Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Stich für Stich Ein deutscher Unternehmer in Bulgarien Autor: Mirko Schwanitz Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2020 Erstsendung: Dienstag, 25.02.2020, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 31.05.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Stefko Hanushevsky, Gregor Höppner, Tom Jacobs, Yvon Jansen und Anja Jazeschann Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Kiwi Eddy Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - 01. ATMO Fluss plätschert 1:12 ERZÄHLER Der Morgen ist noch ein heller Strich über den Bergkämmen der Rhodopen. Auf der anderen Seite des Tales, am Fuße der Zweitausender des Pirin-Gebirges, liegt die Stadt Gotse Delchev noch im Schlaf. 02. ATMO Busmotoren / Hupe 2x / Stimmen / + Rolltor öffnet sich 03. ATMO Rolltor öffnet sich (alleinstehend, ohne Busse) 04. ATMO Arbeiter bewegen sich in die Fabrik ERZÄHLER Ein Rolltor öffnet sich. Busse stoppen. Arbeiterinnen und Arbeiter quellen in die Dunkelheit. Schatten bewegen sich auf eine langgestreckte Halle zu: Schichtbeginn bei Pirin-Tex, einer der größten Kleiderfabriken Bulgariens. ATMO Arbeiter bewegen sich... unter Rollmann mischen 05. O-TON Bertram Rollmann (Busmotoren im Hintergrund ) 33 sek Vor Arbeitsbeginn ist es so, dass in der Zeit von 6:20 Uhr bis kurz vor 7:00 Uhr dreiundzwanzig bis vierundzwanzig Busse kommen mit Menschen aus der Umgebung, aber auch aus der Stadt. Wir [Hupe im Hintergrund] bringen die Leute ja hier bis zum Arbeitsplatz. Und nach dem Arbeitsschluss werden sie auch wieder nach Hause gebracht. Insgesamt nutzen diesen Fahrdienst wahrscheinlich im Augenblick 1200 bis 1300 Leute. ATMO Arbeiter / Busse unter Erzähler ausblenden ERZÄHLER Bertram Rollmann hat Pirin Tex aufgebaut. Wenn die Arbeiter kommen, brennt in seinem Büro oft schon das Licht. Die ersten Mails sind abgearbeitet. Die Produktionszahlen des letzten Arbeitstages liegen auf dem Besprechungstisch. 06. ATMO Maschinengeräusche / Cutter unter vorstehendem Erzähler hervorblenden, kurz frei stehen lassen, unterblenden) 07. ATMO Anruf / Handy klingelt / Telefongespräch ERZÄHLER Es ist Montag. Für Bertram Rollmann beginnt die neue Woche wieder einmal mit schlechten Nachrichten. 08. O-TON Bertram Rollmann 24 sek Ich bin ... einer ehemaligen Mitarbeiterin auf dem Flur begegnet. Letzte Woche hat sie noch bei uns gearbeitet, bis einschließlich Samstag. Und heute hat sie uns die Kündigung gebracht. Ich fragte sie, ja, wo geht es hin? Spanien, zur Weinernte. Traubenernte. Und somit ist wieder eine gute, sehr gute Kraft, die bei uns mindestens schon acht Jahre gearbeitet hat, verloren gegangen. Und sie hat nicht schlecht verdient. ERZÄHLER Seit 2014 dürfen Bulgaren in der ganzen EU ohne Einschränkungen arbeiten. Seitdem hat Bertram Rollmann fast die Hälfte seiner Belegschaft verloren. SPRECHERIN Stich für Stich - ein deutscher Unternehmer in Bulgarien. Ein Feature von Mirko Schwanitz 09. ATMO Werkhalle / Kreuzblende mit: 10. ATMO Betriebsversammlung / müsste unter den Erzähler gelegt und zwischen den Sätzen an der richtigen Stelle kurz frei stehengelassen werden: Eine Frau stellt eine Frage (ab 0:44 ... "Moscheli da kasche neschto?" Spendel: "Da." ...) andere unterstützen ihre Wortmeldung. Geschäftsführer Spendel versucht zu reagieren / (ab 1:25) Unmutsäußerungen im Saal / diese hochblenden, ("...ei do teka da veisorite...") hier kurz stehenlassen, unterblenden, siehe auch im Erzählertext Kursiv ERZÄHLER Eine Betriebsversammlung im Jahr 2016. Bertram Rollmann hat begonnen, neue Normen einzuführen. Für sie wäre es unmöglich, die neue Norm zu schaffen, sagt eine Frau. (in Atmo ab 0:46: Pri ti kokato sa vsitschki sa raschodnik norma ...) Rollmanns Geschäftsführer Thomas Spendel stellt sich der aufgebrachten Belegschaft: "Wenn Sie Probleme haben, gehen sie direkt zum Normenkontrolleur und der meldet uns die Probleme - hundertprozentig! ("1:14 ...na kolko sa is mama sa zaplata. Tasi tschovek, koite pravi is mama, utiva na SATVO sto prozentno" 1:22) - "Dann müssten wir alle gehen" ("1:25...Ei na teka ti veisorite..."), ruft eine andere Frau unter Zustimmung vieler im Saal. ATMO Betriebsversammlung, Kreuzblende mit: 11. ATMO Werkhalle Pirin-Tex / CNC-Cutter unterblenden, stehenlassen 12. O-TON Konstantin Draginov 16 sek SPRECHER 1 Ich arbeite bei PirinTex seit 24 Jahren. Ich arbeite in der Zuschnittabteilung am CNC-Cutter. ERZÄHLER Konstantin Draginov erinnert sich an die Versammlung. Als Vertreter von Podkrepa, der stärksten der drei Gewerkschaften im Betrieb, saß er damals direkt hinter Geschäftsführer Spendel. 