Zeitfragen 14. September 2016 Villes-refuges Jacques Derrida und die Idee der Zufluchtsstädte von Klaus Englert ANMODERATION: Heutzutage treiben Krieg und Angst vor islamistischem Terror die Menschen in die Flucht. Diese Situation ist keineswegs neu, denn be- reits in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kam es zu zahllosen islamistischen Attentaten in Algerien. Opfer war damals vornehmlich die algerische Bildungs- elite, die massenhaft zum Exodus gezwungen wurde. Aus Solidarität mit den arabischen Schriftstellern, Journalisten und Künstlern entstand das Internatio- nale Schriftsteller-Parlament in Straßburg. Dem neu gegründeten Parlament gelang es schließlich, über 400 internationale Zufluchtsstädte zu schaffen, die sich bereit erklärten, die Verfolgten aufzunehmen. Das wäre auch heute eine geeignete Reaktion auf die verfahrene Flüchtlingspolitik. Denn diese droht voll- ends zu scheitern, da die meisten Staaten auf ihren nationalen Egoismen behar- ren. ERZÄHLERIN: Der Exodus arabischer Intellektueller in den Westen hat eine lange Tradition. Vor über 20 Jahren wütete der islamistische Furor in Algerien. Viele Journalis- ten wurden damals ermordet, den Überlebenden blieb nur die Flucht ins westli- che Ausland. Dieses Horrorszenario wiederholt sich heute in Syrien. Karim Chamoun, ein in Mainz lebender Radiojournalist, gibt den syrischen Flüchtlin- gen eine Stimme. Seine Landsleute informiert er über die eskalierenden Zustän- de in der Heimat: 1. O-TON: "Es gibt noch immer Opposition und Journalisten in Syrien, die auch sehr kritisch schreiben. Aber die kommen immer wieder ins Gefäng- nis, werden für einige Monate verhört, verhaftet". ERZÄHLERIN: Offenbar - so berichtet Chamoun - läuft dem regierenden Assad-Clan die noch verbliebene Bildungselite davon: 2. O-TON: "In den letzten 18 Monaten sind sehr viele Pro-Assad-Intellektuelle aus- gewandert und haben Fuß gefunden in Deutschland. (...) Viele sind in der jetzigen Zeit ausgewandert, vor Angst, vor Terror. Die haben keine Orga- nisation, die sie vereint". ERZÄHLERIN: Heute sind es syrische Autoren wie die 31-jährige Schriftstellerin Rasha Abbas, die ihr Land aus Angst vor den Henkern des Regimes und den IS-Tugend- wächtern verlassen mussten. Abbas gibt dem friedlichen Syrien ein Gesicht. Sie berichtet über das Leid in den kriegszerstörten syrischen Städten, über die mas- senhafte Flucht der Menschen, über Daseinsnöte und Sprachprobleme in den Ankunftsländern. Abbas, die das Glück hatte, ein Literaturstipendium in Berlin erhalten zu haben, erinnert sich an die ersten Exiljahre: 3. O-TON: ÜBERSETZERIN "Ich habe Syrien 2012 verlassen. Ich war dort nicht mehr sicher. Viele meiner Freunde sind in jenen Tagen verschwunden, einer nach dem ande- ren. Ich bekam Angst. Deshalb zog ich 2012 nach Beirut. Ich wollte ei- gentlich nicht lange bleiben, nur so lange, bis sich die Lage in Damaskus wieder beruhigt hätte. Doch je länger ich im Libanon war, umso unsiche- rer wurde meine Rückkehr. Am Ende habe ich zwei Jahre in Beirut gelebt, bevor ich direkt nach Deutschland weitergereist bin." ERZÄHLERIN: Das Medieninteresse für Syrien lässt vergessen, dass schon vor über 20 Jahren islamistische Fanatiker eine tödliche Hetzjagd auf Journalisten und Künstler veranstalteten. Der Algerier Tahar Djaout war in den achtziger Jahren bekannt für seine Kommentare im Wochenmagazin Algérie-Actualité. Anfang 1993 gründete Djaout Ruptures - "Brüche" -, eine Zeitschrift, die sich als Stachel im Fleisch einer autoritär regierten Gesellschaft verstand. Die Redakteure fürchte- ten allerdings nicht nur die Zensur, sie bangten um ihr Leben, da die "Islamische Heilsfront" ihnen offen den Kampf angesagt hatte. Im Mai 1993 wurde Tahar Djaout vor seiner Haustür in Algier ermordet. Der Journalist war nicht das erste Opfer der Islamisten, aber das prominenteste. Unzählige andere folgten. Tahar