COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Michael Lange DeutschlandRadio Kultur Forschung und Gesellschaft Red.: Kim Kindermann Sendetermin: 31. Mai 2012 Heilversprechen Embryonale Stammzellen und ihre Konkurrenz Sprecher: 2002 diskutierte ganz Deutschland über embryonale Stammzellen. O-Ton 01 Ingrid Schneider Es wird ein neuer Urquell geschaffen. Es wird eine neue Verjüngungskur in Aussicht gestellt. Sprecher: Viele hofften auf neue Heilmethoden. Ingrid Schneider vom Forschungszentrum BIOGUM an der Universität Hamburg äußerte sich bereits damals skeptisch. O-Ton 05 Ingrid Schneider Es wird mit Sicherheit irgendwann irgendetwas dabei herauskommen. Aber, ob das tatsächlich diese wunderbaren Stammzellen sein werden, die man dann implantiert, das ist die ganz große Frage. Sprecher: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und ihr Präsident Ernst-Ludwig Winnacker forderten die Freigabe für den Import menschlicher embryonaler Stammzellen aus dem Ausland. O-Ton 04 Ernst Ludwig Winnacker Diesen Zellen wird nicht nur ein großes entwicklungsbiologisches Potential nachgesagt, sondern weil sie das haben auch ein hohes Potential für die Behandlung von Krankheiten. Sprecher: Neben viel Hoffnung gab es von Anfang an schwer wiegende, ethische Bedenken. Denn zur Herstellung embryonaler Stammzellen waren menschliche Embryonen getötet worden. Wissenschaftler, die mit embryonalen Stammzellen forschen wollten, standen am Pranger. Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin erinnert sich an eine öffentliche Diskussion mit Studenten. O-Ton 03 Hans Schöler Die Diskussion, die war so emotional, dass ich gedacht habe: Wenn die mich auf den Scheiterhaufen schmeißen könnten, die würden das tun. Sprecher: Nach einer kontroversen Debatte im deutschen Bundestag erhielten Wissenschaftler die Möglichkeit, bereits existierende Zell-Linien aus dem Ausland zu importieren. Die Zellen stammten aus so genannten überzähligen Embryonen. Sie lagerten seit Jahren in Gefriertanks von Fruchtbarkeitskliniken, ohne die Chance, jemals wieder aufgetaut und in die Gebärmutter einer Frau eingepflanzt zu werden. Die erste Stammzellenlieferung kam aus Israel und erreichte im Dezember 2002 den Bonner Stammzellenforscher Oliver Brüstle. O-Ton 08 Oliver Brüstle Für mich als Mediziner ist es sehr schwer, nachzuvollziehen, diese Zellen nicht zu nutzen und sie stattdessen einfach wegzuwerfen. Hier sehe ich es geradezu als Pflicht an, wenigstens zu versuchen, aus diesen überzähligen Zellen therapeutisch medizinisch relevante Zelllinien zu generieren, um anderen Menschen letztendlich damit zu helfen. Sprecher: Die Hoffnungen der Wissenschaftler beruhen auf den Fähigkeiten der Zellen. Embryonale Stammzellen sind besonders vielseitig. Die Experten sagen: sie sind pluripotent. Die Zellen aus dem Embryo teilen sich immer weiter, und sie können sich verwandeln in jeden beliebigen Zelltyp: in Hautzellen, Nervenzellen, Leberzellen oder in Muskelzellen. Gewöhnliche Körperzellen können das von Natur aus nicht. Auch so genannte adulte Stammzellen, wie sie jeder Mensch in seinem Körper besitzt, sind nicht so vielseitig wie die embryonalen Stammzellen. Aus diesen Körperstammzellen können zwar verschiedene, aber nicht alle Zelltypen heranreifen. So können sich aus Blutstammzellen unterschiedliche Blutzellen entwickeln, nicht aber Nerven- oder Muskelzellen. Wegen dieser