13. O-TON Konstantin Draginov 20 sek SPRECHER 1 Man kann die Norm einfach nicht schaffen. Ich hab's versucht. Es geht einfach nicht. Dieser CNC-Cutter hier verlangt von mir in einem Arbeitsgang 40 bis 50 Operationen. Niemand kann das mit den neuen Normen schaffen. ERZÄHLER Am CNC-Cutter werden mehrere Stofflagen so gepresst, dass sich aus ihnen computergesteuert viele Teile eines Sakkos gleichzeitig herausschneiden lassen. Konstantin Draginov holt seine letzten Gehaltsabrechnungen hervor. Kein einziges Mal tauchen dort bei der Normerfüllung die 100 Prozent auf. 14. O-TON Konstantin Draginov 32 sek SPRECHER 1 Sie geben mir eine Aufgabe für den Tag. Jeder Handgriff hat eine Zeitvorgabe und einen Code. Und jeden Handgriff muss ich auf einem Tablet-PC dokumentieren. Die Norm ist zwar nicht höher als früher. Aber die Zeit, die ich benötige, um nun jeden Handgriff auf dem Tablet zu dokumentieren, wurde nicht ausreichend berücksichtigt. Für einige Arbeitsgänge habe ich nur 20 Sekunden. Und verliere dann die meiste Zeit nicht bei der eigentlichen Arbeit, sondern dabei, die bereits geleistete Arbeit in das neue Computersystem einzugeben. - das ist völlig absurd... ERZÄHLER Schon kurz nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 hatte Draginov einen 23 Tage währenden Streik organisiert. Dessen Ergebnis war ein Kollektivvertrag, der den Beschäftigten einen realen Lohnzuwachs von fünf bis sechs Prozent sicherte - jedes Jahr. 15. O-TON Konstantin Draginov 29 sek SPRECHER 1 Dann hat Rollmann ein computergestütztes Überwachungssystem für die Normerfüllung eingeführt. Und damit ist es ihm gelungen, die bisherigen Lohnerhöhungen in kürzester Zeit außer Kraft zu setzen. Leider gibt es in Bulgarien kein Gesetz, was die Festlegung von Normen regelt. Und so kann jeder Arbeitgeber machen, was er will. So kann man über höhere Normen großen Einfluss auf das Gehalt nehmen. ATMO unter Erzähler Kreuzblende mit Folgeatmo ERZÄHLER Die meisten Mitarbeiter, sagt Konstantin Draginov, würden nun gerade einmal 60 Prozent der Norm schaffen. Nur sehr wenige kämen auf 100 Prozent. Wieso aber schaffen einige Mitarbeiter die Norm und andere nicht? In dieser Frage stehen sich Betriebsführung und Gewerkschaft Podkrepa zurzeit unversöhnlich gegenüber. 16. ATMO Werkhalle, kurz frei stehenlassen, unterblenden, stehenlassen ERZÄHLER Bertram Rollmann macht den ersten Betriebsrundgang des Tages. Er ist gern bei den Näherinnen und Büglern. Viele grüßen freundlich. Andere nehmen gar keine Notiz von ihm. Draginov und seine Gewerkschaft würden nicht sehen, wie sehr er um den Bestand des Werkes kämpfen müsse, sagt Rollmann. Klar würde er seine Arbeiter gern besser bezahlen. Aber dazu müsste er erst einmal höhere Einkaufspreise erzielen. 17. O-TON Bertram Rollmann 1:48 Diese Zieleinkaufspreise, die errechnen die Kaufleute durch die Analyse der volkswirtschaftlichen Daten der Länder. Die sagen, die bulgarische Statistik sagt, der Mindestlohn ist ungefähr 280 Euro. Die Bekleidungsindustrie kann höchstens 20 Prozent überm Mindestlohn akzeptieren. Das sind 340 Euro. Dann sagt er, der Unternehmer muss ja auch noch leben. Also Arbeitslohn brutto, 20 Prozent zusätzliche Sozialkosten plus, sagen wir mal, 100 Prozent für das Unternehmen. Das heißt, damit müssen die Gebäudekosten, die Stromkosten usw. bezahlt werden. Dann kommt er auf einen Minutensatz, der irgendwo zwischen acht und zehn Eurocent liegt bei Bulgarien. Dann hat er da ein Produkt, sagen wir mal: eine Hose. Die Hose hat eine Vorgabezeit. Hier in Bulgarien von vielleicht 60 Minuten. Dann sagt der 60 mal 8 Cent, das sind 4,80 Euro 00:59:27 Und mit diesem Wert geht er dann in die Betriebe und versucht, Aufträge zu platzieren. ATMO 16 unter Erzähler Kreuzblende mit Folgeatmo ERZÄHLER Lange Jahre hatte Bertram Rollmann auch ein Werk in Griechenland. Bis 1989 zahlten die Einkäufer ihm dort bis zu 64 D-Mark für einen Anzug. Als er in den 1990er Jahren seine Produktion in Bulgarien startete, wollten sie ihm kaum mehr als 22 D-Mark zahlen. Inzwischen sind die Preise wieder gestiegen. Wieviel er heute für einen Anzug bekommt, will er nicht sagen. Schaut man sich statistische Daten an, dürften ihm aber die wenigsten Marken mehr als 24 Euro bezahlen. Wie aber soll er damit Löhne bezahlen, die die von ihm ausgebildeten Näherinnen, Techniker und Programmierer immun machen gegen die immer lauter werdenden Lockrufe aus West- und Nordeuropa? 18. ATMO Fußgängerzone Gotse Delchev, Cafégeräusche, Stimmengewirr, leise Musik unter Erzähler Kreuzblende mit Folgeatmo ERZÄHLER Durch Gotse Delchevs gepflegte Innenstadt weht an diesem Vormittag ein kühler Wind. Verkäuferinnen stehen in Steppwesten vor kleinen Läden und blinzeln in die Sonne. Junge Mütter sind gutgelaunt mit ihren Kinderwagen unterwegs. Die Cafés haben Stühle herausgestellt. Die Tische sind gut besetzt. 19. ATMO Fußgängerzone Stimmen / Musik unterblenden 20. O-TON Henry Michailov, 27 sek SPRECHER 2 Mein Name ist Henry Michailov. Ich bin Bauingenieur. Ich war 33 Jahre alt, als ich Bertram Rollmann das erste Mal begegnete. 