Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der verlorene Frieden Deutschlands Einsatz in Afghanistan 6-teilige Serie - Folge drei: (3/6) Aufstandsbekämpfung Autor: Marc Thörner Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2021 Erstsendung: Dienstag, 23.02.2021 Wiederholung: Dienstag, 28.12.2021 Es sprachen Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch und der Autor Ton und Technik: Wolfgang Rixius, Gunther Rose und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Autor: Kabul, ein Tag Ende Oktober 2009. Polizei-Pickups und Ambulanzen bahnen sich einen Weg durch den dichten morgendlichen Verkehr. Gut eine halbe Stunde ist es her, da haben mehrere dumpfe Detonationen den Boden in Kabul erzittern lassen. Polizisten stoppen unser Auto und fuchteln aufgeregt mit ihren Waffen. Atmo: Stimme Polizist, Taxifahrer, Stimme Autor: I get out here. Stimme Fahrer: You get out here? How long you stay here? You call me, no problem. Stimme Autor: I call you, see you. Stimme Fahrer: Thank you Sir, bye. Autor: In einer kleinen Villenstraße steigt von irgendwoher Rauch auf. Dort, wo sie anfängt, parken gepanzerte Fahrzeuge. Vor ihnen: westliche Soldaten in Tarnfleck, einige mit den weißen Kappen der Fremdenlegion Atmo: Stimme Autor: Bonjour, la radio allemande. Vous pouvez me dire quelque chose à propos de votre mission? Stimme Fremdenlegionär: Nous, on vient récuperer les blessés, là. Autor: Ein Offizier, der sich als Leutnant Christian vorstellt, hat das Kommando: O-Ton Lt. Christian: Übersetzer: Laut unseren Informationen, wurde dieses Gebäude von Aufständischen angegriffen. Keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, da reinzukommen. Unter den Angreifern gab es einige Selbstmordattentäter. Einer konnte sich zur Explosion bringen. Die anderen wurden getötet. Ein paar afghanische Polizisten auch. Es gab einen Schusswechsel im Innern des Gebäudes. Die ganze Lage ist noch sehr unübersichtlich, wir haben noch kein klares Bild, was sich da genau abgespielt hat. Innen scheint die Situation unter Kontrolle. Es gibt Gefangene, wir wissen nicht wie viele. Autor Später stellt sich heraus, Taliban haben ein Gästehaus der UN angegriffen. Zwölf Menschen wurden getötet darunter sechs UN-Mitarbeiter. Sprecherin: Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan. Feature-Serie von Marc Thörner. Folge 3: Aufstandsbekämpfung. Autor: Eine südliche Großstadt - tagtäglich aufgeschreckt von Sprengstoffanschlägen. Und kurz bevor die Kontrolle ganz entgleitet werden Fremdenlegionäre ausgesandt. Das Ganze wirkt so, als befänden wir uns nicht im Kabul des Jahres 2009, sondern in irgendeinem der französischen Kolonialkriege gegen Mitte der 1950er Jahre. Atmo: Stimme Lieutenant Fricaz: Auch zwischen Kabul und dem Kapisa-Gebirge haben französische Fallschirmjäger die Kontrolle übernommen. Überall sei mit Straßenbomben zu rechnen, warnt Lieutenant Fricaz seine Abteilung vor der Patrouille. Und was mir in Kabul eben noch als ein surrealer persönlicher Eindruck schien, wird offiziell bestätigt: O-Ton Lieutenant Fricaz: Übersetzer : Wir machen es jetzt genauso wie damals bei der Schlacht um Algier. Damals wurde die Bevölkerung erst mal in Kategorien eingeteilt. So ließen sich die Aktivitäten jeder einzelnen Gruppe kontrollieren