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Sondern ich glaube, er hat eine Affinität zum Buddhismus, ... von dem man aber auch sagen kann, dass er einen ausgesprochenen Sinn auch fürs Christliche beibehalten hat, und dass das überhaupt kein Problem war, das miteinander zu integrieren. So stelle ich mir das bei Schrödinger vor, und so stelle ich mir auch die Freiheit im Geiste überhaupt vor! Sprecher: Der Philosoph René Weiland, der über die Bedingungen von Moralität und über die Tugendlehre bei Thomas von Aquin arbeitete, ist bei seiner Beschäftigung mit der Willensfreiheit auf Erwin Schrödinger aufmerksam geworden. Das ist erstaunlich, da sich Schrödinger vorrangig in den Annalen der Naturwissenschaften - im Besonderen natürlich der Physik - eingeschrieben hat. Doch wenn man sich eingehender mit Schrödinger beschäftigt, ist eigentlich nichts mehr - oder eben alles "erstaunlich". Er nahm sich mit einer wohl in der Geistesgeschichte beispiellosen Radikalität die geistige Freiheit, sich in alle Bereiche menschlichen Wissens einzumischen, die ihn interessierten. Egal, ob er jeweils über hinlängliches Vorwissen verfügte oder nicht mehr als ein interessierter Laie von den in der jeweiligen Disziplin verhandelten Problemen verstand. Sprecherin: Das Zusammenspiel aus geistiger Unabhängigkeit, Produktivität und Selbstbewusstsein in der Person von Erwin Schrödinger faszinierte auch den Deutsch-Amerikaner Hans Ulrich Gumbrecht. Als Literaturprofessor an der Stanford University hat er in der von ihm geleiteten Stanforder "Philosophical Reading Group" ein halbes Jahr lang Schrödinger-Texte analysiert. (2) O-Ton (Gumbrecht 6:30): Das ist diese eigenartige Oszillation bei Schrödinger zwischen Erklärenwollen und - also das Phänomen gewissermaßen bestimmten mathematischen Formeln, gewissen naturwissenschaftlichen Patterns aussetzen und es sozusagen in das schon vorhandene Wissen einzuordnen und dann sozusagen einen Schritt nach hinten zu machen, zurück zu machen und sich von dem Phänomen in Erstaunen versetzen zu lassen. Und das sozusagen als ein unabschließbares Prinzip zu behandeln, also dergestalt, dass die eine Seite, die Erklärungsseite, die die konventionelle naturwissenschaftliche ist, sich das Phänomen nie so total unterwirft, dass nicht diese andere Seite des Sich-In- Erstaunen-Versetzen-Lassens weitergeht. Das scheint mir ein sehr spezifischer Gestus bei Schrödinger zu sein. Sprecherin: Die Frage, wie sich das zweifellos Genialische in Schrödingers Denken herausbildete, wird sicherlich nicht erschöpfend zu beantworten sein. Auf keinen Fall darf man von solch einem Streifzug durch die Denklandschaften eines außergewöhnlich produktiven und vielseitigen Naturwissenschaftlers eine Handlungsanweisung zur Aufzucht von Genies erwarten. Sprecher: Gleichwohl lassen sich einige wesentliche Bedingungen herauskristallisieren, die Schrödingers zweifellos überdurchschnittliche Intelligenz zu Höhenflügen stimulierte, von denen die Physik, die Biologie, die Genetik und eben auch die Geisteswissenschaft bis heute Anregungen erhalten. Regie: Musikakzent Sprecherin: Schrödinger wuchs in einer finanziell großzügigen und geistig offenen Atmosphäre am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Wien auf. Die Wachstuchmanufaktur des Vaters ermöglichte der Familie Schrödinger eine sorgenfreie Existenz. Schrödingers Mutter, die als äußerst liebevoll beschrieben wird, steuerte als Tochter des Wiener Chemie-Professors