KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : Kritiker mit Beißhemmung Autor : Sieglinde Geisel Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 20.9.2011 Besetzung : Zitatorin, Zitator, Autorin Regie : Beatrix Ackers Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Funkhaus Berlin, Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin, Telefon (030) 8503-0 Zitator: "Wann habe ich eigentlich den letzten herzhaften Verriss gelesen, ernst und böse, komisch und maliziös, wo die Sense ein sausendes Geräusch erzeugt und trotzdem alle Köpfe oben bleiben?" Autorin: So fragt sich der Literaturkritiker Hubert Winkels. Er ist nicht der Einzige, der eine Vermisstenanzeige für den Verriss aufgibt. Zitator: "Die blitzenden Gefechte sind zum Talk verkommen, geräuschvoll und ergebnisarm" Autorin: stellt der Literaturwissenschaftler Peter von Matt fest, und die Autorin Sibylle Lewitscharoff fragt sich: Zitatorin: "Warum sind die Kritiken bloß so schlaff?" O-Ton Lewitscharoff: "Es wird so viel dummes Zeug geschrieben ... Ich wäre als Kritiker einer der schärfsten Hunde überhaupt, wenn ich das geworden wäre. Vor mir müsste man wirklich zittern." Autorin: Zu zittern haben die Autoren heute nicht mehr, denn es gibt: Zitatorin: "... eine neue, warmherzige, kindergeburtstagsfröhliche Literaturkritik..." Autorin: wie Iris Radisch von der "Zeit" es nennt. Die Literaturkritikerin Ina Hartwig kommt zum Schluss: Zitatorin: "Die erfolgreichsten Strategen im Literaturbetrieb sind heute die Schwärmer." Musik Franz Hohler: "Aber was das erstaunlichste ist: Es sind alle so nett, es sind alle so nett!"... Autorin: Doch schon Friedrich Schlegel beklagte sich über das geistige Klima seiner Zeit: "Nächst der Mystik" scheue man nichts so sehr wie die Polemik. Er lebe in einem Zeitalter, Zitator: "wo es herrschender Grundsatz ist, fünf grade sein zu lassen und die Sache ja nicht so genau zu nehmen, wo man alles dulden, beschönigen und vergessen kann, nur strenge rücksichtslose Rechtlichkeit nicht." Autorin: Das war 1801. Zitator: "Die Herren Tadler sind noch Lichtblicke im literarischen Leben. Aber die Hudler des Lobes... Ich habe mich oft gefragt, was denn diese Leute bewegen mag, jeden Quark mit dem Prädikat ,bestes Buch der letzten siebenundfünfzig Jahre' auszuzeichnen." Autorin: Kurt Tucholsky, 1931. Die Klage über das Verschwinden des Verrisses scheint so alt wie dieser selbst. O-Ton Arno Widmann: "Der Bruchteil der Verrisse ist immer niedrig gewesen..." Autorin: ... glaubt Arno Widmann von der "Berliner Zeitung". Seiner Meinung nach liegt die Seltenheit der Verrisse in der Natur der Literaturkritik, oder besser gesagt, der Kritiker: O-Ton Arno Widmann: "Die Autoren haben bestimmt den Eindruck, dass Rezensenten überhaupt nichts anderes vorhaben, als ihre Bücher zu verreißen. Ich halte das für einen Grundirrtum. Ich glaube, die meisten Rezensenten nehmen ein Buch zur Hand - und dass sie das überhaupt zur Hand nehmen, ist ja schon Ergebnis eines Ausleseprozesses. Die haben ja dreißig vorher angeblättert, bevor sie das eine wirklich lesen. Und dann ist die Versuchung, dieses eine auch gut zu finden, schon so groß, dass, ich glaube, der Verriss zu allen Zeiten ein seltenes Genre ist." Autorin: Ein seltenes Genre, doch auch ein besonderes Genre. Eines, das einem im Gedächtnis bleibt, weil es mehr ist als bloße Kritik. Der Verriss ist die Bühne für den Kritiker. Hier hat er Gelegenheit zu zeigen, was er kann. O-Ton Hein: "Peter von Matt hat das ja mal gesagt: Im Verriss sieht man den Kritiker, und in der lobenden Kritik sieht man das Werk." Zitator: "One cannot review a bad book without showing off. - Man kann ein schlechtes Buch nicht rezensieren, ohne dabei eine Show abzuziehen." W.H. Auden Autorin: Der Literaturkritiker Denis Scheck ist berühmt geworden mit den witzigen Kurzverrissen, die er für seine Fernsehsendung "Druckfrisch" erfunden hat: Jeden Monat macht er sich über die Bestsellerliste her und zerpflückt die zehn meistgekauften Bücher Deutschlands, zum Gaudi der Zuschauer. Gibt es eine Lust am Verriss? O-Ton Denis Scheck: "Die gibt es, das will ich nicht verhehlen, dass man natürlich sich so ein bisschen die Hände reibt, dass man sich selber an einer witzigen Formulierung besäuft, dass man beim Gift und Galle verspritzen, dass man das genießt..." Autorin: Nicht nur der Kritiker genießt den Verriss - mehr noch genießt ihn das Publikum. Zitator: "Es kommen immer wieder Stellen, wo der Autor am schlimmsten getroffen wird durch einen unwahrscheinlich genauen, plötzlichen Witz. Ich denke an die Andersch-Kritik, wo es irgendwo so nebenhin heißt: ,Bei Andersch regnet es meist.' Das sind Nebenhinformulierungen, die gleichzeitig außerordentlich lustig und außerordentlich vernichtend sind." Autorin: So Peter von Matt in einem Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über dessen Buch "Lauter Verrisse". Reich-Ranickis Antwort: Zitator: "Dass aber meine Verrisse vielen Leuten, offenbar auch Ihnen, Freude bereiten, hat mit dem bösen Charakter der Menschen zu tun: Es macht ihnen Spaß, mitanzusehen, wie einem Zeitgenossen eins ausgewischt wird. Daran bin ich nicht schuld." Autorin: Zeitlebens hat Marcel Reich-Ranicki beteuert, er habe mehr gelobt als verrissen - genützt hat es ihm nichts. In der Erinnerung bleibt der gefährlich funkelnde Verriss. Das Lob dagegen verblasst. O-Ton Scheck: "Ich lobe, glaube ich, viel mehr und viel enthusiastischer als ich verreiße, nur ist natürlich die Schadenfreude und die Niedertracht im Menschen so tief verankert, dass man sich an die Verrisse viel, viel länger erinnert, als an mein Lob. Ich habe in meiner ersten Sendung Druckfrisch im Fernsehen einmal gesagt: Wenn dieses Buch ein Pferd wäre, man müsste es erschießen. Mit diesem Satz werde ich acht Jahre später immer noch konfrontiert, während manches Lob ungehört verhallte." Autorin: Die Autoren vergessen einen Verriss erst recht nicht: O-Ton Widmann: "Ich hab einmal, da war ich in der Redaktion und habe eine Autorin angerufen und sagte, also Frau Sowieso, ich würde mich sehr freuen, Sie würden für uns etwas schreiben. Und dann sagte sie zu mir: Mit wem spreche ich? Widmann? Kommt überhaupt nicht in Frage! Sie haben doch vor drei Jahren in der taz mein Buch verrissen! Das hatte ich total vergessen. Ich glaub, man braucht ein gewisses Selbstwertgefühl und ein miserables Gedächtnis für diesen Beruf." Musik: Christoph Willibald Gluck: Orpheus und Eurydike, Tanz der Furien Zitator: "Echte Polemik nimmt sich ein Buch so liebevoll vor wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet." Autorin: Der Verriss ist ein blutrünstiges Gewerbe, nicht nur in diesem genüsslich grausamen Bild, das Walter Benjamin in seinen "Techniken des Kritikers in 13 Thesen" entwirft. O-Ton Lewitscharoff: "Also ein Kritiker, der einen Schriftsteller wirklich verreißt, zieht sich langjährige Feindschaft dieses Menschen auf sich. Also selbst Leute, die wir für sehr souverän halten, nach außen hin, gebärden sich hinter den Kulissen ziemlich verrückt, was das angeht. Ich möchte keine Namen nennen, aber ich kenne die tollsten Geschichten, also auch aus den Verlagen, von Leuten, wo man denkt, der hat's eigentlich nicht nötig, sich nun so aufzumascheln, der könnte das eigentlich wegstecken - nein! Die nehmen das über Jahrzehnte krumm und regen sich, wenn's passiert, richtig auf und versuchen auch, dagegen anzugehen." Musik: Christoph Willibald Gluck: Orpheus und Eurydike, Tanz der Furien Autorin: Begegnungen zwischen