Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Schuld und Schulden Deutschland und die Frage der Reparationen Autorin: Vivien Leue Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2020 Erstsendung: Dienstag, 12.05.2020, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 02.05.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Volker Risch und die Autorin Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar- Atmo (Demos Griechenland) "Gerechtigkeit, Gerechtigkeit" Autorin Griechenland 2014. Demonstranten skandieren "Gerechtigkeit!". Die Forderung ist an Deutschland gerichtet. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck ist zu Besuch und soll sie hören. O-Ton Gauck "Ich schäme mich auch dafür, dass das demokratische Deutschland, selbst als es Schritt für Schritt die Vergangenheit aufarbeitete, so wenig über die deutsche Schuld gegenüber den Griechen wusste und lernte." Autorin Von April 1941 an halten deutsche Truppen Griechenland drei Jahre besetzt. Mehr als 300.000 Griechen sterben, allein der erste Besatzungswinter fordert 100.000 Hungertote. Atmo (Bericht der Wochenschau 1941) "Im Tiefflug über das Ägäische Meer. Chania steht in Flammen. Straße um Straße muss kämpfend genommen werden. Nach 12 Tagen Kampf ist Kreta fest in deutscher Hand. Das Hakenkreuz weht über Kreta." Autorin Als die Wehrmacht im September 1944 aus Griechenland abzieht, hinterlässt sie ein zerstörtes Land: Infrastruktur und Wirtschaft sind kaputt, Bodenschätze geplündert, Dörfer abgebrannt. Mehr als 70 Jahre später ist diese Vergangenheit für Griechenland noch nicht abgeschlossen. Im Jahr 2019 fordert das griechische Parlament Deutschland erneut auf, seine Schulden aus dem Zweiten Weltkrieg endlich zu begleichen. Der damalige griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras: O-Ton Tsipras "Das ist eine historische und moralische Aufgabe für uns. Wir glauben fest daran, dass wenn wir eine bessere Zukunft wollen, Kapitel aus der Vergangenheit geschlossen und geklärt sein müssen." O-Ton Merkel "Wir haben ja gesagt und das wiederhole ich hier auch noch einmal, dass die Frage der Reparationen aus Sicht der Bundesregierung politisch und rechtlich abgeschlossen ist", Autorin stellt Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings schon 2015 klar und ihr damaliger Vizekanzler Sigmar Gabriel ergänzt auf die Frage nach Entschädigungszahlungen für Griechenland: O-Ton Gabriel "Die Wahrscheinlichkeit ist Null. Weil wir eine klare rechtliche Antwort auf solche Forderungen haben, nämlich, dass die spätestens mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und den Ergebnissen alle diese Themen rechtlich beendet worden sind." MUSIK ANSAGE Schuld und Schulden - Deutschland und die Frage der Reparationen Ein Feature von Vivien Leue Atmo S-Bahn Berlin/ Türen schließen "Nächster Halt Hackescher Markt" Autorin Berlin, Anfang März 2020. Ich suche Antworten auf die Frage, warum es immer noch offene Reparationsforderungen an Deutschland gibt, 75 Jahre nach Kriegsende. Gab es nicht zahlreiche Demontagen und andere Reparationsleistungen? Oder sind kleinere Länder wie Griechenland tatsächlich nicht ausreichend entschädigt worden? Atmo U-Bahn "Görlitzer Bahnhof" Autorin Nahe des Görlitzer Parks, zwischen Kreuzberg, Treptow und Neukölln, wohnt Hartmut Rübner. Atmo Rübner "Hallo Herr Rübner" - "Hallo" Autorin Der Historiker hat zur deutschen Reparationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg geforscht. O-Ton Rübner "Natürlich hat man immer Argumentationslinien, die vorgeprägt sind. Der Krieg ist so lange vorbei, das hat sich alles erledigt, der Zwei-plus-Vier-Vertrag. Wenn man das dann dezidiert nochmal aufarbeitet und sich anguckt im Einzelnen, auch im geschichtlichen Verlauf, wie sind die Entscheidungsprozesse eigentlich abgelaufen, über die Jahrzehnte, dann entsteht da ein ganz anderes Bild." Autorin In seiner Altbauwohnung mit knarzenden Dielen und deckenhohen Bücherregalen spricht er über sein letztes Buch, das er gemeinsam mit dem Bremer Historiker Karl-Heinz Roth veröffentlicht hat. Thema: Die deutsche Reparationsschuld. O-Ton Rübner "Also wir haben am Ende über 6.000 Dokumente zusammengesucht." Autorin Es sei nicht immer einfach gewesen, diese Dokumente durchzusehen, erinnert sich Rübner. Insbesondere die, in denen Zeugen Kriegsverbrechen in Griechenland schildern. O-Ton Rübner "Ich habe die Akten gesehen, die Aussagen und so weiter, das stammt ja aus den Nachkriegsprozessen, Nürnberger Prozessen und da sieht man ganz deutlich, was da so passiert ist und das hat mich wirklich manchmal zu Tränen gerührt. Das waren einfach nur irgendwelche vagen Geschichten, die dazu führten, dass ganze Dörfer ausgerottet worden sind. Wirklich alle, bis auf die kleinen Kinder und teilweise auch die Babys. Diese Rigorosität des deutschen Vorgehens da, das hat mich irgendwie, wenn man das dann vor Augen hat ..." Autorin Während der gut dreijährigen deutschen Besatzungszeit in Griechenland kommt es zu unzähligen Massakern. Dörfer wie