und man bekam heraus wer zu den Aufständischen gehörte, den Fellagha, wie man sie in Algerien nannte. Zuerst also: rein in die Gegenden, wo die Aufständischen sind. Sich auf dem Schlachtfeld mit geballter Übermacht durchsetzen. Anschließend nimmt man Schritt für Schritt Kontakt mit der Bevölkerung auf. Verbessert ihre Lebensumstände, führt zivil-militärische Projekte durch, baut Krankenhäuser, gräbt Brunnen. Das sind die ersten drei Bedingungen dieses Konzepts Autor: Erst säubern, dann stabilisieren. Und dann aufbauen. Die Herzen und Köpfe der Bevölkerung gewinnen, sie durch konkrete Hilfe auf die Regierungsseite ziehen. Französische Instruktionsfilme aus dem Algerienkrieg der 1950er Jahre werden auf einmal zum Anschauungsmaterial für die in Afghanistan stationierten internationalen Truppen. Atmo: INA fr. https://www.youtube.com/watch?v=nBP8rabM8h8 Comme il se fait architecte... Übersetzer: "So wie der Soldat heute zum Architekten, Ingenieur oder Sanitäter wird, wird er auch zum Lehrer. In den verödeten Dörfern nimmt er die Stelle des verfolgten Dorfschullehrers ein. Den Kindern hat er die Pforten der Schule wieder geöffnet. (/) Und in diesem Land, wo die Grundvoraussetzung der Zivilisation, die Schule vom Verschwinden bedroht war, können diese unbeugsamen Kämpfer, die Schule aufrechterhalten." Das alte Konzept aus Algerien ist tatsächlich auch das neue, sagen US-Offiziere. O-Ton US-Offizier: Übersetzer: Die Schlacht um Algier, ja genau! Die Franzosen haben im Algerienkrieg vielleicht ziemlich archaische und drakonische Verhörmaßnahmen angewendet, das tun wir nicht. Aber die Art und Weise, wie sie die Aufständischen von der Bevölkerung getrennt haben, das war ein Schritt in die richtige Richtung. Zur gleichen Zeit haben sie aufgebaut und den Algeriern Hilfeleistungen angeboten. Auf diese Weise konnten sie die FLN-Bewegung in Algier knacken. Leider haben die französischen Politiker den Militärs nicht weiter erlaubt, diese erfolgreichen Maßnahmen fortzusetzen. O-Ton Franz Josef Jung: Also es ist natürlich zunächst ein Ansatz von uns gewesen, das ist wahr. Autor: Das zivil-militärische Aufbauzentrum. - Obwohl von den Franzosen in Algerien entworfen, dank französischer Berater von der US-Armee in Vietnam weiterentwickelt und 2001 von einem US-Team in Nordafghanistan getestet, taucht das Konzept plötzlich als deutsche Erfindung auf. Franz Josef Jung, damals Verteidigungsminister. O-Ton Franz Josef Jung: Ich habe es dann in der NATO-Verteidigungsministerkonferenz vorgetragen. Ich vergesse nie, wie Rumsfeld sich völlig entrüstet gezeigt hat - dann müsse er sich ja mit den anderen Ressorts abstimmen. Daran kann ich mich ganz gut erinnern (/9:55:)Aber nachher konnten wir es umsetzen und zwar mit Zustimmung der Amerikaner. Mit meinem Freund Bob Gates, der Verteidigungsminister war. Und ich muss sagen: Ich habe auch gute, sehr gute Gespräche mit General Petraeus geführt über dieses Thema. O-Ton Thomas Kossendey, parlamentarischer Staatssekretär: Das Konzept insgesamt ist eigentlich so gut, dass auch in den anderen Regionen Afghanistans die anderen Teilnehmer an den ISAF-Aktivitäten dieses Konzept übernommen haben und das zeigt auch, dass dieses Konzept ein guter Ansatz ist. Autor: Thomas Kossendey, CDU, damals parlamentarischer