Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Jägerin Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt Folge 2: Die Folterer Autoren: Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk/NDR 2022 Erstsendung: Dienstag, 26.07.2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Louis Ferdinand Thiele, Claudia Mischke, Lisa Bihl, Daniel Berger, Andreas Potulski, Hüseyin Michael Cirpici, David Vormweg und die Autoren Ton und Technik: Thomas Widdig Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Teil 2: Die Folterer Musik 01 Atmo Collage / Nachrichtenschnipsel "311 Tote, das ist die bisherige Bilanz nach Untergang des Flüchtlingsbootes vor der italienischen Insel Lampedusa" "Search Teams in Lampedusa pulled 38 more dead bodies from the Ship Wreck in Lampedusa bringing the Death toll to 232." "Vor der italienischen Insel Lampedusa gehen die Bergungsarbeiten an dem gesunkenen Flüchtlingsboot weiter. Taucher bringen immer neue Körper an die Oberfläche. Wieviele Leichen sich noch in dem Schiff befinden, ist nicht klar. Inzwischen wurden mehr als 200 Tote geborgen." Autor Am dritten Oktober 2013 sank ein Holzboot vor der italienischen Insel Lampedusa. 366 Menschen ertranken, sie waren Flüchtlinge aus Ostafrika. Mehr als die Hälfte von ihnen stammte aus Eritrea. Das Boot war aus Libyen gekommen, es gab keine Rettungswesten an Bord, kein Beiboot. 02 Atmo Präsident Giorgio Napolitano auf italienisch Autor Filmaufnahmen zeigen Turnhallen voller Särge, auf die man Blumen gelegt hat. In Italien wurde ein Volkstrauertrag ausgerufen, der Papst sprach von einem "Tag der Tränen" und der italienische Präsident Giorgio Napolitano forderte: Die Politik müsse das Leiden der Flüchtlinge beenden. Aber zu dem Zeitpunkt wusste in Europa kaum jemand, wer die Drahtzieher hinter dem Unglück waren: Wer hat die Flüchtlinge auf die Boote gesetzt? Was damals noch niemand ahnte ist: die Männer hinter den Bootsunglücken würden bald noch viel schlimmere Verbrechen begehen, Vergewaltigungen, Folter und Mord. Und niemand wird sie aufhalten. Oder doch? Musik Sprecher 3 Die Jägerin Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt Teil 2: Die Folterer Eine Feature-Serie von Paul Hildebrandt und Lucia Heisterkamp 03 Atmo Telefonklingeln 01 O Ton Estefanos: "I could hardly breathe. You know you have these people that are hostage and it became like a normal thing, you know, calling me.." OV Sprecherin 2 "Ich konnte kaum atmen. Die Anrufe der Geiseln vom Sinai waren beinahe normal geworden, mein Telefon klingelte den ganzen Tag und dann riefen mich zusätzlich noch verzweifelte Menschen an, die drohten auf dem Mittelmeer zu ertrinken. " Autor Es ist das Jahr 2014. Mehr als vier Jahre lang hatte Meron Estefanos da bereits täglich Anrufe vom Sinai erhalten. Am Telefon waren eritreische Flüchtlinge, die dort von Beduinen gefoltert wurden, um Lösegeld zu erpressen. Erst im Herbst 2013 zerstörte die ägyptische Armee die Foltercamps, aber die Anrufe bei Estefanos hörten nicht auf. Sie kamen jetzt nicht mehr vom Sinai sondern aus Libyen, von sinkenden Booten auf dem Mittelmeer. 