eingeschränkten Möglichkeiten, will sich die Mehrheit der Stammzellenforscher nicht mit der Erforschung von Körperstammzellen zufrieden geben. Sie setzen auf embryonale Stammzellen als "Alleskönner". Musik Sprecherin: Alles beginnt mit der Befruchtung. Ein winziges, bewegliches Spermium dringt in die vergleichsweise große Eizelle ein. Das Erbmaterial beider Zellen verschmilzt. Es entsteht ein neues Erbgut, und aus ihm kann ein neues Lebewesen entstehen, durch Zellteilung. Aus einer Zelle werden zwei, aus zwei werden vier, dann acht, sechzehn und so weiter. Schließlich - nach drei bis fünf Tagen - wird aus der befruchteten Eizelle eine Kugel aus über hundert Zellen: Die Blastozyste. Sie ist kaum größer als die Eizelle, besteht aber bereits aus verschiedenen Zelltypen. In ihrem Innern befinden sich die embryonalen Stammzellen. Würde man diese Zellen weiter wachsen lassen, entstünde daraus ein Kind. Musik Ende Sprecher: Forscher versuchen im Labor, gezielt diese "Alleskönner" in bestimmte Zelltypen zu verwandeln, meist in so genannte Vorläufer-Zellen. Erst dann können sie sie verpflanzen - in ein Versuchstier und später in Menschen. Musik Sprecherin: Sobald die embryonalen Stammzellen in ihrer Kulturschale mit Nährstoffen versorgt werden, beginnen sie zu wachsen. Sie teilen sich immer weiter und bedecken bald die Oberfläche der Zellkulturschale. Natürliche Botenstoffe in der Nährflüssigkeit geben ihnen Signale und steuern ihre Entwicklung. So können die Forscher die Zellen in der Schale dirigieren. Zum Beispiel Richtung Nervenzelle. Die Stammzellen teilen sich langsamer, kleinere Zellen mit winzigen Fortsätzen entstehen: Vorläufer von Nervenzellen, möglicherweise geeignet für die Behandlung von Nervenkrankheiten. Musik Ende Sprecher: Nach und nach lernten die Forscher die Möglichkeiten der Stammzellen kennen, und immer mehr Institute beschäftigten sich mit Stammzellenforschung. Einer der Pioniere war Hans Schöler. 2004 kam er aus den USA an das Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster. O-Ton 09 Hans Schöler 51 Als ich damit angefangen habe, waren wir die Exoten. Da gab es nur ein paar Leute, die sich für diese embryonalen Stammzellen interessiert haben, so richtiges Interesse gab es nicht für die Zellen. Die Begeisterung dafür, die ist in den letzten Jahren so stark geworden, und je mehr daran arbeiten, um so eher wird man verstehen, was es mit diesen pluripotenten Zellen auf sich hat, und man wird schneller die Möglichkeiten, die meiner Meinung nach in diesen Zellen stecken, anwenden können. Das ist einfach spannend. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo weltweit an diesen Zellen gearbeitet wird. . Sprecher: Um die Vielseitigkeit und die Wandelbarkeit von Zellen auszuloten, erforschen Wissenschaftler wie Hans Schöler nicht nur Mäuse und Menschen, sondern sie arbeiten auch mit tierischen Meistern der Regeneration, wie dem Axolotl. Das ist ein Lurch, der kleine Tümpel in Mexiko bewohnt. Verliert ein Axolotl ein Bein, wächst es innerhalb von Tagen wieder nach. Noch größere Regenerationsfähigkeiten besitzen die nur ein bis zwei Zentimeter großen Plattwürmer, auch Planarien genannt. Um ihre Regenerationstricks kennen zu lernen, hat das Max- Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster ein eigenes Plattwurm-Labor eingerichtet. Hier forschen viele junge Wissenschaftler, wie Kerstin Bartscherer. O-Ton 