Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Tuzla, Exodus Arbeitsmigranten aus Ex-Jugoslawien Autor und Regie: Zoran Solomun Redaktion: Ulrike Bajohr Produktion: Deutschlandfunk 2020 Erstsendung: Dienstag,03. März 2020, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 24. Mai 2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Mirko Böttcher, Wolf Gerlach, Stefan Kaminski, Monika Oschek, Arvid Schalle, Christian Senger, Sascha Tschorn und Anja Welzel Ton und Technik: Andreas Stoffels Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Almedin Beganovic Im Studienjahr 2017/18 bekamen wir ein neues Fach: Demokratie und Menschenrechte. Als erstes sollten wir ein Problem nennen, das uns junge Menschen am meisten stört. Es gibt viele Probleme in unserem Land - Drogen zum Beispiel, oder illegale Mülldeponien. Wir aber fanden, dass unser absolut größtes Problem die massive Auswanderung aus Bosnien und Herzegowina ist. O - Ton Maid Kovacevic Wir sollten dann das Problem soziologisch untersuchen. Die Ergebnisse sind wirklich alarmierend. Die Gesamtzahl der Menschen, die unser Land zwischen 2013 und 2018 verlassen haben, in einem Zeitraum von fünf Jahren, beläuft sich auf etwas mehr als 150.000. Ansage Tuzla, Exodus Ein Feature von Zoran Solomun Erzähler Ich stehe vor dem Flughafen und warte auf ein Taxi. Es ist spät am Abend, mein Flug war der letzte heute. Ein alter, roter Renault hält an. "Wie viel?" "Dreißig Mark!" - antwortet der Fahrer. Dreißig bosnische Mark, fünfzehn Euro. Bis nach Tuzla sind es fünfzehn Kilometer. Atmo Öffnen und Schließen der Autotür, Motorengeräusch. Erzähler Die Straße ist schmal und kurvig. Im Zentrum des ersten Dorfes, durch das wir fahren, steht eine große neue Moschee. Im nächsten Dorf ebenso, im dritten ist es eine katholische Kirche. Der Fahrer fragt mich, woher ich komme und ob ich geschäftlich hier bin. Ich sage: "Ich bin aus Berlin. Journalist. Ich möchte hier mit Leuten sprechen, die nach Deutschland gehen, um dort zu arbeiten." O-Ton Mirza Hatunic Das Beste, was du in Bosnien und Herzegowina machen kannst, ist, das Land zu verlassen. Erzähler Der Taxifahrer stellt sich vor: Mirza Hatunic, 32 Jahre alt. Ein sportlicher Typ, millimeterkurzes Haar, in engem T-Shirt und Jeans. Er fährt seit dreizehn Jahren Taxi. O-Ton Mirza Hatunic Ich hab auch beschlossen, im Ausland nach Arbeit zu suchen, vor ungefähr einem Jahr. Anfangs war ich mir 100% sicher bei der Entscheidung, und jetzt bin ich mir 1000% sicher. Erst dachte ich - Ausland ja, aber nicht gerade Schwarzarbeit. Jetzt denke ich - egal, nur weg von hier. Einmal, vor drei-vier Monaten, habe ich mich sogar für den Irak oder Afghanistan gemeldet. Als Lastwagenfahrer. Das sind amerikanische Firmen. Die Vertreter einer solchen amerikanischen Firma waren hier, sie hatten eine Präsentation in einem Hotel. Sie boten nicht mehr als 1100 Dollar im Monat. Das war mir zu wenig - denn dort bist du ja so etwas wie ein Berufssoldat, du riskierst viel. Für 2 bis 2einhalb Tausend würde ich gehen. Später haben wir gehört, dass Inder den Markt übernommen haben, sie machen die Arbeit, für die wir 2000 verlangen, für 300 Dollar. Erzähler Nach zwanzig Minuten erreichen wir Tuzla. Wir fahren an einer Reihe verlassener Fabriken vorbei, an deren Ende ein hell erleuchtetes Einkaufszentrum steht. O-Ton Mirza Hatunic Ein Freund hat mir gesagt - "Geh nach Slowenien, da kannst du im Sommer Äpfel oder Erdbeeren pflücken." Und dann habe ich im Internet eine Telefonnummer gefunden. Ich habe am Samstag dort angerufen und der Vertrag kam am Mittwoch. Die Vereinbarung mit dem Typen dort ist, dass er mich 2 Wochen vorher anruft, bevor ich losmachen soll. Und dann bin ich weg! Atmo Autotür geht auf und zu. Erzähler Beim Abschied gibt mir Mirza seine Visitenkarte. Wir vereinbaren, dass ich ihn anrufe, wenn ich ein Taxi brauche. Atmo In der Ferne ruft der Muezzin zum Nachtgebet auf. Erzähler Aus meinem Hotelzimmer im siebten Stock blicke ich auf Wohnblöcke und graue Hochhäuser. Die Stadt Tuzla besteht aus zwei klar voneinander getrennten Stadtgebieten - der Altstadt, die im Zeitalter der osmanischen und österreichisch-ungarischen Vorherrschaft entstand, und dem neueren, viel größeren Teil, gebaut in den 1960-er und 70-er Jahren, als die sozialistische Regierung die Industrialisierung vorantrieb. In dieses neue Tuzla zogen Tausende aus allen Gebieten Jugoslawiens - so bekam die Stadt ihren multiethnischen Charakter. Erzählerin Heute hat Tuzla 80.000 Einwohner, weitere 30.000 Menschen leben in den umliegenden Ortschaften. Tuzla ist die Hauptstadt des gleichnamigen Kantons, die Metropole Ost-Bosniens und die drittgrößte