Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die toten Kinder von Kamloops Kanadas First Nations und ihr Kampf um Gerechtigkeit Autorin: Dorothea Brummerloh Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 14.02.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Lisa Bihl, Wolf Aniol, David Vormweg, Wolfgang Rüter, Sigrid Burkholder, Axel Gottschick, Hüseyin Michael Cirpici und Susanne Reuter Ton und Technik: Hendrik Manook, Christoph Bette und Caroline Thon Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1 Musik, evtl Gord Downie's The Secret Path (Lied für Chanie Wenjack) https://www.youtube.com/watch?v=za2VzjkwtFc O-Ton 01 /OV 1 Bruce Allan (englisch/ OV) Sie kehrten es irgendwie unter den Teppich. Das geht jetzt nicht mehr. Seit der 215 Kinder aus Kamloops ist es für die Welt real geworden. Seitdem hören die Menschen zu und beginnen zu glauben. Obwohl die Überlebenden schon seit vielen, vielen Jahren ihre Geschichten erzählen, fangen die Menschen jetzt erst an zuzuhören. Durch das Auffinden dieser Gräber, schreien (freie Ü.) diese Kinder: Wir sind hier! O-Ton 02 /OV 2 Barney Williams (englisch/ OV) Als ich in Kamloops war, wo sie die Leichen zuerst gefunden haben- wir wussten, dass Kinder vermisst werden. Aber uns wurde immer gesagt, dass sie von den Eltern abgeholt wurden. Und jetzt wissen wir, dass das eine ungeheure Lüge war. O-Ton 03 /OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ OV) Jede Kirche in Kanada betrieb eine Residential School. Aber die meisten davon wurden von der katholischen Kirche betrieben. Aber alle Residential Schools hatten die gleichen Probleme: sexueller und körperlicher Missbrauch. Ansage Die toten Kinder von Kamloops Kanadas First Nations und ihr Kampf um Gerechtigkeit Ein Feature von Dorothea Brummerloh Atmo 02 (ganz leise Atmo vom Pow Wow ) Sprecherin Es ist ein heißer Sommertag Ende Juli 2022. Kurz vor Mittag zeigt das Thermometer bereits 38 Grad an. Der Ort, der zum Symbol für Kanadas dunkelste Vergangenheit wurde, sieht unspektakulär aus. Nur eine Wiese, die im Schatten großer Lindenbäume leicht abfallend zu einem Fußballfeld ausläuft. Im Hintergrund steht groß und mächtig das rote Backsteingebäude der früheren Kamloops Indian Residential School. Das Gras der Wiese ist von der sengenden Hitze verbrannt. Im Boden stecken Grablichter, symmetrisch angeordnet, in drei Reihen über die gesamte Länge der Wiese. Jedes Licht steht auf dieser Wiese symbolisch für ein totes Kind. Im Mai 2021 wurden hier auf dem Gelände der ehemaligen Internatsschule, im etwas abseits gelegenen ehemaligen Obstgarten, die Gräber von 215 Kinderleichen entdeckt - anonym verscharrt. Das jüngste von ihnen war gerade drei Jahre alt. Atmo 03 Pow Wow endet mit Trommelschlag Sprecherin Eine Schule gibt es hier längst nicht mehr. Heute unterstehen die Gebäude der Zuständigkeit des Kamloops Reservats der ortsansässigen Secwepemc (Suh-Wep-muhc) First Nation. Das rote Backsteingebäude dient jetzt als Schulungszentrum der Community, wird für Verwaltung, zum Teil als Museum genutzt. Nur eine grüne Gedenktafel mit goldener Schrift am Eingang erinnert an die Schreckenszeit für Generationen von Jungen und Mädchen, die von 1890, dem Jahr der Gründung der Schule, bis zu ihrer Schließung 1978 dauerte. Heute findet hier das diesjährige traditionelle Kamloops Pow Wow statt - in direkter Nachbarschaft des ehemaligen Internats. Es ist eine der wichtigsten Kulturveranstaltungen der First Nations in Westkanada, mit bis zu 20.000 Besuchern. Hier werden Geschichten, Gesang und Tänze in traditionellen Gewändern aufgeführt, an Ständen Traumfänger, Federschmuck, Bären- und Wolfsfelle angeboten. Die 215 toten Kinder, die Kamloops 215 - ein Kürzel, das in Kanada jeder kennt, sind das Hauptthema auf dem Festplatz und den Tribünen. Atmo 04 Pow Wow Ehrungen O-Ton 04 / OV 4 Amanda (englisch/ OV) Es ist heute anders, wegen all der Residential Schools- als sie letztes Jahr diese Babys gefunden haben. Es ist jetzt eine andere Art und Weise. Wenn man hierher kommt, ist immer die Rede von den Kamloops 215. Dieses Jahr ist es anders als sonst. O-Ton 05 / OV 5 Daniel (englisch/ OV) Es gibt viele Menschen, die durch den Kontakt mit den Weißen ihre Sprache verloren haben, ihre Kultur, weil sie aus den Familien herausgerissen wurden, so wie ich, der die Residential School überlebt hat. Dort wurde mir verboten, meine Sprache zu sprechen. Sie haben mir viel von meiner Kultur genommen. Sie zwangen uns ihre Religion auf. Atmo 05 Pow Wow Trommeln und Tänze Sprecherin Die Kamloops Residential School war eine von über 130 Internaten in ganz Kanada, in denen über einen Zeitraum von 120 Jahren mehr als 150 000 Kinder indigener Familien umerzogen und zwangsweise assimiliert werden sollten. Die letzte dieser Schulen wurde erst 1997 geschlossen. Die Kinder wurden gequält und misshandelt, viele sind gestorben. Andere kehrten nie zurück. Jahrzehntelang galten diese Kinder als verschollen. Den Eltern wurde gesagt, sie seien ausgerissen. Bis die Reservatsverwaltung in Kamloops begann, das Gelände der Schule mithilfe eines