04 Atmo: Meron schenkt Bier in Gläser "You want to try the Eritrean drink, Sua?" "Yes, why not." Autor Wir treffen Meron im Januar 2022 in ihrer Wohnung in Stockholm. Dort erzählt sie ihre Geschichte. Acht Jahre zuvor, im Jahr 2014, klingelte ihr Telefon beinahe ohne Unterbrechung. Die fliehenden Eritreer am anderen Ende der Leitung nannten sie "Mutter Meron". Weil sie kein Geld hatten, ließen sie das Telefon nur einmal klingeln, dann legten sie wieder auf. Und Etsefanos rief die unbekannten Nummern zurück. Alle. 02 O Ton Estefanos "Whenever a boat leaves, you ask a refugee: Who was your smuggler? And the person always says: Oh we belong to Walid, another one says: We belong to Kidane, we belong to Medhane." OV Sprecherin 2 Wenn ein Boot losfuhr, habe ich die Flüchtlinge am Telefon gefragt: Wer war dein Schmuggler? Und die Person sagte dann: Ich gehöre zu Walid oder: Wir gehören zu Kidane, wir gehören zu Medhane. Der Name des Schmugglers wurde in jedem Gespräch genannt, und ich habe immer wieder dieselben Namen gehört. Irgendwann wusste ich, wer diese Leute sind." 03 O Ton Estefanos: "You know, since 2011, I've been following tracking down these guys with the Sinai connection. OV Sprecherin 2 "Seit 2011 habe ich den Leuten nachgespürt, die damals beim Sinai mit verwickelt waren und was wirklich interessant war: Dieselben Leute, die dort mitgemacht haben, tauchten später in Libyen wieder auf und haben dort Leute geschmuggelt." Autor Estefanos sagt, sie habe sich in dieser Zeit Notizen gemacht. Wer sind die einflussreichsten Schmuggler? Sie erkannte: Die gleichen Männer, die Flüchtlinge an Folterer auf dem Sinai verkauft hatten, schmuggelten anschließend Flüchtlinge über Libyen nach Europa. Meron sagt, schon damals sei ihr der Name eines Schmugglers besonders aufgefallen, sein Name: Kidane Habtemariam Zekarias. 04 O Ton Estefanos: "So when a boat drowned the other smugglers, they give phone number, you know, they give the list of those that died." OV Sprecherin 2 "Also wenn ein Boot gesunken ist, dann haben die meisten Schmuggler eine Telefonnummer rausgegeben und eine Liste mit den Ertrunkenen. Dadurch wussten die Angehörigen Bescheid, was passiert war und konnten wenigstens trauern. Kidane hat das aber nicht gemacht. Wenn ein Boot gesunken war, hat er einfach sein Telefon abgeschaltet und die Nummer gewechselt." Autor Estefanos wird später erfahren, dass Kidane zu einer neuen, besonders brutalen Generation von Schmugglern gehört. Sie sagt, viele Schmuggler hätten Wert darauf gelegt, ihren guten Namen zu wahren, um neue Kunden zu gewinnen. Männern wie Kidane war das egal. Dieser Wandel liegt vermutlich auch an den politischen Umbrüchen der Zeit: Im Jahr 2014 tobte in Libyen schon seit drei Jahren ein heftiger Bürgerkrieg. Teile des Landes wurden von Milizen-Gruppen kontrolliert. Vor der Revolution lief der Schmuggel mit Flüchtlingen chaotisch. Die Flüchtlinge hangelten sich von Schmuggler zu Schmuggler, um kleine Strecken voranzukommen. Als Libyen im Chaos versank, explodierte das Geschäft mit den Flüchtlingen, Schmuggler und Milizen arbeiteten auf einmal zusammen. 05 O Ton Micaleff "So the human smuggling industry, that started changing when, after the revolution, a number of the, you know, endless lists of militias that currently make up the the landscape in Libya decided to get involved in human smuggling." OV Sprecher 5 "Die Menschenschmuggel-Industrie hat sich nach der Revolution komplett verändert, als die Milizen beschlossen, daran teilzuhaben." Autor Marc Micaleff ist einer der wenigen Experten weltweit, der sich intensiv mit dem Menschenhandel in Libyen beschäftigt hat. Er lebt und arbeitet in Malta, wir sprechen ihn am Telefon. Er arbeitet für die Organisation GIATOC: Der Global Initiative Against Transnational Organized Crime, die seit vielen Jahren zu Menschenhandel auf der ganzen Welt recherchiert. 