einem Kritiker und einem Autor, den er verrissen hat, dürften zu den unangenehmsten Momenten im literarischen Leben gehören. Denis Scheck: O-Ton Scheck: "Ich empfehle gerne, wenn man mal eigene Erfahrungen mit dem Verriss sammeln möchte, in einen Stadtpark zu gehen und zu warten, bis jemand einen Kinderwagen an einem vorbeischiebt, sich dann über diesen Kinderwagen zu beugen und danach die Schieberin, den Schieber freudig anzuschauen und zu sagen: Dieses Kind ist aber hässlich! Die Reaktionen, die Sie dann ernten, sind in etwa die, die Sie als Literaturkritiker zu gewärtigen haben, wenn Sie einen Verriss machen. Mit anderen Worten: Mit einem Verriss tritt man Menschen auf die Zehen." Autorin: Auch der Schriftsteller Jakob Hein zieht den Vergleich zur Kritik am eigenen Kind. O-Ton Hein: "Tatsächlich ist es auch so, dass man ja als Autor sehr, sehr, sehr viel von sich ausstellt und sich unheimlich preisgibt in einem Buch, was einem gelungen erscheint. Dann verrissen zu werden, ist auch immer die Kritik am eigenen Kind, die ja immer auch sehr schwer zu verkraften ist." Autorin: Der Schriftsteller Clemens Meyer wurde in einem Zeitungsinterview gefragt, ob er gut mit Kritik umgehen könne. Meyer antwortete darauf mit Bezug auf eine Kritikerin: Zitator: "Den Namen habe ich mir auf einen Zettel geschrieben, den sollte ich mir mal einstecken. Stellen Sie sich mal vor, ich treffe irgendwo Leute, komme mit denen ins Gespräch und dann weiß ich nicht, dass die das über mich geschrieben hat. Ich will sie nicht damit konfrontieren, aber ich will um meine Feinde wissen." Musik: Christoph Willibald Gluck: Orpheus und Eurydike, Tanz der Furien Zitator: "Wer Angst hat vor Animositäten, Ressentiments, Feindschaften, Intrigen, infamen Attacken, der soll Apotheker werden oder Buchhalter." Autorin: So der Ratschlag von Marcel Reich-Ranicki. Die Feindschaften, die er sich mit seinen Verrissen eingehandelt hatte, waren von Dauer und hielten das Feuilleton auf Trab. Peter Handke nannte ihn einen "mordlüsternen Leithund", und der Streit mit Martin Walser gipfelte bekanntlich gar in einem Roman mit dem Titel "Tod eines Kritikers", dem wohl umstrittensten Buch des Jahres 2001. Begonnen hatte die Fehde ein Vierteljahrhundert früher. Am 27. März 1976 erschien Reich-Ranickis Verriss über Martin Walsers Roman "Jenseits der Liebe" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Artikel trug die Überschrift: "Jenseits der Literatur". Schon der Titel war ein Frontalangriff. Zitator: "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Autorin: Was dieser Verriss für den Autor bedeutete, wissen wir seit dem Frühjahr 2010 aus erster Hand. In seinen nun veröffentlichten Tagebüchern jener Jahre lässt uns Walser teilhaben an der Katastrophe. Der Autor sieht sich am "absoluten Tiefpunkt der beruflichen Laufbahn" angekommen. Seine Notizen zeigen das Psychogramm einer Verletzung, die in eine Obsession umschlägt: Der Eintrag am Tag des Verrisses umfasst geschlagene zehn Druckseiten. Walser ist außer sich. Er entwirft Reden zu seiner Verteidigung und offene Briefe an Reich-Ranicki und an die Buchhändler; die Verletzung ist ständig präsent, noch Wochen und Monate nach diesem 27. März. Sie ist es, so muss man annehmen, auch heute noch. Im Februar 2010 liest Martin Walser im Literarischen Colloquium Berlin aus seinem soeben veröffentlichten Tagebuch. O-Ton Martin Walser: "Sie haben mich also beleidigt, zum ersten Mal in Ihrer ränkereichen Praxis. Ich habe nicht das Geld, um gegen Sie und Ihre mächtige FAZ zu prozessieren. (...) Das allgemeine Publikum kann ich nur erreichen, wenn ich gegen Sie prozessiere oder Sie ohrfeige. Da mir zum Prozessieren, wie gesagt, das Geld fehlt, bleibt mir nichts als die Ohrfeige. Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde." Musik: Christoph Willibald Gluck: Orpheus und Eurydike, Tanz der Furien O-Ton Martin Walser: "Und am 4. 9. 1976 träumte ich, gestern Nacht, Reich-Ranicki rennt mir im Traum nach und will mit mir reden. Ich bin schon fast versucht, darauf einzugehen. Aber ich spüre: Wenn ich mit ihm rede, rede ich mit ihm wie immer. Alles, was er mir getan hat, löst sich dann auf in ein intellektuelles Hin und Her. (...) Und darum kann es nicht gehen. (...) Ich spüre bei jedem Schritt, wie wichtig es für ihn ist, mit mir zu sprechen. Ich spüre es als eine große Annehmlichkeit, ihn so leiden zu lassen. (...) Was er empfindet, wenn er so hinter mir herrennt, ohne die geringste Aussicht, mich zu erreichen, solange ich es nicht will, das kenne ich so genau, das wird mir jetzt so intensiv bewusst, das fühle ich im Augenblick so stark, dass ich plötzlich das Gefühl habe, der, der da hinter mir herrennt, ist gar nicht Reich-Ranicki, das bin ich(...). Ich bin der, der hinterherrennt. Der Traum erlischt. - Also nicht einmal im Traum geht es gut aus." Autorin: Trost findet Martin Walser nur in der Bestenliste: O-Ton Walser "6. Mai. Burgel Zeeh, Sekretärin vom Verlag, ruft an: Auf der SWF-Kritikerliste steht Jenseits der Liebe im Mai auf Platz 1." Autorin: Das verrissene Buch erweist sich als anhaltender Verkaufserfolg. Doch dies mildert die Kränkung keineswegs. Über ein halbes Jahr nach dem Verriss sinniert Walser: O-Ton Walser: "Unsere Feinde sind unsere wirklichen Freunde. Das ist überhaupt kein Paradox. Unsere Feinde treiben uns dem Tod entgegen. Sie bringen es fertig, dass wir lieber sterben. Sterben müssten wir ohnehin. Und es gilt als ausgemacht, dass nichts im Leben schwerer und furchtbarer sei als das Sterben. Und ebendas erleichtern uns unsere Feinde." Autorin: Nicht immer muss die Feindschaft zwischen Kritiker und Autor so unversöhnlich bleiben. In einem Gespräch mit Peter Voß berichtet Marcel Reich-Ranicki über seine letzte Begegnung mit Heinrich Böll. Er war mit Böll befreundet, hatte jedoch dessen letztes Buch verrissen. Als die beiden einander auf einer Veranstaltung über den Weg liefen, habe Böll ihn gefragt, so Reich-Ranicki, ob sie einander noch die Hand reichten. Wieso nicht, habe er geantwortet, doch dann sei Böll immer näher auf ihn zugegangen, so dass er befürchtet habe, Böll werde ihn nun in aller Öffentlichkeit ohrfeigen. Doch dann habe er ihm nur etwas ins Ohr geflüstert. Zitator: "Er sagte: ,Arschloch!' Dann umarmte er mich und meinte, jetzt sei alles wieder gut." Autorin: Nicht alle Autoren schaffen es, in einem solchen Moment ihre Souveränität zu bewahren. Für Martin Walser war die Ohnmacht, nicht zurückschlagen zu können, kaum auszuhalten. Doch genau dies verlangt das ungeschriebene Gesetz im Literaturbetrieb: Ein verrissener Autor hat zu schweigen. O-Ton Lewitscharoff: "Ich möchte nicht in der Welt als eine kleine Maus dastehen, die sich ärgert, weil jemand etwas Schlechtes gesagt hat, ich lass mich davon nicht kleinmachen. Das wäre eine solche Schädigung meiner selbst - also, dazu bin ich zu stolz übrigens auch. Aber viele Kollegen, wenn ich mit denen privat rede, regen sich furchtbar auf und telefonieren: Hast du das gesehen! Was der sich erlaubt hat, usw., und dann muss man sie trösten - ja, eine besonders dummer Kritik, undsoweiter, aber insgeheim denke ich: Hast du das immer noch nicht begriffen, wie das Spiel läuft? Halt die Klappe, sonst erzählt jeder weiter, was für ein Würmchen, was für eine tränenreiche Blindschleiche du bist. Ein Autor muss ja auch, nach außen hin, wenn er wirklich ästhetisch was zu sagen hat, Kraft besitzen. Ein Minimum an Geistesriesentum und seelischer Macht muss er verströmen, ja." Autorin: Autoren haben