Djaouts Ermordung war ein Fanal für die französische Intelligenz. Nicht länger wollte man sich auf den mutlosen internationalen PEN verlassen. Der Philosoph Jacques Derrida und der Soziologe Pierre Bourdieu, die lange Zeit in Algerien gelebt hatten, fühlten sich den Algeriern, den Opfern eines langen, er- bitterten Bürgerkrieges gegen die französische Kolonialmacht, eng verbunden. Sie wollten den "Terrainverlust" der Intellektuellen, einer Elite ohne Macht, wettmachen. Christian Salmon, Gründer des Straßburger Zirkels "Carrefour de littérature", startete eine Unterschriftenaktion. Weltweit verbündeten sich namhafte Schrift- steller mit den verfolgten Algeriern. Salmon schrieb: ZITATOR: "Algerische Journalisten und Schriftsteller, die glücklich einem Attentat ent- kommen sind, müssen sich verbergen, während sie vergeblich auf ein Visum warten. Sie harren ungeduldig vor unseren Grenzen. Hunderte algerische Intel- lektuelle, dem Hass islamistischer Attentäter ausgeliefert, verdanken ihr Überle- ben entweder purem Glück oder der Überbeschäftigung der Henker. (...) Wir sagen jetzt: Es reicht! Genug der Morde in Algerien! Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle zeigen ihren Widerstand. In aller Deutlichkeit sagen wir: Keine Demokratie ohne Solidarität, keine Zivilisation ohne Gastfreundschaft." ERZÄHLERIN: Aus Solidarität mit den algerischen Kollegen kamen im November 1993 im Straßburger "Carrefour de littérature" zahlreiche internationale Autoren zusam- men, um die Öffentlichkeit wachzurütteln. 200 Schriftsteller unterzeichneten den Appell. Bei einer rituellen Aktion wollte man es aber nicht belassen: Unter der Leitung des indischen Autors Salman Rushdie, der seit der Fatwa Ayatollah Chomeinis von den iranischen Häschern verfolgt wurde, gründeten sie das In- ternationale Schriftsteller-Parlament. Währenddessen rief Rushdie, zusammen mit Straßburgs Bürgermeisterin Catherine Trautmann und dem Generalsekretär des Europarats, zur Gründung von Zufluchtsstädten auf - von "villes- refuges", um verfolgten Schriftstellern und Künstlern Asyl zu gewähren. Salman Rushdie schrieb das Gründungsdokument: ZITATOR: "Heute widersetzt sich die Literatur ein weiteres Mal der Tyrannei. Wir gründe- ten das Schriftsteller-Parlament, damit es sich für die unterdrückten Autoren einsetzt und gegen ihre Widersacher erhebt, die es auf sie und ihre Werke abge- sehen haben. Nachdrücklich erneuern wir die Unabhängigkeitserklärung, ohne die Literatur unmöglich ist, nicht nur die Literatur, sondern der Traum, nicht nur der Traum, sondern das Denken, nicht nur das Denken, sondern die Freiheit." ERZÄHLERIN: In Straßburg versammelten sich einige der Autoren des neuen Parlaments - die Franzosen Jacques Derrida und Pierre Bourdieu, die Amerikaner-innen Susan Sontag und Toni Morrison, der Inder Salman Rushdie, der Deutsche Friedrich Schorlemmer und der Antillen-Schriftsteller Edouard Glissant - vor den Kame- ras des Senders ARTE. Während der Live-Sendung war auch Bürgermeisterin Catherine Trautmann zu- gegen. Vor dem Publikum stellte sie die Initiative der "villes-refuges" vor, die zuvor vom Internationalen Schriftsteller-Parlament beschlossen wurde: 4. O-TON: "Je pens, qu'en parler en raîson d'état, je crois qu'est-ce qu'il faut aujo- urd'hui, ce d'abord vaincre la peur et affirmer que les villes, que sont multi-culturelles (...) chaque homme et chaque femme peut revendiquer qu'on reconaisse cette citoyenneté". ÜBERSETZERIN: Es kommt darauf an, dass multikulturell sich verstehende Städte bereit sind, Ge- dankenfreiheit und Toleranz zu verteidigen. (...) Die in einem Netz verbunde- nen Städte können etwas bewirken, indem sie verfolgte Künstler und Schriftstel- ler aufnehmen. Wir wissen, dass Europa ein Kontinent ist, wo über alle Konflik- te hinweg Intellektuelle leben und schreiben. Dieses Erbe müssen wir wach hal- ten. Die