06 O Ton Miceleff "This massively increase the capacity of of the human smuggling industry because whereas before, you know, boats had to be launched in darkness" OV Sprecher 5 "Das hat den Umfang des Schmuggels enorm gesteigert. Vorher mussten die Flüchtlingsboote heimlich im Dunkeln losgeschickt werden, aber das war jetzt nicht mehr nötig unter dem Schutz der Milizen. Autor Laut Micaleff etablierte sich eine effektive Arbeitsteilung: Die eritreischen Schmuggler warben die Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und dem Sudan an und brachten sie an die Küste. Die Libyer sorgten dafür, dass die Flüchtlinge auch ankamen. An jedem Flüchtling verdienten beide Parteien mehr als zehntausend Dollar pro Strecke. Pro Jahr verließen bis zu 200.000 Menschen Libyen mit Booten übers Mittelmeer. Es gibt Schätzungen, wonach im Jahr 2015 bereits drei Prozent des libyschen Bruttoinlandsproduktes durch Menschenschmuggel generiert wurde. Die Schmuggler waren vermutlich vorher selbst Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben. So auch Kidane, bestätigt Micaleff. 07 O Ton Micaleff (nicht übersetzt) "For instance, Kidane arrived as a migrant in Libya and then developed into a trafficker." Autor Zurück ins Jahr 2014: Nach dem schweren Bootsunglück vor Lampedusa im Oktober 2013 interessierten sich erstmals auch die Ermittler in Europa für den Schmuggel. Die italienische Staatsanwaltschaft in Palermo begann damals zu ermitteln. Sie nutzte dafür ihre Kompetenzen aus der Mafia-Bekämpfung. Die Ermittler hörten Telefone im großen Stil ab, sie observierten Facebook-Konten und ließen sich Geldtransfers offenlegen. Unterstützt wurden sie dabei von Ermittlern aus den Niederlanden, England und Schweden. Bekannt wurden diese Ermittlungen später als Operation Glauco und Operation Tekhlo. Schon im Jahr 2014 wurden erste Ergebnisse öffentlich, auch Estefanos wurden Auszüge daraus zugespielt. In diesen Akten steht, was sie schon lange geahnt hatte: Die Netzwerke der Schmuggler sind professionell organisiert, sie reichen über tausende Kilometer, von Eritrea bis nach Deutschland und Schweden. Überall sitzen Mittelsmänner, die den Menschenhandel verwalten. Ein grenzübergreifendes Geschäft, bei dem Menschen auf der ganzen Welt mitverdienen. 08 O Ton Estefanos "So, so going through this report, it mentions like the phone numbers of this traffickers" OV Sprecherin 2 "In den Berichten, die ich mir anschauen konnte, wurden auch Telefonnummern von den Menschenhändlern erwähnt, aus Schweden, Dänemark oder Deutschland. Und all diese Nummern sind in den Berichten abgedruckt. Sie sind öffentlich." Autor Estefanos war damals überzeugt: Mit diesem Wissen würden die Europäer nun endlich gegen die Menschenhändler vorgehen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis die Ermittler zuschlagen und Männer wie Kidane festsetzten. Und tatsächlich sah es zunächst nach einem Erfolg aus. 05 Atmo Nachrichtensprecher "The suspected head of a huge human trafficking between Africa and Europe has been extradited to Italy. Italian prosecutors say it is a huge major breakthrough. We are not talking about a simple organization here but a structured network." OV Sprecher 2 (Nachrichtensprecher): Der mutmaßliche Chef eines