selten Gelegenheit, einem Kritiker zu antworten. Die Rache per Roman, wie bei Walser, ist die Ausnahme. Manche Autoren schmollen durch ihr Schweigen, doch das merkt niemand. Es sei denn, das Schweigen werde angekündigt, so kürzlich der Historiker und Kolumnist Götz Aly in der Berliner Zeitung: Zitator: "Seit anderthalb Jahren schreibe ich an dieser Stelle. Nun sind andere dran. Die Kolumne ging mir leicht von der Hand, an Themen fehlte es nie. Warum dann aufhören? Ganz einfach: Am vergangenen Freitag ist mein neues Buch erschienen. (...). Diese Zeitung hat das Buch in die Tonne getreten, die Süddeutsche Zeitung, der Tagesspiegel, Die Welt, die Mitteldeutsche haben es hoch gelobt." Autorin: Solche Anklagen und Rechtfertigungen haben einen Haken: Seltsamerweise fallen sie fast immer auf den Autor zurück. Dies kann gar nicht anders sein, meint Sibylle Lewitscharoff: O-Ton Lewitscharoff: "und zwar deshalb, weil ihnen der Humor fehlt. Man müsste im Grunde auf eine sehr sublime Weise die Kritik überbieten, an Schlechtigkeit. Man müsste eigentlich einen schönen gewürzten Salat seiner selbst ausbreiten und alle Leute zum Lachen bringen durch eine sublim gesetzte Übertreibung. Dann hätte man die Lacher auf seiner Seite. Nur, die Leute, die verletzt sind, die können so etwas nicht. Das heißt, das können Sie eigentlich nur, wenn Sie bequem sich zurücklehnen und die Welt Ihnen hold zulächelt, können Sie so etwas Schönes schreiben. Das ist seelisch kaum möglich." Autorin: Der Verriss ereignet sich dort, wo es weh tut. Doch auch das Wehtun tut weh, zumindest dann, wenn der Kritiker nicht aus sicherer Entfernung attackiert, sondern aus der Nähe der persönlichen Bekanntschaft. Zitator: "Der Kritiker sei einsam (...). Autorin: empfiehlt der Literaturkritiker Burkhard Müller seinen Kolleginnen und Kollegen. Zitator (Fortsetzung): "Denn jeder persönliche Kontakt mit anderen Angehörigen des Betriebs bedeutet für ihn ein Stück Korruption, insofern es nahezu unmöglich ist, jemanden zu verreißen, mit dem man schon mal ein Bier getrunken hat." Autorin: Doch genau um dieses Bier kommt man im Literaturbetrieb nicht mehr herum. Mit öffentlichen Auftritten wird heute viel mehr Geld verdient als mit Gedrucktem. O-Ton Lewitscharoff: "Der Betrieb hat sich geändert in den letzten zwanzig, dreißig Jahren. Wir begegnen uns ständig, wir ... klettern zusammen auf Podien, wir kennen uns, und dann ist es langsam doch schwerer, jemanden richtig zu verreißen." Autorin: Offenbar lassen sich die Rollen nicht so leicht trennen: Eigentlich müsste es Kritikern bewusst sein, dass sie auch das Bier als Kritiker mit einem Autor trinken und nicht als Kumpel. Richard Kämmerlings, Literaturchef der "Welt": O-Ton Kämmerlings: "Es gibt einen Rollenkonflikt bei Kritikern, und da muss man schon auch sehr genau immer sich selber prüfen, ob man noch ein Buch eigentlich besprechen kann, wenn man gleichzeitig den Autor moderiert und gleichzeitig laudatiert, das sind natürlich solche Überschneidungen des Berufsbildes, die nicht immer glücklich sind." Zitator: "Derzeit kann man sich nur Feinde machen, wenn man Ingo Schulze kritisiert." Autorin: schrieb Jan Süselbeck vor ein paar Jahren auf www.literaturkritik.de. O-Ton Scheck: "Man wird durch Akklamierungen natürlich viel beliebter, und wir wollen ja everybody's darling sein, auch wenn man das eben als Literaturkritiker nicht sein darf." Musik Franz Hohler: "Wo man hinsieht, nur Kollegen, und gerade die Kollegen... sind alle so nett, sind alle so nett..." Autorin: Wozu braucht es den Verriss denn überhaupt, wenn es ohne ihn doch viel bequemer ginge? Friedrich Schlegel nennt 1804 als wichtigste Aufgabe der Kritik "die Absonderung des Unechten" in der Literatur: Zitator: "Was aus alten Zeiten