Stadt von Bosnien-Herzegowina. Das Land hat nur 3 Millionen Einwohner. Die 150.000 meist jungen Bosnier, die zwischen 2013 und 2018 ausgewandert sein sollen, machen 5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Atmo Ein Rom singt, von einem Akkordeon begleitet. Erzähler Schon früh am Morgen erklingt aus dem Park vor dem Hotel ein Akkordeon. Ein alter Rom sitzt auf einer Bank, musiziert und singt dazu. Passanten werfen Kleingeld in seinen Karton. Atmo Der Rom singt, von einem Akkordeon begleitet. Erzähler Meine erste Verabredung findet an der Fachschule für Elektrotechnik statt. Atmo Lärm auf dem Schulhof. Schulklingel. Erzähler Die Lehrerin Admira Uzunic - sie unterrichtet das neue Fach Demokratie und Menschenrechte, dass in allen Schulen des Landes eingeführt wurde - stellt mir ihre Schüler vor. Sie sind alle 17 Jahre alt. Sie haben die Auswanderung von jungen Menschen aus Bosnien und Herzegowina untersucht. O - Ton Admira Uzunic Ich bin sehr stolz auf diese Klasse...Sie haben das sehr gut gemacht. Ein schwieriges Thema...Sehr schwierig. O - Ton Benjamin Luvic Ich heiße Benjamin Luvic und habe mich mit den Ursachen dieses Problems beschäftigt. Die entscheidenden Ursachen sind natürlich ökonomischer Natur, aber das ist nicht alles. Neben den fehlenden Arbeitsplätzen und einer schlechten Wirtschaft spielen auch Korruption und Nepotismus eine große Rolle. Arbeitslosigkeit bringt die Leute dazu, das Land zu verlassen, Nepotismus und Korruption tragen dazu bei, dass sie nicht mehr zurückkommen. O - Ton Tarik Džambic Ich heiße Tarik Džambic. Wir haben insgesamt 140 Umfragen gemacht und ausgewertet. 120 der Befragten waren zwischen 16 und 17, zum Großteil Schülerinnen und Schüler der medizinischen Fachschule. Schon lange werden dort jedes Jahr 18, 19 neue Klassen gegründet, mit jeweils 30 Fachschülern. Alle wollen in die medizinischen Berufe. O - Ton Almir Subašic Ich bin Almir Subašic. Mit meinem Team war ich beim Kantons-Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Dort sagte man uns, an welchen Arbeitskräften es bei uns mangelt: Es fehlt an Maurern, Schlossern, Malern, Schneidern und Bergarbeitern. Das Ministerium bietet Stipendien für diese Berufe an, aber keiner will sie. Schulen, die für diese Berufe ausbilden, kriegen keine einzige Klasse zusammen. Atmo Schulklingel. Lärm auf dem Schulhof. Erzähler Die Anzahl der Auswanderer bekamen die jungen Forscher vom Amt für Statistik. Eine NGO - die "Union für die Rückkehr und Integration" - spricht von 186 000 Menschen, die Bosnien und Herzegowina zwischen 2013 und 2018 verlassen haben. Keine der Angaben ist absolut verlässlich, denn hier gibt es keine Meldepflicht. Am häufigsten ziehen Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte und Ärztinnen fort. Sie werden in Westeuropa am dringendsten gebraucht. Atmo Atmosphäre in der Fußgängerzone. Erzähler In der Altstadt habe ich mich mit einem jungen Arzt verabredet, der sich gerade anschickt, das Land zu verlassen. Wir treffen uns in der Fußgängerzone. O - Ton Dejan Obradovic Ich habe in vier Tagen einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Sarajevo, und falls mein Arbeitsvisum bewilligt wird, sitze ich einen oder zwei Tage später im Bus oder im Flugzeug. Und wenn ich ankomme, geht's sofort in die Klinik zur Arbeit. Erzähler Dejan Obradovic ist 36 Jahre alt. Sein Medizinstudium schloss er 2016 in Tuzla ab. Das Studium finanzierte er sich als Fitnesstrainer. Nach seinem Diplom war er sechs Monate in einer privaten Arztpraxis angestellt. Die Bezahlung war mies und er beschloss ins Ausland zu gehen. Anfangs suchte Dejan im Internet nach einem Job, am Ende aber halfen ihm seine Freunde, die bereits in Deutschland arbeiten. O - Ton Dejan Obradovic Der Ort heißt Weiden. In Bayern. Weiden hat circa 40.000 Einwohner. Schöner Ort, sauberer Ort. Entspricht voll und ganz meiner Vorstellung von Deutschland. Erzähler Es dauerte mehrere Monate, bis Dejan alle nötigen Dokumente für einen Arbeitsvertrag mit seinem neuen Arbeitgeber zusammen hatte. In der Zwischenzeit lernte er Deutsch. Anfang 2019 legte er die Fachsprachenprüfung bei der Bayrischen Ärztekammer in München ab und verbrachte danach zwei Monate an seinem zukünftigen Arbeitsplatz in einer Klinik in Weiden, um seine Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen und seine Sprachkenntnisse zu erproben. Er hat sein Arbeitsvisum so gut wie sicher. O - Ton Dejan Obradovic Für mich ist dies eine Neuerfindung meiner selbst. Eine fremde Sprache lernen und in dieser Sprache einer solch anspruchsvollen Arbeit nachgehen - das ist eine große Herausforderung. Der Mensch verschiebt seine Grenzen, jeden