11 Bartscherer 2 Wir sind im so genannten Planarium. Hier halten wir unsere Planarien in kleinen Plastikgefäßen. Die Temperatur des Raumes beträgt etwa 18 Grad. Die mögen es also nicht gerne zu warm, eher etwas kühler. Sprecher: Kerstin Bartscherer öffnet eine der Plastikdosen. Im klaren Wasser schwimmen keine ganzen Tiere, sondern lediglich ein paar braune Gewebefetzen, wenige Millimeter groß. O-Ton 12 Bartscherer Hier sind kleine Stückchen, die regenerieren gerade alle. Also keine kompletten Würmer. Die wurden wohl gerade geschnitten. Das machen wir so, wenn wir viele Würmer brauchen. Dann schneiden wir sie durch, und dann regenerieren die. Sprecher: Aus einzelnen Stücken werden wieder vollständige Tiere. Kein anderes Lebewesen regeneriert so gut und so schnell wie die Plattwürmer. O-Ton 13 Bartscherer Wenn man zum Beispiel den Kopf abschneidet, dann wächst der Kopf wieder nach mit dem ganzen Gehirn und dem zentralen Nervensystem. Und wir in der Gruppe, wir untersuchen, welche Faktoren die Regeneration kontrollieren. Sprecher: Auch Hans Schöler ist immer noch begeistert, wenn er über die Fähigkeiten der kleinen Würmer spricht. O-Ton 14 Hans Schöler 21´ Sie haben den großen Vorteil, dass sie wenn sie hungern schrumpfen. Die Organe werden dann einfach absorbiert. Sie haben dann einen kleinen Plattwurm mit weniger Organen. Und wenn sie dann wieder Futter bekommen, werden sie wieder größer und bilden dann wieder mehr von den jeweiligen Organen. Sprecher: Organe, die schrumpfen und wieder nachwachsen. Davon können Ärzte und Patienten nur träumen. Bei Krankheiten gehen immer wieder Zellen zugrunde, ohne dass andere Zellen deren Aufgabe übernehmen könnten. Denn die Zellen im erwachsenen menschlichen Körper sind hoch spezialisiert. Bei der Parkinsonschen Krankheit zum Beispiel können bestimmte Nervenzellen im Gehirn ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Der Botenstoff Dopamin wird nicht mehr in ausreichender Menge produziert. Um die Krankheit zu heilen, müssten andere Zellen ihre Aufgabe übernehmen. Musik Sprecherin: In der Zellkulturschale sind die embryonalen Stammzellen zu Nervenvorläuferzellen herangewachsen. Sie teilen sich kaum noch und stellen deshalb kein erhöhtes Tumorrisiko mehr dar. Ihre Möglichkeiten sind eingeschränkt. Sie können nur noch zu bestimmten Zellen des Nervensystems heranreifen. Jetzt werden die Zellen ins Gehirn einer kranken Maus gespritzt. Hier lernen sie ihre neue Aufgabe kennen. Sie bilden Fortläufer und knüpfen Kontakte mit den vorhandenen Nervenzellen im Gehirn. Nach und nach werden sie so selbst zu einem Teil des Mäusegehirns und bilden die Stoffe, die dem Gehirn fehlen und die es braucht. Musik Sprecher: Zellen, die aus embryonalen Stammzellen hervorgegangen sind, wurden bereits mehrfach in Tiermodellen erprobt. Erfolgreich. Geschädigte Gewebe wuchsen wieder nach, die neuen Zellen fügten sich in den Organismus ein. Das Tumorrisiko konnte nach und nach gesenkt werden. Eine Erprobung am Menschen ist nun zwar möglich, aber der Grundlagenforscher Hans Schöler mahnt zur Vorsicht. O-Ton 15 Hans Schöler Aus meiner Sicht ist es deshalb zu früh, Zellen von embryonalen Stammzellen abzuleiten, weil wir noch nicht wissen: Was passiert mit den Zellen in fünf oder zehn Jahren? Da können wir nicht mit Sicherheit vorhersagen, ob sie dann nicht in einen pluripotenten Zustand zurückfallen, was dazu führen könnte, dass Tumore entstehen. Das heißt: Wir brauchen da noch Langzeitstudien. Das sind Dinge, die muss man aus meiner Sicht noch besser verstehen und untersuchen. Sprecher: In den USA wollten einige Ärzte und Biotechnologie-Firmen nicht so lange warten. 