erhalten worden, ist durch äußere Bedingungen mehr vor Verfälschung gesichert gewesen; dagegen aber ist die Masse des Falschen und Unechten, was in der Bücherwelt, ja auch in der Denkart der Menschen die Stelle des Wahren und Echten einnimmt, gegenwärtig ungeheuer groß. Damit nun wenigstens Raum geschafft werde für die Keime des Bessern, müssen die Irrtümer und Hirngespinste jeder Art erst weggeschafft werden." Autorin: Sind auch Kategorien wie das Wahre und Echte heute suspekt geworden - im tiefsten Inneren ist der Anspruch an die Kritik derselbe geblieben: Der Kritiker soll unterscheiden zwischen guter und schlechter Literatur - heute ist dies vielleicht dringender notwendig denn je: O-Ton Kämmerlings: "Die Kritik hat ganz klar eine Filterfunktion. Und da sowieso der Markt überschwemmt wird mit Büchern und auch die Verlage entsprechenden Werbeaufwand einsetzen und es auch eine Entwicklung gibt zum Beispiel bei den großen Literaturfestivals wie lit.cologne oder Harborfront in Hamburg, dass im Grunde alles unterschiedslos, was irgendwie erfolgreich ist, präsentiert wird, dass es da überhaupt keine Selektion mehr gibt für den Leser, da wird die Kritik eigentlich wichtiger." Autorin: Die "Absonderung des Unechten" ist für jeden Kritiker eine Herausforderung: Die große Literatur der eigenen Zeit zu erkennen, war zu allen Zeiten schwierig. Und doch scheint es heute schwieriger zu sein als in anderen Epochen. Der Literaturmarkt ist unübersichtlicher - und es gibt eine Tendenz, vor deutlichen Worten zurückzuschrecken: O-Ton Scheck: "Wir leben in Zeiten, wo alles in allerfeinstes Psychogebabbel eingesponnen wird, nur ja nicht jemandem auf die Zehen treten." Autorin: Oft heißt es gar, man solle lieber die guten Bücher loben, als die schlechten Bücher zu verreißen. O-Ton Widmann: "Man lässt die Autoren lieber zu Wort kommen, also man macht ein Interview oder man schreibt über das Ereignis von drei, vier Büchern, die gleichzeitig zum selben Thema erscheinen, und schreibt darüber. Also man beschreibt Phänomene. Wenn die Rezensionen aussterben, dann werden natürlich auch die Verrisse seltener, weil die spielen sich fast nur in Rezensionen ab." Autorin: Doch damit nicht genug: Bei den Rezensionen, die übrig bleiben, steht oft der Gestus der Empfehlung im Vordergrund: Das heißt, es geht nicht in erster Linie darum, dem Leser die literarischen Verfahrensweisen eines Romans kritisch auseinanderzusetzen, sondern darum, ihm seine Kaufentscheidung zu erleichtern. Zitator: "Sagt mir, was mir gut tut und ich kaufe das, kaufe Euch das ab, kaufe Euch. Der Markt ersetzt den Raum der öffentlichen Sinndebatte." Autorin: so Hubert Winkels im Literaturmagazin Volltext. Nicht nur der Literaturbetrieb hat sich offenbar gewandelt, sondern auch unser Verhältnis zur Literatur. Hubert Winkels: Zitator: "Es ist vielmehr so, dass keiner mehr den Verriss braucht, weil keiner mehr an die moralische Sendung der Literatur glaubt, weil keiner dem Gegenstand einen potenziellen Wahrheitswert mehr unterstellen will, der ihn immer auch geknechtet hat: ,Du musst dein Leben ändern'." Autorin: ... wie es in Rilkes berühmtem Gedicht "Archaischer Torso Apollos" heißt. Doch man muss gar nicht bis zu Rilke zurückgehen. Noch in der Nachkriegzeit hatte die Literatur einen gewichtigen Stellenwert in der Gesellschaft. O-Ton Lewitscharoff: "Das ist ja nicht wie, sagen wir mal, in den Sechzigerjahren, denken Sie an die Gruppe 47 und die Zeitungsmeldungen. Da war die Literatur - das war ein Sanktuarium, im Vergleich zu heute. Da wird ja dann gerungen um den Bestand der Gesellschaft gleich, das Buch ruft ja dann aus: Was wird aus uns Deutschen, das hat ja dann tiefe, tiefe Konsequenzen." Autorin: Um den Bestand der Gesellschaft geht es heute