Tag. Wenn ich nicht jetzt meine Grenzen verschiebe, wann dann? Atmo Atmosphäre in der Fußgängerzone. Ein Straßenmusikant spielt Gitarre. Erzähler Wir bleiben an einer kleinen Kreuzung in der Fußgängerzone stehen. Im Mittelalter war hier ein Stadttor, bosnisch: Kapija. O - Ton Dejan Obradovic Wir sind jetzt an der Kapija. Am 25. Mai 1995, im letzten Kriegsjahr, schlug hier am Abend gegen neun Uhr eine Granate ein, von der serbischen Seite abgefeuert. Bei der Explosion kamen 71 Menschen ums Leben und über 200 wurden verletzt. Es waren alles junge Menschen. Erzähler Die Cafés um die Kapija sind wieder ein Treffpunkt für junge Leute. Eine Gedenktafel und immer frische Blumensträuße auf dem Trottoir erinnern an die Opfer des Angriffs. Für die Bewohner Tuzlas stellt die Tragödie vom 25. Mai 1995 das größte Trauma des Bosnienkrieges dar. Erzählerin Tuzla ist die einzige Stadt in Bosnien-Herzegowina, in der noch nie seit der Staatsgründung eine nationalistische Partei an der Macht war. Immer hat die Sozialdemokratische Partei die Mehrheit im Stadtrat und stellt den Bürgermeister. O - Ton Dejan Obradovic Tuzla war schon immer rot - seitdem ich denken kann. In Tuzla pflegt man die antifaschistische Tradition viel mehr als in anderen bosnischen Städten. Erzähler Während Granaten auf die Stadt fielen und in den Vororten Kämpfe gegen die Serben stattfanden, produzierten viele Fabriken in Tuzla weiter. Der wirtschaftliche Zusammenbruch kam erst mit dem Ende des Krieges - nicht nur in Tuzla, sondern im ganzen Land. Erzählerin Nach dem Krieg geriet die neue bosnische Regierung unter den Druck westlicher Geldgeber, alle staatlichen Unternehmen im Schnelldurchlauf zu privatisieren. Zu diesem Zweck gründete der Staat Agenturen. Die Arbeit dieser Agenturen wurde jedoch weder von der UN noch von der EU kontrolliert, obwohl sie ihren eigenen Vorschriften gemäß dazu verpflichtet gewesen wären. Niemand kontrollierte, ob die neuen Fabrikbesitzer ihren Pflichten nachkamen und in die Firmen investierten. Die Gesetze wurden einfach ignoriert, es folgten keinerlei Sanktionen. Man übernahm wertvolle Firmen zu Schnäppchenpreisen, schloss sie sofort, verkaufte Maschinen, Gebäude und Land und kam so zu schnellem Geld. Nach einer Schätzung von Transparency International verloren in diesem Prozess 500.000 Beschäftigte ihren Job. Die gesamte Wirtschaft von Bosnien und Herzegowina wurde zerstört. O - Ton Dejan Obradovic Diesem Land steht der komplette Zusammenbruch bevor. Wenn aus einer Gruppe von Menschen immer die Klügsten gehen - was können wir von dieser Gruppe erwarten? Etwa dass sie schlauer wird? Wir haben eine massive Auswanderung der Hochqualifizierten. Der Staat investiert Jahre lang viel Geld, um einen Ingenieur oder einen Arzt auszubilden. Und dann tut er nichts, um sie hier zu behalten. Wir jungen Menschen möchten alle in unserem Land bleiben und hier arbeiten. Jeder hat aber auch so etwas wie Verantwortung sich selbst und seiner Zukunft gegenüber. Atmo Atmosphäre in der Fußgängerzone. Techno-Musik aus einem Café. Erzähler In einem Café in der Fußgängerzone treffe ich zwei Frauen. Beide sind 23, befinden sich am Ende ihres Studiums und wollen in Deutschland arbeiten. O - Ton Amra Tufekcic Ich bin Amra Tufekcic aus dem Dorf Mircina, hier in der Nähe. Ich schließe gerade das vierte Studienjahr an der medizinischen Fakultät ab, als Krankenschwester. Unser Land ist wunderschön und es ist schwer, diese Schönheit zu verlassen. Der Moment, als ich mich entschloss zu gehen, kam in der zweiten Hälfte des Studiums. Mir wurde klar, dass ich hier nie Arbeit finden werde. Und außerdem, was sind das für Löhne? 600 Mark im Monat, das sind 300 Euro. Mein Vater hat schon vor dem Krieg in Deutschland gearbeitet, und als der Krieg ausbrach, zog auch meine Mutter mit meinen zwei Brüdern dorthin. Ich kam dort zur Welt, 1996, in Mayen, in der Nähe von Koblenz. Wir waren dort Kriegsflüchtlinge. Ich kann mich an diese Zeit nicht erinnern. Nach dem Krieg kamen wir schnell zurück, mein Vater ist großer Patriot, er liebt sein Land. Aber er musste wieder nach Deutschland zurück, hier gab es keine Arbeit. O - Ton Enisa Halilcevic Mein Name ist Enisa Halilcevic und ich beende gerade mein Medizinstudium, das bei uns sechs Jahre dauert. In der Grundschule war ich die beste Schülerin des Jahrgangs - das heißt, dass ich in allen acht Klassen - bei uns dauert die Grundschule acht Jahre - nur Fünfen hatte, das ist bei uns die beste Note. In der Mittelschule hatte ich ebenfalls einen Durchschnitt von 5,0. Ich schrieb mich an der medizinischen Fakultät ein. Warum habe ich beschlossen zu gehen? Weil es wirklich schwer ist, wenn