1990, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, brach auch in dieser Stadt alles zusammen. Und ich wurde damals als Kandidat einer neuen Bürgerbewegung, der Union der Demokratischen Kräfte, zum Bürgermeister gewählt. ERZÄHLER Henry Michailov, ein untersetzter, breitschultriger Mann, sitzt in einem Restaurant am Ende der Fußgängerzone von Gotse Delchev. 21. O-TON Henry Michailov, 1:03 SPRECHER 2 Ich und meine Mitarbeiter haben damals versucht, den Untergang aufzuhalten. Doch dann kam der sogenannte Lukanov-Winter, benannt nach dem Nachfolger des gestürzten Parteichefs Todor Schiwkow. Der Zusammenbruch war so total, dass ich gezwungen war, Lebensmittelmarken einzuführen. Wie nach dem Krieg. Für Brot. Für Käse. Für Butter. Für Öl. Unsere beiden Tankstellen hatten kaum noch Benzin. Und dann begannen zu allem Unglück auch noch die Arbeiter in den Betrieben zu streiken. Die Menschen liefen niedergeschlagen, traurig, wie gebückt und wütend herum. Das bisherige Leben hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. 22. O-TON Henry Michailov, 40 sek SPRECHER 2 Ein Abgeordneter meiner Partei rief mich eines Tages an. Er sagte, es gäbe da einen deutschen Investor. Ob ich ihn empfangen würde? Das war zu einer Zeit, als fast alle Betriebe ihre Produktion eingestellt hatten. Die Arbeiter gingen zwar zur Arbeit. Aber sie erhielten schon Monate keinen Lohn mehr. Ich befürchtete, dass bald etwas Schlimmes passieren würde. Dann klingelte mein Telefon. Am anderen Ende war Herr Rollmann und fragte, ob er mich treffen könne. Es war bereits spät abends. Aber natürlich fuhr ich sofort ins Büro. Und dort stand er dann. Sehr lebhaft, sehr freundlich, ein junger und hochgewachsener Mann. 23. O-TON Bertram Rollmann 1:25 Zwanzig Jahre hatte ich den Betrieb in Griechenland. Zwanzig Jahre, in denen auch die Kunden recht zufrieden waren. Aber dann, 92/93, gab es die ersten intensiven Bewegungen der Anbieter aus dem ehemaligen Ostblock, die Preise zu unterwandern, die sich etabliert hatten. die kamen dann mit Angeboten mit 15 D-Mark, 14 D-Mark. Ich habe das relativ früh mitbekommen. Und mir war schon von 92 an klar, dass ich mich umschauen muss, sonst verliere ich meinen Betrieb. Und dann begann die Suche in Albanien, Mazedonien, Bulgarien und Rumänen. Und so bin ich nach Gotse Delchev gekommen. 24. O-TON Henry Michailov 22 sek SPRECHER 2 Wissen Sie, die Situation war damals so, dass die Arbeiter dort nur herumsaßen. Es gab keine Arbeit. Es gab kein Geld. ERZÄHLER Gerade hatte ein französischer Investor, der in der Stadt eine Großbäckerei ansiedeln wollte, einen Millionenkredit veruntreut. Und nun wollte einer in einer Stadt, in der es nicht eine einzige ausgebildete Näherin und keinen einzigen Textilingenieur gab, eine Bekleidungsfabrik eröffnen? Bürgermeister Michailov hatte allen Grund skeptisch zu sein. Er schickte Rollmann in den größten Betrieb der Stadt. Ein UKW-Werk, in dem bis 1989 Funkanlagen für den Warschauer Pakt hergestellt wurden. 25. O-TON Henry Michailov, Bürgermeister 1990-1993 53 sek SPRECHER 2 Die erste große Investition von Rollmann war es, eine Halle auf dem Gelände herzurichten. Teile der Produktion wurden in umliegende Dörfer ausgelagert, wo es damals auch keine Arbeit gab. Er war der erste, der hier wirklich viele Jobs schuf. Stellen Sie sich vor: Er begann mit 150 Leuten. Später waren es 3000. Dazu noch einmal 1000 in den umliegenden Dörfern. Insgesamt 4000 Arbeitskräfte. Rollmann ist eine herausragende Persönlichkeit. Er ist mit keinem der anderen Unternehmer zu vergleichen, die hier tätig sind. 26. ATMO Produktionshalle unterblenden, stehenlassen ERZÄHLER Im Werk ist die Mittagspause zu Ende. Bertram Rollmann hat in der Kantine sein mitgebrachtes Pausenbrot gegessen, ein paar Worte mit den Köchinnen gewechselt, als eine Arbeiterin ein Problem mit einer Maschine meldet. Wieder muss er durch die Hallen eilen. Acht Kilometer, sagt er, kämen so jeden Tag zusammen. 27. ATMO Rollmann erklärt und gibt Anweisungen ERZÄHLER Eine Näherin zeigt ihm ein Stück. Irgendetwas mit den Nähten stimmt nicht. Rollmann befühlt den Stoff. Hört zu. Macht Vorschläge. (0:46 Rollmann: "... ne ma tvoinik." Arbeiterin: "Da." Rollman: "Ako e tschisto ne ma problem.....") Gibt Anweisungen. Die Frau nickt. Dann muss er weiter. Die Frau und ihre Kolleginnen lächeln ihm hinterher. ATMO Produktionshalle, stehenlassen 28. O-TON Magdalena Kristeva 40 sek SPRECHERIN Eigentlich hat Pirin Tex damals nur mit sehr wenigen Arbeitern angefangen. Aber was man von denen hörte, war unglaublich. Vor allem erzählten die Leute, dass in diesem Betrieb der Lohn immer pünktlich bezahlt würde. Und das in einer Zeit, in der die Menschen in anderen Betrieben fünf, sechs Monate arbeiteten, ohne dafür bezahlt zu werden. (Achtung: Stimme bleibt oben) ERZÄHLER Magdalena Kristeva ist seit 2001 Näherin