Distomo, Lyngiades, Kalavryta werden ausgelöscht, die Einwohner brutal hingerichtet. O-Ton Rübner "Griechenland sollte als Sprungbrett auch nach Afrika fungieren. Das heißt, Griechenland war sozusagen Aufmarschraum für weitere deutsche Expansionen und gleichzeitig auch so eine Art Urlaubsgebiet für Wehrmachtsangehörige. Und diese ganzen, der ganze Zulauf deutschen Personals wurde quasi, die Kosten dafür wurden quasi Griechenland auferlegt." Autorin Deutschland hat sich die Kosten der Besatzung von Griechenland bezahlen lassen - per Zwangskredit über 500 Millionen Reichsmark. Nach Kriegsende, im Oktober 1945 listet die griechische Regierung die Kriegsschäden in ihrem Land detailliert auf: Plünderungen, Zerstörungen, nichtbezahlte Dienstleistungen, Pensionen, Einkommensrückgänge und die Minderung der Arbeitsleistung werden akribisch berechnet. Insgesamt macht Griechenland Schäden in Höhe von rund 10 Milliarden Dollar geltend. Nach heutiger Kaufkraft etwa 90 Milliarden Euro. Hartmut Rübner meint, diese Forderungen waren berechtigt. O-Ton Rübner "Natürlich ist das gerechtfertigt. Das ist einfach auch Fakt, das ist keine Entschuldigung, das ist eine Tatsache. Diese Schäden sind ja da gewesen und mussten behoben werden." Autorin Nur wurden sie größtenteils von Griechenland ganz allein behoben, so der Historiker. Das Land habe für diese Schäden nie ausreichend Reparationen, also Entschädigungen bekommen. Es sei nur ein Bruchteil der geforderten Summe, der 10 Milliarden US-Dollar, wirklich bezahlt worden. - Warum? Hatten nicht die vier alliierten Siegerstaaten USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion Reparationen festgelegt? O-Ton Rübner "Die prozentuale Verteilung aus diesen ersten Chargen aus diesen Reparationskonten oder Zahlungsmitteln, die ausgeschüttet werden sollten, haben diese kleineren Alliierten erst einmal sozusagen diskriminiert... so kann man es glaube ich nicht nennen, aber zumindest wurden sie nicht in dem Maße berücksichtigt, in dem sie es eigentlich verdient hätten. Deren Verhandlungsmacht war nicht so ausgeprägt, wie jetzt die der großen Alliierten." MUSIK Autorin Nach einer ersten Konferenz im Februar 1945 in Jalta auf der Krim, treffen sich die alliierten Staatschefs der USA, Großbritanniens und der UdSSR im August wieder. Diesmal in Potsdam. Sie beschließen, dass Deutschland in zwei Reparationsgebiete aufgeteilt werden soll - in das Reparationsgebiet Ost und das Reparationsgebiet West. Im Absatz Vier des Potsdamer Protokolls heißt es dazu: Zitator "Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen. Die Reparationsansprüche der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreiches und der anderen zu Reparationsforderungen berechtigten Länder würden aus den westlichen Zonen und den entsprechenden deutschen Auslandsguthaben befriedigt werden." Autorin Die Höhe der Reparationsansprüche wird vorläufig mit insgesamt 20 Milliarden US-Dollar beziffert. Davon sollen 10 Milliarden auf die UdSSR entfallen. Die anderen 10 Milliarden sollen unter den West-Alliierten und restlichen Kriegsgegnern verteilt werden. Allerdings: Diese Regelung ist ausdrücklich provisorisch - und kein völkerrechtlicher Vertrag. Die Abmachung soll lediglich Reparationen ermöglichen, noch bevor ein Friedensvertrag mit Deutschland das Thema endgültig regelt, so der damalige Plan. US-Präsident Harry S. Truman erklärt dazu in einer Ansprache: O-Ton Truman (Potsdamer Konferenz August 1945) "This formula of taking reparations by zone will lead to less friction among the allies than the tentative base originally proposed for study at Jalta. The difficulty with this formula however is, that the industrial capital equipment ... is not evenly devided among the zones of occupation. Autorin Die Konferenzteilnehmer erhoffen sich aus der vorläufigen Reparations-Lösung nach Zonen weniger Reibungspunkte zwischen den Alliierten. Weil die Westzone allerdings industriell besser ausgestattet ist als die Ostzone, sollen die UdSSR und Polen vom Westen einen Anteil von 10 Prozent der dort verfügbaren Industrieanlagen erhalten. Truman schließt mit der Erklärung, dass die Reparationsleistungen allerdings unter einer Voraussetzung stünden: O-Ton Truman (Potsdamer Konferenz August 1945) "It is agreed, that the payment of reparation from whatever zones taken should always leave enough resources to enable the German people to subsist without sustained support from other nations." Autorin Die Deutschen müssten trotz der Demontagen noch wirtschaftlich für sich selbst sorgen können. Die UdSSR legt ihrerseits Wert darauf, dass Deutschland für entstandene Schäden umfängliche Wiedergutmachungen zu leisten habe. Der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow in einer Rundfunkansprache: O-Ton Molotow/VO-Sprecher "Man darf auch nicht vergessen, was für einen gewaltigen Schaden die deutschen Landräuber und ihre Verbündeten uns zugefügt haben. Die deutsch-faschistischen Okkupanten haben 1710 Städte und mehr als 70.000 Dörfer in unserem Land zerstört." Autorin