Sie ein Professor durchfallen lässt, nur, weil Sie nicht einem bestimmten Clan angehören, einer bestimmten Partei, weil Sie keinen bekannten Nachnamen haben. Das ist hart für jemanden, der 20 Jahre alt ist und alles durch eigenen Fleiß erreicht hat. Bosnien - das ist ein korruptes System. O - Ton Amra Tufekcic In meiner Nachbarschaft ist nur eine junge Familie geblieben - alle anderen sind gegangen. Nur alte Leute bleiben hier. Deshalb wurden in den letzten Jahren überall Altersheime aufgemacht, in denen aber die Betreuung sehr schlecht ist. Ich würde meine Eltern nie dorthin schicken. Denn es gibt viel zu wenig Personal und das ist nicht ausgebildet. Für die Arbeit, die wir in Deutschland tun, fehlen hier die Leute. Wer wird in Zukunft die Alten hierzulande pflegen? Ich weiß es nicht. O - Ton Enisa Halilcevic Dieses Land hat seit dem Kriegsende bis heute solche Rückschritte gemacht - die kann es in zehn Generationen nicht korrigieren. Atmo Die Techno-Musik geht zu Ende. Im Hintergrund ruft der Muezzin zum Abendgebet auf. Erzählerin Bosnien und Herzegowina hat eines der kompliziertesten Regierungssysteme der Welt. Die Verfassung ist übernommen aus "Anhang 4" des Friedensvertrags von Dayton, der im Dezember 1995 von den Kriegsparteien des Bosnienkriegs unterschrieben wurde. Dieses Abkommen entstand unter großem Druck von Seiten der USA und der EU. Das Land wurde nach dem ethnischen Prinzip in zwei Entitäten geteilt: die Bosnisch-Herzegowinische Föderation und die Serbische Republik. Die Serbische Republik ist ein einheitliches administratives Gebiet, die Bosnisch-Herzegowinische Föderation ist in zehn Kantone unterteilt. Zudem gibt es den unabhängigen Brcko-Distrikt mit einem Sonderstatus. Der Gesamtstaat, die beiden Entitäten, die zehn Kantone und der Brcko-Distrikt haben jeweils eigene Regierungen, so dass Bosnien und Herzegowina insgesamt über 150 Minister verfügt. Darüber hinaus ist die Republik Bosnien und Herzegowina nur zum Teil ein souveräner Staat. Die Umsetzung des Friedensvertrages von Dayton überwacht ein sogenannter Hoher Repräsentant der UN, der de facto die größte Macht im Staat innehat. Erzähler Ein System, das eilig entworfen wurde, um den Krieg zu beenden, ist zu einem Monstrum gewachsen, dessen Hauptaufgabe darin besteht, lokale und ausländische Bürokraten zu versorgen. Atmo Atmosphäre am Morgen, dann erklingt das Akkordeon und die Stimme des alten Rom. Erzähler Am Morgen wartet Mirza in seinem roten Renault vor dem Hotel auf mich. Er soll mich zum Bildungsministerium des Kantons Tuzla fahren. Atmo Auf- und Zuschließen der Autotür, Motorengeräusch. O-Ton Mirza Hatunic Von diesem Staat erwartet keiner mehr was Gutes. 2018 gab es hier Proteste von Kriegsveteranen. Der Staat schickte Spezialeinheiten. Um sie zu verprügeln, Menschen, die '92 bereit waren, ihr Land mit ihrem Leben zu verteidigen. Oder, im selben Jahr: Hier in der Nähe wollte man ein Wasserkraftwerk an einem Fluss bauen. Der Fluss ist sauber, schnell, kalt, reich an Fischen. Die Menschen sind auf die Straßen gegangen, um diesen natürlichen Schatz zu beschützen. Auch gegen sie schickte man Spezialeinheiten. Die Frauen haben dann den Männern gesagt, dass sie weggehen sollen - von wegen: auf Frauen wird nicht eingeschlagen. Sie haben alle verprügelt. Sie haben auch eine schwangere Frau verprügelt. Das ist der Staat, in dem wir leben. Erzähler Mirza steigt mit mir aus, wir suchen zusammen nach dem Bildungsministerium des Kantons Tuzla. Es dauert ganze fünfzehn Minuten, bis wir es finden. Es ist, als wolle man sich vor unerwünschten Gästen verstecken. O-Ton Fikret Vrtagic In den letzten Jahren haben wir das Phänomen der abrupten Auswanderung von Experten registriert, sowohl auf dem Gebiet Bosniens und Herzegowinas als auch auf dem Gebiet des Kantons Tuzla. Erzähler Fikret Vrtagic ist Stellvertreter des Bildungsministers. O-Ton Fikret Vrtagic Wir haben zudem festgestellt, dass am häufigsten medizinische Fachkräfte unseren Kanton verlassen. Nicht nur diejenigen, die nicht beschäftigt sind auf dem Gebiet unseres Kantons, sondern sogar die, die Arbeit haben. Wir werden gewiss weiterhin die Auswanderung von Experten in die Europäische Union aufmerksam verfolgen. Ich muss zugeben, dass unser Ministerium nicht ausreichend statistische Daten über die genaue Zahl der Personen hat, die unseren Kanton verlassen. Ich weiß nicht, an wen ich Sie wegen statistischer Daten vermitteln sollte. Ich bin jedoch überzeugt, dass es eine Institution gibt, die das alles verfolgt und über Daten verfügt, wie viele Menschen das Gebiet unseres Kantons verlassen haben. Ich weiß nicht, wie wir dieses Problem lösen werden - ich