Alexander Bauer wahrscheinlich die naturwissenschaftlichen Gene bei. Das wohlbehütete Kind lernte bis zum elften Lebensjahr keine öffentliche Schuleinrichtung kennen, sondern wurde zwei Mal in der Woche von einem Hauslehrer unterwiesen. Seinen Vater behielt Schrödinger als "Freund, Lehrer und unermüdlichen Gesprächspartner" in Erinnerung. Sprecher: Zu den reichhaltigen Anregungen, die Schrödinger in seinem Elternhaus erhielt, gehört sicherlich auch die konfessionelle Polarität. Der Vater war katholisch, seine Mutter jedoch evangelisch-lutherisch. Erstaunlicherweise wurde Erwin Schrödinger in Wien als einer Hochburg des Katholischen Glaubens in der evangelischen Konfession erzogen. (4) O-Ton(Gumbrecht 27:15): Naja, Schrödinger war eben ein in vielerlei Hinsicht exzentrisches Einzelkind. ... Die unverheiratete Schwester ... der Mutter kam dann, als er ein kleiner Junge ... war, nach Wien, um mit der Familie zu leben und hat sich sehr auf ihn konzentriert, so dass Schrödinger auf der einen Seite von seinen sehr kultivierten Eltern eine enorme Breite an Anregungen erhielt, aber sicher auch das war, was man auf englisch a spoilt brat - also ein verzogenes Frätzchen - war, der eben nie glauben konnte, dass man ihm irgendeinen Wunsch abschlagen kann. Insofern war Schrödinger aufgrund seiner grundsätzlichen biografischen Konstellation hochqualifiziert zum verwöhnten Einzelkind. ... Diese Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dass man ihm einen Wunsch abschlagen könnte, die würde ich assoziieren mit der Unfähigkeit, sich selbst eine exzentrische Reflektion abzuschlagen. Sprecher: Zu welchem Teil Erwin Schrödinger sein wissenschaftliches Format der Tatsache zu verdanken hat, dass die Dreieinigkeit aus Vater, Mutter und Tante ihm scheinbar keinen Wunsch abschlagen konnte, lässt sich natürlich nicht genau sagen. Fest steht hingegen, dass aus dem verwöhnten Kind ohne die überdurchschnittliche naturwissenschaftliche Begabung niemals einer der größten Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts geworden wäre. Sprecherin: Schrödinger studierte Physik und Mathematik. In seinem Buch "Mein Leben, meine Weltansicht" erinnert er sich so: Zitator: Nur wenige Monate bevor ich im Herbst 1906 die Wiener Universität bezog, hatte der große Ludwig Boltzmann sein trauriges Ende gefunden. Die Antrittsvorlesung seines Schülers und Nachfolgers auf dem Lehrstuhl - Fritz Hasenöhrl - im Herbst 1907 ohne Feierlichkeit gehalten, erläuterte uns in knappen, klaren und doch begeisternden Worten den Grundgedanken von Boltzmanns Lebensarbeit. Kein einzelner lebender Mensch hat einen stärkeren geistigen Einfluss auf mich ausgeübt als Fritz Hasenöhrl - außer vielleicht mein Vater Rudolf in jahrelangem Zusammenleben und fortwährenden Gesprächen über alles, was ihn interessierte, und das war viel. Sprecherin: Ludwig Boltzmann, der zeitlebens an Depressionen litt und sich 1906 am Fensterkreuz eines Kurhotels erhängte, verdankt die Physik die Beschreibung der Entropie. Entropie wird von ihm definiert als Maß der Unordnung, die in geschlossenen Systemen stets zunimmt. Für Schrödinger, den die Idee der Entropie bis in sein in vielerlei Hinsicht bahnbrechendes Buch "Was ist Leben?" begleiten wird, waren die geistigen Begegnungen mit Boltzmann und die tatsächlichen mit Hasenöhrl der entscheidende Anlass sich für die theoretische Physik zu entscheiden. Sprecher: Schrödingers wissenschaftliche Laufbahn konnte nur vom Ersten Weltkrieg