bedrohten Intellektuellen müssen bei uns Bürgerrecht erhalten. Zu die- sem Zweck sollte ein Netz der Solidarität geschaffen werden. (...). ERZÄHLERIN: Ins Straßburger Aubette kam auch der schwarze, aus Martinique stammende Schriftsteller Edouard Glissant. Er sah durch die Kriege in Ex-Jugoslawien und in der einstigen französischen Kolonie Algerien die multikulturelle und mul- tiethnische Gesellschaft in Gefahr: 5. O-TON: "Je crois qu'on assiste en Europe, dans certains points de l'Europe, en ef- fet un retour du refoulé nationaliste et ethniciste. Dans ces régions depuis 50 ans ... Il n'est par étonnant que dans ces régions là c'est une sorte de marmite qui éclate, c'est le refoulé nationaliste et ethnique. (...). Je crois que, si quelque chose peut fait par le Parlement internationale des écri- vains, qui ne pas être un parlement européen de écrivains, mais un Parle- ment vraiment internationale, c'est une espèce de mobilisation d'imaginaire, de tous les idées de métissage, de multiculturalisme. (...) Dans les pays du sud par exemple il y a beaucoup de écrivains qui meurent silencieusement - et beaucoup de journalistes. Il faut sauver tout le monde ensemble, et ça serait le rôle - non pas les sauver, mais d'appeler à les sauver par l'imaginaire et par l'expression du Parlement internationale des écrivains." ÜBERSETZER: Wir erleben heute in vielen Orten Europas eine Wiederkehr des Verdrängten im nationalistischen und ethnozentrischen Gewand. Seit vielen Jahren drohte ein Auseinanderbrechen der Gemeinschaft, bis schließlich der Deckel vom Topf sprang und alles in die Luft flog, und schließlich Nationalismus und Ethnozent- rismus voll zum Ausbruch kamen. Wenn das Internationale Schriftsteller- Parlament, das wirklich international sein muss, eine vordringliche Aufgabe hat, dann ist es die Mobilisierung des Imaginären, die Mobilisierung dessen, was ei- ne multikulturelle Gesellschaft ausmacht. (...) In den südlichen Ländern gibt es viele Schriftsteller und Journalisten, die plötzlich lautlos verschwinden. Das In- ternationale Schriftsteller-Parlament müsste dazu aufzurufen, sie zu retten. ERZÄHLERIN: Auch der Philosoph Jacques Derrida nahm an der Gesprächsrunde teil. Es ver- wunderte keineswegs, dass er sich für das Internationale Schriftsteller-Parlament engagierte. Denn Derrida, Kind jüdischer Eltern, wuchs in der französischen Kolonie Algerien auf, im muslimischen El-Biar, unweit von Algier. In zahlrei- chen Texten verwies er auf die schwierige Situation, zwischen einer offiziellen christlichen und einer mehrheitlich islamischen Kultur aufgewachsen zu sein. Der Respekt gegenüber der Differenz - der ethnischen, kulturellen, religiösen, sexuellen oder sprachlichen Differenz - hat sein ganzes Denken tief geprägt. Denn werden die Unterschiede nicht geachtet, dann drohen - wie Derrida immer wieder zeigte - totalitäre Gefahren. 6. O-TON: "Je étais particulièrement sensible à ce point de vue, le voyant toujours en fait. Comme Pierre Bourdieu je veus saluer le courage de ces journalistes qui entrent plusiers terreurs, plusieurs harcèlement, resistent quotidi- ennement (...). Ce un double souci: ne pas oublier les autres, mais de prêter attention et marquer solidarité à l'égard des écrivains, des artistes, des journalistes qui font son travail". ÜBERSETZER: Die Ereignisse, die ich täglich miterlebe, treffen mich zutiefst. Ebenso wie Pier- re Bourdieu bewundere ich den Mut der Journalisten. Die Journalisten erdulden unterschiedlichstes Leid, widerstehen der alltäglichen Gewalt und riskieren ihr Leben. Was bleibt zu tun, wenn einem diese Geschehnisse aus biographischen Gründen nicht unberührt lassen? Natürlich darf man nicht vergessen, dass derar- tiges an vielen Orten der Welt passiert und dass nicht nur Journalisten und Intel- lektuelle umgebracht werden. Wir müssen auch an die denken, die nicht durch einen bekannten