weiß nur, dass wir es lösen müssen. Wir müssen etwas unternehmen. Etwas muss unternommen werden. Erzähler Das Bildungsministerium liegt im Universitätsviertel, in der Nähe der großen Fakultäten: der Fakultät für Wirtschaft, für Jura und für Medizin. Direkt daneben sind auch mehrere Fachschulen - die Medizinische Fachschule ist die größte. Von hier führt ein kurzer Fußweg zum Arbeitsamt des Kantons Tuzla. O-Ton Amela Makul Im Jahr 2015 haben wir 1000 Auswanderungen ins Ausland verzeichnet, 2018 hat diese Zahl sich verdreifacht, und im Jahr 2019 haben wir schon bis April 2000 Auswanderungen aus dem Kanton Tuzla registriert. Jedes Jahr mehr. Dem Gesetz nach sind Personen, die bei uns als arbeitslos registriert sind, verpflichtet, uns jede Änderung zu melden, aber das wird von vielen nicht eingehalten. Von den meisten eigentlich nicht. So dass wir die tatsächliche Zahl nicht wissen. Und: Es gehen nicht nur Arbeitslose. Es gehen auch Menschen weg, die Arbeit haben, samt Familie. Erzähler Amela Makul ist beim Arbeitsamt des Kantons Tuzla für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. O-Ton Amela Makul Bosnien-Herzegowina hat mit der Republik Slowenien, mit Serbien, Katar und Deutschland Verträge über Arbeitsvermittlung geschlossen. Im Falle von Deutschland bezieht sich dieser Vertrag nur auf zwei Berufe: Medizintechniker und Krankenschwester/Krankenpfleger. Erzählerin Die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit haben im Jahr 2013 das Projekt "Triple Win" lanciert. Das Ziel von "Triple Win" besteht darin, ausländische Pflegekräfte sprachlich und fachlich auf die Arbeit in Deutschland vorzubereiten, um sie dann an deutsche Kliniken und Pflegeeinrichtungen zu vermitteln. O-Ton Amela Makul Das Programm "Triple Win" hat einen prominenten Platz auf unserer Webseite. Es ist auch auf den Anzeigetafeln in unseren Büros zu sehen. Wenn jemand mit einem medizinischen Beruf zu uns kommt, um sich arbeitslos zu melden, dann weisen wir auf "Triple Win" hin. Erzählerin Einer Berechnung des Basler Forschungsinstituts Prognos zufolge könnten im Jahr 2030 in Deutschland bis zu drei Millionen Facharbeitskräfte fehlen - selbst wenn jedes Jahr 200.000 qualifizierte Menschen zuwandern würden. Im Juni 2019 hat der Bundestag ein neues Gesetzespaket verabschiedet, mit Neuregelungen zu Asyl, Arbeitsmigration und Abschiebungen. Unter anderem wird damit Arbeitern und Arbeiterinnen aus Serbien und Bosnien-Herzegowina die Einwanderung erleichtert. O-Ton Mirnes Avdic In den letzten Jahren war die Nachfrage nach unserer Schule groß, man könnte sagen - zu groß. Erzähler Mirnes Avdic ist der Direktor der Fachschule für Medizin in Tuzla. Ein robuster Mann um die vierzig. Er verbirgt nicht, dass ihm das Gespräch unangenehm ist. O-Ton Mirnes Avdic Aber die Medizinische Schule in Tuzla hat schon früher Interesse geweckt. Die Schule ist 65 Jahre alt. Sie ist einer der drei Pfeiler des Gesundheitswesens im Kanton Tuzla - neben dem Universitätsklinikum und der Medizinischen Fakultät. Unsere Schule hat 95 Lehrer, dazu zehn technische Mitarbeiter und sechs Aushilfskräfte. Wir arbeiten jetzt daran, die Anzahl der Schüler zu verringern. Erzähler Und das war`s auch schon. Der Direktor hat von vornherein klargestellt, dass er nicht darüber sprechen wird, dass die Mehrheit der Absolventen seiner Fachschule das Land verlässt. Punkt. Atmo Fußgängerzone, in der Ferne hört man Techno. O-Ton Jasna Hadžiselimovic Als ich dort anfing zu arbeiten, gab es in der Medizinischen Fachschule jährlich neun bis zehn neue Klassen. Erzähler Später am Nachmittag treffe ich Jasna Hadžiselimovic in einem Café in der Fußgängerzone. Sie war vor Mirnes Avdic Direktorin der Fachschule für Medizin. O-Ton Jasna Hadžiselimovic Alles begann zwischen 2000 und 2001. Etwas hatte sich in der Gesellschaft verändert. Ich glaube, dass damals die Teilung unserer Gesellschaft vollendet wurde. Die Mittelschicht verschwand, und diejenigen, die bis dahin glaubten, ihre Kinder an die Universität schicken zu können, stellten fest, dass sie das doch nicht können, finanziell. Erzähler Jasna Hadžiselimovic ist von Beruf Lehrerin für Bosnische Sprache. Sie leitete die Fachschule für Medizin von 2009 bis 2017. O-Ton Jasna Hadžiselimovic Innerhalb weniger Jahre entstand unheimlicher Druck auf die medizinische Fachschule. Natürlich haben die Leute begriffen, dass nur ein Beruf im Bereich Medizin ihnen einen Arbeitsplatz garantiert. Es gab ein Jahr, da hatten wir 440 Bewerber mit einem Fünfer-Durchschnitt. Gleichzeitig wurden viele private Fachschulen für Medizin gegründet, die es Menschen ermöglichen, ihre Qualifikationen zu wechseln. So lange