riesigen Schmugglerrings zwischen Afrika und Europa ist nach Italien ausgeliefert worden. Italienische Behörden sprechen von einem Durchbruch bei den Ermittlungen. Autor Am 08. Juni 2016 erklärte die italienische Staatsanwaltschaft in Palermo, man habe den Chef eines eritreischen Schmugglerrings im Sudan festnehmen lassen, sein Name ist Medhanie Yehdego Mered. Estefanos kannte diesen Mann bereits von ihren Recherchen. Sie hatte sogar schon am Telefon mit ihm gesprochen, einige Monate zuvor. In ihrer Radiosendung hatte sie über die Vorwürfe von Flüchtlingen gesprochen, die erzählten, der Schmuggler Mered sei Schuld an gesunkenen Booten. Daraufhin hatte der Estefanos angerufen, um seinen Ruf zu verteidigen. Wegen dieses Anrufes wurde Estefanos deshalb im Herbst 2016 als Zeugin nach Palermo geladen. Sie sollte von dem Gespräch berichten. Es gibt Filmaufnahmen aus dem Gerichtssaal, die später im schwedischen Fernsehen gezeigt wurden. 06 Atmo Filmaufnahmen Gerichtssaal Stimme auf italienisch Autor Estefanos betritt den Gerichtssaal, eine Dolmetscherin begleitet sie. Der Staatsanwalt blickt gelangweilt zur Decke, in einem Glaskasten sitzt der angeklagte Mann und knetet seine Hände. Dann beugt sie sich zum Mikro vor. 07 Atmo Filmaufnahmen Estefanos spricht 09 O Ton Estefanos: "I mentioned the Glauco Report in my radio program. I had interviewed some refugees and families of refugees." OV Sprecherin 2 (oder Autor?) "Ich habe den Glauco Bericht in meinem Radioprogramm erwähnt. Ich hatte Flüchtlinge und ihre Angehörigen interviewt, die ihn der Vergewaltigungen und Folter anklagten, das habe ich im Radio erzählt. Und er, der Schmuggler, wollte auch interviewt werden. Er wollte darauf antworten." 10 O Ton Estefanos "And I explained to him that he is accused of smuggling and then he started laughing and he said: Yes, I've smuggled over 13.000 people. So what?" OV Sprecherin 2 (oder Autor?) "Ich habe ihm erklärt, dass er wegen Schmuggel gesucht wird und er lachte und sagte: Ja, ich habe mehr als 13.000 Menschen geschmuggelt, was ist das Problem?" Autor Doch Estefanos sagt in der Filmaufnahme vor Gericht auch aus, Dutzende Eritreer hätten sie direkt nach der Festnahme angerufen und erklärt: Der Mann auf der Anklagebank sei nicht der Schmuggler Mered. Die Italiener hätten den Falschen gefasst. In der eritreischen Community kursierte das Gerücht, der echte Mered lebe mittlerweile in Uganda und verprasse dort sein Geld. Die Staatsanwaltschaft glaubte ihr nicht. Daraufhin flog Meron mit einem schwedischen Journalisten nach Uganda, um den echten Mered zu finden. Auch davon gibt es Filmaufnahmen aus dem Schwedischen Fernsehen. 08 Atmo Filmaufnahmen, Meron spricht auf Tigrinya, ein Mann antwortet Autor Kampala, Uganda. In der Fernsehreportage befragt Meron mit versteckter Kamera Exil-Eritreer nach Mered. Die Kamera folgt ihr in Bars und Restaurants der eritreischen Community. Etliche Männer erzählen ihr: Der Schmuggler war erst vor kurzem noch hier, er kann gar nicht in Italien sein. Erst 2019 wurde auch offiziell eingeräumt: Die Italiener haben tatsächlich einen unschuldigen Flüchtling aus dem Sudan nach Europa verschleppt und jahrelang ins Gefängnis gesperrt. Damals, sagt Estefanos, habe sie endgültig das Vertrauen in die europäischen Behörden verloren. 