ferien kriegen! Und dann haben wir die Ferien bekommen 1940. Fünf Jahre lang haben wir dann Ferien gekriegt. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Werner Jung, Markus Reinhardt M: Das war nicht einfach, das Interview zu machen. Dass mein Vater überhaupt gesagt hat: Ja. W: Das ist wirklich etwas Besonderes gewesen. Und ich erinnere mich, obwohl das jetzt, ich habe eben nochmal nachgeschaut, 30 Jahre her ist, wie gestern. Ich komme ins Haus und Markus war da. Du gingst nach oben in die erste Etage und wir hörten ihn dann so rumfideln - lachen - er machte seine Übungen. Und da haben wir angefangen. M: Und dann hat das die Familie rausgekriegt, und es riefen alle an - aus Freiburg, aus Holland, aus Straßburg - er soll das Interview nicht machen. Und ich wurde auch ein bisschen behandelt so wie ein Verräter. Weil: Man geht nicht raus mit solchen Informationen. Die deutschen Zigeuner machen das nicht, sie gehen nicht raus mit ihren Erlebnissen, das ist ganz, ganz schwierig. Das ging Jahre so. Und dann kamen meine Neffen aus Freiburg und hier aus Köln, die haben sich das Interview angehört. Und die haben dann gesagt: Wir wussten ja gar nicht, dass der Opa sowas - und dann war das Eis gebrochen. Und dann haben sie alle verstanden, dass es gut so ist. Sprecherin Jetzt, 30 Jahre später, sind es Markus Reinhardt und seine Frau Krystiane Vajda, die die Lebensgeschichten von Überlebenden oder deren Nachfahren aufzeichnen. Dafür waren sie in Deutschland, Polen und den Niederlanden unterwegs. Unterstützung bekamen sie vom NS-Dokumentationszentrum. Bald wird in dem Raum, in dem sie jetzt stehen, eine weitere Medienstation aufgebaut. Dort soll man dann die Videos mit den Interviews sehen können. O-Ton Werner, Markus W: Da kann ich nur sagen: Hut ab vor einer solchen Initiative. Das ist wirklich sehr weitgehend und sehr wesentlich auch für die Familien. Denn sie kommen nicht davon weg. Es ist einfach so, dass dies traumatisch doch über Generationen fest in den Leuten drin ist. M: Ja, absolut. Und deshalb auch dieser Schritt, dass WIR die Interviews machen. Es kommt von uns. Und das ist auch nochmal ein Schritt weiter. Wir machen die Interviews. Und die Leute lassen sich drauf ein, wir bekommen Anrufe, ich will auch meine Geschichte erzählen. Die Leute brauchen dieses Vertrauen. Und sagen: Denen kann ich das erzählen, da ist es aufgehoben und die gehen damit auch behutsam um. Und es geht weiter. Auch wenn ich gestorben bin, dann hinterlasse ich etwas Gutes für die Gesellschaft. Manche sind schon gar nicht mehr da. Wir haben Schnuckenacks Schwester zum Beispiel, die ist gestern beerdigt worden. Deshalb müssen wir uns beeilen, damit wir die, die noch da sind und noch reden wollen, dass wir die noch kriegen. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble Sprecherin Zuhause bei Markus Reinhardt und Krystiane Vajda. Der Laptop wird aufgeklappt. 20 Interviews haben die beiden in den vergangenen drei Jahren schon geführt, weitere sind geplant. Krystiane Vajda, die als bildende Künstlerin arbeitet, stammt nicht aus einer Sinti-Familie. O-Ton Krystiane Vajda Also, wir repräsentieren ja im Grunde - wir zwei als Paar - die gesamte Gesellschaft - na, nicht die gesamte Gesellschaft, aber die Mehrheits- und die Minderheitsgesellschaft. Wir machen das zusammen. Und für mich ist das so: Wir sind alle Nachfahren von dieser Zeit, von diesem Grauen. Es geht hier nicht um Schuld, sondern es geht darum, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam daraus etwas Besseres zu machen. Dass so etwas nie