es in Deutschland Arbeit gibt, so lange werden die Leute unser Land verlassen. Ich sehe keine Anzeichen, dass sich hier irgendetwas ändern wird. Das Verhältnis der Politik zu jungen Menschen ändert sich nicht, ich denke, es wird nur schlimmer. Ich erwarte nichts Gutes. Atmo Der Muezzin ruft zum Abendgebet auf. Erzählerin Auf die kriminelle Privatisierung und den enormen Verlust von Arbeitsplätzen nach dem Krieg antwortete die Bevölkerung mit Streiks und Fabrikbesetzungen. Die anhaltende Unzufriedenheit trieb Anfang 2014 die Menschen auf die Straßen. Als erstes kam es in Tuzla zu Demonstrationen: Mitten im kalten bosnischen Winter, am 4. Februar 2014, protestierten mehrere Tausend gegen korrupte Politiker und Manager und forderten diese auf, sich an die Gesetze zu halten. Am Tag darauf kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei. Am dritten Tag zündeten die Demonstranten den Regierungssitz des Kantons Tuzla an. Die gesamte Bosnisch-Herzegowinische Föderation wurde von der Flamme des Protestes ergriffen. Es brannten Verwaltungsgebäude in Sarajevo, Bihac, Mostar - in 33 Städten wurde Unmut laut. Dies waren die ersten Nachkriegsdemonstrationen in Bosnien-Herzegowina, bei denen Angehörige aller Nationalitäten zusammenkamen. In der Folge traten überall Politiker und Polizeipräsidenten von ihren Ämtern zurück. Auch der Regierungschef des Kantons Tuzla nahm seinen Abschied. Man hoffte auf einen "Bosnischen Frühling". Atmo Morgenatmosphäre, dann erklingt das Akkordeon und der Gesang des alten Rom. Erzähler Dieses Mal holt mich Mirzas Bruder mit dem roten Renault vom Hotel ab. Mirza hat an diesem Tag Wichtiges zu erledigen. O-Ton Emir Hatunic Ich bin auch professioneller Taxifahrer. Und ich habe auch beschlossen, ins Ausland zu gehen. Erzähler Mirzas Bruder heißt Emir. Er ist 24 Jahre alt. O-Ton Emir Hatunic Ich bin in Tuzla geboren. Hier bin ich aufgewachsen. Ich kenne nicht mal Bosnien wirklich. Ich war noch nie weit weg von Tuzla. Meine Arbeit gehört zum Familiengeschäft. Ich habe nicht viel Geld, aber ich lebe trotzdem gut. Was mir Sorgen macht ist, dass es von Jahr zu Jahr weniger Menschen gibt. Ich habe Angst, dass ich irgendwann keine Kunden mehr habe. Erzähler Emir fährt mich nach Živinice, eine Kleinstadt, fünfzehn Kilometer von Tuzla entfernt. Dort bin ich mit drei jungen Männern verabredet. Atmo Musik/Café O-Ton Ismet Bojic Für mich sind Živinice und Tuzla die schönsten Orte auf der Welt. Hier bin ich aufgewachsen. Ich würde das für nichts eintauschen - wenn ich nicht müsste. Erzähler Ismet Bojic ist 23 Jahre alt. Er hat die Fachschule für Agrarwirtschaft abgeschlossen, um dann festzustellen, dass er keine Chance hat, in seinem Beruf Arbeit zu finden. Er schrieb sich dann auf der Fachschule für Medizin ein und machte dort seinen zweiten Abschluss als Krankenpfleger. Ismets Vater arbeitet schon seit Jahren als Bauarbeiter in verschiedenen deutschen Städten. Ismet war schon mehrmals in Deutschland zu Besuch. O-Ton Ismet Bojic Das hier ist die Fußgängerzone von Živinice. Hier gehen die jungen Leute aus, hier lernt man sich kennen. Schön ist auch unser Stadtpark. Da sitzen Leute auf den Bänken und reden miteinander. Das Sozialleben ist bei uns top! Wirklich top! Das ist selten auf der Welt. Ich war in Berlin. Schöne Stadt. Eine wahre Metropole. Aber die Menschen sind komisch. Jeder guckt in seine Richtung, keiner redet mit einem, keiner lächelt. Schöne Stadt zwar, aber die Leute, irgendwie anders. Diese wunderschöne Atmosphäre gibt es da nicht. O-Ton Ibrahim Mulabdic Ich bin sehr an diese Stadt gebunden. Es fällt mir sehr schwer, sie zu verlassen. Ich habe längst den Deutschkurs abgeschlossen, aber ich kann mich nicht entschließen, zu gehen. Ich kann nicht, denn nirgendwo ist das Leben so schön wie hier. Erzähler Auch Ibrahim Mulabdic ist 23 Jahre alt, wie sein Freund Ismet. Zuerst absolvierte Ibrahim an der medizinischen Fachschule in Tuzla eine Ausbildung zum Pharmazeuten. Dann stellte er fest, dass die Apotheken in Bosnien, aber auch in Deutschland, selten neue Arbeitskräfte nehmen. Also entschied er sich auch den "Allgemeinen Zweig" der medizinischen Fachschule abzuschließen, der ihm erlaubt, als Medizintechniker im Krankenhaus oder als Pfleger im Altersheim zu arbeiten. O-Ton Avdo Nurkic Ich war auf dem Gymnasium. Nach dem Abitur habe ich mich für Jura eingeschrieben und mein Studium fristgemäß beendet. Dann aber begriff ich, dass ich meinen Beruf ändern muss und so schloss ich nach dem Jurastudium noch die Fachschule für Medizin ab. Erzähler Avdo Nurkic ist der Älteste von den drei Freunden. Er wurde 1993 geboren, im zweiten Kriegsjahr. Sechs Monate vor