2010 bekam das Unternehmen Geron aus Kalifornien die Zulassung für eine erste klinische Studie mit Zellen, die aus embryonalen Stammzellen hervorgegangen waren. Ab 2011 erhielten an ausgewählten Kliniken in den USA gelähmte Unfallopfer mit Rückenmarksverletzungen eine Zelltherapie. Musik Sprecherin: Aus Embryonalen Stammzellen entstehen im Labor Nervenvorläuferzellen. Wenige Tage nach einem Unfall werden sie in das verletzte Rückenmark eines Unfallopfers gespritzt. Die neuen Zellen produzieren Botenstoffe, die die Zellen im Rückenmark der Patienten aktivieren sollen. Das Ziel: Das angerissene Rückenmark der Patienten soll wieder zusammen wachsen. Die Patienten sollen sich wieder besser bewegen können. Musik Ende Sprecher: In Tierversuchen war es gelungen, gelähmte Tiere zu heilen - oder zumindest ihre Beweglichkeit zu verbessern. Die klinischen Studien jedoch erwiesen sich als schwierig. Es wurden nur wenige Patienten behandelt. Von Erfolgen ist nichts bekannt. Ende 2011 beendete Geron die Studie, angeblich aus finanziellen Gründen - um sich in Zukunft auf andere Forschungsbereiche zu konzentrieren, so hieß es in einer Mitteilung der Firma. Für den Forschungschef des Konkurrenzunternehmens Advanced Cell Technology, kurz ACT, Robert Lanza klingen die von Geron abgegebenen Erklärungen wenig glaubwürdig. O-Ton 16 Robert Lanza Geron backed out which was of course a huge disappointment ... Übersetzung: Der Ausstieg von Geron war natürlich eine große Enttäuschung für die Stammzellenforschung. Aber für uns kam das nicht überraschend. Als Geron sich entschied, Rückenmarksverletzte mit Stammzellen zu behandeln, klang das zwar sehr sexy; aber vielen Experten war sofort klar, dass die Zellen damit überfordert waren. Sie können ein zerstörtes Rückenmark nicht wieder aufbauen. Aber jetzt gibt es mit neuen Studien wieder Hoffnung. Auch wenn wir ganz vorsichtig mit niedrigen Dosen bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Krankheit beginnen. ... advanced staged patients. Sprecher: Robert Lanza meint zwei Studien, bei denen sein Unternehmen ACT mit renommierten Augenkliniken in England und den USA zusammenarbeitet. Im Labor hat ACT aus embryonalen Stammzellen so genannte RPE-Zellen entwickelt. Das steht für Retinale Pigment Epithel- Zellen. Diese Zellen sitzen hinter der Netzhaut des Auges. Sie versorgen und unterstützen die eigentlichen Sehzellen der Netzhaut. In zwei klinischen Studien werden nun diese aus embryonalen Stammzellen hergestellten RPE-Zellen von Augenspezialisten hinter die Netzhaut der Patienten gespritzt. Zum einen werden Patienten behandelt, die an der sehr seltenen Stargardt-Erkrankung leiden, zum anderen Patienten mit Retinitis pigmentosa, einer häufigeren Augenkrankheit. Beide Krankheiten führen bei den Betroffenen zu einer fortschreitenden Erblindung. Die Sehzellen in der Netzhaut senden keine Signale mehr an das Nervensystem. Durch die Verpflanzung von RPE-Zellen hinter die Netzhaut wollen die Forscher die Erblindung aufhalten. O-Ton 18 Robert Lanza We have structural evidence that confirm the cell that did indeed survive ... Übersetzung: Wir haben klare Belege, dass