Staatssekretär der Verteidigung. Der vermeintlich deutsche Ansatz des geschützten Aufbaus, eignet sich hervorragend dazu, sich von allem abzugrenzen, was nach Krieg aussieht. Zum Beispiel gegenüber der im Süden operierenden US-Armee. Im Winter 2008 nämlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutschland zusehends unpopulär. Die deutschen Soldaten haben es mit einem zähen, unnachgiebigen Feind zu tun. Die Erfolge beim Nation Building lassen verdächtig lange auf sich warten. Niels Annen, heute Staatsminister im Auswärtigen Amt ist damals enger Mitarbeiter des damaligen SPD-Außenministers Frank Walter Steinmeier. Und er stellt klar: O-Ton Niels Annen: Dass wir nicht mehr bereit sind, die leider immer weiter ansteigende Zahl der zivilen Toten im Süden des Landes einfach so zu akzeptieren, weil wir sehen: es unterminiert die Legitimation dessen, was wir auch im Norden tun und was die anderen Verbündeten in Afghanistan leisten. Das Ziel ist ja nicht, irgendwo Krieg zu führen, sondern das Land wiederaufzubauen. Und da unterscheiden wir uns. Autor: Bei der Abgrenzung von den Amerikanern kommt es den deutschen Außenpolitikern entgegen, dass die Bundeswehr in Afghanistan zwei unterschiedlichen Mandaten untersteht. O-Ton Kossendey: Die Operation Enduring Freedom hat zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen natürlich auch zu bekämpfen und auch vor Gericht zu stellen. Daneben ist ISAF, die International Security Assistance Force auf Grundlage einer Sicherheitsratsresolution eingerichtet worden, auf Wunsch der afghanischen Regierung. O-Ton Niels Annen: Wir sind dort auf Grundlage eines UN-Mandats. Und ein Teil der amerikanischen Armee ist dort unter einem anderen Mandat, der so genannten Operation Enduring Freedom oder vielleicht besser bekannt unter "Krieg gegen den Terror". Und sie kämpfen dort gegen Terroristen oder vermeintliche Terroristen. Das ist eine andere Zielsetzung. Eine der Gründe, weshalb Außenminister Steinmeier jetzt ja auch angekündigt hat, die deutschen KSK-Soldaten aus dem Mandat von Enduring Freedom herauszunehmen. Autor: Die Entscheidung zum Ausstieg aus dem "Kriegsmandat" der ‚OEF' fällt im November 2008. Thomas Kossendey: O-Ton Kossendey: Derzeit finden im Bereich der ISAF-Nordregion, wo Deutschland die Verantwortung trägt, keine OEF-Aktionen statt und die deutsche Beteiligung an diesem OEF-Mandat ist seit der Neuformulierung des Mandats am 15. November im Bundestag beendet worden. Atmo: Helikopter Autor: Vier Monate Später - Imam Sahib, Provinz Kundus, 22. März 2009. US-Spezialkräfte der Operation Enduring Freedom landen im deutsch geführten Regionalkommando Nord. Zielobjekt ist ausgerechnet das Haus von Sufi Manan, einem der wichtigsten Ansprechpartner der Deutschen. Er ist Ortsvorsteher von Imam Sahib, einem Dorf nur eine Fahrtstunde vom deutschen Feldlager Kundus entfernt. Ein paar Tage später schilderte mir Sufi Manan den Angriff. -Atmo Helikopter kurz aufziehen und unterlegen: O-Ton Sufi Manan Übersetzer: Ich hörte meinen Leibwächter schreien. Sufi Manan, Sufi Manan, Ausländische Soldaten sind gekommen. Durch die Fenster konnte ich an den Mauern die Lichtkegel der Scheinwerfer erkennen, die die Soldaten auf ihre Gewehre montiert trugen. Sie sprengten das Tor zum Außenbereich auf