Avdos Geburt kam sein Vater im Krieg um. Er war Soldat der bosnischen Armee. O-Ton Avdo Nurkic Ich habe nur noch die Mutter. Sie ist arbeitslos, wie ich. Sie sucht nach Arbeit, aber die Hoffnung, dass sie etwas findet, ist klein. So trage ich jetzt Verantwortung für sie. Sie wird allein sein, wenn ich gehe, denn ich habe keine Geschwister. Erzähler Das Café, in dem wir sitzen, liegt am Anfang der Fußgängerzone von Živinice. Die ist einen halben Kilometer lang und versammelt sämtliche Cafés, Restaurants und Wettbüros der Stadt. Sie mündet in einen kleinen Platz mit einer Moschee und ein paar Geschäften. Hier ist alles um die Ecke und fast alle kennen einander. O-Ton Ismet Bojic Eine Freundin teilte auf Facebook die Information, dass Vertreter irgendeiner Firma aus Berlin - Arbeitsvermittler - eine Präsentation haben, in einem Hotel in Tuzla. Eingeladen zum Gespräch waren Mediziner. Es kamen ungefähr hundert Leute. Für die Konferenz war ein kleiner Saal geplant, mit dreißig Stühlen, aber wir mussten in den Kongress-Saal umziehen. Vielleicht waren es auch mehr als hundert. Sie haben uns dann gesagt, dass sie Arbeitsplätze anbieten, in einer Kinderklinik und einem Altersheim in Berlin. An dir liegt es zu arbeiten, zu lernen und dich fortzubilden. Erzählerin Inzwischen existiert in Bosnien-Herzegowina ein regelrechtes Auswanderungsgewerbe: Es entstanden neue Firmen, die Arbeitssuchenden Jobs im Ausland anbieten; eine Menge medizinischer Privatschulen und Sprachschulen für Deutsch wurden eröffnet. Das Schulnetzwerk "Glossa" beispielsweise arbeitet eng mit dem Goethe-Institut und der medizinischen Fachschule Tuzla zusammen. Glossa bietet in dreizehn Städten Deutschkurse an, darunter spezielle Lehrgänge für den Medizinbereich. Hinzu kommen noch zahlreiche Agenturen, die mit deutschen Firmen, Altersheimen und Krankenhäusern zusammenarbeiten. O-Ton Avdo Nurkic Ich möchte es nicht über diese Agenturen machen und muss es zum Glück auch nicht. Ich habe einen Freund in Frankfurt, der mich seinem Arbeitgeber empfehlen wird. Er wird für mich garantieren. Erzähler Ein Mann um die sechzig nährt sich unserem Tisch und wird von den jungen Männern herzlich empfangen. Sie sprechen ihn mit "Professor" an - er hat alle drei auf der Fachschule für Medizin unterrichtet. O-Ton Muamer Lekovic Ich bin Muamer Lekovic, Facharzt für Notfallmedizin. Was die Emigration junger Menschen angeht - es gibt keine Familie, die nicht mit diesem Problem zu tun hat, auch meine Familie. Meine ältere Tochter hat die medizinische Fachschule abgeschlossen und arbeitet jetzt in München. Meine jüngere Tochter hat die Fakultät für Lebensmitteltechnologie beendet. Ich möchte, dass auch sie ins Ausland geht. Unsere Gesellschaft ist verrottet. Jeder, der stolz ist und nicht korrumpiert, sollte dorthin gehen, wo Wissen und Ehrlichkeit geschätzt werden. So wie es bei uns im Kommunismus war. Jetzt zählt nur, wer wessen Sohn ist und wer welchen Politiker kennt. Die Situation ist sehr schwierig. Furchtbar. Diese Gesellschaft ist moralisch verkommen. Für jeden, der auch nur ein bisschen Gehirn hat, lohnt es sich wirklich nicht, hier zu bleiben. Atmo Autofahrt Erzähler Auf dem Weg zurück, von Živinice nach Tuzla, schweigt Mirzas Bruder die meiste Zeit. Erst als wir nach Tuzla reinfahren, beginnt Emir zu sprechen, mehr wie im Selbstgespräch. O-Ton Emir Hatunic Ich kann immer ein Flugticket kaufen und zurückkommen. Das steht. Keiner wird mich davon abhalten, ein Flugticket zu kaufen und zurückzufliegen. Wann immer ich will, kann ich zurückkommen. Atmo Der Muezzin ruft zum Abendgebet auf. Erzählerin Nachdem die Welle der Demonstrationen im Winter 2014 in Bosnien- Herzegowina langsam abgeebbt war, hatte sich außer vereinzelter Rücktritte von Politikern und Beamten nichts verändert. Die korrupten Parteien blieben an der Macht und kümmerten sich weiterhin um die Privilegien ihrer Klientel. Die Anführer der Proteste begannen, Versammlungen von Bürgerinnen und Bürgern zu organisieren, auf denen über die anhaltenden Probleme und deren mögliche Lösungen diskutiert wurde. In Tuzla fand das erste Plenum statt, das auch am längsten bestand, fast ein Jahr lang. Irgendwann aber wurden die Menschen müde: Der alltägliche Kampf ums Überleben verdrängte die Hoffnung, dass sich je etwas ändern wird. Nach Angaben der NGO "Union für die Rückkehr und Integration" haben in den darauffolgenden zwei Jahren, 2015 und 2016, 80.000 Menschen Bosnien und Herzegowina verlassen. Atmo Regen. Erzähler Am Morgen regnet es in Strömen. Dieses Mal hört man den alten Rom nicht im Park singen. Mirza wartet in seinem roten Renault auf mich. Wir fahren zum Flughafen. O-Ton