In der Ost-Zone werden in den Folgejahren mehr als 2.000 Fabriken demontiert, darunter Carl Zeiss Jena, die BMW-Werke Thüringen, Junkers in Dessau. Die Sowjets verfrachten ganze Schienenstränge in die UdSSR. Insgesamt wohl rund ein Drittel der Industriekapazität in der sowjetischen Besatzungszone - im Vergleich etwa zehnmal mehr als in den Westzonen. Ein Reporter kommentiert im Berliner Rias, dem Radio im amerikanischen Sektor, im Juli 1949: O-Ton Sendung für Mitteldeutschland (12.7.1949) "Was seit 1945 in den sowjetischen Besatzungsgebieten geschah und geschieht, hat mit Wiedergutmachung nichts mehr zu tun. Rund 18.000 Züge mit durchschnittlich je 650 Tonnen von Gütern aller Art rollten seit 1945 aus Deutschland in die Sowjetunion. Allein auf dem Schienenwege wurden Werte von mindestens 7 Milliarden Dollar nach der Sowjetunion geschafft. Dazu kamen Transporte auf Wasserwegen. [...] Das Reparationsproblem ist heute genauso ungelöst wie vor vier Jahren. Obwohl Werte in Höhe von 10 Milliarden Dollar herausgepresst sind." Autorin Denn: Ein Friedensvertrag mit Deutschland, der die Reparationsfrage endgültig klären würde, erscheint zu diesem Zeitpunkt kaum mehr realistisch. Im Mai hat sich die Bundesrepublik gegründet - im Oktober wird die Gründung der DDR folgen. Wer von den beiden deutschen Staaten sollte nun noch einen Friedensvertrag aushandeln? Wer für Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg gerade stehen? MUSIK Atmo Tür, Schritte, Halle O-Ton/Atmo Küsters "Ich grüße Sie!" Autorin Nahe der alten bundesdeutschen Hauptstadt, in Sankt Augustin bei Bonn empfängt mich Hanns Jürgen Küsters im Gebäude der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der braune, fünfstöckige Nachkriegsbau mit spiegelnden Fensterfronten und grünen Innenhöfen war jahrelang Küsters Arbeitssitz. Hier hat der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker bis 2018 die Abteilung Wissenschaftliche Dienste und Archiv geleitet. Die deutsche Nachkriegszeit ist eines seiner Fachgebiete. O-Ton Küsters "Die Frage eines deutschen Friedensvertrages ist im Grunde genommen stetig ein Gegenstand der Verhandlungen der Vier Mächte gewesen", Autorin Dennoch kam es nie zu einem solchen Friedensvertrag - und damit auch nie zu einer endgültigen Reparationsregelung. Warum? Die Antwort ist, wie so häufig in der Geschichte, komplex, vielschichtig, und nicht immer unumstritten. O-Ton Küsters "Der Hintergrund ist klar gewesen, dass sowohl im State Department in Washington als auch in London die Nachkriegsplanung ganz maßgeblich von der Frage beeinflusst worden ist: Inwieweit haben wir negative Konsequenzen des Friedensschlusses aus Versailles hier bei unseren Planungen für die Nachkriegsordnung in Europa zu vergegenwärtigen." Autorin Der Versailler Vertrag oder auch Friedensvertrag von Versailles - Kaum ein völkerrechtliches Dokument des 20. Jahrhunderts ist wohl umstrittener und folgenschwerer. Der Vertrag spricht den Deutschen 1919 die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg zu. Noch mehr als ein Jahrhundert später arbeiten sich an ihm Historiker und Völkerrechtler ab. In Kiel lehrt Professor Andreas von Arnauld Völkerrecht. O-Ton von Arnauld "Der Versailler Vertrag hat tatsächlich versucht, möglichst systematisch die Kategorien von Schäden, die von Deutschland zu ersetzen sind, zu definieren. Gleich nach dem Kriegsschuldartikel 231 kommt dann der Reparations-Artikel 232, der die Schadenskategorien noch einmal auflistet. Dann gibt es noch einen Anhang zu diesen Schadenskategorien, der das noch mal näher konkretisiert." Autorin Gebiete müssen abgetreten, Schäden an Zivilpersonen, Kriegsgefangenen und Eigentum jeglicher Art beglichen werden. Der Vertrag legt Zahlungen unter anderem für Pensionen und ausgefallene Löhne fest. Außerdem wird die Rüstung beschränkt, die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft, die Handelsflotte verkleinert. O-Ton von Arnauld "Und für den Fall, dass Deutschland mit den Reparationszahlungen in Verzug geraten sollte, gab es dann einen Anhang 2, Regelungen, wie sich die Alliierten assoziierten Mächte an deutschen zum Beispiel Industrieeinrichtungen schadlos würden halten können." Autorin Im Nachkriegsdeutschland, der Weimarer Republik, sorgt der Versailler Vertrag für Proteste. O-Ton Brockdorff-Rantzau "Wir sind fern davon, jede Verantwortung, dass es zu diesem Weltkrieg gekommen ist, von Deutschland abzuwälzen. Aber wir bestreiten nachdrücklich, dass Deutschland, dessen Volk davon überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist.", Autorin erklärt der deutsche Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau 1919. Das strenge Regelwerk des Vertrags habe der jungen Republik von Weimar kaum Luft zum Atmen gelassen, heißt es in Kommentaren. Der Aufstieg der Nationalsozialisten sei auch deshalb möglich gewesen, weil die Deutschen durch den Kriegsschuldartikel gedemütigt worden seien und die Wirtschaft unter der Last der Reparationen ächzte. O-Ton Küsters "Zu einer der ganz