aufgehalten werden. Als die Geschütze schwiegen, übernahm er im Alter von gerade dreiunddreißig Jahren den legendären Lehrstuhl für theoretische Physik in Zürich, den vor ihm Albert Einstein und Max von Laue innehatten. An diesem historischen Ort entwickelte er seine berühmt gewordene Schrödinger-Gleichung. Sprecherin: Mit einer eleganten Formel, die nicht mehr als eine Handvoll Terme beinhaltet, schuf Schrödinger das Fundament der bis dahin eher mysteriös zu nennenden Quantenmechanik. Durch seine Arbeit wurde das Quantenchaos, von dem es bis dahin nur sich widersprechende Modelle und Metaphern gab, physikalisch und vor allem mathematisch und damit auch praktisch handhabbar. Zitator: Der Gedanke Ihrer Arbeit zeugt von echter Genialität. Sprecher: ... attestierte Einstein. Sprecherin: ... und Max Planck jubelte: Zitator: Ich lese Ihre Abhandlung wie ein neugieriges Kind die Auflösung eines Rästels, mit dem es sich lange geplagt hat, voller Spannung anhört, und freue mich an den Schönheiten, die sich dem Auge enthüllen. Sprecher: 1933 erhielt Schrödinger für diese Arbeit den Nobelpreis für Physik. (5) O-Ton(Gumbrecht 5:15): Es passiert ja wohl relativ oft bei Nobelpreisträgern in der Naturwissenschaft, dass sie den Nobelpreis bekommen für etwas, was dann sehr empirisch genau nachweisbar ist, was mathematisierbar ist, also was im Rahmen eines gegeben Paradigmas weiterhilft. Dass sie aber im Moment, wo sie den Nobelpreis bekommen, ..., sozusagen das mögliche Ziel der hohen Klasse der Naturwissenschaften erreicht haben und dann in einer spekulativen, weniger gebundenen Weise weiterschreiben. Nicht weiterschreiben unbedingt, sondern sich anderen Themen zuwenden. Und eine Bedingung ist sicher, dass sich Schrödinger in maximaler Weise diese Freiheit genommen hat. Also wenn man einmal den Nobelpreis hat in den Naturwissenschaften, dann kann man ihn nicht mehr verlieren. Man kann in den Status nicht mehr zurückfallen. Sie können dann auch Nieten ziehen und sind weiterhin der Nobelpreisträger 1933 wie im Falle Schrödinger. Sprecherin: Die große innere Freiheit, die Schrödinger seinem Elternhaus verdankt, wird durch die mit dem Nobelpreis verbundene äußere Freiheit noch verstärkt. Nach Amtsantritt der Nazis emigriert Schrödinger, obwohl er weder rassische noch politische Verfolgung befürchten muss. Er kehrt freiwillig erst Berlin, wo er die Nachfolge von Max Planck angetreten hatte, und nach dem "Anschluss" auch seiner Heimat Österreich den Rücken. Sprecher: In Dublin übernimmt er die Leitung des extra für ihn eingerichteten "Institut for Advanced Studies" und führt ein Leben ohne äußere Verpflichtungen - gleichsam als großes verwöhntes Kind. (6) O-Ton(Gumbrecht 24:27): Wenn man Talent in der massiven Weise erwiesen hat wie Schrödinger, eben durch diese Knochenarbeit der Quantenphysik. Das muss ja sehr schwer gewesen sein, diese Mathematisierung zu erreichen, dann ist dieser Status des Fellow, wo man maximale Freiheiten hat und auf der anderen Seite finanziell und existentiell maximale Sicherheit hat, der ideale Status. Schrödinger hat ganz offensichtlich die Möglichkeit gehabt, in Oxford .. eine normale akademische Karriere zu haben, was unter vielen Hinsichten noch besser gewesen wär, dass ihm das weniger lag. Also diese Flexibilität und Freiheit der Fellow- Rolle war wichtig für ihn, so wie er ja auch gesagt hat - und das finde ich sehr wichtig für ihn - dass er nicht glaubt, dass er jemand war, der gut in