Bodenradars abzusuchen. "Unsere Vorfahren, die die Schule besucht haben, haben sich immer gefragt, wo die ganzen vermissten Kinder landeten", sagte die Chefin der Secwepemc First Nation, Rosanne Casimir, dem kanadischen Fernsehsender APTN News. Die indigene Gemeinschaft engagierte eine Fachfirma für Bodenuntersuchungen. Im Mai 2021 schließlich wurde bekannt gegeben, dass man Hinweise auf 215 Kindergräber gefunden habe. Die "Kamloops 215" blieben nicht die einzigen. In ganz Kanada begannen indigene Gemeinden in der Nähe ehemaliger Internatsschulen zu suchen. Und zum Entsetzen aller wurden man fündig: Im Dorf Marieval in der Provinz Saskatchewan wurden über 750 anonyme Gräber entdeckt. Auf dem Grundstück der "St. Eugene's Indian Residential School" fand man mit Bodenradar die Überreste von wahrscheinlich 182 Kindern. Überall im Land wurden Kinderleichen gefunden. Die Suche dauert an. O-Ton Collage? Nachrichtenheadlines Radio / Fernsehen aus aller Welt Sprecherin Das ganze Land steht seitdem wie unter Schock. Kanada, das sich immer als das bessere, demokratischere Nordamerika gesehen hat, ist auf einmal mit seiner eigenen grausamen Kolonialgeschichte konfrontiert. Überall im Land stellten Menschen Kinderschuhe auf die Stufen öffentlicher Gebäude und Kirchen, um an die toten Kinder zu erinnern. Dabei hatte die Regierung erst 2008 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, die das System des Unrechts und der Gewalt gegen indigene Kinder aufarbeiten sollte. 2015 veröffentlichte sie ihren Bericht und sprach erstmals von "kulturellem Genozid". Doch bis in die 90er Jahre hinein wurden die Geschehnisse an den Residential Schools von der kanadischen Regierung vertuscht. Berichte von Überlebenden wurden lange als Hirngespinste abgetan. O-Ton 06a / OV 2 Barney Williams (englisch/ Overvoice) Sie kamen, um uns abzuholen und ich habe fürchterlich geweint... Sprecherin Barney Williiams ist heute 82 Jahre alt. Seine Mutter war früh verstorben, er wuchs bei seinen Großeltern auf. Er war fünf einhalb, als er auf die Kamloops Residential School kam. O-Ton 06b / OV 2 Barney Williams Unsere Großmutter wollte nicht, dass wir gehen. Opa auch nicht. Aber sie sagten, wenn du ihn nicht gehen lässt, wir bringen Dich ins Gefängnis. Es gab ein Gesetz, dass Eltern und Großeltern ins Gefängnis müssen, wenn sie die Kinder nicht freiwillig weggeben. Mit fünfeinhalb Jahren wurde ich also buchstäblich aus ihren Armen gerissen. Sprecherin In den Schulen herrschte ein hartes Regiment. Neben Einsamkeit, Drill und Strenge litten die Kinder an Heimweh. Es war ihnen unter Strafe verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. Wer es trotzdem tat und von den Ordensleuten erwischt wurde, dem wurden der Mund mit Seife ausgewaschen, um ihn von den Heiden-Sprachen zu befreien und für die französische oder englische Sprache zu säubern. Andere wurden geschlagen und tagelang in dunkle Räume gesperrt. Williams erinnert sich an einen Holzklotz. O-Ton 07 / OV 2 Barney Williams (englisch/ Overvoice) Jedes Mal, wenn wir beim Sprechen unserer Sprache erwischt wurden, öffneten sie uns mit Gewalt den Mund und steckten dieses Klötzchen hinein. Manchmal ließen sie es 6 oder 8 Stunden drin, so dass Du nicht essen oder trinken konntest. Sprecherin Schon im 17. und 18. Jahrhundert gab es in Kanada vor allem von christlichen Ordensgemeinschaften erste Versuche, die Kinder der Ureinwohner in Schulen zu zwingen. Dort sollten sie zum christlichen Glauben bekehrt und ‚umerzogen' werden. Doch erst im späten 19. Jahrhundert erklärte es Kanadas erster Premierminister John A. Macdonald zum offiziellen Regierungsziel, die Indianer zu assimilieren. Oder, anders ausgedrückt: Die Schulen sollten "dem Kind den Indianer austreiben". O-Ton 08 a Geneviève Susemihl Man wollte die radikale Umerziehung der Kinder erreichen, um sie in die Euro-kanadische Gesellschaft zu integrieren. Sprecherin Geneviève Susemihl. Die Kulturwissenschaftlerin hat über viele Jahre zur Situation und Geschichte der First Nations in Kanada geforscht. O-Ton 8 b Und das konnte man am besten, wenn man die Kinder sehr früh aus ihren Familien entfernt und sie möglichst weit entfernt in Umerziehungsanstalten steckte, um ihnen dort die Sprache, die christlichen Normen und Werte und auch ein bisschen Lesen und Schreiben beizubringen, die sie dann in der kanadischen Mainstreamgesellschaft gebrauchen könnten. O-Ton 09 Geneviève Susemihl Die Einrichtungen selbst waren unhygienisch, die Versorgung war unzureichend, viele Kinder starben an Hunger, an Krankheiten, wie Tuberkulose, Masern, Grippe, Keuchhusten, Pocken usw. Es kam in den Schulen zu massiven Übergriffen, also zu körperlichen, emotionalen, mentalen und sexuellem Missbrauch. Atmo 06 Demo Chemainus Sprecherin Montagmorgen in Chemainus auf Vancouver Island, an der kanadischen Pazifikküste. Es ist früh am Tag und die Sonne brennt noch nicht ganz so unbarmherzig auf die Menschen herab. Begleitet durch Trommeln und traditionelle Gesänge der "Penelakut Drummers and Dancers" bewegt sich der Marsch zum Gedenken an die Kinder, die das System der nahe