entscheidenden Lehren gehörte, dass die Alliierten den relativ schnellen Friedensschluss in Versailles unmittelbar nach Kriegsende deshalb nicht wollten, weil er in der Tat aus einer starken emotionalen Gegebenheit vereinbart wurde, aus Ressentiment, aus Hass, aus Revanchedenken, das man tunlichst vermeiden wollte", Autorin erklärt Historiker Hanns Jürgen Küsters. Die alliierten Mächte, allen voran die USA und Großbritannien entwerfen deshalb schon in den letzten Kriegsjahren ab 1943 Szenarien, wie es nach einem Sieg über Deutschland weitergehen könnte. O-Ton Küsters "Von daher kam man auf die Idee, eine sogenannte Abkühlungsphase zunächst einmal eintreten zu lassen. [...] In der Kette der Friedensverträge, die mit den europäischen Staaten zu schließen waren, sollte eben halt der vielleicht wichtigste Vertrag mit den Deutschen nicht am Anfang, sondern am Ende erst vereinbart und ausgehandelt werden." Autorin Im Oktober 1946 werden in Paris Friedensverträge mit den ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reiches Italien, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Finnland verhandelt - und wenige Monate später unterzeichnet. Auch Reparationen sind darin geregelt. So muss Italien beispielsweise 360 Millionen US-Dollar an Entschädigungen zahlen: Allein 100 Millionen US-Dollar an die Sowjetunion, 105 Millionen an Griechenland. Ungarn, Rumänien und Finnland werden 300 Millionen an Reparationsleistungen auferlegt, Bulgarien muss 70 Millionen an Entschädigungen zahlen, davon 45 an Griechenland. O-Ton Küsters "Als es dann um den deutschen Friedensvertrag ging, konnten sich die Alliierten, vor allen Dingen Amerikaner und Sowjets nicht über die Frage der Reparationen verständigen." Autorin Die Entfremdung zwischen den USA und der UdSSR entwickelt sich Ende der Vierziger Jahre zum Kalten Krieg. Ein wiederkehrender Streitpunkt: Die Reparationsfrage. O-Ton Küsters "Die Amerikaner waren der Meinung, es mache überhaupt keinen Sinn, dieses am Boden liegende Deutschland jetzt mit solchen Reparationslasten auch im Hinblick auf die Wirkungen, die die Reparationsdiskussionen in den Zwanzigerjahren gehabt hatte, nun erneut den Deutschen weitere Belastungen aufzuerlegen." Autorin Auch die West-Alliierten haben sich aus ihren Besatzungszonen, insbesondere aus dem Ruhrgebiet und den Kohleregionen des Saarlandes bedient. Aber im November 1949 beenden sie ihre Demontagen. Die Bundesrepublik soll nun, kurz nach ihrer Gründung, die Möglichkeit bekommen, sich auch wirtschaftlich wieder komplett zu erholen. Nicht so die junge DDR. Zwar setzt auch die Sowjetunion 1950 ihre ausstehenden Reparationsforderungen herab - nach eindringlicher Bitte des damaligen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Aber erst als es 1953, im Zuge des Volksaufstands vom 17. Juni, fast zum Kollaps der DDR kommt, erklärt die Regierung der UdSSR: Zitator "dass Deutschland von der Zahlung staatlicher Nachkriegsschulden an die Sowjetunion frei ist." Autorin Einen Tag nach dem Verzicht der UdSSR erklärt auch die Regierung Polens: Zitator "Mit Rücksicht darauf, dass Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist und dass die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse seiner friedliebenden Entwicklung liegt, hat die Regierung der Volksrepublik Polen den Beschluss gefasst, [...] auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten." Autorin Dieser Verzicht ist nach einhelliger Meinung von Juristen völkerrechtlich bindend, ähnlich wie andere Staatsverträge, die Polen in der Nachkriegszeit geschlossen hat - auch wenn die Sowjetunion Entscheidungen möglicherweise beeinflusst hat. Acht Jahre nach Ende des Krieges hat Deutschland - Ost wie West - damit gegenüber den vier alliierten Siegermächten keine Reparationsschulden mehr. Und was ist mit Griechenland? MUSIK Autorin Für die Griechen scheint die Sache klar: Sie sind während der ganzen Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nie ausreichend entschädigt worden. Ich schreibe einem ausgemachten Kenner der deutsch-griechischen Geschichte, dem Athener Professor Hagen Fleischer. Der Historiker lebt seit mehr als vierzig Jahren in Griechenland, hat die deutsche und die griechische Staatsbürgerschaft. Hagen Fleischer hat vor allem zur nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Europa und den Folgen des Zweiten Weltkriegs geforscht. Nach vielen E-Mails erreiche ich ihn am Telefon. Was also haben die Deutschen den Griechen an Reparationen bezahlt? O-Ton Fleischer "Also die Entschädigungen, die waren dünn und in der Anfangsphase gab es eben keinen autonomen deutschen Staat." Autorin Nach der vorläufigen Einigung der Siegermächte 1945 in Potsdam treffen sich im Januar 1946 in Paris Vertreter aus 15 Ländern mit den Westalliierten Staaten zu einer Reparationskonferenz. Mit dabei sind Vertreter aus Griechenland, Norwegen, den Niederlanden, Belgien, aber auch aus Ägypten, Südafrika oder Australien. Die Konferenzteilnehmer einigen sich auf Quoten, nach denen die Länder an den