und kamen in den Hof. Einige meiner Angestellten liefen aus den Gästehäusern, wo sie schliefen, um zu sehen, was los war. Ich konnte hören, wie mein Leibwächter den Soldaten zurief: "Geht nicht ins Wohnhaus, da sind Frauen!" Autor: Im nahegelegenen deutschen Feldlager Kundus wird der damalige Nachrichtenoffizier, Hauptmann Marc Lindemann, von der US-Operation überrumpelt. Vier Monate nach Deutschlands Ausstieg aus der Operation Enduring Freedom, und nach dem man sich derartige Einsätze von den Amerikanern ausdrücklich verbeten hat. O-Ton Marc Lindemann: Ich lief halt zufällig neben dem amerikanischen Verbindungsoffizier als der diese Nachricht bekam. Ja - und dann konnten wir im Prinzip nur zuschauen, wie die Amerikaner ihren Zugriff, ihre militärische Aktion in unserem Gebiet durchgeführt haben... Für uns grenzt es an eine Demütigung. Wir stehen daneben, werden nicht mal informiert - es ist unser Zuständigkeitsgebiet, wir haben dort normalerweise das Kommando und dann kommen amerikanische Spezialkräfte und die interessieren sich dafür nicht. Autor: Tatsächlich interessiert sich die US-Armee nicht für die deutsche Debatte. Aufstandsbekämpfung ist die neue von US-General David Petraeus herausgegebene Doktrin. Und für die Amerikaner bedeutet sie: Säubern, Stabilisieren, Aufbauen. Clear Hold and Build. Den US-Miliärs ist es egal, wenn die Deutschen glauben, sie könnten sich davon nur die Rosinen herauspicken: das Aufbauen. In Kabul erklärt der Sprecher der US-Armee, Colonel Greg Julian, lakonisch: O-Ton Col. Greg Julian: Übersetzer: Nach dem Bericht der zuständigen Einheit, lagen nachrichtendienstliche Informationen aus unterschiedlichen Quellen vor, die darauf hindeuteten dass sich an dem in Frage stehenden Ort eine Person mit Verbindungen zur al Kaida aufhielt. Infolgedessen wurde alles Nötige veranlasst, um dort hineinzugehen und diese Person gefangen zu nehmen. Unsere Spezialtruppen gingen mit der afghanischen Polizei gemeinsam vor. Sie machten sich durch Rufen bei den Insassen des Hauses bemerkbar. Die Insassen kamen kämpfend aus dem Haus gelaufen. sie feuerten auf unsere Soldaten. Und dabei wurden sie von uns im Kampf getötet. Autor: Der Deutsch-Afghane Amir Barakzai leitet in Imam Sahib das Büro des Deutschen Entwicklungsdienstes. Mit dem Ortsvorsteher, dessen Haus jetzt angegriffen wurde, arbeitet er zusammen. Und lebte in dessen Haus mehrere Wochen als Gast . O-Ton Amir Barakzai: Man hat auch Kugeln in der Matratze, im Kissen gefunden und die lagen im Bett. Es war überhaupt kein Anlass, diese fünf Leute zu töten. Die waren unbewaffnet und überhaupt nicht in der Lage, sich zu artikulieren. Autor: Im Haus des Ortsvorstehers zeigen mir die überlebenden Bediensteten des Ortsvorstehers die Stellen, an denen ihre Kollegen erschossen wurden. Zwei von ihnen offenbar im Schlaf. Über den Matratzen zeichnen sich noch immer Blutflecken und Einschusslöcher ab. O-Ton Begleiter: Übersetzer: Abdelahmad, schlief hier und er wurde hier getötet Er arbeitete als Reiniger hier, er war geistig behindert. O-Ton Bediensteter: Übersetzer: Der Mann, der hier erschossen wurde, hieß Naqibullah, er war auch eine unserer Reinigungskräfte. O-Ton Marc Lindemann Wer das war, weiß ich nicht. Autor: Hauptmann Marc Lindemann, der deutsche Nachrichtenoffizier