Namen geschützt werden. Wir dürfen die Namenlosen nicht vergessen und wir müssen solidarisch sein mit den bedrohten Journalisten und Schriftstellern, die einfach ihre Arbeit machen wollen. ERZÄHLERIN: Einige Wochen nach der Straßburger Veranstaltung luden die "Menschenrechts- Liga" und das "Internationale Komitee zur Unterstützung der algerischen Intel- lektuellen" ins Amphitheater der Pariser Sorbonne. Jacques Derrida wiederholte hier seinen Appell an die Intellektuellen: ZITATOR: "Das schmerzvolle Beispiel Algeriens vor Augen verteidigt das Internationale Schriftstellerparlament eine Demokratie, die Staat und religiöse Autorität vonei- nander trennt, die radikale Laizität und Toleranz durchsetzt, die Glaubensaus- übung und Redefreiheit innerhalb jeder Religion garantiert. Diese Forderung zielt auf einen Islam, dessen unterschiedliche Koran-Lesarten, seien sie exege- tisch oder politisch, sich völlig frei entfalten müssten. Im Übrigen wäre das die beste Antwort auf die rassistisch eingefärbte Islamophobie, die ihrerseits is- lamistische Gegengewalt hervorruft - eine Gegengewalt, die sich selbst noch als islamisch ausgibt." ERZÄHLERIN: Offiziell gegründet wurde das von 300 Schriftstellern unterstützte Internationale Schriftsteller-Parlament im Juni 1994. Salman Rushdie stand dem Parlament bis 1997 vor, danach wurde er vom Nigerianer Wole Soyinka abgelöst. Beide wur- den jahrelang verfolgt - Rushdie von den fanatischen Schergen des Ayatollah Chomeini, Soyinka von der Polizei des Diktators Abacha, der zuvor den Schrift- steller und Menschenrechtsaktivisten Ken Saro Wiwa öffentlich erhängen ließ. Vier prominente Stellvertreter wurden dem Präsidenten zur Seite gestellt - Jac- ques Derrida, Pierre Bourdieu, Édouard Glissant und der syrische Lyriker Ado- nis. Die Liste der Berater liest sich wie ein Who is Who der internationalen Lite- ratur - darunter die Österreicherin Elfriede Jelinek oder der Südafrikaner John Maxwell Coetzee. Initiator des Schriftsteller-Parlaments war der Soziologe Pier- re Bourdieu, der am renommierten Pariser Collège de France lehrte. Im April 1996 stellte er die Autoren-Vertretung im Brüsseler EU-Parlament vor, während einer öffentlichen Anhörung der Menschenrechts-Kommission: ZITATOR: "Es ist Aufgabe der Zufluchtsstädte, der Zensur Orte der Freiheit, des Aus- tauschs und der Solidarität entgegenzusetzen. Schaffen wir mehr Zufluchtsstäd- te, dann zeigen wir, dass es weltweit Orte zivilen und demokratischen Engage- ments gibt." ERZÄHLERIN: Das Projekt der "villes-refuges" war anfangs äußerst erfolgreich: 1995 beschlos- sen Vertreter von mehr als 400 europäischen Städten die ,Charta der villes- refuges'. Eine Resolution des Europäischen Parlaments förderte ein weltweites Netz von "villes-refuges". Straßburg und Berlin gehörten zu den ersten "Zu- fluchtsstädten", es folgten Städte wie Venedig und Helsinki. Taslima Nasreen, verfolgte Menschenrechtlerin, Autorin und Feministin aus Bangladesh erhielt Zuflucht in Berlin. Aber auch dort wurde sie weiter von fanatischen Islamisten bedroht. Im März 1995, als gerade der Genozid gegen die muslimischen Bosnier und der religiöse Furor muslimischer Gruppen in Algerien tobte, tagte der erste Kon- gress des Internationalen Schriftstellerparlaments im Straßburger Europarat. Jacques Derrida referierte damals über den ungesicherten Status der Immigran- ten und Flüchtlinge und umriss die Ziele des Autoren-Parlaments. Seinem Vor- trag gab er den Titel ZITATOR: "Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!" "Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung!" ERZÄHLERIN Das spielte einerseits auf Karl Marx' Losung "Proletarier aller Länder vereinigt euch" an, andererseits auf de Sades Slogan "Français encore un effort pour être des républicains" - "Franzosen, noch eine Anstrengung, um Republikaner zu werden!" Derrida strich die lange Tradition