gelegenen "Kuper Island Residential School" nicht überlebt haben, langsam durch den Ort. Atmo 07 Demo Chemainus Sprecherin Fast alle tragen orangene Shirts, ein Symbol für das Leid, das die Kinder der First Nations in den Residential-Schools erlitten haben. Es geht zurück auf das orangefarbene T-Shirt, dass die sechsjährige Phyllis Webstad einst zusammen mit ihrer Großmutter für die Einschulung gekauft hatte. Es stand für die Freude und Erwartung, mit der sie in die neue Schule ging. Doch das Shirt wurde ihr nach ihrer Ankunft sofort von den Nonnen weggenommen - das erste von vielen traumatischen Erlebnissen, die folgen sollten. Im Wheeler Park, vor der Bühne lassen sich die Menschen auf Bänken oder Campingstühle nieder oder legen Decken auf den Boden. Eine alte Dame tritt ans Mikro. Auch sie trägt ein orangefarbenes Shirt. Darauf steht: Every Child Matters- Jedes Kind zählt. Es wird still in den Reihen, als Jill Harris von der Penelakut First Nation die Hände hebt und mit einem Gebet beginnt: O-Ton 10 / OV 6 Jill Harris(Englisch/ Overvoice) Großer Gott, ich danke dir für jeden, der gekommen ist, um mit uns an diesem sehr heiligen Ereignis teilzunehmen, das wir zum Gedenken an die Kinder veranstalten, die die Kuper Island Residential School besucht haben. Ich danke Dir für unsere Redner, die ihre Geschichten erzählen werden, dass Du ihnen die Kraft und den Mut gibst, den sie brauchen, um die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und dass es diejenigen gibt, die ihnen glauben, endlich glauben. Atmo 08 Siegestanz "Penelakut Drummer and Dancer" Sprecherin In der ersten Reihe, direkt vor der Bühne, sitzen Überlebende der Kuper Island Residential School. Unter ihnen ist auch Raymond Tony Charlie. Der 71-Jährige erhebt sich mühevoll, geht auf seinen Gehstock gestützt ans Mikrophon. O-Ton 11 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Es ist sehr ermutigend für mich, heute hier zu sein. Ihr alle erwärmt mein Herz. Es ist sehr wichtig, dass wir uns an die Kinder erinnern, die es nicht nach Hause geschafft haben. Es war nicht ihre Entscheidung, dort zu sein. Aber sie starben dort und wurden in anonymen Gräbern verscharrt. Wir dürfen das nicht vergessen... Sprecherin Auch das Volk der Penelakut hat den Boden des ehemaligen Schulgeländes der "Kuper Island Indian Residential School" untersucht. Mehr als 160 unmarkierte Kindergräber wurden bisher gefunden. Die Suche dauert an. ... die kanadische Regierung und alle Kirchen waren an den Residential Schools beteiligt. Sie müssen sich dem stellen und helfen, uns zu heilen. Sie müssen zuhören und sie müssen uns beistehen ... Ich habe mich sehr gefreut, dass die Kinder heute gesungen und getanzt haben. Das bedeutet mir sehr viel, denn das war uns nicht erlaubt... (Applaus)... Sprecherin Raymond Tony Charlie, von allen nur Ray genannt, ist eines der rund 150.000 Kinder, die das höllische System der Residential Schools erleiden mussten. 1963 begann er als so genannter Tagesschüler auf Kuper Island, wechselte erst später ins Internat. O-Ton 12 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Als ich dauerhaft in die Residential School kam, mussten wir die ganze Routine mitmachen, von der es eine Menge gab. Wir bekamen eine Nummer und auch unsere Kleidungsstücke hatten nur eine Nummer. Meine war die 10. Sprecherin Es gibt Berichte von Überlebenden, die sich wie ein Horrorroman lesen: Bei Ankunft wurden den Kindern die Haare abgeschnitten, sie wurden entlaust, obwohl sie keine Läuse hatten. Die Kleidung wurde durch eine Art Uniform ersetzt. Die Kinder erhielten englische Namen. Jungen und Mädchen, aber auch Geschwister wurden getrennt, um Familienbande zu kappen. Kontakte zu Eltern und Familien wurden untersagt. Briefe nach Hause zensiert. Rays Internatsschule stand erst unter der Leitung der Montfortaner Patres, einer römisch-katholische Ordensgemeinschaft, später übernahm der katholische Orden "Oblati Mariae Immaculatae" die Leitung. O-Ton 13 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Jede Kirche in Kanada betrieb eine Residential School. Aber die meisten davon wurden von der katholischen Kirche betrieben. Aber alle Residential Schools hatten die gleichen Probleme: sexuellen und körperlichen Missbrauch und sehr viel Strenge. Es gab zum Beispiel diesen Blick: Die Aufseher warfen uns nur diesen Blick zu. Wenn wir Kinder Spaß hatten, sahen sie uns mit diesem Blick an und wir blieben wie angewurzelt stehen. Es wurde kein Wort gesprochen. Nur mit einem Blick wurden wir Kinder total eingeschüchtert, ließen den Kopf hängen und gingen weg. Sprecherin Als 15-jähriger Internatsschüler wurde Ray von Pater Glen Doughty betreut. Dieser wies ihm bei seiner Ankunft seinen Schlafraum zu: Das letzte Zimmer am Ende des Ganges, etwas abseits von den anderen, mit Etagenbett nur für ihn allein. Eines Abends kam Doughty zu ihm, lud ihn in sein Zimmer ein. O-Ton 14 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte. Also klopfte ich an seine Tür, ging hinein und setzte mich. Wir unterhielten uns eine Weile. Dann sagte er: Es ist schon spät, wir sollten schlafen gehen und ich sah ihn an. Er sagte: "Wir."