die Zellen tatsächlich überleben. Wir konnten zeigen, dass sich die RPE-Zellen an der richtigen Stelle eingenistet haben und wie normale RPE-Zellen aussehen. Und beide Patienten weisen jetzt über vier Monate hinweg eine verbesserte Sehfähigkeit auf. Und das, obwohl wir die Studie mit einer sehr geringen Dosis begonnen haben. ... lowest dose that we started with. Sprecher: Der Oberarzt Tim Krohne von der Universitäts-Augenklink Bonn erforscht ebenfalls Zelltherapien gegen Augenkrankheiten. Er interpretiert die ersten Ergebnisse seiner Kollegen aus England und den USA vorsichtiger. O-Ton 19 Krohne Die ersten Daten deuten darauf hin, dass die Anwendung wirklich sicher sein könnte. Im weiteren Verlauf muss jetzt natürlich noch getestet werden, ob die Patienten auch davon profitieren, ob das Sehen in der Tat besser wird oder wenigstens stabilisiert werden kann, ob die Krankheit gestoppt werden kann. Sprecher: Für seine eigenen Forschungen benutzt Tim Krohne keine embryonalen Stammzellen. Er setzt auf so genannte "induzierte pluripotente Stammzellen", IPS-Zellen genannt. Auch sie gelten als pluripotente "Alleskönner"-Zellen - gewissermaßen Stammzellen der zweiten Generation. Schon bald könnten sie den embryonalen Stammzellen Konkurrenz machen. Denn IPS-Zellen haben ähnliche Eigenschaften wie embryonale Stammzellen, aber nicht deren Nachteile, so jedenfalls sagen ihre Befürworter, wie der Oberarzt Tim Krohne von der Universitäts-Augenklinik Bonn. O-Ton 20 Krohne Der Hauptvorteil dieser induzierten pluripotenten Stammzellen ist, dass sie aus patienteneigenem Gewebe gewonnen werden können. Das heißt: Es handelt sich um ein eigenes Transplantat, es findet keine Abstoßung statt. Es muss keine immununterdrückende Medikation gegeben werden, um eine Abstoßung zu verhindern nach der Transplantation. Und zum anderen vermeidet man damit natürlich die ethischen Probleme, die mit einer Verwendung von embryonalem Gewebe einhergehen. Sprecher: IPS-Zellen entstehen durch Reprogrammierung gewöhnlicher Körperzellen. Für ihre Herstellung muss also kein Embryo getötet werden. Die Forscher schleusen Gene oder biochemische Substanzen in reife Zellen eines Patienten, und die reifen Zellen werden wieder jung. Sie erhalten ihre Vielseitigkeit zurück und werden wie embryonale Stammzellen pluripotent. Deshalb heißen sie "Induzierte Pluripotente Stammzellen". Erstmals züchtete 2006 der japanische Stammzellenforscher Shinya Yamanaka diese IPS- Zellen, zunächst bei Mäusen und später bei Menschen. Musik Sprecherin: Zellen der Haut sind bereits spezialisiert. Die Erbanlagen, die embryonale Stammzellen so vielseitig machen, sind zwar vorhanden, aber sie sind inaktiv. In der Natur bleiben die Gene in diesem Ruhezustand lebenslang. Aber sie lassen sich aufwecken. Bestimmte genetische Faktoren, die von außen zu den Zellen gebracht werden, schalten die schlafenden Vielseitigkeits-Gene wieder ein. Spezialisierte Zellen werden wieder vielseitig - pluripotent, wie embryonale Stammzellen. Musik Ende O-Ton 21 Krohne Aus diesen Stammzellen kann dann im Labor der gewünschte Zelltyp der Sehzellschicht - in diesem Fall Retinale-Pigment- Epithel-Zellen - generiert werden, und dieses dann sozusagen patienteneigene Netzhautgewebe kann dem Patienten dann zurück transplantiert werden, um den Fortlauf der Erkrankung möglicherweise zu stoppen. Sprecher: Klinische Studien am Menschen