11 O Ton Meron Estefanos "It's crazy. Like if me a single woman sitting in her kitchen in Stockholm, recording, talking to these people and collecting all this information can do this. OV Sprecherin "Es ist doch verrückt. Wenn ich, als Frau alleine von ihrer Küche in Stockholm all das tun kann, nur indem ich mit den Leuten spreche, aber ihr mit eurer Technologie und den Millionen, die ihr ausgebt, könnt das nicht, ihr habt keine Ahnung, wer diese Leute eigentlich sind. Dann frage ich mich: Ist das ein Witz oder geht es nur darum Steuergelder zu verschwenden?" Musik 09 Atmo Pressekonferenz UN "Very good afternoon we are ready to start our press conference. So welcome to this press conference with the Fact Finding Mission on Libya." Sprecher Im Herbst 2021 stellt die unabhängige Fact Finding Mission der UN ihren Bericht zur Situation in Libyen vor. Darin geht es auch um die Lage der Geflüchteten im Land. In dem Bericht ist von Massengräbern in der Wüste die Rede, von systematischer Folter, Vergewaltigungen, Mord. Für hunderttausende Menschen auf der Flucht ist Libyen zu einer Hölle geworden. Was ist in der Zwischenzeit passiert, nachdem die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Palermo zusammengeklappt waren wie ein Kartenhaus? 10 Atmo fremdenfeindliche Demo in Deutschland Autor Im Jahr 2017 kippte die Stimmung in Europa, Rechtspopulisten gewannen Wahlen mit fremdenfeindlichen Parolen, niemand wollte mehr Flüchtlinge aufnehmen. Italien schloss deshalb mit Unterstützung der EU einen Deal mit Libyen. Die libysche Küstenwache sollte sicherstellen, dass keine Flüchtlingsboote mehr das Land verlassen. Dafür zahlte Italien viel Geld. Dass Libyen alles andere als ein Rechtsstaat ist, spielte dabei keine Rolle. Der Deal mit Libyen war folgenreich. Migranten, die nun nach Libyen kamen, steckten plötzlich fest. Sackgasse. Und das wiederum brachte die Schmuggler in Bedrängnis. Sie brauchten ein neues Geschäftsmodell. 12 O Ton Jerome "What happened the most is, that increasingly, migrants, whether they had paid their journey in advance or not, they were systematically detained in warehouses." OV Sprecher 6 "Was dann passierte, war: Immer mehr Flüchtlinge wurden von ihren Schmugglern eingesperrt, egal ob sie schon für die Überfahrt bezahlt hatten oder nicht. Und die Schmuggler haben sie systematisch gefoltert und dann die Familien in der Diaspora angerufen und sie um Lösegeld erpresst, mehrere tausend Dollar pro Gefangenen. Es schien als hätten sie diese Methode der Erpressung direkt vom Sinai importiert." Autor Der Franzose Jerome Tubiana ist Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und war schon oft in Libyen. Entlang der Flüchtlingsrouten hat er mit lokalen Ärzten zusammengearbeitet. Jerome schickt uns Fotos, auf denen man große Lagerhallen mitten in der Wüste sieht. Dort sollen die Flüchtlinge eingesperrt worden sein. 13 O Ton Jerome "And in Libya, the torture for ransom became systematic" OV Sprecher 6 "In Libyen wurde das Foltern für Lösegeld systematisch. Es geschah in vielen dieser unkontrollierten Gebiete und wurde zu einer größeren Einnahmequelle als der herkömmliche Schmuggel. Es brachte deutlich mehr Geld ein." Autor Kidane soll als einer der ersten Schmuggler in großem Stil gefoltert haben. Ehemalige Opfer erzählen uns von ihm. Dass er aus einem armen Dorf in Eritrea stamme, einen Hang zum Glücksspiel habe, dann mit Schmuggel viel Geld verdient habe und schließlich aufs Foltern umgestiegen sei, um noch mehr an den Flüchtlingen zu verdienen. Sein Hauptsitz war damals in der Wüstenstadt Bani Walid. Unter Geflüchteten wird Bani Walid auch die Geisterstadt genannt, sie meinen damit die Geister der ermordeten Flüchtlinge. Um zu verstehen, was dort geschehen ist, sprechen wir mit der Menschenrechtsanwältin Giulia Tranchina aus London. Sie hat Dutzende von Kidanes Opfern getroffen und sagt: Kidane habe sich in der Wüste ein regelrechtes Folterzentrum aufgebaut. 