selten, wenn ein Buch zum Tagesgespräch wird. Boulevard und seriöse Kritik gehen in ihrem Lobpreis mitunter seltsame Verbindungen ein: Im Frühjahr 2010 war es Helene Hegemann (falls sich daran noch jemand erinnert), im Herbst 2011 sind es die "Schoßgebete" der Charlotte Roche. O-Ton Lewitscharoff: "und die Zeitungen, denen geht's schlecht, die sind gehalten, immer wieder eine neue Sau durchs Dorf zu treiben, um die Leser zu halten, das hat auch schreckliche Auswirkungen auf den literarischen Betrieb, dass irgendeine Schmonzette, die gerade bissel pornographisch und süßlich und nett irgendwie launisch und hübsch daherkommt, irgendwie riesig besprochen werden muss." Autorin: Es ist wohl eine Mischung aus Verlagsmarketing, Hysterie und Dabeisein-Wollen, mit der die Redaktionen sich selbst in Zugzwang bringen. Keiner will der Letzte sein. Schnell muss es gehen, und unter diesen Umständen mag kaum jemand den Verriss eines Werks riskieren, das die Kollegen reihum so hoch in den Himmel gelobt haben. Zitator: "Schoßgebete ist ein furios übersteuerter Hilfeschrei nach Verwurzelung, Geborgenheit, Verlässlichkeit und Treue. Eine Apotheose der heiligen Familie, die sich allerdings nur noch aus den Trümmern ihres einstigen Denkmals zusammensetzen lässt." Autorin: So Ijoma Mangold in der "Zeit". Nachdem er das Werk in die Sphäre einer griechischen Tragödie gehoben hat, fühlt sich der Kritiker immerhin zu einer kleinen Einschränkung bemüßigt, schließlich erscheint seine Rezension nicht in der "Bunten": Zitator: "Auf die Frage nach dem literarischen Wert erwartet der Leser dieser Zeitung zu Recht eine klare Antwort. Die ist einfach zu geben. Sofern Literatur ein Sprachkunstwerk ist, tritt Charlotte Roche in dieser Liga nicht an. Aber jenseits dessen gibt es genügend Raum für berührende und unterhaltsame Bücher. Roches Stil ist extrem nah an der Mündlichkeit - allerdings nicht irgendeiner Mündlichkeit, sondern ihrer sehr eigenen, nicht mehr und nicht weniger als entwaffnenden Mündlichkeit." Autorin: Man hätte auch sagen können: Geschwätzigkeit. Die Wohlfühlwellen des Überschwangs, die den Literaturbetrieb so regelmäßig überfluten, schlagen sich zwar in den Verkaufszahlen nieder, doch bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich als Selbstläufer der Kritik. Unter den Lesern jedenfalls gibt es viele, die sich in ihrer Kaufentscheidung schlecht beraten fühlen: Zitator: "Das Interessante ist die Diskrepanz zwischen den Meinungen der professionellen Literaturkritik und der Meinung der Leser, wie sie in den auch hier veröffentlichten Rezensionen zum Ausdruck kommt. Man hat fast den Eindruck, es sind zwei verschiedene Bücher gelesen worden." Autorin: So eine Kundenrezension auf Amazon. Dort erhält Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" von den Lesern nur noch gerade zwei Sterne, Roches "Schoßgebete" liegt derzeit bei drei Sternen. Dank dem Internet ist der Leser längst nicht mehr das unbekannte Wesen im Literaturbetrieb. Zitator und Zitatorin: "Wieder einmal hat es die Buchindustrie geschafft, dass ich mir ein gehyptes Buch zulege, was es dann absolut nicht wert ist." "Aber wie die Großkritiker von Stern bis FAZ, Spiegel und wer weiß noch mal wieder auf einen Zug aufgesprungen sind, um ja nicht als Looser dazustehen, ist schon wirklich skandalös." "Ach, man sollte sich über dieses Buch eigentlich nicht zu sehr ärgern, dafür ist es zu fad und zu belanglos." "Jeder seriöse Autor muss mit Schaudern zur Kenntnis nehmen, dass er seinen Beruf an den Nagel hängen kann, wenn ein solcher Mist zum Preis der Leipziger Buchmesse 2010 nominiert wird. Gute Nacht, Deutschland." "Fazit: Nichts Pfiffiges, nicht mal Schockierendes - einfach trostlos bis ekelhaft." "Was bleibt, ist ein ernüchterter