der Zufluchtsstädte hervor: ZITATOR: "Die Charta der Zufluchtsstädte strebt eine Neufassung des Asylrechts und eine Pflicht zur Gastfreundschaft an. Wir wollen die villes-refuges über die ganze Welt verteilen. Das erinnert an eine neue Form des Kosmopolitismus. Denn wir möchten zur Gründung von zahlreichen unabhängigen villes-refuges beitragen. Sie sollten unter sich solidarisch und so weit wie möglich unabhängig vom Staat sein. Die Zufluchtsstädte müssten Fremden, Immigranten, Exilanten, Flüchtlin- gen oder Deportierten offen stehen." ERZÄHLERIN: Die Tradition der "villes-refuges" wiederzubeleben - diese Forderung steht im Zentrum von Derridas Vortrag: ZITATOR: "Zufluchtsstädte finden sich bereits in der hebräischen Tradition. Es handelt sich um Städte, die alle aufnehmen und beschützen mussten, die von einer blinden und rachsüchtigen Justiz verfolgt und angeklagt wurden. Gott - so heißt es in der Bibel - trug dem Moses auf, "Städte der Zuflucht" zu gründen. ... Des Weiteren gibt es die mittelalterliche Tradition einer - gewissermaßen - souveränen Stadt, die für sich Gesetze der Gastfreundschaft festlegte. Diese Entwicklung zielt auf einen Kosmopolitismus, der sich schließlich bei Immanuel Kant und der Aufklärung wieder findet." ERZÄHLERIN: Jacques Derrida hebt die Geschichte der freien Städte hervor, die wesentlich äl- ter ist als die der Nationalstaaten. Freie Städte und Stadtstaaten spielten in der Geschichte der Gastfreundschaft eine herausragende Rolle. Denn in ihnen, so der Oldenburger Stadtsoziologe Walter Siebel, waren Fremdheitserfahrung und Toleranz am stärksten ausgeprägt: 7. O-TON: "Die Städte sind immer die zentralen Orte gewesen, wo Flüchtlinge an- kommen, wo Flüchtlinge auch bleiben wollen und deswegen auch die Or- te, wo darüber entschieden wird, ob die Integration gelingt oder miss- lingt." ERZÄHLERIN: Wenn Jacques Derrida in dem Straßburger Vortrag Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung! zu einem "neuen Kosmopolitismus" aufruft, dann ist die Zielrichtung klar: Kein Staatenbund wie die Europäische Union, sondern ein solidarischer Verbund von "Zufluchtstädten". Allenthalben wächst das Misstrauen gegenüber dem Staat. Das zeigt sich im ka- talanischen Barcelona. Die 2015 gewählte Bürgermeisterin Ada Colau beruft sich ausdrücklich auf die Tradition der "villes-refuges" und riskiert damit einen Affront gegenüber dem Staat und der Madrider Regierung. Zur Flüchtlingspoli- tik ihrer Stadtregierung verkündete Colau: 8. O-TON: "Mientras los estados ponen excusas, las ciudades ya estamos organizan- do. En pocos días estamos organizando una red, sumando centenares de ciudades en Catalunya y en todo el estado. Mientras que construyen mu- ros hasta vallas con alambre de espino, nosotros tenemos un mensaje: Re- fugiados, refugiadas sed bienvenidos. La nuestra casa es la vuestra (...)". ÜBERSETZERIN: Während sich die Staaten herausreden, rüsten sich die Städte, um zu handeln. Innerhalb kurzer Zeit haben wir ein Netzwerk geknüpft, das hunderte von Städ- ten innerhalb Kataloniens und Spaniens umfasst. Während die Staaten Mauern und Zäune mit Stacheldraht hochziehen, verkünden wir eine einzige Botschaft: Flüchtlinge seid willkommen. Unser Haus ist Euer Haus!" ERZÄHLERIN: Die Skepsis gegenüber den nationalen und überstaatlichen Organisationen wächst. Kommunen, die politische Macht auf lokaler Ebene ausüben, seien im- stande, wesentlich schneller und flexibler auf neue, unvorgesehene Situationen zu reagieren, meint der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber: 9. O-TON: "The difference has to do with the character of cities themselves: cities are profoundly multicultural, open participatory, democratic, able to work with one another, cities interact - where states face each other. There is a lot, what cities can do, even when opaque, stubborn nations refuse to act. The world