bei Pirin Tex. Vorher hat sie mal hier mal da gejobbt. Viele Jahre war sie arbeitslos. Eine entwürdigende Zeit sei das gewesen. Als sie zu Pirin Tex kam, hatte sie keine Ahnung von der Schneiderei. Die Firma habe ihr alles beigebracht. Auch bei ihrer Kollegin Maria Soleva war das so. 29. O-TON Maria Soleva 25 sek SPRECHERIN Ich habe hier als Arbeiterin angefangen und meine erste Arbeit war an einem Automaten, mit dem Sakkotaschen genäht wurden. Eines Tages gab es ein Problem mit der Maschine. Der Techniker konnte das Problem nicht lösen. Dann kam ein anderer Mann. Er brauchte mehr als zwei Stunden, die Maschine wieder in Gang zu bringen. Was ich nicht wusste, das war Herr Rollmann, der Mann, dem das Unternehmen hier gehörte. 30. O-TON Magdalena Kristeva 10 sek SPRECHERIN Es gibt ein Problem. Dieser Mann kommt. Er setzt sich hin. Er näht selbst. Wenn es sein muss, krempelt er die Ärmel hoch, legt sich unter die Maschine. Er arbeitet mit uns zusammen. Also das war die allergrößte Überraschung. ATMO 26 Produktionshalle unter Erzähler wegblenden ERZÄHLER Was viele Mitarbeiter wissen: Bertram Rollmann kommt aus einer Schneiderfamilie. Was viele nicht wissen: Bertram Rollmann ist kein Schneider. Er ist gelernter Werkzeugmacher. 31. O-TON Bertram Rollmann 21 sek Ursprünglich komme ich aus der Gegend von Aschaffenburg, aus einem kleinen Dorf Pflaumheim und bin der zweite Sohn eines Schneiders... Ja, ich habe acht, neun! Geschwister, sorry, neun Geschwister. Und die neun Geschwister sind zum großen Teil auch in der Bekleidungs- und Textilbranche tätig. ERZÄHLER In den 1960er Jahren war die Gegend um Aschaffenburg ein Zentrum der deutschen Textilindustrie. Viele Bauern verdienten sich in den Wintermonaten mit Lohnnäherei etwas dazu. So wie auch Alfred Rollmann und seine Frau Helga. 32. O-TON Bertram Rollmann 22 sek Schon als Kleinkinder haben wir die meiste Zeit in der Nähwerkstatt verbracht. Das war entweder zu Hause bei uns, wo man dann den Mittagsschlaf in einer Stoffmulde (lacht) absolviert hat, die hinter einer Nähmaschine stand, um fertig genähte Teile aufzufangen. (Achtung: Stimme bleibt oben...) ERZÄHLER Aus Alfred Rollmanns neun mal vier Meter großer Nähwerkstatt wird schon bald ein kleines Unternehmen. Im hessischen Kleestadt wird eine alte Schule erworben und 1965 die Alfred und Heribert Rollmann OHG gegründet. 33. O-TON Bertram Rollmann 1:10 Als Kinder haben wir dann mitgeholfen, diese Schule auszuräumen, zu plündern, (lacht). Ja, da haben wir damals dieses Gebäude sukzessive entkernt, geputzt, geschrubbt hat, bis sie blank waren. Für uns war das eine Art Projekt, an dem wir verstehen lernen konnten, was es bedeutet, in Unternehmen (Stimme bricht etwas) ..., so ein Unternehmen von Anfang an aufzubauen. ERZÄHLER Das Unternehmen wächst, beliefert bald einige der großen Marken. 34. O-TON Bertram Rollmann 23 sek Mein Verhältnis zu dem Beruf meines Vaters hat sich während der Pubertät extrem verändert. Man hat gemerkt, dass die Eltern nur noch arbeiten, man hat gemerkt, dass die Eltern eigentlich keine Zeit haben. Und man hat sein Eigenleben begonnen mit zwölf, dreizehn, ja. Das war eine wilde Zeit. ERZÄHLER Er bleibt in der neunten Klasse sitzen, verlässt mit 15 das musische Gymnasium. Alkohol, Mädchen, Discos. Er wird Mitglied in einem Rockerclub, trägt lange Haare - alles ist nun wichtiger als das Lernen. 35. O-TON Bertram Rollmann 35 sek Sie können sich ja nicht vorstellen, was man damals gemacht hatte. Da würde man heute in die terroristische Szene eingeordnet werden. Schwarzpulver gemacht, Bomben gebaut, vorm Pfarrhaus die Bank gesprengt. So Sachen hat man gemacht. Aus Jux und Tollerei. Vandalismus pur. ERZÄHLER Lange sucht er vergeblich eine Lehrstelle. Bis ihm eine Metallfirma und ein begnadeter Lehrmeister schließlich eine Chance geben. 36. O-TON Bertram Rollmann 54 sek Das ist der Klick von einem Taugenichts zum Menschen. Also wenn ich die Lehre nicht gemacht hätte, die duale Berufsausbildung, da wäre ich vor die Hunde gegangen. Da wäre ich als Trinker, Rauschgiftsüchtiger oder Kleinkrimineller. (lacht) gelandet. ERZÄHLER Nach drei Jahren beendet Bertram Rollmann seine Lehre als Werkzeugmacher mit dem zweitbesten Ergebnis in Unterfranken. Er fängt im Betrieb seines Vaters als Mechaniker an. 37. O-TON Bertram Rollmann 57 sek Ende der ... Siebziger gab es in der Bekleidungsindustrie einen enormen Boom. So dass die in Deutschland etablierten Produktionskapazitäten nicht mehr ausreichten, die verkauften Stücke zu produzieren. ERZÄHLER Alfred Rollmann sucht gemeinsam mit seinem Kunden neue Produktionsstandorte. Irland und Portugal scheiden aus. Dann findet man die kleine Fabrik im griechischen Katerini, in der 75 Näherinnen unter hohem Kostendruck Hemden für den deutschen Markt produzieren. Sechs bis sieben D-Mark bekommt die Fabrik damals für ein Hemd. Bertram Rollman soll die Fabrik leiten, soll die Hemden- auf eine Anzugproduktion umstellen. 