14 O Ton Giuila Tranchina "Bani Walid is a cathedral of torture. It's like a huge hub of hangars magazine, warehouses where thousands and thousands of people are tortured for years. " OV Sprecherin 1: "Bani Walid ist eine Kathedrale der Folter. Es ist ein riesiges Zentrum von Lagerhallen, wo abertausende Flüchtlinge über Jahre hinweg gefoltert wurden. Sie sind aufgeteilt in unterschiedliche Nationalitäten. Die Flüchtlinge landen in unterschiedlichen Lagerhallen, abhängig davon wer der Menschenhändler ist, der sie besitzt. Denn so sprechen sie: Ich besitze dich, du bist mein Eigentum." Autor Die Opfer von Kidane leben heute in der ganzen Welt verstreut, in Deutschland, Schweden oder Äthiopien. Wir haben einige von ihnen gesprochen. Sie erzählen uns von Misshandlungen mit Elektroschocks, Schlägen, Erpressungen. Wer in Bani Walid gewesen ist, trägt bis heute tiefe Narben davon. Musik Sprecher Für Meron Estefanos muss sich diese Zeit wie ein Déjá-Vu angefühlt haben. Der Schrecken vom Sinai spielte sich ein zweites Mal in Libyen ab. Wieder bekam sie verzweifelte Anrufe von Menschen, die brutal misshandelt wurden - und wieder stand sie den Verbrechern machtlos gegenüber. Musik Autor Im Dezember 2018, zum internationalen Tag der Migration, postete Meron Estefanos eine Reihe von Nachrichten auf Twitter. Sie beschrieb darin noch einmal die Schicksale der Sinai-Opfer, die bis dahin keine Gerechtigkeit erfahren hatten. Nach der Veröffentlichung, erzählt sie uns, sei sie zusammengebrochen, der aufgestaute Schmerz habe sie überrollt. Und sie beschloss, ihr Leben zu ändern. 15 O Ton Meron "In 2019, you know, it just became.. I've just had enough listening to cries of so many. I've always hated these people" OV Sprecherin 2 "2019 wurde es einfach zu viel. Ich konnte nicht mehr zuhören, all diese Schreie. Normalerweise hasse ich niemanden, ich trage keinen Hass in mir, aber die Menschenhändler hasse ich. Für alles, was sie getan haben. Es ist einfach zu viel." Autor Estefanos kündigte ihren Job beim Radio und ließ keine Geflüchteten mehr bei sich unterkommen. Wenn ein verpasster Anruf aus Libyen auf ihrem Handydisplay angezeigt wurde, rief sie nicht mehr zurück. Sie entschied, ihre Energie einem neuen Ziel zu widmen: Dafür zu sorgen, dass die Menschenhändler vor Gericht kommen. 16 O Ton Meron "And so I dream to one day bring this to the ICC" OV Sprecherin 2 "Ich träume davon, sie eines Tages vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen oder zu einer Art Tribunal und es ist mir egal, wenn es zwanzig Jahren dauern sollte. Aber ich will Gerechtigkeit. Es muss Gerechtigkeit geben für alle die gestorben sind - und für die, die überlebt haben." Autor Über all die Jahre hinweg hatte sie ein gewaltiges Netzwerk von ehemaligen Flüchtlingen aufgebaut. Sie leben in Europa, aber auch im Sudan, in Äthiopien, in Dubai. Diese Menschen sprechen oft nicht mit der Polizei - aber mit Estefanos redeten sie. Dieses Netzwerk wurde nun so etwas wie ihre Waffe