Leser, der ein viel zu dickes, sinnloses Buch beendet hat, das eine dumpfe Protagonistin zu Wort hat kommen lassen, die nichts zu sagen hat, sich im Laufe des Geschehens nicht weiterentwickelt und mit ihrer Meckerei gegen alles und jeden flott auf den Geist geht." "Der unbedarfte Leser - in diesem Fall ich - mag gedacht haben, so arg kanns doch nicht sein, denn immerhin wird der Dame Roche doch in einer seriösen Talkshow ein Forum geboten." "... später kommt es noch schlimmer, nur ein Beispiel: "Bei uns wird immer am Esstisch gegessen, mit allen, die anwesend sind." Autsch! Das grenzt schon an Körperverletzung. Frage: Ist das Buch überhaupt lektoriert worden?" Musik Franz Hohler: "Es sind alle so nett, so nett, so grauenhaft, so neeeeeeeetttt!!!" Zitator: "Was die deutsche Buchkritik anlangt, so ist sie auf einem Tiefstand angelangt, der kaum unterboten werden kann. Das Lobgehudel, das sich über die meisten der angekündigten Bücher ergießt, hat denn auch zur Folge gehabt, dass die Buchkritik kaum noch irgend eine Wirkung hervorruft." Autorin: Kurt Tucholsky, 1931. Dabei würden die Kritiker so gern Wirkung entfalten, zumindest diejenigen, die sich vor dem Verriss nicht scheuen. Denn trotz der Literaturbetriebsküngelei und der Sorge um die Karriere geht es den meisten im Grunde immer noch um die "Absonderung des Unechten" in der Literatur. O-Ton Scheck: "Freilich, was ich mir natürlich sehr, sehr gerne wünschen würde, das wäre eine Magie, dass man sozusagen alles, was von Paulo Coelho oder Stephenie Meyer oder Charlotte Roche im Buchhandel steht, durch einfaches Fingerschnippen in Werke von Thomas Pynchon, William Gaddis, Philip Roth verwandeln könnte. Das wäre natürlich der größte Trick der Literaturkritik. Aber dazu müsste ich ja zaubern können." Autorin: Literaturkritiker können nicht zaubern. Weder der Großkritiker von früher noch die Bestsellerliste kann die Leser dazu bringen, ein Buch gut zu finden, das sie nicht mögen. Die Leser jedoch können zaubern. Schlagen sie das Buch zu, ist der Spuk vorbei. Quellen der Zitate: Aly, Götz: "Ich mach dann mal Pause", Berliner Zeitung, 16.8.2011 Auden, W.H.: "Reading", in: "The Dyer's Hand", New York 1990 Hartwig, Ina: Beitrag in "Thesen zur Literaturkritik", Neue Rundschau, 1/2011 Lessing, Gotthold Ephraim: "Briefe, antiquarischen Inhalts", 57.Brief, in: Lessing, "Laokoon; Briefe, antiquarischen Inhalts", hg. von Wilfried Barner, Frankfurt am Main 2007. Lewitscharoff, Sibylle: "Warum sind die Kritiken bloß so schlaff?", Die Welt, 22.5.2011 Mangold, Ijoma: "Alles für die Kinder", Die Zeit, 12.8.2011 Meyer, Clemens: "Glück gehabt", Interview mit Jan Pfaff, in: Der Freitag, 10.3.2010 Müller, Burkhard: Beitrag in "Thesen zur Literaturkritik", Neue Rundschau, 1/2011 Radisch, Iris: "Zur Lage der Literatur", Die Zeit, 4.10.2010 Reich-Ranicki, Marcel: "Der Doppelte Boden". Ein Gespräch mit Peter von Matt. Zürich, 1992 "Lauter schwierige Patienten". Gespräche mit Peter Voß über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Berlin 2003 Schlegel, Friedrich: "Vom Wesen der Kritik", in: Friedrich Schlegel, "Schriften zur Literatur", München 1985 Süselbeck, Jan: "Lauter beleidigte Leberwürste", in: www.literaturkritik.de, April 2007 Tucholsky, Kurt: "Kritik als Berufsstörung", in: Die Weltbühne, 17.11.1931 von Matt, Peter: "Kritik und Vergessen", in: "Thesen zur Literaturkritik". Neue Rundschau, 1/2011 "Er schreibt für alle - und weiß, wie es geht". Reich-Ranicki wird neunzig. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2010 Walser, Martin: "Tod eines Kritikers", Reinbek 2009 "Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978". Reinbek 2010 Winkels, Hubert: "Den Autor umarmen". In: Volltext, 1. August 2011 (http://volltext.net) 1