of global democracy doesn't leave us to states, but to cities. Democracy was born in the ancient polis. I believe it could be reborn in global kosmopolis". ÜBERSETZER: Der Unterschied zu Staaten liegt in der Eigenart der Städte: sie sind zutiefst mul- tikulturell, partizipatorisch, demokratisch, kooperativ. Städte interagieren und können viel erreichen, während Staaten eigensinnig sind und gemeinsames Han- deln behindern. Die Welt globaler Demokratie führt uns nicht zu Staaten, son- dern zu Städten. Demokratie entstand in der griechischen polis. Sie könnte ein weiteres Mal in der globalen kosmopolis entstehen. ERZÄHLERIN: 1996 reiste Jacques Derrida in die Grenzstadt Frankfurt/Oder, die damals durch starke Migrationen von Ost nach West geprägt war. An der Viadrina-Universität sprach er über die "Gesetze der Gastfreundschaft". Derrida zitierte Immanuel Kant, der weiter östlich im preußischen Königsberg gelebt hatte. Die branden- burgische Grenzstadt empfing nach 1989 Auswanderer, die sich aus der sozialis- tischen Trümmergesellschaft Polens befreiten. An diesem Ort reflektierte der französische Philosoph, was unter den gegenwärtigen Bedingungen "Gast- freundschaft" bedeuten kann. Eine Gastfreundschaft, die - wie Kant hervorhob - ein "Weltbürgerrecht" ist. Derrida erkannte, dass sich in Westeuropa zwei wi- derstrebende Entwicklungen zeigen: Einerseits die politische Öffnung der Gren- zen zu den osteuropäischen Ländern, aber auch die wirtschaftliche Öffnung, hervorgerufen durch Globalisierung. Andererseits - auch das betonte Derrida - erstarken nationalistische Kräfte, die die geöffneten Grenzen für Flüchtlinge und Emigranten wieder schließen wollen: 10. O-TON: "Il me semble que la mondialisation a engendrée une réaction nationaliste et xénophobique plus intense, précisement parce que les gens circulent plus facilement, soit en passant les frontières physiquement soit à travers les medias, donc il y a eu un geste de repli en quelque sorte nationaliste et xénophobique partout en Europe. À l'égard de celui-ci qui ne sont pas des citoyens protégés par les accords de Schengen, ce qui signifiait que l'Europe est souvent à la fois plus libérale à l'intérieur des accords de Schengen et plus représsive à l'égard à l'extérieure des accords de Schen- gen. Même à l'intérieure il y a gens qui ont peur de la circulation même des européens (...)" (J.D., 28:50). ÜBERSETZER: "Ich denke, die Globalisierung führte zu einer nationalistischen und fremden- feindlichen Reaktion. Dieser Umschlag hat seinen Grund in der größeren Bewe- gungsfreiheit - in der erleichterten Überquerung der Grenzen und im erleichter- ten Zugang zu den Kommunikationsnetzen. Dieser Zustand gilt seit dem Schen- gener Abkommen, das zwar die Freizügigkeit im Inneren, aber auch die Repres- sion nach außen verstärkt hat." ERZÄHLERIN: Die liberale Zivilgesellschaft, die die Gesetze der Gastfreundschaft hochhält, sah der Franzose auf dem Rückzug. In seinem 1997 veröffentlichten Buch Von der Gastfreundschaft untersuchte Derrida die Ursachen für fremdenfeindliche Reak- tionen. Als Grund sieht er die Globalisierung, die zunehmend die Grenzen zwi- schen Staaten aufhebt und im Gegenzug den Rückzug auf das Eigene, auf die eigene Familie und den eigenen Staat befördert. Deswegen - so Derrida - haben die Forderungen nach wirtschaftlicher Liberalisierung und medialer Transparenz stets auch eine Kehrseite: 11. O-TON: "Ce que se passe souvent: les mêmes personnes qui sont pour la mondiali- sation économique - c'est-à-dire l'ouverture des frontières pour le marché économique, pour la circulation des biens et des marchandises - sont les mêmes qui veulent fermer les frontières pour les émigrés. (...) Les libéra- lisations économiques s'accompagnent d'une restriction de l'hospitalité." (J.D., 34:15). ÜBERSETZER: Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass diejenigen, die