im Kampf gegen die Menschenhändler. Im Jahr 2019 rief Estefanos Bekannte und Freunde in der ganzen Welt an und wollte genau wissen: Wo halten sich die Menschenhändler auf? 17 O Ton Meron "And then he called me again and said: Oh Kidane is coming from Addis to Dubai next Week" OV Sprecherin 2 "Meine Quelle rief mich an und sagte: Kidane kommt von Addis Abeba nach Dubai nächste Woche, um seine Lieblingssängerin, eine Frau aus Eritrea, zu sehen. Er kommt für ihr Konzert nach Dubai. Auf diese Weise habe ich also erfahren, dass er gerne Konzerte sponsert. So habe ich nach und nach immer mehr über Kidane herausgefunden." Autor Auf ihrem Handy hat Estefanos ein Foto gespeichert, man sieht Kidane in einem Anzug in die Kamera lächeln. Es soll 2018 in einem Nachtclub in Dubai aufgenommen worden sein. Er lebt das Leben eines Superreichen, während seine Opfer in der Wüste sterben. All diese Informationen sammelte Estefanos und gab sie an die Polizei weiter. 18 O Ton Meron "But then after years of helping different authorities, I realize that it's not as easy as, you know" OV Sprecherin 2 "Nachdem ich jahrelang unterschiedliche Behörden unterstützt hatte, wurde mir klar, so einfach ist das nicht. Ich konnte ihnen zwar sagen: Hey Kidane ist gerade in Dubai und in fünf Tagen reist er nach Uganda und hoffen, dass man ihn festnimmt, aber das ist nie passiert. Da habe ich mir gesagt, das ist doch Zeitverschwendung." Autor Im Herbst 2019 kam Estefanos in Kontakt mit ROCK, dem Regional Operational Center, einer Rechercheeinheit in Sudans Hauptstadt Khartoum. ROCK wurde 2016 gemeinsam von der EU und ostafrikanischen Staaten gegründet, um gegen den Menschenschmuggel in der Region vorzugehen. ROCK sollte Informationen über die Täter zusammentragen und die internationalen Ermittlungsbehörden unterstützen. Der Leiter von ROCK war damals ein Brite namens Alan Edwards, ein erfahrener Ermittler, der schon im Kosovo und in Istanbul gearbeitet hatte. Er versprach ihr, im Fall Kidane aktiv zu werden. Musik Im Februar 2020 reiste Meron Estefanos nach Äthiopien. Sie hatte durch ihr Netzwerk erfahren, dass sich einige der Menschenhändler dort aufhielten. Am nächsten Morgen im Hotel erhielt sie eine Nachricht auf ihr Handy. Kidane wurde von der Polizei festgenommen. Nur wenige Straßen von ihr entfernt, in Addis Abeba. Hatte Estefanos ihr Ziel endlich erreicht? Musik Sprecher 3 Absage OnAIR: Die Jägerin. Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt. Eine Feature-Serie in vier Teilen von Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt. Regie: Philippe Brühl. Redaktion: Christiane Habermalz. (Trocken/schneidbar) Die nächsten beiden Folgen hören Sie nächsten Dienstag um 19:15 Uhr hier im Deutschlandfunk. Oder schon jetzt als Podcasts auf hörspiel und feature.de und in der ARD-Audiothek. Absage Podcast: Die Jägerin. Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt. Folge 2: Die Folterer. Eine Feature-Serie in vier Teilen von Lucia Heisterkamp und Paul Hildebrandt. Es sprachen: Louis Ferdinand Thiele, Claudia Mischke, Lisa Bihl, Daniel Berger, Andreas Potulski, Hüseyin Michael Cirpici, David Vormweg und die Autoren. Ton und Technik: Thomas Widdig. Regie: Philippe Brühl. Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk 2022. (Trocken/schneidbar): Die restlichen Folgen gibt es auf hörspiel und feature.de, in der ARD-Mediathek und überall da, wo es Podcasts gibt. 2