38. O-TON Bertram Rollmann 1:02 Ich war fünfundzwanzig. Einen Karfreitag Mittag hat man mich aus Griechenland angerufen. Das war der ehemalige Besitzer dieser Firma. Er sagt, ich hab meinen Leuten gesagt, dass ich sie verkauft habe. Jetzt ist dort Panik. Die Leute wissen nicht, was kommt. Herr Rollmann, setzen Sie sich doch am besten in den Flieger, Ostermontag, fliegen runter und beruhigen die Leute. (lacht) Und, ja, da bin ich Ostermontag 81, runtergeflogen ohne eine Wort Griechisch, zum ersten Mal in meinem Leben geflogen, wusste nicht, was da auf mich zukommt. Ich war genauso verunsichert wie die vielen ... Arbeiter in dieser Firma. ERZÄHLER Bertram Rollmann beruhigt die Arbeiterinnen, baut den Betrieb um, lernt Griechisch. Erfährt, wie die Papandreou-Regierung die Substanz des Landes aushöhlt. Wie Konkurrenten den Staat betrügen. Er erlebt große Streiks. Und noch heute hat er die Lieder im Ohr, die seine Näherinnen während der Arbeit sangen. 39. MUSIK CD Averofs Woman Prison (Label: Protasis, Code: 1033-2, Titel 15 ?? - Der Karneval) 40. O-TON Bertram Rollmann 46 sek Ich hatte ein Fenster, ich konnte raus auf die Produktion gucken. Und unten haben die Leute gearbeitet und Die Leute haben gesungen. So war das. Das waren Lieder, sagen wir mal kommunistische Kampflieder. Das war für mich eine schon ergreifende Mannschaft, ja. Weil ich kannte das ja nicht mehr in Deutschland, dass man da gesungen hätte. So dieser kollektive Geist, der war in Griechenland noch ganz gut vorhanden. Ja. Und sukzessive haben wir dann die Qualität entwickelt, die man ja produzieren muss, damit die Kunden zufrieden sind. (Achtung: Stimme bleibt oben) ERZÄHLER Zu dieser Zeit verdoppelt die Papandreou-Regierung per Gesetz die Löhne. Um aber westliche Unternehmer nicht zu vertreiben, zahlt sie jedem pro 100 D-Mark exportierten Warenwert 30 Prozent oben drauf. Diese Praxis öffnet der Wirtschaftskriminalität Tür und Tor. Gleichzeitig nehmen die Behörden hin, dass die Schattenwirtschaft explodiert. 41. O-TON Bertram Rollmann 1:14 Die Betriebe haben ihre Leute oftmals nur zehn, zwölf Tage krankenversichert im Monat, haben sie aber einen ganzen Monat beschäftigt. Die gleiche Praxis haben wir immer noch auch in Bulgarien in vielen Betrieben. Ich war im zweiten Jahr in Griechenland, dann sagt man mir an einem Tag, die Rebecca, das war eine Mitarbeiterin von uns, 27 Jahre alt, Büglerin, "die hat Leukämie". Die war bei mir gerade mal zwei Jahre eingestellt. Auf jeden Fall hatte diese Frau trotz ihrer schweren Krankheit keinen Rentenanspruch, kein Garnichts. Weil sie bei ihren vorherigen Arbeitgebern nicht versichert war. Damals ist mir ganz klar geworden, dass es ein ziemlich großes Verbrechen eines Unternehmers ist, wenn er sich nicht darum kümmert, dass seine Leute kranken- und sozialversichert sind. ERZÄHLER Während das Unternehmen in Katerini noch bis 2001 weiterläuft, wächst das neue Unternehmen in Bulgarien stetig. 2006 ist die Belegschaft bereits auf über 2000 Mitarbeiter angewachsen. Gearbeitet wird in zwei Schichten. Oft müssen wegen Großaufträgen Überstunden geleistet werden. Die Löhne sind bis zu diesem Zeitpunkt jedes Jahr leicht gestiegen. Dennoch kommt es 2007 zum Streik. 42. O-TON Bertram Rollmann 30 sek Das war, als Bulgarien in die EU eingetreten ist und sich die Menschen, und besonders auch die Gewerkschafter vorgestellt hatten, dass sich mit dem Eintritt in die Europäische Union dann automatisch die Einkommen europäisieren. Man hat mit Einkommenssprüngen von 50 bis 80 Prozent gerechnet. Aber da waren die Gewerkschafter leider halt nicht auf der richtigen Schiene, würde ich sagen. 43. ATMO Garibaldi-Platz Sofia ERZÄHLER Rossitza Marinova, ist bei Bulgariens mächtigster Gewerkschaft Podkrepa veranwortlich für die Textilindustrie des Landes. Und somit auch für Pirin Tex. Sie residiert, hunderte Kilometer von Gotse Delchev entfernt, im Zentrum der Hauptstadt Sofia. Aus ihrem Büro schaut sie hinunter auf den lebhaften Garibaldiplatz. Stimmen aus einem Café dringen herauf. Kinder trainieren auf Skateboards. 17 Tage habe der Ausstand bei PirinTex damals gedauert, sagt Rossitza Marinova und schließt das Fenster. ATMO Garibaldi-Platz aus oder leise, gedämpft im Hintergrund ? 44. O-TON Rossitza Marinova 1:38 SPRECHERIN Dank dieses Streiks wurde am Ende ein kollektiver Rahmenvertrag ausgehandelt. Man muss wissen, dass in Bulgariens Textilbranche 90 000 Menschen in rund 3000 Betrieben arbeiten. 