der Gruppenarbeit ist, dass er auch nicht gut als Lehrer ist. ... Ich hätte auch Schwierigkeiten, mir Schrödinger als multiplen Doktorvater vorzustellen. Dafür hat er wahrscheinlich die Geduld nicht gehabt. Regie: Musik Zitat: Bei einem Mann der Wissenschaft darf man ein unmittelbares, durchdringendes und vollständiges Wissen in einem begrenzten Stoffgebiet voraussetzen. Darum erwartet man von ihm gewöhnlich, dass er von einem Thema, das er nicht beherrscht, die Finger lässt. Das gilt als eine Frage der noblesse oblige. Man erlaube mir, hier für den vorliegenden Zweck auf die noblesse - sofern überhaupt vorhanden - zu verzichten und mich von den an sie geknüpften Verpflichtungen zu befreien. Sprecher: So heißt es im Vorwort eines kleinen Buches aus Schrödingers Feder mit dem Titel: Zitator: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Sprecherin: Ein Buch, das man mit gutem Recht als Geburtsstunde der modernen Genetik bezeichnen kann - und das zugleich ein Produkt höchster geistiger Freiheit ist. Sprecher: Denn Schrödinger begeht hier einen Tabubruch, den er selbst im Vorwort kokett ankündigt. Als zugegebenermaßen genialer Physiker, aber eben als Physiker, der zudem noch aus der Quantenphysik kommt, mischt er sich erklärtermaßen in ein anderes Fach ein, von dem er kaum mehr Verständnis als ein Abiturient vorweisen kann. (7) O-Ton(Weiland 30:00): Weswegen Erwin Schrödinger mir ... Fundamentales sagen kann, ist seine Glaubwürdigkeit. Seine Glaubwürdigkeit scheint sich für mich am meisten in seiner Nonchalants zu manifestieren, seiner Chuzbe. ... (31:03): Er geht den Weg der Unterbietung, der kleinen Frechheit und der kleinen Frivolität. Er geht nicht den Weg der Askese, er geht auch nicht den Weg der theoretischen Opulenz, sondern er geht so einen seitlichen Weg der kleinen Untreue. ... Aber der für mich von großer Ernsthaftigkeit ist und gerade in seiner Beiläufigkeit umso glaubhafter. (8) O-Ton(Gumbrecht 12:42): Es gibt Phasen, wo man bei Schrödinger ganz deutlich das Gefühl hat, dass er das Phänomen nicht dem schon vorhandenen Wissen unterwerfen will. ... Es ist, immer wieder eine neue Perspektive finden, ohne zu glauben, man müsse all diese Perspektiven in einer Polarität zusammenführen. Aber, und das ist bei Schrödinger das Wesentliche: Auf der einen Seite sich die Freiheit zu nehmen, eine eigentlich unabschließbare Vielfalt von Perspektiven akkumulieren zu lassen, aber dann auf der anderen Seite auch offen zu sein für diesen Moment der Epiphanie, des Erscheinen des Phänomens. Wo man zumindest für einen Moment nicht an Poliperspektivismus denkt, sondern sagt: So ist es, so habe ich es noch nie gesehen. Sprecherin: In "Was ist Leben" verstand es Schrödinger gleich mehrere Phänomene im Moment ihres Erscheinens zu greifen. Zuerst drehte er die Perspektive seines eigenen Titels, indem er ihn präzisierte. Rasch wird aus "Was ist Leben?" die ins Experimentelle gewendete Frage: Was ist die physikalisch-chemische Grundlage der Vererbung? Sprecher: Ein Vorstoß, dessen Kühnheit wir Nachgeborenen kaum ermessen können. Doch 1943, als Schrödingers Buch erschien, gab es kein DNA-Modell der Doppelhelix und an die Idee der Gentechnik war nicht zu denken. Die Arbeiten des Augustiner-Mönchs Johann Gregor Mendel hatten der Vererbungslehre nicht mehr als eine erste Grundlage gegeben. Der US-Amerikaner Thomas Hunt Morgan entschlüsselte bei Versuchen mit der Fruchtfliege Drosophila die grundsätzliche Struktur der