in Kundus. O-Ton Marc Lindemann Ich gehe aber mal grundsätzlich davon aus, dass die Amerikaner eine solch riskante und im Übrigen auch teure Operation nicht durchführen, ohne Erkenntnisse vorher zu haben. Das heißt nicht zwangsläufig, dass es einen Schuldigen getroffen hat, aber die Möglichkeit sollte man auch in Betracht ziehen. Autor: Deutsche Truppenoffiziere wie Marc Lindemann wünschen sich schon längst ein robusteres Vorgehen gegen den Feind und ein Ende des Eiertanzes um das Wort "Krieg". Und sehen in dem aus ihrer Sicht zu zaghaften deutschen Vorgehen eine Steilvorlage für die Aufständischen O-Ton Lindemann: Wer seinen eigenen Laden nicht in Schuss hat, unser eigenes Zuständigkeitsgebiet, der muss sich nicht wundern, wenn die Amerikaner kommen und die Terroristen, die sie ausgemacht haben wollen, jagen, wenn wir die Sicherheit nicht gewährleisten können. Autor: Ein paar Monate später, am 3. September 2009, kommt es in Kundus zum nächsten Vorfall: Taliban haben zwei Tanklaster entführt. Mit ihrer Beute bleiben sie am Abend auf einer Sandbank im Kundus-Fluss stecken, einige Kilometer vom deutschen Feldlager entfernt. Karim Mohammed Yaqub wohnt in einem der Dörfer in der Nähe. O-Ton Karim Mohammed Yaqub: Übersetzer: Die Leute haben mitbekommen, dass die Taliban die Tanklaster gekapert hatten. Und die Taliban sagten ihnen: ihr könnt das Benzin gratis mitnehmen. Deshalb sind noch viel mehr Menschen an die Stelle gekommen. Autor: Aufklärungskameras observieren eine Ansammlung von Menschen, die sich im Umkreis der Lastwagen aufhalten. Oberst Klein, der militärische Leiter des PRT fürchtet, die Tanklaster könnten, wieder flottgemacht und als rollende Bomben gegen das Lager gelenkt werden. Ein afghanischer Informant versichert telefonisch: Bei der Menschenansammlung handele es sich ausschließlich um Taliban. Wer genau war der Informant? Franz Josef Jung, war zu der Zeit Bundesverteidigungsminister. O-Ton Jung : Dazu möchte ich mich nicht weiter äußern. Es war auf jeden Fall eine gesicherte Information. Also, ich weiß, was im Grunde genommen im einzelnen gemeldet wurde. Ich weiß allerdings auch - und das scheint mir das Entscheidende zu sein für seine Entscheidung -, dass es hieß: "Nur Taliban". Und wir hatten ja auch gewisse Informationen, Sicherheitsinformationen, gewisse Stufen, die das auch nochmal bestätigt hatten, bevor die Entscheidung gefallen ist. Und von daher, das war sein entsprechender Entscheidungshorizont, wo er dann diese Entscheidung getroffen hat. O-Ton Erös: Da müssten Sie Oberst Klein kennen. Ich kenn' ihn so ein bisschen. Autor: Reinhard Erös, Entwicklungshelfer, lange Jahre Offizier der Bundeswehr und durch seine Afghanistan-Schulungen für die Truppe noch immer Bundeswehr-Insider: O-Ton Erös: weiter Das ist nicht die wilde Kampfsau: Das ist ein Opernliebhaber, ein Balletliebhaber. Das ist so im Privaten ein sehr lieber, intelligenter, musischer Typ und nicht so `ne Falschirmjägerkampfsau. Er kommt ja auch aus der Panzertruppe, wo man so ein bisschen anders denkt... also: Der meinte: ich muss jetzt sofort entscheiden, sonst fahren die Tanklastzüge da durch die Mauern durch. Der hat bei seinem Briefing - er war ja ein kleiner Oberst und kein General oder Generalmajor - das Briefing in Potsdam