... Er sagte: "Komm schon, leg dich hin." Also bin ich rübergegangen, habe mich ins Bett gelegt. Da hat er das Licht ausgemacht und mir an die Genitalien gefasst und angefangen, mich zu masturbieren und ...ich war doch noch ganz klein... Dann sagt er zu mir... "Streichle ihn"... Das war alles, was er sagte.... Und ich hatte einfach Angst und habe es gemacht. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen: Ich war geschockt und sehr verängstigt. Also lag ich die ganze Nacht da und versuchte, mich zu beruhigen... Sprecherin Verängstigt, eingeschüchtert, schleppte sich Ray in die Schule zurück. Niemand nahm davon Notiz. Die anderen Jungen wussten Bescheid, sagt er rückblickend. Gesagt habe keiner was. Wahrscheinlich haben alle nur gedacht: Gott sei Dank, hat es heute Abend nicht mich erwischt. O-Ton 15 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Eines Nachts war ich im Bett und schlief und da packte er mich. Er kam, er packte meinen Kopf und schob mir seinen Penis in den Mund, und er kam in meinem Mund, und ich spuckte es danach einfach aus. Und das ging so weiter bis wahrscheinlich Mitte Dezember, von September bis Mitte Dezember, jede zweite Nacht. Das hat er mir angetan. Schließlich schaute ich eines Nachts auf das obere Etagenbett. Und ich sagte mir: Ich muss oben schlafen. Ab da schlief ich im oberen Bett und es hörte auf. Sprecherin Die katastrophalen Zustände an den Residential Schools hatten sich herumgesprochen, so dass 1969 die kanadische Regierung die Verwaltung der Schulen den Kirchen entzog und selbst übernahm. Strafmaßnahmen von Aufsehern gab es trotzdem noch, erzählt Bruce Allan, der als Tagesschüler von 1967 bis 1974 die Lejac Indian Residential School besuchte. O-Ton 16 / OV 1 Bruce Allan (englisch/ Overvoice) Die Aufseher haben die Kinder beiseite genommen, brachten sie in den Schlafsaal oder ins Badezimmer, wo niemand war, bestraften dort. Ich wurde zum Beispiel während des Mittagessens nach oben in die Jungentoilette gebracht, wo mir der Aufseher 25 Schläge auf jede Hand gab und es hat niemand gesehen. Sprecherin Der einzige Unterschied zwischen Tages- und Internatsschülern bestand für Bruce darin, dass bei den Tagesschülern die Übergriffe zwischen 8:00 und 15:00 Uhr stattfanden und im Internat "24 Stunden, 7 Tage die Woche". Allan blieb von sexueller Gewalt verschont. Sein Vater, der als Kind an der selben Schule auch schwerem körperlichen und sexuellen Missbrauch ausgesetzt war, machte sich um ihn Sorgen. Der Ruf des Aufsehers Edward Fitzgerald war berüchtigt. Dieser betreute die 5- bis 8-jährigen Jungen. O-Ton 17 / OV 1 Bruce Allan (englisch/ Overvoice) Mein Vater sagte zu mir: ´Ich werde Dich den Vorgesetzten vorstellen, die vielleicht denken, dass sie mit dir etwas anfangen können` und ging direkt zu Edward Fitzgerald, dessen Schlafzimmer an den Schlafsaal angeschlossen war, so dass er Zugang zu den Jungen hatte: 24/ 7- was er auch tat. Und mein Vater ging direkt zu ihm und sagte: Das ist mein Sohn. Sprecherin Fitzgerald belästigte ihn nie. Allan vermutet, dass sein Vater dem Aufseher drohte: Rührst Du meinen Sohn an und der erzählt es mir, dann komme ich zu Dir. Das schien gewirkt zu haben. Und Edward Fitzgerald hatte genug andere Jungs zur Verfügung. O-Ton 18 / OV 02 Barney Williams (englisch/ Overvoice) Jeder wusste, wann ein Kind missbraucht wurde. Man hörte, wenn die Jungs in die Zimmer gebracht wurden. Und was ich noch im Geiste höre, sind ihre Schreie. Die habe ich bis heute im Ohr. O-Ton 19 / OV 01 Bruce Allan (englisch/ Overvoice) Es gibt so viele Opfer, die zu meiner Gruppe gehören. Viele von ihnen sind heute nicht mehr hier, begingen Selbstmord, haben sich zu Tode getrunken und so weiter. O-Ton 20 Geneviève Susemihl Um diesen massiven Übergriffen zu entgehen, flüchteten viele Kinder in den Suizid. Und viele Kinder versuchten wegzulaufen. Nur ganz wenigen gelang es allerdings. Da gibt es ein Beispiel von 1966, als der zwölfjährige Ojibwe-Junge Chanie Wenjack weglaufen wollte. Musik Gord Downie's The Secret Path (Lied für Chanie Wenjack) https://www.youtube.com/watch?v=za2VzjkwtFc Sprecherin Über die Flucht des Indianerjungen Chanie Wenjack schrieb der kanadische Rockmusiker Gord Downie 2016 einen Song und machte den Fall dadurch landesweit bekannt. Der Junge rannte fort aus der Cecilia Jeffrey Indian Reservation School in Kenora, Ontario, und machte sich zu Fuß auf den 600 Kilometer langen Weg nach Hause. Chanie starb bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt an Erschöpfung - nur ungefähr 50 Kilometer von seinem Ausgangspunkt entfernt. Musik (noch einmal hoch) Atmo 09 ( Kreuzblende) Ausschnitt aus Propaganda-Video, 1955 (https://www.youtube.com/watch?v=s_V4d7sXoqU) O-Ton 21 Geneviève Susemihl In den fünfziger Jahren wurde bei der Bevölkerung das Bild verbreitet, dass diese Schulen sehr gut sind, weil sie den Kindern Chancen für späteres Leben eröffnet. Es gibt ein Video von 1955, das in dieser kanadischen Wochenschau gezeigt worden ist, wie toll die Kinder das in den Schulen haben, was