Chromosomen. Der Zoologe wusste zwar, dass die Gene nacheinander auf den Chromosomen saßen, doch hinsichtlich der Gene selbst gab es reichlich Unklarheit. Sprecherin: Morgan äußerte sich anlässlich der Vergabe des Nobelpreises für Medizin 1933, im selben Jahr übrigens als auch Schrödinger den Physik-Nobelpreis bekam: Zitator: Unter Genetikern gibt es keinen Konsens darüber, was Gene sind - ob sie wirklich oder rein fiktiv sind - da es für die Durchführung genetischer Experimente nicht den geringsten Unterschied macht, ob das Gen eine hypothetische Einheit ist oder ein stoffliches Teilchen. Sprecher: Das Vor-Schrödinger-Gen war also nicht mehr als eine Abstraktion mit der die damalige Genetik leben konnte, weil es den Forschern darum ging, die Gesamterscheinung eines Organismus in eine Zahl von Eigenschaften zu zerlegen und die Weitergabe derselben oder anderer Versionen von Generation zu Generation zu untersuchen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass mit dieser Methodik wenig bis gar nichts über das menschliche Genom ausgesagt werden konnte, weil hier schlicht die Vererbungszyklen zu lang waren. Sprecherin: Schrödinger nun gab mit zwei Hypothesen der modernen Genetik ihr Programm. Einerseits entwarf er den aperiodischen Kristall als Vererbungsmolekül: Ein Kristall mit der physikalisch-chemischen Stabilität von Salz, zugleich aber einer hohen Kombinationsvielfalt. So sah sein Modell für die Realisierung des bis zu diesem Zeitpunkt abstrakten Gens aus. Sprecher: Schrödingers zweite Hypothese lautete, dass ein Code die Vererbung reguliert. In "Was ist Leben?" schreibt er dazu: Zitator: In den Chromosomen ist einer Art Code das vollständige Muster der zukünftigen Entwicklung des Individuums und seines Funktionierens im Reifezustand enthalten. Jeder vollständige Chromosomensatz enthält den ganzen Code. Wenn wir die Struktur der Chromosomen einen Code nennen, so meinen wir damit, dass ein alles durchdringender Geist aus dieser Struktur voraussagen könnte, ob das Ei sich unter geeigneten Bedingungen zu einem schwarzen oder einem gefleckten Huhn entwickeln wird. (9) O-Ton(Gumbrecht 32:30): Ich denke, das ist wie bei einer Schrotflinte. Schrödinger hat ... eine unglaubliche Vielfalt von Beobachtungen, Suggestionen, Metaphern geprägt. Einige von denen haben gegriffen und sind unglaublich erfolgreich geworden. Wenn man sagt: Es gab diesen Begriff des genetischen Codes nicht vor diesem Text. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass es irgendwann Biologie oder Naturwissenschaft ohne diesen Begriff gegeben hat. Und dann muss man sich klar machen, dass der Begriff für Schrödinger ganz anders geklungen hat als für uns. Also irgendwie nach einem eigenartigen Kompositum aus Genetik und Morsecode oder Linguistik. Für uns ist das ein ganz normaler Begriff, aber für ihn hat der Begriff einen viel höheren Grad an Metaphorizität gehabt. Und davon hat er sich nicht beirren lassen. Ja, das war eine Metapher, das kann man so in die Welt werfen und sehen, was passiert. (10) O-Ton(Weiland 16:00): Wenn Schrödinger ein gutes Jahrzehnt bevor überhaupt das Genom als solches formuliert werden konnte, einen Diskurs hinlegt über "Was ist Leben?" in einem molekularbiologischen Kontext, dann - und das zeichnet vielleicht die bedeutenden Wissenschaftler aus - glaubt er gar nicht an Wissenschaft. Er hat es gar nicht nötig an die Wissenschaft zu glauben, sondern er glaubt, um Wissenschaft treiben zu können, an