für die wirtschaftliche Globalisierung - für eine Öffnung der Grenzen und einen verbesserten Handel - eintreten, dieselben sind, die die Grenzen für die Immigranten schließen wollen. Die wirtschaftlichen Liberalisierungen kommen also mit einer Einschränkung der Gastfreundschaft einher." ERZÄHLERIN: Derrida unterscheidet zwei Begriffe von Gastfreundschaft: Einen politischen und einen philosophischen. Zunächst versteht Derrida Gastfreundschaft unter ihren jeweiligen historischen und sozialen Bedingungen. Diesem Verständnis stellt er die regulative Idee von Gastfreundschaft entgegen. Sie kann dem politi- schen Handeln einen Orientierungsrahmen bieten: 12. O-TON: "Je crois qu'il faut distinguer entre deux types de l'hospitalité. Une hospi- talité pure que j'appelle inconditionelle (...), où on acceuille n'importe qui. (...) Le concept d'hospitalité pure n'est pas une concept politique (...). Le concept de l'hospitalité conditionelle, il est politique et juridique. Et il implique que les frontières sont ouvertes dans certaines conditions aux certains émigrants. Et là on peut intervenir, pour changer les choses, et pour faire que l'hospitalité soit d'une part conforme à des lois existants et à des conventions générales protégeant les émigrants, protégant les exilés politiques (...). Et puis, il faut changer les conventions, il faut d'autres conventions pour protéger les émigrants. Ça veut dire, naturellement, c'est imprescindible, n'est seulement les acceuiller, mais leur permettre dans une certaine mésure à déterminer, dans tout le temps de leur séjours dans le pays qu'on a choisi, de conserver leur tradition et naturellement leur langue, leur culture et leur religion. C'est un problème très difficile qui appelle à des décisions politiques, c'est là que la responsabilité politique doit s'exercer" (J.D., 30:00-31:58). ÜBERSETZER: "Man muss zwischen zwei Formen der Gastfreundschaft unterscheiden. Zu- nächst geht es mir um die reine, unbedingte Gastfreundschaft, was bedeutet, dass jeder unterschiedslos aufgenommen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um einen politischen Begriff. Schließlich gibt es die bedingte Gastfreundschaft, mit einer politischen und rechtlichen Tragweite. Sie besagt, dass man die beste- henden Verhältnisse ändern kann und dass die Grenzen unter bestimmten Be- dingungen bestimmten Exilanten offen stehen. Sie entspricht den gegebenen Ge- setzen und Verträgen, die die Emigranten und politisch Verfolgten schützen. Die Verträge müssten zugunsten der Emigranten verändert werden. Das will besa- gen: Unter bestimmten Gesichtspunkten muss ihnen während ihres Aufenthalts im Gastland erlaubt sein, ihre Tradition, ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Reli- gion zu bewahren. Dieses schwierige Problem verlangt nach politischer Verant- wortung und politischen Entscheidungen." ERZÄHLERIN: Jacques Derrida würde heute eine zunehmende Diskrepanz zwischen ökonomi- scher und politischer Liberalisierung sehen. Deswegen denkt der französische Philosoph an eine andere Globalisierung: 13. O-TON: "C'est là le lien de décision politique, de nouvelle politique, pour à la fois reguler le marché et donc le mouvement des capitaux - ce que se passe pour la mondialisation économique - et d'autre part ouvrir davantage les frontières aux personnes" (J.D., 34:50). ÜBERSETZER: Die Entscheidung müsste Ausdruck einer neuen Politik sein. Denn einerseits kommt es darauf an, den Markt und die Kapitalflüsse zu regulieren, und ande- rerseits, die Grenzen für die Menschen zu öffnen. ERZÄHLERIN: Unbedingte und bedingte Gastfreundschaft, großzügige Liberalität und Achtung der jeweiligen Grenzen - innerhalb dieser Spanne sollten die Gesetze der Gast- freundschaft, jeweils abhängig von der kulturellen und historischen Entwick- lung, angewandt werden. Allein innerhalb dieser Spanne ist entscheidbar, was