Gesamtreparationen der westlichen Besatzungszonen beteiligt werden sollen. Griechenland wird ein Anteil von 2,7 Prozent zugesprochen, Belgien ebenfalls, die Niederlande sollen 3,9 Prozent erhalten. Eine eigens gegründete Reparationsbehörde soll die Verteilung koordinieren. O-Ton Fleischer "Auf der Pariser Reparationskonferenz '46 hat die Internationale Reparationsagentur den Griechen einen Anteil im niedrigen Promillebereich der angemeldeten Forderungen zugesprochen." Autorin Letztlich sei aber kaum etwas in Griechenland angekommen, sagt Fleischer. Dafür gebe es viele Beispiele. So soll ein Hochofen aus Salzgitter nach Griechenland geliefert werden. Er wird abmontiert und steht im Hamburger Hafen zur Verschiffung bereit, als die Amerikaner entscheiden, dass Griechenland doch ein Agrarland sei und damit nichts anfangen könne. Der Hochofen verrostet derweil in Hafencontainern und wird später zum Schrottpreis von Griechenland weiterverkauft. O-Ton Fleischer "Die nächste entscheidende Station war dann 1953 London, die Schuldenkonferenz." Autorin Auf dieser Londoner Schuldenkonferenz soll die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik wiederhergestellt werden, damit das Land wirtschaftlich wachsen - und sich weiter erholen kann. Bundeskanzler Konrad Adenauer Ende 1952 auf dem CDU-Parteitag. O-Ton Adenauer "Dieses Londoner Schuldenabkommen, meine Freunde, ist für die Wiederherstellung unseres Kredits im Ausland und damit für die Festigung und Weiterentwicklung unserer Wirtschaft von absolut grundlegender Bedeutung. Nur derjenige, der sich müht, sobald er dazu im Stande ist, seine Schulden zu bezahlen, wird auch wieder kreditfähig." Autorin Neben der BRD nehmen mehr als 20 Staaten an der Konferenz teil, darunter Griechenland, Italien, Belgien und die West-Alliierten. Nach teils schwierigen Verhandlungen einigen sie sich darauf, Deutschlands Vorkriegsschulden günstiger zu bewerten und Zinseszinsen zu streichen. Auch ein Teil der Nachkriegsschulden wird der BRD erlassen, so dass von ursprünglich rund 30 Milliarden Mark nur noch knapp 14 Milliarden an Schulden übrig bleiben. Vor allem die USA verzichten auf Forderungen, aber auch Italien und Griechenland. Der griechische Zwangskredit ist nicht Teil der Verhandlungen - das lehnt die Konferenz ab. Und auch die Frage der Reparationen wird von einigen beteiligten Staaten aufgeworfen - aber vertagt. O-Ton Fleischer "Einen offiziellen Reparationsverzicht hatten die Westalliierten nicht gewagt. Weil das hätte einen Aufruhr in allen ehemaligen okkupierten Ländern natürlich provoziert. Aber man hat eben dann die eine Formulierung genommen, dass bis zu einer Lösung der Deutschen Frage, beziehungsweise der deutschen Teilung, also auf gut Deutsch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag die Lösung eben nicht möglich wäre." Autorin Die Reparationsfrage - sie blieb also auch 1953, acht Jahre nach Kriegsende ungelöst. Aber vielleicht stimmt es, was einige Zeithistoriker und auch Völkerrechtler erklären: Dass zur Wiedergutmachung von Kriegsschäden eben nicht nur Reparationen in Frage kommen. Sondern auch andere Entschädigungen. Als die BRD wieder zahlungsfähig war, hat das Land in den 50er und 60er Jahren zum Beispiel Abkommen zur Entschädigung der Opfer des Krieges und NS-Regimes geschlossen - bilateral mit mehreren Staaten. O-Ton Goschler "[...]wo dann auch Griechenland etwas bekommen hat. Das betraf dann aber sozusagen wieder NS-Verfolgte." Autorin Der Historiker Constantin Goschler von der Ruhr-Uni Bochum. Es sind keine offiziellen Reparationen, sondern eben Entschädigungszahlungen für Verfolgte des Nationalsozialismus. 115 Millionen Mark erhält Griechenland damals, 1960. Die Niederlande 125 Millionen, Belgien 80 Millionen, Norwegen 60 Millionen Mark. O-Ton Goschler "Man hat hier eine Fiktion aufrechterhalten, indem man einfach gesagt hat: wir geben denen das Geld und wir gucken jetzt einfach nicht hin, was sie damit machen. Aber wir behaupten einfach, das sind keine Reparationen." Autorin Früher wären solche Zahlungen Teil der Reparationsleistung gewesen. Der Versailler Vertrag zum Beispiel beinhaltet Entschädigungen an Kriegsopfer. Nun aber möchte Deutschland nicht mehr von Reparationen reden. O-Ton Goschler "Denn das Problem war... das ist ja wie im Konkursrecht. Wen sie einem was geben, dann müssen sie allen was geben." Autorin Dann hätten möglicherweise auch Südafrika oder Ägypten Ansprüche geltend gemacht. Deshalb habe Deutschland versucht, das Thema Reparationen einfach nicht aufkommen zu lassen. O-Ton Goschler "Also der Umgangston, wenn man so Dokumente der deutschen Diplomatie liest, mit Griechenland, das liest sich schon ziemlich hart." Autorin Westdeutschland habe seine wirtschaftliche und politische Machtposition, die in den Jahrzehnten nach dem Krieg gewachsen ist, schnell wieder ausgenutzt. O-Ton Goschler "Griechenland war ja etwas zynisch gesprochen einfach eine kleine, unbedeutende Macht, die man relativ leicht bestimmen konnte. Man muss sich eben auch