plant Tim Krohne vorerst nicht. Laborversuche müssen noch beweisen, dass die Methode wirkt und dass das Risiko gering ist. Auf erste Erfolge im Tierversuch kann der Arzt bereits verweisen. Er forscht mit Ratten, die wegen eines genetischen Defekts nach und nach ihre Sehfähigkeit verlieren. O-Ton 22 Krohne Diese Ratten haben wir als Modell der Erkrankung verwendet und haben aus Stammzellen gewonnenes Netzhautgewebe bei diesen Tieren unter die Netzhaut transplantiert, und im Verlauf konnten wir dann zeigen, dass bei diesen Tieren in der Tat der fortschreitende Visusverlust durch die Erkrankung und damit die Erblindung aufgehalten werden konnte. Sprecher: Amerikanische Biotechnologie-Firmen drängen darauf, auch IPS-Zellen möglichst bald am Menschen zu erproben, möglicherweise schon im nächsten Jahr. Deutsche Wissenschaftler halten diese Ankündigungen für zu optimistisch. Bevor es losgehen könne, müssen nicht nur wissenschaftliche Probleme gelöst werden, meint Tim Krohne. Auch die Zulassungsbehörden stehen vor neuen Aufgaben. O-Ton 24 Tim Krohne Diese Verwendung von induzierten, pluripotenten Stammzellen, also patienteneigenen Zellen, wenn die wirklich von jedem Patienten neu gewonnen werden, dann sind manche Zulassungsbehörden bisher noch auf dem Standpunkt, dass das jedes Mal ein neues Medikament ist, was einen neuen Zulassungsprozess benötigt. Unter anderem ist das wohl einer der Gründe, warum die ersten Studien, die jetzt anlaufen, noch mit den "alten" embryonalen Stammzellen durchgeführt werden, weil hier eine Zelllinie verwendet werden kann, und dann der Zulassungsprozess einfacher ist. Also, diese Probleme müssen zuerst gelöst werden, bevor diese Anwendung standardmäßig in der Klinik erprobt werden kann. Sprecher: Nicht weit von der Bonner Universitäts-Augenklinik entfernt, im Institut für Rekonstruktive Neurobiologie arbeitet der bekannte deutsche Stammzellenforscher Oliver Brüstle. Er war 2002 der erste, der embryonale Stammzellen nach Deutschland importieren durfte. Heute forschen nur noch wenige seiner Mitarbeiter mit embryonalen Stammzellen. Auch Oliver Brüstles Arbeitsgruppe nutzt immer häufiger die Stammzellen der zweiten Generation, die IPS-Zellen. Induzierte Pluripotenten Stammzellen lassen sich aus Gewebeproben von Patienten gewinnen und stellen somit die einfachere Alternative dar. Die Reprogrammierung aus Hautzellen zu IPS-Zellen sei inzwischen Routine, so Oliver Brüstle. Am Menschen will auch er sie vorerst noch nicht erproben. O-Ton 26 Oliver Brüstle Wir wissen trotz allem heute immer noch zu wenig über die Sicherheit von induzierten pluripotenten Stammzellen. Mit Sicherheit ist es natürlich so, wenn Sie eine Zelle entnehmen aus einen Fünfzig- oder Sechzigjährigen, und diese Zelle umprogrammieren in eine pluripotente Stammzelle, dann ist das Genom zunächst einmal dasselbe. Das heißt: die Mutationen, die sich bei uns natürlicherweise über die Jahrzehnte in unseren Zellen ansammeln, die letztendlich auch den Alterungsprozess ausmachen, die bleiben in diesen Zellen bestehen. Sprecher: Während führende Forscher also zu Vorsicht mahnen, bieten im Internet immer mehr Kliniken Therapien mit Stammzellen an, auch gegen die Parkinson- Krankheit und andere Nervenkrankheiten. Die Anbieter kommen aus China, aus der Ukraine, von den Bahamas, aber auch aus Deutschland. Sie verwenden meist Körperstammzellen, die sie dem Knochenmark