sie dort lernen und welche Chancen sich dort ihnen eröffnen. Und das ist das, was die kanadische Bevölkerung auch gesehen hat, dass das natürlich gute Schulen sind für die Kinder, die die Kinder vorbereiten für ein späteres Leben in der kanadischen Gesellschaft. Atmo 09 Ausschnitt aus Propaganda-Video, 1955 (https://www.youtube.com/watch?v=s_V4d7sXoqU) Sprecherin Was sich wirklich an den Schulen abspielte, blieb der kanadischen Öffentlichkeit lange verborgen. Oder wollte sie es nicht wissen? Die Trennung in Indigene und Nichtindigene als Folge des "Indian Act" von 1876 saß so tief, dass man sich nicht füreinander interessierte. Man blieb unter sich: Die Indigenen in den Reservaten, die Nicht-Indigenen in ihren Wohnvierteln, erzählt Geneviève Susemihl. O-Ton 22 Geneviève Susemihl Es gibt zum Beispiel über die Kinder, deren Gräber man gefunden hat, keine Dokumente. D.h. man hat schon sehr früh angefangen in diesen Schulen vieles zu vertuschen, Akten verschwinden zu lassen. Es gibt eine Liste von vielen Übergriffen- präzise Namen, die genannt werden von Personal, die die Kinder missbraucht haben, geschlagen haben, misshandelt haben usw., die niemals angeklagt worden sind, wo die Eltern zur Polizei gegangen sind und diese angezeigt haben, aber was niemals irgendwie verfolgt worden ist. Da wurde vieles unter den Teppich gekehrt. Atmo 10 Fähre Vancouver Island O-Ton 23 / OV 7 Kelly Bannister (englisch/ Overvoice) Als ich zum ersten Mal von den Residential Schools hörte, war ich an der Universität und machte meine Doktorarbeit. Das war also in den späten 1990er Jahren und ich war bereits über 30. Sprecherin Kelly Bannister arbeitet als Ethnobiologin an der University of Victoria auf Vancouver Island. Für ihre Doktorarbeit zog sie nach Thetis Island, der Nachbarinsel von Penelakut. Im Warteraum der Fähre traf sie regelmäßig Überlebende der Kuper Island Residential School. O-Ton 24 / OV 7 Kelly Bannister (englisch/ Overvoice) Sie waren sehr stark alkoholabhängig und aufgrund dessen sehr offen und sprachen sehr detailliert. Und sie weinten und wollten einfach mit jemandem reden. Oft war ich die Einzige im Wartebereich. Und ich versuchte einfach nur zuzuhören. Diese Menschen erzählten traumatische und unglaubliche Dinge, die ihnen als Kinder widerfahren war. Sprecherin Oft sei sie selbst den Tränen nahe gewesen, so berührt hätten sie deren Schicksale, erzählt Bannister. Daraufhin habe sie angefangen zu recherchieren, was auf Kuper Island, wie Penelakut damals noch hieß, geschah. O-Ton 25 / OV 7 Kelly Bannister (englisch/ Overvoice) Ich wusste wirklich nicht viel über die Kuper Island, über die Internatsschulen im Allgemeinen. Aber sobald ich mir dessen bewusst wurde, konnte ich es nicht mehr ignorieren. Diese Berichte der Überlebenden beeinflussten all meine Entscheidungen. Für mich war es offensichtlich, dass eine unglaubliche Ungerechtigkeit nicht versöhnt worden war. Und für mich war das ein wirklich großes fortwährendes Rätsel, wie dies so lange unbeachtet weitergehen konnte. Musik Sprecherin Bis in die 1990er-Jahre wurden die Geschehnisse an den Residential Schools von der kanadischen Regierung vertuscht. Überlebenden, die von ihren Erlebnissen berichteten, wurde daher zumeist nicht geglaubt. Dieses Misstrauen, aber auch die eigene Scham hielten viele davon ab, ihre Geschichte zu erzählen. Einer brachte den Mut auf: Phil Fontaine. Der spätere Vorsitzende der Versammlung der First Nations in Kanada sprach 1990 zum ersten Mal öffentlich über den körperlichen und sexuellen Missbrauch, den er in der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg erlebt hatte. In einem Interview mit dem kanadischen Fernsehsender CBC sagte Fontaine damals: O-Ton Fontaine / OV 8 "Wir hoffen, dass der Schritt, den ich gemacht habe, es anderen leichter macht, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Und noch viel wichtiger ist es, diese kollektive Erfahrung für die Nachwelt zu dokumentieren, damit wir sie nie vergessen, damit auch andere verstehen, wovon wir sprechen, aber auch, um einen Heilungsprozess für unser Volk einzuleiten." https://www.cbc.ca/player/play/1776926760 Sprecher Der Damm war gebrochen. Bis 2007 reichten 15.000 Personen wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs an den Internatsschulen Klage ein. Die Regierung konnte nicht länger wegsehen. 