wieder passiert. Man muss es erstmal wieder ins Bewusstsein rufen: Was ist denn da gewesen? Wer war da und was haben sie zu erzählen? Was haben sie durchgemacht? Und das geht uns alle an. O-Ton Reimund Steinberger In Köln haben wir gewohnt, Agrippastraße. Mein Vater hat schwer gearbeitet an der Autobahn von Köln nach Bonn. Und da waren wir zu Hause und da kamen die SS.Mämmer. Sie müssen mal bitte mitkommen, sie kommen gleich wieder. Und dann nimmt meine Mutter noch kleine Sachen mit. Brauchen Sie nicht, Sie kommen ja gleich wieder. Und dann sind wir gegangen und dann waren wir weg. Sprecherin In einem Videointerview sieht man zwei alte Männer dicht nebeneinandersitzen. Reimund und Franziskus Steinberger. Es sind die Onkel von Markus Reinhardt, die Brüder seiner Mutter Sonja. O-Ton Reimund Steinberger 1940 sind wir weggekommen. Alle Züge waren Viehtransporter. Da sind wir alle reingepresst worden. Und wir Kinder, na ja, wir waren froh, dass wir endlich mal mit der Bahn fuhren! Wir wussten ja gar nicht, was los war. Bis wir dann da eingesperrt waren. Wir haben da ja nichts mehr gekriegt zum Fressen, war ja nix mehr da. Wir sind immer zusammengeblieben, vier Brüder und eine Schwester und mein Vater. Mein Vater war allein, meine Mutter war ja gestorben. Sprecherin Die Mutter, Markus' Großmutter, starb bereits zwei Wochen nach der Deportation. Sie hatte gerade ein Kind entbunden: Ihren Sohn Franziskus. Fortan musste Markus' Mutter Sonja, die damals acht Jahre alt war, die Mutter-Rolle für den Säugling übernehmen. Eingesperrt in Polen in ein Lager, in dem man die Arbeitskraft der Häftlinge ausbeuten wollte. Franziskus überlebte. O-Ton Video Reimund Steinberger /Franziskus Steinberger R: Da war ich so dreieinhalb, vier Jahre. Ich konnte schon besser laufen und bisschen reden schon. Da waren noch zwei Jungens, da sind wir unter dem Zaun durch. Und dann sind wir in das Dorf gegangen und wollten betteln. Und dann hatten wir auch ein bisschen Brot, haben wir alles unter das Hemd getan. Kein Hemd, ein Sack, Hemd gab es ja gar keins. Und da haben uns zwei SS-Männer geschnappt. Und mich haben sie in einen Kanal reingetan und den Deckel zu. Da war ich etliche Stunden drin. Und da war ich am Schreien, bis ein Pole kam und der hat den Deckel aufgemacht und hat mich da rausgenommen. Und dann musste ich sehen, dass ich wieder in das Lager reinkam, war ja alles bewacht und ringsum mit Strom der Zaun. Das war das Schlimmste für mich: Wie ich da in dem Kanal gesessen habe für ein paar Stunden. Und das ist das Schlimme dabei, das kommt nie aus dem Kopf raus. Diese Erinnerungen, die hast du ewig. Wenn ich hundert Jahre werde, dann habe ich die immer noch. Wenn ich mal tot bin, dann sind sie weg. F: Meine Frau, die hat genau dasselbe mitgemacht. Die hat einen Haufen Geschwister gehabt, Vater, Mutter. Und plötzlich, peng, wurden alle vernichtet, vergast und verbrannt. Da war sie allein da. Da war dann eine alte Frau, eine Oma, die hat sie dann zu sich genommen als kleines Kind. Die hat sie aufgezogen. Die hat alles verloren. Wenn mein Vater krank geworden wäre, da wären wir soundso alle vernichtet worden. Aber mein Vater konnte für fünf Leute arbeiten. Mein Vater war wie ein Riese, der hat gearbeitet, und dafür konnten wir überleben. Weil mein Vater gearbeitet hat. Aber wenn mein Vater krank geworden wäre, dann wären wir direkt vernichtet worden. O-Ton Markus Reinhardt /Krystiane Vajda M: Die wurden dann noch gebraucht, weil sie bestimmte Arbeiten machen konnten. Aber in dem Moment, wo du das nicht mehr machen