oder dem Blut der Patienten entnehmen. Die Körperstammzellen spritzen sie dem Patienten beispielsweise unter die Schädeldecke, wo sie schnell zu Grunde gehen, ohne Schaden anzurichten, aber auch ohne zu helfen. In der Fachwelt gelten die Angebote dieser Kliniken als unseriös. Die Wirksamkeit der Verfahren ist nicht erwiesen und die Risiken unbekannt. Immer häufiger muss Oliver Brüstle Patienten vor angeblichen Geheimtipps warnen. O-Ton 27 Oliver Brüstle Es besteht überhaupt kein Grund zu der Annahme, dass erfolgreiche Therapien geheim gehalten würden. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass eine erfolgreiche Behandlung in diesem Gebiet sich quasi über Nacht weltweit verbreitet und auch an die Öffentlichkeit gelangen wird. Das heißt: Therapien, die durch die Hintertür angeboten werden, die von der Lehrmeinung nicht unterstützt werden, sind auch keine Therapien. Sprecher: Bereits vor zehn Jahren hat Oliver Brüstle eine Methode entwickelt zur Umwandlung von embryonalen Stammzellen in Vorläufer von Nervenzellen. Er wollte das Verfahren zum Patent anmelden. Vergeblich. Obwohl seine Forschung mit menschlichen embryonalen Zellen in Deutschland erlaubt ist, wurde das Patent in mehreren Instanzen abgelehnt. 2011 erteilte ihm der europäische Gerichtshof eine endgültige Absage. O-Ton 28 Oliver Brüstle Das ist in meinen Augen eine sehr unglückliche Entwicklung. Um was es nämlich geht, ist, Erfolge aus der Grundlagenforschung in die Anwendung zu bekommen. Das heißt letzten Endes: Therapien zu entwickeln, aber auch neue Verfahren zu entwickeln für die Medikamentenentwicklung. Diese Anwendungen können nicht von der akademischen Forschung geleistet werden. Und ein solcher Sektor wird sich nur entwickeln, wenn die Unternehmen die Perspektive haben, dass sie Investitionen in diesem Bereich, neue Entwicklungen, die sie machen, auch schützen können. Sprecher: Während die Anwendung nur langsam vorankommt, gehen die Grundlagenforscher bereits den nächsten Schritt. Im Labor entsteht eine Stammzellentherapie der dritten Generation. Die Forscher haben gelernt, wie man verschiedene Zelltypen in einander umwandelt. Zum Beispiel Hautzellen in Nervenzellen. Der Umweg über pluripotente Stammzellen entfällt. Musik Sprecherin: Eine Hautzelle ist bereits spezialisiert. In ihrem Erbgut sind nur die Gene aktiv, die eine Hautzelle zur Erfüllung ihrer Aufgaben braucht. Gene, die für Nervenzellen unverzichtbar sind, sind inaktiv. Aber die Zelle lässt sich umsteuern. Forscher haben genetische Signale oder biochemische Anweisungen entdeckt, mit der sie Zellen umdirigieren können. In der Natur kommen diese Signale nur im Embryo vor - nämlich dann, wenn das Nervensystem entsteht. Die Signale sorgen dafür, dass alle Gene für Hautzellen ausgeschaltet werden und alle Nervenzell-Gene aktiv werden. So entsteht im Labor aus einer Hautzelle eine Nervenzelle. Musik Ende O-Ton 31 Laboratmo 2 Geräusch: Öffnen des Brutschrankes Sprecher: Im Labor des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn öffnet die Wissenschaftlerin Julia Ladewig einen Brutschrank. Darin wachsen Zellen bei 37 Grad Celsius. O-Ton 32 Julia Ladewig Die Hautzellen werden in diesen Inkubatoren kultiviert, die sind in diesen Schälchen hier. Ganz einfach wachsen die auf dem Boden dieser Plastikschale. Diese gelbe oder eher rosa Lösung ist eine Nährlösung. O-Ton 33 Laboratmo 1 Sprecher: Ein Blick