98 Prozent von ihnen arbeiten für den Export. Aber die Arbeiter gehören zu den am schlechtesten bezahlten im ganzen Land. Der mit Herrn Rollmann geschlossene Vertrag setzte für die gesamte Branche Maßstäbe. Als erstes wäre da das Gehalt zu nennen. In Bulgarien erhalten Textilarbeiter im Durschnitt umgerechnet zwischen 250 bis 300 Euro im Monat. Pirin Tex zahlte nun im Durchschnitt 400 Euro. Statt die gesetzlich vorgeschriebenen 20, erhielten die Leute dort nun 26 Tage Urlaub. Dazu monatliche Prämienzahlungen von 50 Euro, Lebensmittelgutscheine, kostenlosen Transport, einen betriebseigenen Kindergarten, ständige betriebliche medizinische Versorgung. All das sind Bedingungen, die es in keinem anderen Betrieb in Bulgarien gab oder gibt. 45. ATMO Werkhalle Pirin Tex 46. O-TON Bertram Rollmann 22 sek Wir hatten in 2007 ´nen Streik, ja, es war fast tödlich für unser Unternehmen, weil die Aufträge, die wir für die Kunden im Haus hatten, nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnten und schon Verzögerungen von mehr als zwei Wochen mit Konventionalstrafen oder auch Entzug von zukünftigen Aufträgen belastet werden können. ATMO 44 unter ausblenden ERZÄHLER Bertram Rollman wandte sich an seine Kunden, allesamt bekannte Marken. Er bat sie, ihm einen besseren Preis für seine Produkte zu zahlen und damit ihren Beitrag zu einer besseren Bezahlung seiner Arbeiterinnen zu leisten. Einige stimmten zu. Einer seiner größten und langjährigsten Kunden aber wandte sich daraufhin ganz von seiner Firma ab. Pirin Tex verlor auf einen Schlag 25 Prozent seiner Aufträge. Heute, über 10 Jahre später, hat Bertram Rollmann ein ganz anderes Problem. 47. O-TON Bertram Rollmann 29 sek Vor acht Jahren hab ich mich mit großem Elan und mit großem Enthusiasmus für die Einführung des Dualen Berufsausbildungssystems in Bulgarien eingesetzt. Und bin mit meiner Firma und eigenem Projekt dem Land etwas vorangegangen, um zu zeigen, dass es geht. ERZÄHLER Bertram Rollman steht in einem großen Saal mit leeren Arbeitsplätzen. 300 Quadratmeter groß ist der Ausbildungsbereich der Firma Pirin Tex. Auf den mit Plastikhüllen abgedeckten Nähmaschinen liegt Staub. Die Bügelautomaten sind verstummt. Niemand zieht sich mehr in den modernen Umkleideräumen um. Die Wasserhähne im extra gebauten Sanitärtrakt wurden schon lange nicht mehr aufgedreht. Unter den Füßen spürt Bertram Rollmann ein leises Vibrieren. Die Fabrik lebt. Aber hier herrscht eine fast gespenstische Stille. 48. O-TON Bertram Rollmann 46 sek Damals waren es knapp 30 Lehrlinge, die wir jedes Jahr hatten. Die Lehrlinge hatten im ersten Lehrjahr einhundert Prozent nur in der Lehrwerkstatt zu tun. Im zweiten und dritten Jahr wurden sie dann in der Produktion an allen möglichen wichtigen Operationen der einzelnen Produkte ausgebildet. Als dann die Freizügigkeit einsetzte, wurden es von Jahr zu Jahr weniger Lehrlinge. Mit dem Ergebnis, dass wir im vorletzten Jahr unser Projekt abbrechen musste, weil die Kosten in keinem Verhältnis zum Ergebnis standen. 49. ATMO Fußgängerzone Gotse Delcev, Cafégeräusche, Stimmengewirr, leise Musik ERZÄHLER Im Restaurant in der Stadt winkt Henry Michailov dem Kellner. Der Ex-Bürgermeister will zahlen. Steht auf. Setzt sich wieder. Eines wolle er noch erzählen. Es gäbe da eine Krankheit. Und sie betreffe nicht allein Pirin-Tex. In Gotse Delchev nenne man sie die "Englische Arbeitslosigkeit". Eigentlich müsse man nicht von einer Krankheit, sondern von einer Epidemie sprechen. Viele Menschen, die in dieser Region lebten, gingen ins Ausland. 50. O-TON Henry Michailov 28 sek SPRECHER 2 Nicht nur nach England . Und nur für kurze Zeit. Sagen wir - für drei Monate zum Erdbeerpflücken vor allem nach England. Wenn sie zurückkehren, bekommen sie hier ein Arbeitslosengeld wie in England. Drei, sechs oder acht Monate lang erhalten sie dann ein Arbeitslosengeld, das dreimal höher ist, als der hiesige Durchschnittslohn. Je nachdem, was und wie lange sie in England gearbeitet haben. ERZÄHLER Bereits vor Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit hatten mehr als eine Million Bürger Bulgarien verlassen. Seitdem hat sich die durch das innereuropäische Lohngefälle hervorgerufene Wanderungsbewegung Richtung Westeuropa weiter verstärkt. Und zwar so sehr, dass sie inzwischen das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung Bulgariens gefährdet. Die Europäische Sozialpolitik und die auf ihr beruhenden bilateralen Verträge der Mitgliedstaaten verschärfen den Arbeitskräftemangel zusätzlich. Die sogenannte "Englische Arbeitslosigkeit" ist für Henry Michailov der derzeit sichtbarste Ausdruck für diese Verwerfungen. 