bekommen: Kommen Sie ja nicht mit deutschen Leichen zurück. Was Sie bei Afghanen da - ich sag's jetzt mal sehr ketzerisch - anrichten oder anstellen, also wenn Sie nicht gerade den Königspalast in Brand stecken oder den Präsidenten erschießen und so weiter - aber alles, so ein paar Ebenen drunter, ist sekundär im Vergleich zu toten deutschen Soldaten. Autor: Oberst Klein fordert zwei amerikanische Jagdbomber an. Er will die Tanklaster zerstören und auch die vermeintlichen Talibankämpfer töten lassen. Der Dorfbewohner Karim Mohammed Yaqub. O-Ton Karim Mohammed Yaqub: Übersetzer: Die Leute im Westen sagen: Die Taliban sind unsere Feinde. Aber niemand ahnte etwas von dem Bombardement. Wir brauchen dringend das Benzin. Hätte irgendjemand von dem Bombardement etwas geahnt - niemand hätte wegen Benzin sein Lebens aufs Spiel gesetzt. Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen den Taliban und den ausländischen Besatzungstruppen. Die Besatzungstruppen fragen uns genauso wenig wie die Taliban. Und wir wissen nicht, wem sollen wir jetzt folgen, wem sollen wir glauben? Dieser oder der anderen Seite? Wir richten uns danach, was wir am nötigsten brauchen. Etwas anderes bleibt uns gar nicht übrig. O-Ton Lindemann: Wer sich mit den Taliban in einer solchen Situation einlässt, der riskiert, dass er in die Schusslinie gerät. Das ist mit Sicherheit so zu bewerten, dass so was billigend in Kauf genommen wird. Autor: Der von Oberst Klein angeordnete Bombenabwurf tötet etwa 140 Menschen, die Mehrheit unter ihnen Zivilisten. Ausgerechnet Deutschland, das Land, das keinen Krieg führen will, verschuldet die größte Zahl an zivilen Opfern, die es bisher in einem einzelnen Einsatz in Afghanistan gegeben hat. O-Ton Jung: Ich kann aber nur eins sagen, das will ich Ihnen noch einmal sagen: Wenn ich an der Stelle von Oberst Klein gewesen wäre in dieser Nacht - die Botschaft: ‚Tanklastwagen sechs Kilometer vor unserm Lager. Und es sind nur Taliban. Dann hätte ich wahrscheinlich auch so entschieden. Denn ich frage mich, hab mich immer gefragt: Was wäre denn eigentlich gewesen, wenn die ins Lager gekommen wären und sechzig oder achtzig Soldaten wären ums Leben gekommen? Dann hätt' ich mal hören wollen, was hier los war. Sprecherin In der nächsten Folge: Zubayr Babarkhamal, Pahjwok: Übersetzer Als wir am Tag nach dem Bombenabwurf im deutschen Feldlager bei einer Erfrischung zusammensaßen, da äußerte der Chef des Provinzrats von Kundus im Gespräch mit General McChrystal: Alle, die getroffen wurden, waren Taliban. Und wenn wir noch mehr von solchen Operationen haben, wird die ganze Gegend sich beruhigen und es wird keine Taliban mehr geben. Ich war entsetzt, als ich das hörte. Ich sagte mir: Was redet der denn da? Ich kann dich zu den Gräbern führen, zusammen mit den Frauen, die dir sagen werden: "Das da ist mein vierzehnjähriger Sohn". Warum redet der Chef des Provinzrats so? Sprecherin Der verlorene Frieden - Deutschlands Einsatz in Afghanistan Feature-Serie von Marc Thörner Folge 3 - Aufstandsbekämpfung Es sprachen Jean Paul Baeck, Martin Bross, Jochen Langner, Marion Mainka, Volker Risch und der Autor Ton und Technik: Wolfgang Rixius, Gunther Rose und Oliver Dannert Regie Matthias Kapohl Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2021 1