Mirza Hatunic In Afghanistan gab es anscheinend Probleme. Irgendwelche Inder haben sich in die Luft gejagt. Islamisten. Jetzt haben die Amerikaner alle Inder entlassen. Das bedeutet, dass es neue Arbeitsplätze geben wird. Viele meiner Freunde haben sich schon beworben. Ich werd's nicht tun. Ich gehe nach Slowenien - und während ich dort Äpfel pflücke, werde ich parallel schauen, was für richtige Jobs angeboten werden. Erzähler Wir fahren am Einkaufszentrum vorbei, an den verlassenen Fabriken. Danach führt die Straße durch das Dorf mit der katholischen Kirche, dem die zwei Dörfer mit den Moscheen folgen. O-Ton Mirza Hatunic Ich sage immer - es gibt keine ausweglose Lage! Immer gibt es eine Lösung! Aber hier bei uns hat jemand absichtlich die Bremse angezogen. Aus irgendwelchen Gründen lässt jemand einfach nicht zu, dass es vorangeht. Atmo Das Geräusch eines Flugzeugmotors verwandelt sich unmerklich in das Geräusch eines Zuges. Ansage im Zug Nächste Station: Weiden. Next stop: Weiden. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Exit to the right. Erzähler Sechs Monate später. Dejan, der junge Arzt aus Tuzla, hat sein Arbeitsvisum für Deutschland bekommen und arbeitet seit einem halben Jahr im Klinikum in Weiden in der Oberpfalz. Wir treffen uns in der Fußgängerzone. Auch hier gibt es eine Kapija, wie in Tuzla. Hier heißt sie "Unser Tor". Atmo Fußgängerzone O - Ton Dejan Obradovic Ich glaube das war im Mittelalter der Eingang in die Burg. Am anderen Ende des Platzes ist eine sehr schöne Kirche. Das hier ist Bayern, die Mensche sind religiös, Sonntags geht man unbedingt in die Kirche. Hier gibt es viele Lokale, teure Geschäfte. Die Restaurants sind ausgezeichnet! Was den Alkohol angeht - wenn es irgendwo zu trinken gibt, dann hier. Das sehe ich auch an den Patienten, die zu mir kommen: auf meine Frage, ob sie Alkohol konsumieren, antwortet die Mehrheit mit ja! Erzähler Wir beschließen einen Spaziergang zum Klinikum zu machen, das zu Fuß zwanzig Minuten entfernt liegt. Unterwegs gehen wir in ein italienisches Café. Atmo Cafè O - Ton Dejan Obradovic In den ersten Tagen wusste ich weder, was zu meiner Arbeit und meinen Aufgaben gehört, noch, was ich fragen darf und was nicht. Da alles auf Deutsch war, fing mein Gehirn nach zwei Stunden an auszusetzen. Nach vier Stunden wusste ich gar nichts mehr und den Rest des Tages verbrachte ich in einer Art Halbschlaf. In den ersten Monaten kam ich nach Hause, aß schnell was und ging sofort schlafen. Mit der Zeit habe ich mich natürlich gewöhnt und nach vier Monaten begann ich, auf Deutsch zu denken. In meiner Klinik sind 70 bis 80 Prozent der Ärzte Ausländer. Es gibt Ärzte aus Bolivien, aus Syrien, aus Russland. Aus Tschechien gibt es viele, ungefähr die Hälfte ist aus Tschechien. Es gibt auch welche aus der Slowakei, dann unsere Leute vom Balkan, ein paar sind aus Albanien, aus Tunesien, Marokko, aus Indien, es ist einfach alles international. In meiner Abteilung arbeiten Menschen aus 13 Nationen. Wir alle sprechen Deutsch und es kümmert keinen, woher der andere kommt, wichtig ist nur, dass die Arbeit gemacht wird. Die absolute Priorität haben die Patienten. Ich bin jetzt Assistenzarzt - ich sammle also die Informationen über neue Patienten, die in der Klinik aufgenommen werden. Auf jeder Abteilung fehlt es uns an Ärzten. Auf meiner Abteilung für ambulanten Notdienst arbeiten vier Spezialisten, und es werden weitere acht gesucht! Nicht zwei, nicht vier - nein, acht! In Deutschland ist jetzt ein Gesetz in Kraft getreten, das die Einwanderung aus anderen Ländern noch einfacher macht. Was wird in Bosnien passieren? Ein völliger Exodus der Mediziner, denk ich. Erzähler Es ist Samstag und Dejan hat frei - trotzdem will er ins Krankenhaus gehen, um ein paar Krankenberichte fertigzuschreiben, die er gestern nicht geschafft hat. Er wirkt angestrengt, er ist froh, dass er mit mir nicht Deutsch sprechen muss. Atmo im Foyer des Krankenhauses O - Ton Dejan Obradovic Das ist mein Krankenhaus. Hier ist die Rezeption, sie hat 24 Stunden auf. Dort ist die Cafateria, sie hat von morgens bis abends geöffnet. Meine Abteilung liegt im zweiten Stock. Das sind im Grunde drei Abteilungen - Kardiologie, Pulmologie, Nephrologie. Wir haben den größten Durchlauf an Patienten, bei uns ist alles immer voll. Jetzt muss ich zur Arbeit. Atmo Akkordeon Absage Tuzla, Exodus. Sie hörten ein Feature von Zoran Solomun Es sprachen: Mirko Böttcher, Wolf Gerlach, Stefan Kaminski, Monika Oschek, Arvid Schalle, Christian Senger, Sascha Tschorn und Anja Welzel Ton und Technik: Andreas Stoffels Regie: der Autor Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 3 3