2008 entschuldigte sich der damalige kanadische Premierminister Stephen Harper in einer Parlamentsrede für die Politik der Assimilation. Im gleichen Jahr nahm eine von der Regierung eingesetzte Wahrheitskommission, die "Truth and Reconciliation Commission" ihre Arbeit auf. Barney Williams war Mitglied dieser Kommission, die über 7.000 Zeugenaussagen angehört und dokumentiert hat. Darunter waren Berichte über Medikamentenexperimente, die an den Kindern durchgeführt wurden, Zwangssterilisationen von Mädchen, Folterungen mit Elektroschocks. Nach Schätzungen der Kommission starben etwa 4100 Kinder in den Schulen, die Dunkelziffer dürfte noch weit höher sein. Dass man auf dem Gelände der Kamloops Residential School, Gräber gefunden hat, hat Williams als Überlebender dieser Schule nicht gewundert. O-Ton 26 / OV 2 Barney Williams (englisch/ OV) Ich hatte auch einen Freund. Er wurde krank und kam auf die Krankenstation. Dort wollten wir ihn immer besuchen. Aber sie ließen uns einfach nicht zu ihm. Er ist gestorben. Seine Eltern fragten später: Warum hat man ihn nicht in ein Krankenhaus gebracht? Aber da versuchte natürlich jeder, alles zu vertuschen. Wir wissen also nicht, wer verantwortlich ist. Sprecherin Verantwortung, darin waren sich die Betroffenen einig, trägt jedenfalls der Staat - und die Kirchen, die die Schulen die meiste Zeit über betrieben hatten. Allen voran die katholische. Nach dem Fund der Kinderleichen von Kamloops wurden in indigenen Gebieten mehrere Kirchen angezündet. Der Zorn war groß. Doch der Vatikan weigerte sich lange, sich diesem dunklen Kapitel zu stellen. Bereits 2009 hatte eine Abordnung indigener Gemeinschaften beim damaligen Papst Benedikt XVI. vorgesprochen. Der sprach zwar von seinem Schmerz, den er empfinde, "angesichts des verachtenswerten Verhaltens einiger Kirchenangehöriger", doch eine Entschuldigung lehnte er ab. Auch Papst Franziskus blieb lange stumm. Der kanadische Premier Justin Trudeau hatte sich dagegen mehrfach bei den Opfern und den Angehörigen der First Nations für das Unrecht entschuldigt, das ihnen angetan wurde und insgesamt mehr als 3 Milliarden Dollar an Entschädigungen ausgezahlt. O-Ton 27 / OV 9 Daniel Sims (englisch/ OV) Jeder, der eine Residential School besucht hat, konnte diese Entschädigung erhalten. Es war eine Entschädigung von 10. 000 Dollar plus 3. 000 für jedes Jahr, das man in einem Internat verbracht hat. Sprecherin Erklärt Daniel Sims, Professor an der University of Northern British Columbia und Angehöriger der Tsay Keh Dene First Nation. O-Ton 28 / OV 9 Aber das war auch gedacht, um zu verhindern, dass Menschen die Regierung oder die Kirchen verklagen, denn mit der Annahme des Geldes verzichtete man auf das Recht, weitere Ansprüche einzuklagen. Außerdem musste man extra einen Antrag stellen und es gab eine begrenzte Antragsfrist. Wenn man die Frist versäumt hatte, gab es keine Entschädigung. Und es gab eine offizielle Liste von Residential Schools in Kanada, auf der nicht alle Schulen drauf stehen. Sprecherin Um seine Ansprüche geltend zu machen, musste man seine Missbrauchsgeschichte melden und nacherzählen. Viele Überlebende wurden dabei retraumatisiert, erzählt Bruce Allan, der Opfer bei der Antragstellung begleitet hat. Sein eigener Vater war nie in der Lage, über seine Schulzeit zu sprechen. Was er erlebt hat, erfuhr der Sohn erst bei der Anhörung von Klassenkameraden seines Vaters. O-Ton 29 / OV 1 Bruce Allan (englisch/ OV) Sie mussten schildern, was ihnen widerfahren war und ich saß neben ihnen. Was auch immer ihnen an brutalen körperlichen und sexuellen Übergriffen zugestoßen ist, ist meinem Vater sicher auch passiert. Er sprach nie darüber, aber durch seinen Alkoholismus, das Kettenrauchen und dass er betrunken meine Mutter schlug, zeigte er es. Musik / Trenner O-Ton 30 Papst (Spanisch) Pido humildemente perdón... papa canada pido humildemente perdon at DuckDuckGo (etwa bei 2'30) Oder: Pope Apologizes For 'Deplorable Evil' After Canadian Catholic School Abuse | Watch (msn.com) Sprecherin Und dann, im Juli 2022 kommt er doch, der Papst. Für viele Betroffene, von denen mehr als die Hälfte Katholiken sind, ein großer Moment. Der Pontifex kommt als Büßer. Und er bittet demütig um Verzeihung für das Böse, das so viele Christen der indigenen Bevölkerung Kanadas angetan hätten. Es ist seine erste Reise, seitdem ein Knieleiden ihn in den Rollstuhl gezwungen hat. Eine geplante Afrikareise musste kurzfristig abgesagt werden, die Kanada-Reise findet statt. Auch das eine Botschaft. In Maskawicis in der Provinz Alberta trifft er mit Vertretern der indigenen Gemeinschaften und Überlebenden zusammen. Vor der früheren Ermineskin Residential School, einer der größten Indigenen-Schulen des Landes, spricht der Argentinier von Verguenza, Scham, und räumt ein, nichts könne die verletzte Würde, den erlittenen Schmerz und das verratene Vertrauen der Betroffenen auslöschen. O-Ton 31: Papst Franziskus (spanisch) Nada puede borrar... https://youtu.be/RBeR1nOgqZY Sprecherin Tausende Angehörigen der First Nations sind gekommen. Viele haben Tränen in den Augen. Auch Barney Williams war gebeten worden, nach Maskwacis zu kommen. Doch er lehnte ab. Gebete und Abbitte seien nicht genug, sagt er. Er fordert Taten. O-Ton 32 / OV 2 Barney Williams (englisch/ Overvoice) Was konkret wird die Kirche tun? Werden sie Behandlungszentren einrichten usw.? Viele Überlebende sind nicht zufrieden, wie die Dinge laufen. Ich auch nicht. Sprecherin Mit seiner Ablehnung steht Williams nicht allein: Eine Inuit-Organisation in Nordwest-Kanada wollte ebenfalls keine Vertreter zur Begegnung mit dem Papst schicken, solange die römisch-katholische Kirche keine eindeutige Verpflichtungserklärung zur Aufarbeitung des Unrechts abgebe. Für viele kommt die Entschuldigung des Papstes zu spät - und auch Franziskus, so die