konntest, dann warst du wertlos, nutzlos. Dann wurdest du auch vergast oder erschossen. Dann haben sie dich entsorgt, sagen wir mal so. / K: Und die ganze Familie. / M: Eben, die ganze Familie mit. Das war so eine Garantie, wenn du gut arbeiten konntest, dass deine Familie mit überlebt. / K: Erstmal. Und was die Truschla erzählt, das war ein anderes Interview. Die Truschla war acht. Die mussten als Kinder die Leichen wegräumen auf so einem Karren. Sprecherin Ein weiteres Video: Eine kleine, schmale Frau auf einem Sofa, inmitten von gestickten Kissen und Plüschtieren. O-Ton Video Theresia Neger Über Nacht mussten wir alle raus. Juden raus, die wurden einfach abgeknallt. Und dann haben sie, da war ein Baby, einfach vom Fenster runtergeschnmissen Sprecherin Theresia "Truschla" Neger, geborene Mettbach, eine Tante von Markus Reinhardt. Mit acht Jahren wurde sie von Köln in ein Lager im besetzten Polen deportiert. O-Ton Video Theresia Neger Hinten war so ein großes Kiesloch. Und da war so eine große Karre mit Rädern. Die waren alle nur noch Knochen. Da mussten wir die hochheben und da rauf. Das Blut, das war wie Pudding. Wir Kinder mussten das machen, auch die Medla und die Traubena. Die Erwachsenen mussten ja wieder andere Arbeit machen. Und an dem Kiesloch, da waren wieder andere Kinder, die die verbuddelt haben. Da war noch ein Arm draußen oder ein Bein. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble Sprecherin Markus Reinhardt ist mit solchen Berichten aufgewachsen. Das Weitergeben von Erinnerungen ist Tradition in den Sinti-Familien - doch nur innerhalb der Gruppe. Erzählt wird zuhause in ihrer eigenen Sprache, in Romanes. Nie drang etwas nach draußen. Ein Schutz. O-Ton Markus Reinhardt Bei uns wurde viel geredet. Da gab es Situationen, da saßen die Alten alle zusammen. Und du kommst rein als junger Mensch oder als Kind, und die weinen alle. Alle weinen! Die haben ja alle Menschen verloren. Und dann waren die alle am Weinen. Und du als Kind sagt: Was ist los, was ist passiert? Dann erzählen die. Und die wollten auch, dass wir das mitkriegen. Die wollten auch, dass wir solche Dinge erfahren, was passiert ist, warum sind bestimmte Leute nicht mehr da. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das hat sie gerettet. O-Ton Video Theresia Neger Die haben uns ja in verschiedene Lager geschickt. In Siedlce, für die Gestapo, da mussten wir die Stiefel putzen, wir mussten kehren, als Achtjährige musste man tüchtig arbeiten. Dann gab es alle drei Tage ein Viertel Brot mit ein bisschen Marmelade drauf. Und wer nicht gearbeitet hat, der hat gar nichts gekriegt. Von meinem Vater der Bruder, der war quartiert bei den Juden. Und da war so ein Tor, da hat mein Onkel mit seiner Frau gelebt. Meine Mutter hat gesagt, ich soll mal dahin gehen, vielleicht hat er was zu essen für uns. Da bin ich dahin gegangen. Da waren zwei Männer, SS oder Gestapo, genau weiß ich das nicht mehr. Und die haben den Vater erschossen, den Bruder erschossen und die Schwester. Werde ich nie vergessen, die hat so einen langen Pferdeschwanz gehabt und hat sich an der Gestapo festgeklammert, das Mädel. Und da hat er sie an dem Pferdeschwanz gepackt und hat sie erschossen und hingeschmissen. Und ich stand da, ich konnte nicht mehr laufen. Ich stand da und habe gedacht: Jetzt bist du dran. Dann bin ich gegangen und meine Mutter hat gesagt: Hast du was zu essen gekriegt? Ich sage: Nee, da war nichts. Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Wir hatten gar keine Angst mehr gehabt. Wir hatten nur noch Hunger. Der Hunger war schlimmer wie die Angst. O-Ton Markus Reinhardt Man muss dazu sagen, wir haben keine Schriftsprache. Alles, was wir wissen, wird mündlich überliefert. Also sind die Alten unsere Bücher. Alles, was wir wissen, wissen wir über diesen Menschen - der erzählt uns etwas. Über uns, über mich selber, über ihn. Wenn ich etwas wissen will, frage ich. Wir haben auch kein Wort für Altersheim. Das gibt es bei uns nicht. Weil: Die Alten sind so wichtig. Die Alten sind unsere Bücher. Und deshalb waren diese Geschichten, die da noch sind, waren mir unheimlich wichtig, dass wir die noch kriegen. Weil ich weiß, bis dahin sind viele Alte und viele Geschichten nicht mehr da. Und das finde ich für alle, nicht nur für uns Zigeuner, sondern für die ganze Gesellschaft, finde ich das einen Verlust. Einen großen Verlust. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Video Grancino Reinhardt Es hat ja Reinhardt-Orchester geheißen in den 30er und 40er Jahren. Sprecherin Grancino Reinhardt, Gitarrist, Sohn von Schnuckenack Reinhardt. Wie Markus ist er ein Großneffe von Django Reinhardt. Er sitzt bei der Videoaufnahme mit seiner Gitarre vor einer Schallplatte seines Vaters. O-Ton Video Grancino Reinhardt Weil die Nazizeit war, hat man sich ja nicht so ausgeben können als Zigeuner. Da waren mein Vater und seine Familie, also mein Großvater und seine Familie, bekannt unter "Ungarn-Deutsche". Und mit der Nazi-Zeit sind sie dann aus Deutschland geflüchtet, über Polen nach Ungarn und dann wieder nach Polen. Wo sie dann in Polen auch in der Kriegszeit waren unter "Ungarn-Deutsche". Und haben dann auch überlebt mit der Musik, haben sich ernährt durch die Musik. Bis es dann eines Tages rauskam, dass sie doch Zigeuner sind. Dann kam die Gestapo und haben sie von der Wohnung rausgeholt. Das war in einem kleinen Dorf bei Tschenstochau in Polen. Und dann hat es dann geheißen: Alle rauskommen. Dann sind sie rausgekommen, natürlich mit den Musikinstrumenten, die sie hatten. Die Geige und was sie am Leib hatten. Dann hieß es: Hier an die Mauer, dranstellen, ihr werdet jetzt abgeschossen. Dann haben sie die Familie von meinem Vater an eine Mauer gestellt, eine Kirchenmauer. Irgendwie hat dann mein Großvater zu seiner Familie gesagt: Spielt! Nehmt die Instrumente hoch und fangt an zu spielen. Und während des Spielens kam ein großer SS dazu und hat gesagt: Waffen runter, diese Familie habe ich unter meiner Hand. Und so sind sie mit dem Leben fortgekommen, durch die Musik. Dann haben sie eine Zeitlang gespielt für die SS. Jede zweite Nacht hat der eine Party gemacht und da hat die Familie Reinhardt, also mein Großvater und seine Familie, immer spielen müssen. Und sie haben während der SS-Zeit für Deutsche gespielt. So haben sie überlebt. O-Ton Markus Reinhardt Gerade bei uns in meiner Familie, da waren ja Musiker. Und die mussten zum Teil vor diesen Lagern spielen. Vor den Konzentrationslagern spielen. Dann kamen die mit den Zügen an und sind dann direkt in die Gasöfen gegangen. Und die mussten dann spielen, damit die Leute beruhigt sind. Und was musste sie spielen? Walzer, Märsche, etwas Deutsches, Fröhliches, Schönes. In dem Lager war ein Super-Geiger, ein ungarischer Geiger, der mit unserer Familie gespielt hat. In Auschwitz aber auch in Warschau, Warschauer Ghetto. Sie sind dann wieder in ein anderes Lager gekommen wie mein Opa, der musste dann arbeiten, der konnte gut arbeiten. Aber die haben da gespielt, wenn die Züge ankamen. Und dieser Geiger, der hat ein Stück komponiert in dem Lager, einen Walzer in den Lagern. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Markus Reinhardt Da war ich, das ist Jahre her, als ganz junger Mensch: Meine erste Reise nach Budapest. Da durfte ich diesen Geiger kennenlernen. Und da hat er mir diese Geschichte erzählt. Und hat mir diesen Walzer vorgespielt. Und ich musste ihm versprechen: Immer, wenn der Anlass da ist, soll ich diesen Walzer spielen. Und dieser Walzer, das war für die so eine Erkennungsmelodie. Sie haben den gespielt und jeder wusste: Das ist für uns. Die Nazis haben das gar nicht gecheckt. Aber die, um die es ging, wussten: Das ist für uns. Und: Wir haben eine Zukunft. Das hat dieser Walzer auch mitgebracht. Das macht die Musik, das kann die Musik alles machen. Und sowas spiele ich dann auf so einer Gedenkfeier. Das ist an der Rheinpromenade, gegenüber ist der Dom. Und dann kommen die Leute, die da spazieren, die kommen da auch dazu. Manche haben uns sogar gefragt: Ach, wie, Zigeuner, waren die denn auch im KZ? Das ist verrückt, aber manche wissen das gar nicht! Deshalb ist es wichtig, dass wir uns nach draußen bewegen. Dass wir sagen: Wir sind hier, wir stehen hier und wir haben auch was zu sagen. Sprecherin Markus Reinhardt, Krystiane Vajda und ihr Verein "Maro Drom - Kölner Sinti und Freunde" möchten die Geschichte der Verfolgung der Sinti,Roma und aller anderen Zigeunergruppen bekannter macchen. Dafür wollen sie den Weg, den die Überlebenden der Familie nach dem Krieg gegangen sind, noch einmal gehen, mit einem sogenannten Oberlichtwagen von Auschwitz bis nach Köln unterwegs sein, einem jener Wagen, die vor der Deportation traditionell von den Sinti-Familien bewohnt wurden. In dem Wagen soll es eine Ausstellung geben und es werden dort die Interviews mit den Zeitzeugen zu sehen sein. O-Ton Markus Reinhardt Das ist diese Idee, die hat mich jahrelang verfolgt. Immer, wenn ich die Alten gehört habe, mein Vater, mein Opa, die haben immer gesagt: Uns haben sie die Wagen weggenommen. Uns haben sie betrogen. Da habe ich ganz früh schon gedacht, man muss so einen Wagen wieder zurück organisieren. Aber nicht für uns, die Familie, sondern für alle. Der soll auch präsent sein und der Mehrheitsgesellschaft soll bewusst werden, was da passiert ist. O-Ton Video Theresia Neger Der Russe kam dann, der hat uns dann befreit. Wir waren ja nur Haut und Knochen. Sprecherin Theresia Neger berichtet im Interview mit Krystiane Vajda und Markus Reinhardt über den Heimweg der Überlebenden. O-Ton Video Theresia Neger Sie haben uns nach Warschau gebracht, ins Krankenhaus. Da haben sie uns hochgepäppelt, Und wie wir dann uns erholt haben, da sind wir raus und da haben wir zu Essen gekriegt. Da haben sie uns versorgt und wir waren so glücklich, dass wir zu essen hatten! Und dann hat der Russe uns so einen Planwagen gegeben und wir sind dann zu Fuß. / Wie lange seid ihr gegangen? - / Lange, im Sommer sind wir, glaube ich, angekommen. Wir kamen durch Stettin, Berlin, Brandenburger Tor. Alles ein Trümmerhaufen. Alles kaputt. Und wir kamen in Köln an, auch alles kaputt, unsere Wagen waren kaputt, wir hatten keine Wohnung, gar nix...War nicht so einfach. Und ich bin froh, wenn ich eines Tages die Augen zumachen kann, damit ich Frieden finde. Sprecherin Die genaue Rekonstruktion des Wegverlaufs von Polen bis nach Köln ist heute kaum noch möglich. Markus Reinhardt sieht sie als Symbol, diese Gedenkreise auf den Spuren seiner Familie. Wegen der Pandemie konnte sie bisher nicht stattfinden, nun ist sie für 2023 geplant. O-Ton Krystiane /Markus Wir fangen in Auschwitz an. Wir haben mit dem