durch das Mikroskop reicht, und Julia Ladewig kann Hautzellen von Nervenzellen unterscheiden. O-Ton 34 Julia Ladewig Hautzellen sind sehr flache und große Zellen. Aus diesen wollen wir Nervenzellen machen. Und Nervenzellen sind im Gegensatz dazu sehr kleine Zellen, sehen morphologisch anders aus, haben kleine Fortsätze. Das kann man mit dem Auge erkennen, was eher wie eine Hautzelle aussieht und was eher wie eine Nervenzelle aussieht. Sprecher: Julia Ladewig gibt den Zellen die Kommandos. Durch Zugabe geeigneter genetischer oder biochemischer Faktoren kann sie die Zellen in der Kulturschale dirigieren. Ein ausgeklügeltes System macht aus Hautzellen Nervenzellen. O-Ton 35 Julia Ladewig Das wunderschöne an diesem System ist, dass man dieses System anschalten kann. Man kann die Gene, die man in diese Zellen gebracht hat, mit einer Substanz, die man auch in die Nährlösung gibt, anschalten. Und erst wenn diese Gene angeschaltet sind, dann erst kommt die Umwandlung, dass sich die Hautzellen in Nervenzellen umwandeln. Sprecher: Bisher gelingt die direkte Umwandlung von Zellen nur unter Laborbedingungen, in Zellkultur. Ob die Umsteuerung im Körper von Lebewesen funktioniert, kann noch niemand sagen. Wenn es gelingt, müssten bei der Regeneration von krankem Gewebe nicht einmal Zellen gespritzt werden. Die vorhandenen Zellen des Patienten würden gewissermaßen im Körper umgeschult. Zellen von außen wären überflüssig. Weder embryonale Stammzellen noch IPS-Zellen würden gebraucht. Musik Sprecherin: Die insulinbildenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse arbeiten nicht mehr. Der Insulinspiegel sinkt und der Blutzuckerspiegel steigt. Der Patient leidet an Diabetes. Dabei sind genug gesunde Zellen in der Bauchspeicheldrüse vorhanden. Sie müssten nur irgendwie dazu gebracht werden, Insulin zu produzieren. Im Prinzip ist das möglich. Ein paar biochemische Signale und die untätigen Zellen werden aktiv. Ihre Gene zur Insulinproduktion arbeiten wieder. Der Diabetes ist geheilt. Musik Sprecher: Für den Stammzellenforscher Oliver Brüstle ist das eine spannende und nicht unrealistische Zukunftsvision. O-Ton 36 Oliver Brüstle Gelingt es, die Zellen direkt im Körper ineinander umzuwandeln, also zum Beispiel im Gehirn aus Bindegewebszellen neue Nervenzellen entstehen zu lassen. Und im Moment ist in diesem Feld eine große Aktivität in diese Richtung. Das ist besonders interessant für Gewebe, die sich schlecht regenerieren wie insulinbildende Zellen, Herzmuskelzellen und natürlich Nervenzellen. Und man darf sehr gespannt sein, ob solche direkten Zellumwandlungen denn dann auch im Körper funktionieren und zukünftig dann auch klinisch eingesetzt werden können. Sprecher: Die Grundlagenforschung schreitet voran. Wie von selbst erzeugt sie ständig neue Heilversprechen. Waren zunächst die embryonalen Stammzellen die großen Hoffnungsträger, so sind es mittlerweile die Zellen der zweiten Generation, die IPS-Zellen. Ob die Hoffnungen begründet sind, können jedoch nur klinische Studien mit Patienten zeigen. Und die brauchen Zeit. Viel Zeit. Unterdessen könnte ein dritter Durchbruch sowohl embryonale Stammzellen als auch IPS-Zellen überflüssig machen. Wenn es gelingt, Zellen im Körper eines Patienten von außen zu dirigieren, dann könnte die Medizin der Zukunft sehr gut ohne "Alleskönner"-Zellen auskommen. Das wäre Stammzellenmedizin ohne Stammzellen. 1