vorstellen, die griechische Regierung musste sich auch immer entscheiden. Ja, also sie wollte Wirtschaftshilfe, sie wollte Militärhilfe. Ja, und da konnte man sie natürlich auch immer unter Druck setzen und das hat man natürlich ausgiebig getan." Autorin 1958 schließt die BRD mit Griechenland ein Abkommen, das einen Kredit von 200 Millionen D-Mark beinhaltet. Bundeskanzler Konrad Adenauer gewährt dabei einen besonders günstigen Zinssatz. In der Folgezeit habe es auch Geldgeschenke gegeben, sowie Finanzhilfen für Entwicklungshilfeprojekte und Rüstungsausgaben. Die Historikerinnen Katerina Kralova und Nikola Karasova schreiben, Griechenland habe allein zwischen 1956 und 1963 deutsche Zahlungen in Höhe von etwa einer Milliarde Mark erhalten. O-Ton Goschler "Das ist der politische Ansatz der Bundesregierung, die sagt: Wir haben das Reparationsproblem in einen politischen Mechanismus der Zusammenarbeit übersetzt und ich finde den Gedanken jetzt auch grundsätzlich nicht mal verkehrt. Die Frage ist wirklich, wovon man mehr hat." Autorin Diese Argumentation vergesse die Opfer des Krieges, meint dagegen Hartmut Rübner. O-Ton Rübner "Das ist wirklich ein bisschen zu kurz gedacht. So funktioniert es einfach nicht. Dass die Leute natürlich aus verschiedenen Gründen, nämlich als Opfer, über die familiären Zusammenhänge diese historischen Zusammenhänge erlebt haben. Ich glaube, jeder, der das auch sehen würde, würde vielleicht auch diese Reparationsproblematik in einem anderen Licht sehen." Autorin Es geht in der Reparationsfrage eben nicht nur um Schulden, sondern auch um Schuld. Zinsgünstige Kredite oder Militärhilfen sind anders als Reparationszahlungen kein Schuldeingeständnis. Zwar hat das Nachkriegs-Deutschland seine Verantwortung nie abgestritten und im Gegenteil vor allem in jüngerer Zeit viel für eine Erinnerungs- und Gedenkkultur getan. Aber reicht das, wenn doch viele Schäden nie wirklich beglichen wurden? MUSIK Atmo Feiern zur Wiedervereinigung O-Ton Kohl "Nach über 40 bitteren Jahren der Teilung, ist Deutschland, unser Vaterland, wiedervereint." Autorin Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 ist die Deutsche Frage dann doch schneller gelöst als erwartet. Und die Frage nach einem Friedensvertrag wieder auf dem Tisch. Atmo Einlass Auswärtiges Amt Autorin Im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin lagern unzählige Meter Aktenbestände, auch zur Wiedervereinigung und dem vorausgehenden Zwei-plus-Vier-Prozess. Zwei Stockwerke darüber hat das Institut für Zeitgeschichte seinen Berliner Sitz. Es verantwortet die Akten-Edition zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik. Seit 1993 legt das Institut nach Ablauf der international üblichen dreißigjährigen Aktensperrfrist eine solche Edition vor - mit den Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. O-Ton Geiger "Bis einschließlich 89 sind eigentlich alle Akten frei. 90 sind wir jetzt dran", Autorin sagt Wissenschaftler und IfZ-Mitarbeiter Tim Geiger, der etliche Editionen mitverantwortet hat. Er kennt die Details des Aushandlungsprozesses zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, hat die Protokolle der unzähligen Gespräche auf Beamten- und Regierungsebene gelesen. O-Ton Geiger "Es ist wie ein Friedensvertrag, aber eben kein Friedensvertrag. Weil das der entscheidende Punkt ist durch die Formulierung im Londoner Schuldenabkommen von 1953: Dass die Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt ist bis zu einem Friedensvertrag. Und das ist einer der Punkte, weshalb die Bundesregierung schon im Frühjahr, im Februar finden sie dazu die verschiedenen Vermerke aus dem Auswärtigen Amt, aus dem Kanzleramt, wo sie sagen: Wir brauchen eine Lösung, aber wir werden sie definitiv nicht Friedensvertrag nennen. Deswegen firmiert der Zwei-Plus-Vier-Vertrag auch immer als die "Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland." Autorin Die bundesdeutsche Seite sei in diesem Punkt sehr klar gewesen. O-Ton Geiger "Die Amerikaner akzeptieren es ohne Probleme und sagen: Absolut nachvollziehbar. Es würde nicht mehr in die Zeit passen, und es würde sozusagen Westdeutschland als ökonomisches Zentrum Westeuropas möglicherweise ausknocken. Die Briten sind am Anfang sehr zurückhaltend und Maggie Thatcher will durchaus einen Friedensvertrag. Aber wird von ihrem Foreign Office überzeugt: Das macht ökonomisch tatsächlich keinen Sinn." Autorin Die Franzosen halten sich in der Frage weitgehend zurück. O-Ton Geiger "Wer wirklich schwer daran knabbert, sind die Sowjets. Die wollten zunächst das Wort drin haben. Die Gespräche sind sehr kernig, die gehen auch durchaus kontrovers hin und her. Die Sowjets werfen's denn auch noch mal im Zuge der Zwei-plus-Vier Ministergespräche, vor allem aber auch in den Beamtengesprächen immer wieder mal auf, akzeptieren's schließlich aber, weil auch die Sowjetunion drängendere Probleme hat. Autorin Die Sowjetunion befindet sich zum Jahreswechsel 1989/1990 außerdem in einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Der