Direktor da gesprochen. Da gibt es ein altes Theater. Das war eigentlich ein Casino. Das sollte letztes Jahr wiedereröffnet werden. Und da wir die Tour ja eigentlich für letztes Jahr geplant hatten, da hatte er uns angeboten, dass wir unsere Auftaktveranstaltung für diese Gedenkreise in diesem Casino machen. Und dann hätten wir die Bigband vom Kerpener Gymnasium mit eingeladen, wir hatten dann unsere Zeitzeugen eingeladen und wir hätten zusammen Musik machen können. Jetzt konnten wir das ja nicht machen. Aber der Plan ist trotzdem, dass wir dort starten und von da dann nach Warschau, da war das nächste große Lager, wo sie waren. Dann vielleicht noch in Gorzow Station machen, wo Edward Debicki lebt, der polnische Zigeuner, den wir auch als Protagonisten mit in unserer Ausstellung haben. Und der macht immer im Sommer seit den 80er Jahren ein großes Zigeunermusikfestival. Und dann wissen wir noch nicht genau, ob wir dann noch eine Station machen oder dann von Berlin nach Köln. Sprecherin Edward Debicki ist einer der bekanntesten Roma in Polen. Als Kind überlebte er, weil sich die Familie in Wäldern versteckt hielt. Der Musiker und Schriftsteller bestand bei der deutschen Übersetzung seines Buches "Totenvogel - Überleben in Wäldern" auf dem Wort Zigeuner - für ihn wie für Markus Reinhardt ein Akt des Stolzes, eine Art der Wiederaneignung der eigenen Geschichte und damit des eigenen Namens. Das bringt Konflikte mit sich, auch für die Gedenkreise. O-Ton Markus / Krystiane In dem Moment, wo du einen Antrag stellst und es kommt dieses Wort Zigeuner vor, da kommt eine Ablehnung: Wegen dieses Worts Zigeuner - Antrag ist abgelehnt. / K: Köln hat noch eine Tradition mit dem Wort Zigeuner. Wenn man jetzt lokale Gelder beantragt, ist das nicht so schwierig. Aber die anderen, bundesweit oder landesweit, da ist es so, die können sich das nicht leisten in ihrer politischen Präsenz, dass da das Wort Zigeuner auftaucht. Die haben Angst davor, deshalb arbeiten sie nicht mit uns zusammen. Das haben wir schon erlebt./ Und dann hat man uns gesagt: Lasst das Wort raus und dann geht er durch. / K: Wir versuchen auch private Förderer zu finden, wir brauchen natürlich relativ viel Geld, das macht man ja nicht mal eben so, da kommt eine Summe zusammen. Was mich daran so aufregt: Die gucken gar nicht mehr auf den Inhalt, den wir machen. Da geht es nur um dieses Wort, die sind so geblendet von diesem Begriff, dass die nicht sehen, was wir für eine tolle Arbeit vorhaben und was wir da machen wollen. Wir haben ja die Überlebenden dabei, die wir interviewt haben, die Zeitzeugen. Die wurden als Zigeuner verfolgt. In den Interviews nennen sich 80 Prozent Zigeuner. Und wir müssen derer auch gedenken, der Zigeuner, die verfolgt und ermordet wurden. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Krystiane / Markus In den Orten, wo wir Station machen, wollen wir Anwohner mit integrieren. Wir gehen diese Strecke, die die Verfolgten gegangen sind, die Überlebenden, die gehen wir und erinnern vor Ort an diese Geschichten, aber auch an das Leben, was dann daraus wieder entstanden ist. Es wird Musik gemacht, es gibt schöne Elemente, diie sind auch noch da. Und das wollen wir zusammenbringen. / M: Deshalb haben wir gesagt: Es soll keine Reise der Anklage, es soll eine Reise des Miteinanders sein. Sprecherin Auf der Reise wird auch des berühmten Vorfahrs der Familie gedacht werden: Django Reinhardt. Er, der als Vater des europäischen Jazz gilt, überlebte die Verfolgung in Paris. Musik Markus-Reinhardt-Ensemble O-Ton Markus Reinhardt