Kritik, habe wieder nur von individuellen Verfehlungen im Namen der Kirche gesprochen. Dabei rühre das Problem an die Grundfesten der Institution. So sei etwa die "Doctrine of Discovery" noch immer nicht aufgehoben, die pästliche Bulle, mit der der Vatikan im 15. Jahrhundert, die Legitimation und die Grundlage schuf für Kolonisierung, Ausbeutung und Völkermord an den Indigenen weltweit. Sprecherin Auch Raymond Tony Charlie ist enttäuscht. O-Ton 33 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ Overvoice) Er muss sich um die 30 Millionen Dollar kümmern, die die katholische Kirche den Überlebenden schuldet. Dieses Geld steht uns zu. Aber wir haben es immer noch nicht bekommen und die Kirche hält es immer noch zurück. Sie hat in all den Jahren nur drei oder vier Millionen Dollar aufgebracht, obwohl sie riesige Vermögen besitzt, Millionen und Abermillionen Dollar. Aber sie können diese lächerlichen 30 Millionen Dollar nicht bezahlen. Sprecherin Was aber ist mit den toten Kindern? Noch immer liegen sie anonym in der Erde, Exhumierungen hat es noch nicht gegeben. Und damit auch keine polizeilichen Ermittlungen zu Todesursache und möglichen Tätern. Die meisten der ehemaligen Internatsschulen liegen heute in der Zuständigkeit der indigenen Reservate. Und die Erde, in der die Kinder liegen, die Totenruhe, ist heilig. Wie weiter mit den sterblichen Überresten umgegangen werden soll, wird in den First Nations selbst kontrovers diskutiert, erzählt Bruce Allan. Seiner Meinung nach sei es Sache der Angehörigen, ob man die Toten ruhen lassen oder exhumieren sollte. O-Ton 34 / OV 1 Bruce Allan (englisch/ OV) Es hängt alles von den Familien ab. Viele von ihnen sagen, lasst sie einfach in Frieden ruhen. Aber andere sagen wiederum, dass die Öffentlichkeit sie identifizieren und das bestätigen sollte, weil sie immer noch nicht glauben. Das ist wirklich wahr: Sie glauben immer noch nicht. Und das ist irgendwie traurig. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der immer noch nicht glaubt und fragt, wo sind die Beweise? Sprecherin Wo sind die toten Kinder von Kamloops, fragen rechtsgerichtete Kampagnen in den sozialen Medien, bislang seien sie nichts als Bodenschatten, das Ganze Fake News der Indigenen, um noch mehr Wohlfahrtszuwendungen zu erhalten. Kimberly Murray, die im Juni von der Bundesregierung zur "Sonderbeauftragten für nicht gekennzeichnete Grabstellen und vermisste Kinder der ehemaligen Internatsschulen" ernannt wurde, bezweifelt, dass das kanadische Justizsystem in der Lage sein wird, diese Art von Untersuchung und Strafverfolgung durchzuführen. Sie fordert einen nationalen Expertenrat. Auch die Versammlung der First Nations Kanadas, die mehr als 600 indigene Gemeinschaften vertritt, fordert eine unabhängige Untersuchung der Verbrechen in den Internatsschulen. Sie hat sich in dieser Sache an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und den Internationalen Strafgerichtshof gewandt. Die Debatte um politische und nicht zuletzt strafrechtliche Aufarbeitung ist also noch längst nicht abgeschlossen. Musikalischer Trenner Sprecherin Knapp 150 Jahren nach der Einführung des "Indian Act", der bis auf wenige Einschränkungen bis heute gilt, sitzt das Misstrauen tief. Noch immer leben die meisten Angehörigen der First Nation in Reservaten, separiert von der Mehrheitsgesellschaft. Die Bedingungen dort sind oft schlecht, erzählt Bruce Allan, von Beruf Sozialarbeiter im Bereich Gesundheitswesen. O-Ton 35 / OV 1 Bruce Allan (englisch/ OV) Wir haben in vielen unserer Gemeinden kein sauberes Trinkwasser. Ein Problem, das gut dokumentiert ist. Sie haben auch kein Wasser zum Baden und so weiter. Wohnungsmangel ist ein großes Problem. Die Menschen leben in Abbruchhäusern mit Schimmel und ähnlichem. Die Armut in unseren Gemeinden ist groß. Obwohl viele Gemeinden eine Rohstoffindustrie haben, erhalten sie nichts von den Geldern aus dem Ressourcenabbau. Die Regierung tut nichts aus reiner Herzensgüte und muss immer erst auf Entschädigungen verklagt werden. Aber wir sollten nicht vor Gericht gehen müssen, um das zu bekommen, was jeder Kanadier bekommt. Sprecherin Laut Truth and Reconcilation Commission verdienen Indigene weniger, sind häufiger arbeitslos, beziehen häufiger Sozialhilfe als Nicht-Indigene. Zu all diesen Problemen kommen die Traumata, die die Residential Schools angerichtet haben und die generationsübergreifend sind. In den Internaten wurde ihnen beigebracht, dass ihre eigene Kultur wertlos sei. Das führte zu Identitätsverlust, hinterließ tiefgreifende psychische Störungen. Doch in der kanadischen Gesellschaft konnten sie sich auch nicht integrieren. So entwickelte sich in vielen Fällen ein Teufelskreis von Arbeitslosigkeit- Alkohol- und Drogenmissbrauch. O-Ton 36 / OV 3 Raymond Tony Charlie (englisch/ OV) Ich möchte, dass die Leute verstehen, was bei uns passiert ist. Sie sagen immer: "Oh, diese Indianer - diese Säufer. Sie sind faul, sie taugen nichts." Aber Sie sind so, weil sie sehr in den Residential Schools gelitten haben, weil sie traumatisiert sind. Sprecherin Und noch immer werden