Winter ist hart, die Lebensmittel gehen aus. O-Ton Geiger "Das führt letztlich dazu, dass die Deutschen auch noch Teile ihrer bisherigen Kalten Kriegs -Lebensmittelkonserven an die Sowjetunion liefern." Autorin Diese Lieferungen waren in gewissem Maße so etwas wie ein ... O-Ton Geiger "... Schmiermittel um die deutsche Einheit zu ermöglichen" MUSIK Autorin Und was sagen diejenigen dazu, die dabei waren bei den Verhandlungen? O-Ton Kastrup "Hallo, herzlich willkommen... lassen Sie uns nach oben gehen." Autorin Besuch beim Verhandlungsführer des Zwei-plus-Vier-Prozesses, Dieter Kastrup, in Bonn. Kastrup wohnt nur etwa eine Viertelstunde vom Bonner Regierungsviertel entfernt. Noch heute fährt der 83-Jährige häufig dort vorbei. O-Ton Kastrup "Ja, es war also eine einmalige Zeit, ein Glücksfall in der Geschichte. Eine Entwicklung, die niemand hatte kommen sehen, von der wir alle überrascht waren." Autorin In seiner Bibliothek sind die hohen Altbauwände bis unter die Decke voll mit Büchern, in der Mitte des Raumes stehen ein tiefer Holztisch und vier weiße Ledersessel. Zu Wendezeiten ist der Jurist und Diplomat Kastrup Politischer Direktor im Auswärtigen Amt und befasst sich jahrelang mit der "deutschen Frage". O-Ton Kastrup "Was von vornherein für uns ausschied, war die Verhandlung über einen Friedensvertrag. Warum? Im Wesentlichen aus drei Gründen: Ein Friedensvertrag wird üblicherweise in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung von Kampfhandlungen abgeschlossen. Seit Beendigung des Krieges waren 45 Jahre vergangen." Autorin Außerdem hätte mit allen Staaten, die sich 1945 mit Deutschland im Krieg befinden, über einen solchen Friedensvertrag verhandelt werden müssen. O-Ton Kastrup "Wir wussten die genaue Zahl gar nicht genau. 50 oder 55 oder mehr. Verhandlungen in diesem Rahmen zu führen, man hätte sich vorstellen können, wohin das geführt hätte." Autorin Ein Vertragsabschluss und die Wiedervereinigung nach nur sechsmonatiger Verhandlungszeit - das wäre dann nicht möglich gewesen. O-Ton Kastrup "Und schließlich der dritte, auch nicht ganz unwesentliche Grund war: Wir hätten dann auch über Reparationen reden müssen. Und das wollten wir nicht, weil wir der Auffassung waren, durch die europäische Zusammenarbeit und das, was die Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang an Leistungen erbracht hatte, hatte sich das Thema Reparationen überholt." Autorin Haben denn die alliierten Mächte das Thema in den Verhandlungen angesprochen? O-Ton Kastrup "Nein, nein, also das Wort Reparationen ist in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu keinem Zeitpunkt gefallen. Über Reparationen ist nicht geredet worden." Autorin Wenn das Thema in den offiziellen Verhandlungen nicht auf den Tisch kommen durfte, so wurde doch vielleicht inoffiziell, während vorbereitender Treffen und Begegnungen darüber gesprochen? MUSIK Atmo (Ansage im Flugzeug) "Meine Damen und Herren, willkommen auf dem Flughafen München..." Autorin Am Tegernsee, eine Stunde südlich von München, lebt Horst Teltschik. Atmo Ankommen, Schritte, Tür O-Ton Teltschik "Wir setzen uns am besten an den Tisch hier." Autorin Auch für den früheren Berater von Helmut Kohl ist die Wiedervereinigung... O-Ton Teltschik "Ein Glücksfall der Geschichte. Also, das war eine Summe von glücklichen Gegebenheiten." Autorin Vieles, sagt der ehemalige Kanzlerberater, sei in bilateralen Gesprächen entschieden worden. In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, die im März 1990 auf Beamtenebene beginnen, seien nur noch die Details ausgearbeitet worden. O-Ton Teltschik "Entscheidend waren die Spitzengespräche von Kohl - Gorbatschow, Bush - Gorbatschows, Baker - Gorbatschow und Schewardnadse. Als die Außenminister die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begonnen haben, waren ja wichtige Bausteine schon vorgegeben." Autorin So offenbar auch die Frage, ob das Thema Reparationen offiziell verhandelt werden solle. O-Ton Teltschik "Nein, nein, nein. Das war von vornherein klar. Uns haben ja die sowjetische Seite schon im Vorfeld, im Herbst 89 die Frage gestellt, ob wir uns einen Friedensvertrag vorstellen können oder nicht. Die Frage bekam ich sogar schriftlich für den Bundeskanzler. Da war die Frage, ob wir uns einen Friedensvertrag vorstellen können. Und das haben wir schon negativ beurteilt." Autorin Teltschik nennt dafür ähnliche Gründe wie Dieter Kastrup. O-Ton Teltschik "Ganz einfach: Deutschland 1945 befand sich im Kriegszustand mit über 50 Staaten dieser Welt. Ein Friedensvertrag hätte eine schwierige Frage sofort aufgeworfen, das wäre die Frage von Entschädigungen gewesen. Das hätte Deutschland nie stemmen könne." Autorin Ob tatsächlich so viele Staaten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal Ansprüche angemeldet hätten? Zweifelhaft. Aber ein paar vielleicht - und auch das wäre für Deutschland teuer geworden. O-Ton Teltschik "Das ist natürlich ein innenpolitisches Instrument. Wer ist dagegen, dass das eigene Land von einem