51. O-TON Henry Michailov 14 sek SPRECHER 2 Eine Abteilungsleiterin im Arbeitsamt sagte mir, dass sie in einigen Fällen gezwungen sind, umgerechnet zwischen 800 bis 900 Euro auszuzahlen, so dass in der Mitte des Jahres schon kein Budget mehr da ist für neue Arbeitslose. ATMO 50 unter Erzähler Kreuzblende mit Folgeatmo ERZÄHLER Ein Anruf beim bulgarischen Sozialversicherungsinstitut: Laut bilateralem Abkommen können Bulgaren bis zu 60 Prozent ihres englischen Gehalts als Arbeitslosengeld erhalten. Aber nur, wenn sie mindestens neun Monate in England sozialversichert beschäftigt waren. Was bei Saisonarbeitern in der Regel nicht der Fall ist. Für den Höchstsatz von 900 Euro Arbeitslosengeld, müsste ein Bulgare über die neun Monate zudem jeden Monat mindestens 1500 Euro verdient haben. Laut EU-Verordnung Nr. 883 aus dem Jahre 2004 ist England verpflichtet, dem bulgarischen Staat das ausgezahlte Arbeitslosengeld zu ersetzen. Doch seit Jahren gebe es Probleme mit dem Transfer, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. 52. ATMO Werkhalle Pirin-Tex ERZÄHLER Es ist früher Nachmittag als eine Mitarbeiterin der Personalabteilung Bertram Rollmann einen Stapel Mappen auf den Tisch legt. ATMO 53 unter O-TON wegblenden 53. ATMO Bulgarische Stimmen im Hintergrund / 11 sek Bertram Rollmann zählt: "...was haben wir hier?" Rollmann: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Kündigungen beziehungsweise Entlassungen. 54. O-TON Bertram Rollmann 21 sek Bis 2015 sind wir gewachsen als Unternehmen. Wir hatten damals ca. 3500 Mitarbeiter. Heute haben wir noch 1500 Mitarbeiter. ERZÄHLER Es begann in Nord-Bulgarien, wo heute ganze Landstriche verödet sind. Wo in Dörfern Tausend Häuser stehen, aber manchmal kaum mehr als fünf Einwohner leben. In Bertram Rollmanns Betrieb zeigten sich die ersten Anzeichen der beschleunigten Arbeitsmigration zunächst als eine Art Spätfolge der bulgarischen Nachwendezeit. 55. O-TON Bertram Rollmann 59 sek Viele Menschen haben sich hier so im Zeitraum des EU-Beitritts hoch verschuldet. Haben Autos gekauft, Wohnungen gekauft, haben sich nicht ihrem Einkommen entsprechend finanziert. Man sagt hier "böse Kredite". Und haben dann massiven Druck durch die Kreditgeber bekommen, die dann angedroht haben, die Immobilien zu kassieren oder das Auto zu kassieren usw. usf. Wir haben viele, viele Fälle, wo Menschen aus Unwissenheit bei Arbeitskollegen eine Bürgschaft für einen Kredit unterschrieben haben. Und plötzlich war dieser Kollege nicht mehr da. Hat den Kredit ausgenutzt, hat den nicht zurückbezahlt. Und dann hat sich die Bank an den Bürgen gewendet. 00:07:17 Meine Frau, die das Personalbüro leitet, sie wird fast tagtäglich mit solchen Fällen konfrontiert. ERZÄHLER Doch vor allem ist es das Lohngefälle, das die Menschen treibt. Wer die Chance hat, in England als Saisonarbeiter das bis zu dreifache des bei Pirin Tex gezahlten monatlichen Durchschnittslohns von etwa 520 Euro zu verdienen, der geht. Die Folge: Bertram Rollmann musste die zweite Schicht abschaffen. Neben den stillstehenden Maschinen im betriebseigenen Ausbildungszentrum sind zurzeit mehr als 400 Maschinen in der Produktion unbesetzt. Dabei gibt es in der Stadt genügend Menschen, mit denen er diese Plätze besetzen könnte. 56. O-TON Bertram Rollmann 38 sek Das sind Leute, die Arbeitslosengeld beziehen aus europäischen Ländern, in denen sie für eine kurze Zeit ... ein Arbeitsverhältnis hatten, erhalten. Und diese Arbeitslosen sind auf keinen Fall beflissen, ihr Arbeitslosenverhältnis zu beenden. ERZÄHLER Viele Arbeitslose, die zu dieser Zeit in den Cafés von Gotse Delchev sitzen, seien nebenbei im grauen Arbeitsmarkt beschäftigt. Verdienten schwarz auf die Hand. Diese Menschen würden Einkommen erzielen, wie Arbeiter oder Angestellte etwa in Ostdeutschland. Die westliche Berichterstattung über die armen Arbeitslosen in Osteuropa hält Bertram Rollmann für wenig differenziert. Und dann gäbe es da in letzter Zeit noch ein großes Problem. ATMO 57 stehen lassen 57. O-TON Bertram Rollmann 1:45 Es gibt hier in der Zwischenzeit Menschen, die gar nicht nach England gereist sind, um dort zu arbeiten. Sie haben ihre Dokumente nach England geschickt. In England gibt es Agenturen, die haben ... diese Menschen in irgendein Unternehmen eingestellt, haben die dort für drei, vier bis sechs Monate als angestellt laufen lassen, dort sozialversichert - und dann entlassen. Mit dem Effekt, dass sie dann vom englischen Arbeitsamt für diese Person, die sie da virtuell eingestellt haben, eine Bescheinigung bekommen, dass diese Person jetzt arbeitslos ist. Und dieser Schein wird dieser Person in Bulgarien zugeschickt. Und die Person kann mit diesem Schein dann auf dem bulgarischen Arbeitsamt diese englische Arbeitslosenhilfe in voller Höhe abkassieren. ERZÄHLER So dreht sich der Teufelskreis weiter. Obwohl Pirin Tex jede Arbeitskraft braucht, zwingt die massive Abwanderung Bertram Rollmann inzwischen zu weiteren Kündigungen. 58. O-TON Bertram Rollmann 32 sek Leider sind wir aufgrund dieses Abflusses gezwungen, im Bereich der Techniker, der administrativen Leute, aktiv noch zusätzliche Leute zu entlassen. Tut uns weh, weil wir da know how aufgebaut haben und uns jetzt von den Leuten trennen müssen, weil wir über die Produktion, die wir heute realisieren, nicht mehr den kompletten Apparat finanzieren können, der darüber stand. Und wir müssen darauf achten, dass die Proportion der Kosten uns nicht aus dem Ruder läuft. 