Tausende von indigenen Kindern durch das Kinderfürsorgesystem von ihren Eltern und Gemeinschaften getrennt. Laut der Volkszählung von 2016 machen indigene Kinder nur 7,7 Prozent der Kinderbevölkerung aus. Dennoch leben 52,2 Prozent von ihnen in Pflegefamilien. Kinder der First Nations werden 14-mal häufiger von Sozialdiensten aus den Familien genommen als nicht-indigene Kinder. So geht die Entwurzelung weiter. Doch es gibt auch wachsendes Selbstbewusstsein der First Nations, viele junge Leute interessieren sich wieder für ihre Herkunft, ihre Traditionen und ihr spirituelles Erbe. O-Ton 37 / OV 9 Daniel Sims (englisch/ OV) Meine Tante Jean hat immer gesagt, jede Nation hat ihre eigene Sprache. Wenn wir als Nation weiter bestehen wollen, müssen wir unsere Sprache lernen. Sprecherin Daniel Sims selbst hat seine eigene Sprache nicht gelernt, muss sie sich nun mühevoll aneignen. Für die Kinder seiner Verwandten ist es bereits wieder eine Selbstverständlichkeit. O-Ton 38 / OV 9 Daniel Sims (englisch/ OV) Einer der Gründe, warum das möglich ist, ist, dass sie die Schule im Reservat haben. Die Nation kümmert sich also um die Schule und sie integrieren dort viel Sprachunterricht. Wenn man die Kontrolle darüber hat, kann man den Kindern die Sprache beibringen und auch mehr über die Kultur und solche Dinge. Sprecherin Im Juni 2019 erließ die Regierung den "Indigenous Languages Act", der den Gebrauch von indigenen Sprachen fördern soll. Seitdem bieten Hochschulen vermehrt Kurse und Studiengänge in indigenen Sprache an. An den meisten Universitäten in British Columbia wird neben Englisch eine zweite Sprache als Zulassungsvoraussetzung verlangt, um studieren zu können, sagt Kelly Bannister. O-Ton 39 / OV 7 Kelly Bannister (englisch/ OV) Und jetzt werden an vielen Universitäten neben Englisch auch indigene Sprachen als Zweitsprache akzeptiert. Man könnte also Englisch und Spanisch oder Englisch und Halkomelem oder eine andere indigene Sprache sprechen. Das ist meiner Meinung nach ein guter Indikator dafür, dass indigene Sprachen wertgeschätzt werden. Sprecherin 2021 wurde der 30. September zum "Day of Truth and Reconciliation" ausgerufen, einem offiziellen Feiertag zum Gedenken an die gequälten Internatskinder. Trotz alledem scheint der Weg der Wahrheit und der Versöhnung schwer. 94 Vorschläge hat die Truth and Reconciliation Commission im Juni 2015 zusammen mit ihrem Abschlussbericht veröffentlicht, um "das Erbe der Residential Schools wiedergutzumachen und den Prozess der kanadischen Versöhnung voranzutreiben." Doch im Dezember 2020 veröffentlichte das Yellowhead-Institute, ein von Angehörigen der First Nations geleitetes Forschungszentrum, einen Bericht, wonach erst acht der 94 Empfehlungen vollständig umgesetzt seien. Weder im Bereich Kindeswohl, noch bei Bildung und Erziehung sind Projekte abgeschlossen; eine Justizreform wird nicht angegangen. Immer noch herrscht keine Gleichberechtigung, ist Alltagsrassismus an der Tagesordnung, erzählt Sims. O-Ton 40 / OV 9 Daniel Sims (englisch/ OV) Es gibt auch einen systemischen Rassismus. Aber der meiste Rassismus findet im Alltag, auf einer niedrigeren Ebene statt: Mikro-Aggressionen, persönliche Interaktionen, wie Menschen miteinander umgehen. Ich war zum Beispiel dabei, einen Scheck einzulösen und eine Frau kam herein und war sehr verärgert darüber, dass ich vor ihr stand, und beschwerte sich dann lautstark, dass ich nur dort bin, um meinen Sozialhilfe-Scheck einzulösen. Atmo Pow Wow Trommeln und Tänze Sprecherin: In Kamloops, dem früheren Internat, an dem die Suche nach den vermissten Kindern begann, ist der alte Obstgarten weiter abgesperrt. Die Kinder unter der Erde sind noch immer namenlos. Doch wie lange noch? Auf dem Festplatz des Pow Wow ist es voll geworden, jahrhundertealte Tänze werden aufgeführt. Die Pow Wows werden von vielen genutzt, um wieder mehr über ihre eigene Kultur und Herkunft zu erfahren. Und manchen Älteren helfen sie, wie Elsie Watney, die Traumata der Residential School zu überwinden. O-Ton 41 / OV 10 Elsie Watney (englisch/ OV) Ich bin missbraucht worden und habe eine Traumatherapie gebraucht. Das Tanzen und der Besuch vom Pow Wow haben mir bei meiner Heilung geholfen. Bevor ich zum ersten Mal die große Trommel bei einem Pow Wow hörte, gab es eine Menge Scham in meinem Leben, aber als ich die Trommel hörte, schmolz diese Scham einfach weg und es erfüllte mich mit einem Gefühl von Stolz, dass ich das bin, was ich bin. Ich bin heute stolz darauf, indigen zu sein. Ich bin zu den Kreiszeremonien zurückgekehrt, habe mich gereinigt, gebetet, all diese Dinge haben mir geholfen. Das hält uns am Leben und das werden sie uns nie wieder antun. Absage: Die toten Kinder von Kamloops Kanadas First Nations und ihr Kampf um Gerechtigkeit Von Dorothea Brummerloh Es sprachen: Lisa Bihl, Wolf Aniol, David Vormweg, Wolfgang Rüter, Sigrid Burkholder, Axel Gottschick, Hüseyin Michael Cirpici und Susanne Reuter. Ton und Technik: Hendrik Manook, Christoph Bette und Caroline Thon Regie. Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion Deutschlandfunk 2023 Atmo