anderen viel Geld bekommt." Autorin Man dürfe aber nicht vergessen, dass Griechenland auf anderen Wegen viel Geld aus Deutschland erhalten habe, sagt auch Horst Teltschik. Es ist die Haltung vieler ehemaliger und aktueller Regierungsmitglieder. Es habe auch auf griechischer Seite über die Jahrzehnte hinweg ein Verständnis gegeben, dass die Deutschen ein stillschweigendes Arrangement erwarteten: Sie unterstützen das südeuropäische Land. Im Gegenzug bleiben die Reparationsforderungen unter dem Tisch. Auch 1990 sei es ähnlich gewesen. Das Thema Reparationen sei in Deutschland nicht diskutiert worden, in Griechenland aber durchaus. Der Historiker Tim Geiger: O-Ton Geiger "Das wird auch von den deutschen Diplomaten berichtet. Die deutsche Botschaft fordert immer eine Sprachregelung an, über die das Auswärtige Amt aber wirklich ein bisschen wie die Katze um den heißen Brei herumschleicht. Und dann sagt: Wir sprechen dieses Thema gar nicht an, das ist für uns ein Nicht-Thema. Und ihr solltet das auch tun. Und die Botschaft sagt: Aber wir werden darauf angesprochen, wie reagieren wir? Und dann kommt schließlich im Herbst: die Griechen wissen genau, es wurde darauf verzichtet." Autorin Offiziell verzichtet hat Griechenland zwar nie. Aber vielleicht haben die Griechen das stillschweigende Arrangement zu lange akzeptiert. Denn es gibt tatsächlich einen konkreten Zeitpunkt, ein Momentum, in dem Griechenland seine Forderungen noch einmal hätte geltend machen können. Im November 1990, zwei Monate nach Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags und gut einen Monat nach der deutschen Wiedervereinigung treffen sich die Staaten der KSZE in Paris und einigen sich auf ein Abkommen zur Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa - die Charta von Paris. Darin heißt es unter anderem: O-Ton Sprecher "Wir nehmen mit großer Genugtuung Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland und begrüßen aufrichtig, dass das deutsche Volk sich in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in einem Staat vereinigt hat." MUSIK Autorin Griechenland unterschreibt die Charta. Für die Bundesregierung und auch für viele Völkerrechtler ist spätestens damit ein Anspruch von Griechenland auf Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg verfallen - juristisch abgeschlossen, wie es im deutschen Regierungsjargon heißt. Völkerrechtler Andreas von Arnauld: O-Ton von Arnauld "Ja, es ist eine etwas knifflige Frage. Letztlich muss man berücksichtigen, dass in dieser ganzen Zeit seit der Londoner Schuldenkonferenz 1953 Jahrzehnte tatsächlich vergangen sind. Jahrzehnte, in denen auch die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Griechenland innerhalb der Europäischen Union eine ganz andere Qualität gewonnen hat, so dass es natürlich tatsächlich erst einmal befremdlich anmutet, wenn man plötzlich Reparationsforderungen stellt." Autorin Zwar könne er völkerrechtlich nachvollziehen, dass Griechenland jahrzehntelang noch einen Anspruch auf Reparationszahlungen gehabt habe. Aber das Land: O-Ton von Arnauld "hätte deutlich machen müssen, dass es eben nicht die endgültige Regelung ist und dass dies nicht der Friedensvertrag ist, der im Prinzip das Londoner Schuldenmoratorium beendet und praktisch die ganze Reparationsfrage zum Abschluss bringt, sondern dass man noch eigene Forderungen anmeldet." O-Ton Fleischer "Na, wie hätten sie das? Sie wären der Spielverderber gewesen, die also die Festtagsstimmung gestört hätten." Autorin entgegnet der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer. O-Ton Rübner "Das war allen Beteiligten von Vornherein klar gewesen. Vorher hatte man ja immer erzählt: Ja gut, das müssen wir regeln, bis es dann zu einem Friedensvertrag kommt. Als es dann de facto durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag zum Friedensvertrag kam, gilt es nun als erledigt. Das ist wirklich ein Zeitsprung von einem Jahr. Noch berechtigt oder müssen wir noch verhandeln, bis: Es hat sich erledigt. Das waren nur Monate." Autorin Die Haltung der Bundesregierung hinsichtlich der Reparationsforderungen ist eindeutig. Sie wird von verschiedenen Sprechern diverser Ministerien im Laufe der letzten Jahre stets wiederholt: O-Ton Jäger (Sprecher Finanzministerium, 2015) "Wir werden in dieser Frage keine Gespräche und Verhandlungen mit der griechischen Seite führen." O-Ton Seibert (2015) "Es hat keinen Zweck, dass wir uns jetzt hier im Kreise drehen. Es ist aus Sicht der Bundesregierung ganz klar gesagt worden, was unsere Rechtsauffassung ist, die steht." O-Ton Breul (Sprecher Außenministeirum, 2020) "Die Haltung der Bundesregierung zu Reparationsforderungen ist unverändert: Über 70 Jahre nach Kriegsende, mehr als 25 Jahre nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist sie aus unserer Sicht rechtlich abgeschlossen." ABSAGE Schuld und Schulden Deutschland und die Frage der Reparationen Ein Feature von Vivien Leue Es sprachen: Volker Risch und die Autorin Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 2