letztendlich "Ethik der Gastfreundschaft" bedeutet. Derrida versteht die unbe- dingte Gastfreundschaft - im Sinne Kants - als Orientierungsrahmen, an dem sich praktisches Handeln ausrichten sollte. Allerdings muss dieses Verhältnis von regulativer Idee und ethischem Tun immer wieder neu bestimmt werden. Der Pariser Philosoph macht dieses Verhältnis an Kulturkreisen deutlich, die auf ihre Weise definieren, wie Gastfreundschaft gelebt werden soll. In einem Doku- mentarfilm der algerischen Filmemacherin Safaa Fathy erzählt der Pariser Philo- soph von der großen Gastfreundschaft alter Nomadenvölker: 14. O-TON: "C'est une grande figure de l'hospitalité de la culture nomade préhis- torique: C'est le récit du voyageur qui ait perdu sa route, arrive près des tents de nomades, qui le doivent acceuillir - pour trois jours" ÜBERSETZER: "Eine der großen Gesten der vorislamischen nomadischen Kultur manifestiert sich darin, daß ein Reisender, der sich verlaufen hat und bei den Zelten der Nomaden ankommt, von diesen aufgenommen wird - und zwar für mindestens drei Tage." ERZÄHLERIN: Die Szene erinnert an Abraham und Sarah, die drei Wanderer, hinter denen sich in Wirklichkeit Gott verbarg, freigiebig in ihre Hütte aufnahmen und bewirteten. Die alttestamentarische Szene versteht Derrida als "große Gründungsszene ab- rahamitischer Gastfreundschaft". Beide Episoden aus dem Vorderen Orient han- deln von unbedingter und rückhaltloser Gastfreundschaft. Allerdings kann diese Gastfreundschaft ins Unethische umschlagen, wird sie über alles andere gestellt. Beispielsweise wenn in der Genesis Lot seine Gäste den eigenen Töchtern vor- zieht, die er dann den Sodomiten preisgibt. Das heilige Gastrecht Lots steht für unbedingte Gastfreundschaft, aus der aber noch kein ethisches Handeln erwächst. Daraus folgt: Es gibt keine simple Wahl, kein einfaches Entweder-Oder zwischen zwei Gastrechten. Vielmehr muss das komplizierte Spannungsverhältnis zwischen absoluter und bedingter Gastfreund- schaft bei jeder Entscheidung in Rechnung gezogen werden. Jacques Derrida sah seinerzeit in Frankreich die liberalen Errungenschaften in Gefahr. Das machte er am Erstarken des Front Nationale fest, der die "sans pa- piers" ausweisen wollte. Um sich gegen diesen Rechtsruck zu wehren, engagier- te sich Derrida in der Initiative SOS Rassisme und schloss sich dem Manifest "Appel à la vigilance" - "Aufruf zur Wachsamkeit" - an. 15. O-TON: "Je crois qu'aujourd'hui la hospitalité est beaucoup trop restrictive dans les pays riches. Ça ne veut pas dire, qu'il faille ouvrir les frontières. Parce que souvent il y a eu en France les politiques, même des gauches qui ont accusés les intelléctuelles d'être irresponsables et de vouloir acceuillir n'importe qui. Personne n'a jamais demandé cela. On a demandé que les lois sur l'emigration sur les ,sans papiers' soient assouplies, libéralisées, plus généreux. C'est possible" (J.D., 32:10). ÜBERSETZER: "Ich glaube, dass die Gastfreundschaft heute besonders in den reichen Ländern eingeschränkt wird. Damit meine ich nicht, dass die Grenzen geöffnet werden sollten. In Frankreich gibt es viele Politiker, die den Intellektuellen vorgeworfen haben, unverantwortlich zu sein und jeden hineinlassen zu wollen. In Wirklich- keit hat das niemand verlangt. Man hat allerdings verlangt, die Einwanderungs- gesetze bezüglich der ,sans papiers' zu liberalisieren. Genau das ist möglich." ERZÄHLERIN: Jacques Derrida ist im Oktober 2004 gestorben. Angesichts der unlösbar schei- nenden Flüchtlingsprobleme wäre der Philosoph heutzutage ein verantwor- tungsvoller und sachkundiger Diskussionspartner. Vielleicht würde er darauf hinweisen, dass sich die Gesetze der Gastfreundschaft keineswegs geändert ha- ben. Denn auch heute müssen Pflichten und Rechte, Grenzen und Freiheiten neu austariert werden. Im Interesse beider - der Gäste und der Gastgeber. 1