Wenn ich Django oder eine traditionelle Zigeunermusik spiele, einen Csardas, spiele ich sie nicht, weil ich sie nachspielen will. Weil sie virtuos sind und ich zeigen kann, wie gut ich spielen kann. Nein, ich spiele, weil da ein Feeling dahintersteckt. Eine Philosophie. Das zeigt, wo ich herkomme, das zeigt, wie wertvoll das ist. Und das zeigt auch, wie vielseitig das alles ist. Musik ist eben auch eine Sprache. Du machst ja eine Musik nicht für dich alleine. Was nutzt es, ich mache eine Musik alleine und keiner ist da, der zuhört oder der sagt: Das ist auch meins. Oder: Der berührt mich. Wir machen das zusammen. Daher kommt auch so eine Idee mit so einer Tour: Weil man für alle etwas machen will. Nicht für sich allein, dann behalte ich das für mich allein und packe es ein, es ist mein Besitz. Mir gehört nichts. Sprecherin Nach dem Krieg treffen wir uns in Köln. So hatte es Markus Reinhardts Großvater Karl Josef Reinhardt bei der Deportation allen eingeschärft. Und die Überlebenden kehrten zurück, in ein Land, das sie ausrotten wollte. Ihre Kultur, ihr Zeugnis, ihre Geschichte haben überdauert. Auch dafür steht, selbstbewusst, diese zweite Reise von Auschwitz nach Köln. Es haben sich schon viele gemeldet, weil sie die Gedenkreise mitmachen wollen: Verwandte, Freunde, Mitstreiter vom Verein, Musiker. Längst nicht nur Sinti. Das freut Markus Reinhardt - doch er weiß auch, dass man vorsichtig sein muss. O-Ton Markus Reinhardt Wenn wir diese Tour machen - wir werden irgendwo von gewissen Leuten angefeindet. Du musst geschützt werden. Denn wer weiß, wer da antritt an rassistischen Personen. Wir sind ja dort nicht allein, wir sind da wirklich mit Familien und Kindern! Jetzt stell dir vor, die, die Familien verloren haben, die werden mit ihren Kindern auch noch von Neonazis oder so angegriffen. Das ist schon so eine Gratwanderung. Deshalb ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieser Teil auch wirklich abgedeckt ist. Das ist traurig, aber man muss es auch so sagen. Allein diese Wagentour, die wir machen, da sagen mir manche ältere Leute: Passt auf, geht nicht so sehr in die Öffentlichkeit. Es sind schlechte Zeiten, wer weiß, was da noch passiert. Das wird uns jetzt noch gesagt! Und es gibt auch viele junge Leute - die sagen mir das genauso. Die gibt es auch. Aber daran merkt man, wie traumatisiert wir auch noch sind, meine Generation. Und die Jungen, die sind auch noch traumatisiert. Aber du musst dafür kämpfen und sie überzeugen, dass es sein muss! Musik Markus-Reinhardt-Ensemble, Gesang auf Romanes Sprecherin Mehr als sieben Jahrzehnte nach Kriegsende macht sich die Familie Reinhardt erneut auf den Weg. Im Juni 2022 wird in dem historischen Oberlichtwagen die Ausstellung "Der Weg der Überlebenden" eröffnet. Es soll ein Kulturzentrum auf Rädern sein und zum Beispiel vor Kölner Schulen haltmachen. Ein Jahr später dann die Gedenkreise von Auschwitz bis nach Köln. O-Ton Markus Reinhardt Wenn wir dann von dieser Reise zurückkommen, soll uns der Wagen als Symbol wieder zurückgegeben werden. Und das ist für die Familien schön und es steht für alle Zigeuner, die hier weggekommen sind. Deshalb ist es ein großes Symbol von der Stadt, dass wir dann die "Häuser" wieder zurück kriegen - also, das Zuhause wiederkriegen. Musik hoch Absage Die Heimkehr. Der Weg der Sinti-Familie Reinhardt von Auschwitz nach Köln. Ein Feature von Alexa Hennings. Es sprach: Kerstin Fischer Ton und Technik: Eva Pöpplein und Thomas Widdig Regie: Anna Panknin Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022 21