etwas, was über Wissenschaft von jeher hinausgeht. Und das ist es eigentlich, was Leben ist. Denn es ist ja nicht nur die Frage zu stellen, was ist Leben, sondern immer auch die Frage zu stellen: was heißt: Leben versteht Leben? ... Er schöpft aus ganz anderen Quellen. Und das sind die Quellen der Metaphysik. Und es sind dieselben Quellen, die ihn auch diese Frechheit begehen lassen, als jemand, der gar nicht in der Molekularbiologie zu Hause ist, darüber zu schreiben. Sprecher: Ab Mitte der vierziger Jahre wurde Schrödingers Forschungsprogramm in der Genetik dankbar aufgenommen und umgesetzt. Der Bogen spannte sich von der Entschlüsselung der Doppelhelixstruktur der DNA durch Watson und Crick 1953 über die Erklärung der Genexpression in Proteine bis zum Abschluss des Humangenomprojekt 2001. Sprecherin: Darüber hinaus regte Schrödinger auch die Systembiologie an, die seit Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewann. Seine Idee war ebenso einfach wie bestechend. Boltzmanns Konzeption der Entropie hatte Schrödinger einst auf die theoretische Physik eingeschworen. In "Was ist Leben" nun erweist er sich den Lichtgestalten seiner Studentenzeit für würdig und macht folgendes Paradoxon auf: Sprecher: Einerseits muss die Entropie in Systemen stets zunehmen, die Unordnung muss also wachsen. Andererseits wird mit Blick auf Darwin jedoch rasch einsichtig, dass im Laufe der Evolution die Komplexität, also der Ordnungsgrad von Organismen zunimmt. Sprecherin: Schrödinger kommt in seinen Meditationen über dieses Paradoxon auf die grundlegende Idee einer sogenannten Nichtgleichgewichtsthermodynamik. Lebende Systeme sind danach nicht im Energiegleichgewicht, sie sind offen hinsichtlich des Energieaustausches mit ihrer Umgebung, aber geschlossen hinsichtlich ihrer eigenen Operationen. Sprecher: Der Strukturaufbau, und das ist die entscheidende Idee, die in den letzten Jahren ihr Erklärungspotential eröffnete, ist nur möglich über die Selbstorganisation offener Systeme. Regie: Musikakzent Zitat: Als Belohnung für all die Mühe, die ich auf die Darlegung der rein wissenschaftlichen Seite unseres Problems sine ira et studio verwandt habe, gestatte ich mir hier, meine eigene, notwendigerweise subjektive Ansicht über die philosophischen Schlüsse, zu denen es Anlass gibt, anzuführen. Sprecherin: So beginnt Schrödingers Epilog zu seinem Buch "Was ist Leben?" - unter der Überschrift "Über Determinismus und Willensfreiheit". Noch einmal René Weiland: (11) O-Ton(Weiland 31:50): Dass er die Leiter wirklich wegstößt und sagt: Ich hab den Diskurs "Was ist Leben?" beendet und hänge da einen Epilog ran. Und mit diesem Epilog verabschiede ich mich von diesem Diskurs ... und ich verabschiede mich in gewisser Weise - und sei es nur für einen Augenblick - von mir selbst als Wissenschaftler. Und spreche plötzlich von der indischen Maja. Beginne wieder von Dingen zu sprechen, von denen ich als Wissenschaftler gar nicht sprechen kann und gar nicht sprechen darf womöglich. Ich darf ja nicht einmal von Willensfreiheit sprechen als Wissenschaftler ohne die Frage der Willensfreiheit verneinen zu müssen. Die Wissenschaft konstituiert sich ja nur über die Verneinung dieser ersten Frage, weil sie die Freiheit von der Naturkonformität meines eigenen Lebens innerhalb dieser Konformität selbst gar nicht denken kann. Sie kann ja dieses Paradox in keiner Weise auffangen oder formulieren. Sprecher: Schrödinger zeigt die enorm produktive