59. ATMO Pirin Tex ERZÄHLER Davon betroffen ist nun auch der lange Jahre für ganz Südosteuropa als vorbildlich geltende Kollektivvertrag. Bertram Rollmann weiß nicht, wie er weitere Lohnerhöhungen finanzieren, geschweige denn, wie er die bisherigen Sozialleistungen weiter anbieten soll. Das ist der Grund, warum er den Vertrag nicht mehr verlängert und zum Ärger von Mitarbeitern und Gewerkschaften bisher feste Lohnbestandteile stärker an die Erfüllung der Normen gekoppelt hat. Kurz vor Schichtende ein Anruf. Ein neuer Kooperationspartner hat eine erste Marge Seidenblusen geliefert. Wird Bertram Rollmann dem Produzenten weitere Aufträge erteilen können? Seide ist ein schwieriges Material. Es verzeiht keine Fehler. 60. ATMO Prüfung der Seidenblusen 61. O-TON Bertram Rollmann 59 sek ... Ja, keine Fäden. ... Hier habe ich einen kleinen Fleck ... der muss behandelt werden ... kann so nicht gehen! (ab hier unterblenden/Achtung O-Ton ist für Kreuzblende unter Erzähler vorn und hinten länger) ERZÄHLER Rollmann versucht flexibel zu sein. Versucht Aufträge, die er aufgrund der eigenen Arbeitskräftesituation ablehnen müsste, an kleinere bulgarische Firmen abzugeben. 62. O-TON Bertram Rollmann (hochblenden) 1:30 ... das müssen wir kennzeichnen. Dann wird jemand versuchen bei uns, dass wegzubekommen ... (unterblenden/Achtung O-Ton ist für Kreuzblende unter Erzähler vorn und hinten länger) ATMO Prüfung Seidenblusen, unterblenden ERZÄHLER Inzwischen haben alle Betriebe mit den gleichen Problemen zu kämpfen. 63. O-TON Bertram Rollmann 22 sek Gestern hatte ich einen Anruf von jemandem, der sucht dringend einen Produzenten für 12.000 Hosen. 12.000 Hosen! Das ist ein ordentliches Päckchen. Er sagt, seit vierzehn Tagen sucht er in Bulgarien, in Rumänien nach Produzenten für diese Hosen und findet niemanden. 64. O-TON Bertram Rollmann 34 sek Wenn wir heute den Vergleich ziehen zwischen den Produzenten für Bekleidung China und Südosteuropa, dann kann man sagen, dass die chinesischen Arbeiter in der Zwischenzeit nicht mehr weniger, sondern eher mehr verdienen als unsere Mitarbeiter hier. Ich hatte erst in der letzten Woche ein Treffen mit chinesischen Unternehmern. In Ballungszentren wie Shanghai sagen sie, da müssen sie 600, 700 Euro zahlen, damit sie Leute an die Maschine bekommen. ERZÄHLER Und das ist ein weiteres Dilemma. Es gibt wieder einen Bedarf an europäischen Kleiderproduzenten. Doch die haben nicht mehr das Personal, um die Nachfrage zu decken. Zur gleichen Zeit stimulieren die Europäischen Union und die nationale Sozialgesetzgebung ihrer nordeuropäischen Mitglieder bewusst die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften aus Osteuropa. Eigene Arbeitskräfteprobleme werden auf Kosten von Saaten wie Bulgarien gelöst. 65. O-TON Bertram Rollmann 30 sek Diese Politik, die ist für diese Länder hier eine Katastrophe. Nicht nur im Bereich der Arbeitenden. Wir haben ja auch den Brain Drain, weil im Augenblick die Konjunktur in den entwickelten Ländern, eben viele Arbeitsplätze anbietet. Mit dem Effekt, dass hier in den ärmeren Ländern, Bulgarien, Rumänien, die Substanz für die weitere Entwicklung wegbricht. 66. ATMO Betriebstor öffnet sich quietschend / Stimmen / Busmotoren / Bus fährt ab / Tor schließt sich ERZÄHLER 18:00 Uhr. Feierabend. Das Tor öffnet sich. Die Busse warten. Die Fahrer flachsen. Arbeiterinnen und Arbeiter kommen aus den Hallen, vereinigen sich zu einem Strom. Die Betriebswachen schauen stichprobenartig in Taschen und Beutel. Hinter den Busscheiben sieht Bertram Rollmann müde Gesichter. Welche wird er morgen wiedersehen? Er weiß es nicht... 67. O-TON Bertram Rollmann 1:14 Ich wäre für einen europäischen Mindestlohn, der über alle Länder gleich ist. Ich bin der Meinung, dass diese große Lohndifferenz, die wir heute haben, nicht mehr lange gehalten werden kann. Wenn wir die Länder nicht zu Notstandsgebieten verkommen lassen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass diese Länder einen Standard bekommen, der vergleichbar ist mit den europäischen Ländern. Ich meine, dieses Phänomen, das wir jetzt haben, wird in fünfzehn bis zwanzig Jahren erst seine volle Durchschlagskraft entfalten. Wenn die, die heute arbeiten, in Rente gehen wollen und keine Jungen mehr da sind, die die Renten finanzieren. Die Rentner dieser Länder müssen dann von Europa versorgt werden. Stellen Sie sich das vor. ATMO 72 Tor schließt sich auf und wegblenden SPRECHERIN: Stich für Stich - Ein deutscher Unternehmer in Bulgarien Ein Feature von Mirko Schwanitz Es sprachen: Stefko Hanushevsky, Gregor Höppner, Tom Jacobs, Yvon Jansen und Anja Jazeschann Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Kiwi Eddy Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 2