Exzentrizität seines Denkens in diesem Epilog. Zwar scheinen die Naturgesetze über die Körper zu herrschen, aber trotzdem werden diese unsere Körper von etwas angetrieben und bewegt, das keiner naturwissenschaftlichen Analyse zugängig ist: vom Ich, vom Geist, von der Psyche. Schrödinger legt den Finger in die Wunde der Naturwissenschaft, wenn er darauf hinweist, dass kein Berührungspunkt zwischen Körper und Geist auszumachen ist. Sprecherin: Naturwissenschaft kann vieles erklären, aber vor dem Eigentlichen, vor unseren Antrieben, Handlungen, Gefühlen, Sehnsüchten und unserem Bedürfnis nach Glauben muss sie Halt machen. Und Schrödinger, der sich für diesen Epilog folgerichtig aus dem Feld der Naturwissenschaft herauskatapultiert geht noch weiter: Zitator: Uns bleibt nur eines übrig: Wir müssen uns an die unmittelbare Erfahrung halten, dass das Bewusstsein ein Singular ist, dessen Plural wir nicht kennen; dass nur eines wirklich ist und das, was eine Mehrzahl zu sein scheint, nur eine durch Täuschung (das indische Maja) entstandene Vielfalt von verschiedenen Erscheinungsformen dieses Einen ist. (12) O-Ton(Weiland 9:15): Das heißt, das Bewußtsein der inneren Erfahrung der Willensfreiheit - und das ist das, was mich jetzt an Schrödinger interessiert - ist das Konstituens der Person. Das heißt: Die Person spiegelt eine Einheit, eine kosmische Einheit wieder, aber auf subjektive Weise. Und die Einmaligkeit der Person ist auch der spezifische Knotenpunkt ihrer Freiheit. ..... Und dass es einen unauflösbaren Zusammenhang gibt zwischen Innerlichkeit und Freiheit und dass das sozusagen das kosmische Leben und das personale Leben bestimmt. Sprecher: Das Paradoxon vom Körper, der den Naturgesetzen folgt und dabei von etwas angetrieben wird, das den Naturgesetzen unzugänglich ist, kann nicht aufgelöst werden. Man kann Schrödingers Meditationen über die Willensfreiheit mit René Weiland jedoch in der Richtung interpretieren, dass es lohnenswert ist, ein Leben im Bewusstsein der inneren, nicht einmal von den Naturgesetzen antastbaren Freiheit zu führen. Auf diese Weise bekommen Termini wie Selbstbestimmtheit und Verantwortlichkeit einen ernsteren Sinn, als es unsere unmittelbare Gegenwart nahe legt. Regie: Musikakzent Sprecherin: Erwin Schrödinger erlaubte sich in seinem Denken jede Exzentrizität und jede Extravaganz, die ihm vor das geistige AUge trat. In diesem Sinne blieb er bis zum Schluss das verwöhnte Kind aus Wiener Zeiten. Es macht die Person Schrödinger aus, dass er es in Lebens- und Liebesfragen genauso wie im Geiste hielt: (13) O-Ton(Gumbrecht 19:20): Schrödinger hat das Prinzip der intensiven erotischen Liebesverhältnisse auf eine selten wohl erreichte Spitze getrieben. Auch dergestalt, und das ist in Anführungszeichen typisch Schrödinger, dass er die Spannung zwischen diesen multiplen Liebesverhältnissen und der Treue seiner Gattin gegenüber, das war für ihn offenbar kein Problem. ... Zugleich hat sich aber Schrödinger herausgenommen, jede erotische Faszination bis zum Ende, also bis zum Produzieren von Kindern auszuleben, und ging dann auch davon aus, dass sich seine angetraute Frau sich um diese vielen Kindern kümmern würde. Man könnte sagen, dass es zu jedem der großen Momente der Forschung von Schrödinger immer eine Geliebte gibt. ... Das war für ihn nie Fremdgehen, ... und er konnte nie verstehen, dass man ihm das übel nehmen könnte, dass er diese vielen Geliebten gehabt hat. Regie: Musik hoch und Schluß. 1