Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62120 Organisationseinheit: 46 Reihe : Zeitreisen Titel : "Noch hundert Meter bis zum Start...". Eine Kulturgeschichte der Berliner Trabrennbahn Mariendorf Autor : Harry Nutt Redakteur : René Aguigah Sendung : 3. April 2013 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : 1 Sprecherin; 1 Sprecher Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Sprecherin 1: In seinen Romanen lässt Theodor Fontane manch eine Pferdekutsche das Tempelhofer Feld passieren, um Berlin in Richtung Süden zu verlassen. Mariendorfer Damm wurde ein Teil des Weges später genannt, eine lange, schmucklose Ausfahrtsstraße, der die Reize eines städtischen Boulevards weitgehend verwehrt blieben. Es hätte schon eines aufmerksamen Blickes bedurft, um hier einen Ort zum Verweilen zu finden. Aber selbst der Soziologe Siegfried Kracauer, dem sonst Auffälliges in der Stadtlandschaft kaum entging, sah sich zunächst mit einem Déjà vu konfrontiert, als er Ende der 1920er Jahre zum ersten Mal die Trabrennbahn Mariendorf besuchte. Sprecher 2: "... geradezu vertraut muten mich die Tribünen an, der kleine Holz- und Glasturm und das Rasenrund mit der grünen Baumfolie am Horizont und dem weiten Himmel darüber. Wo sind wir uns nur früher begegnet? Im Allgemeinen bin ich durch den häufigen Kinobesuch gegen Überraschungen gefeit, und exotische Landschaften etwa verblüffen mich nicht im Geringsten. Hier dagegen verwirklichen sich weniger Filmeindrücke als impressionistische Bilder. Diese Freiluftgruppen, diese Glasschürzen, diese Farbskalen: auf vielen Bildern habe ich sie erblickt." Sprecherin 1: Kracauer wird dabei die prächtigen Rennbahnszenen von Edgar Degas vor Augen gehabt haben. Der große Meister des französischen Impressionismus hatte sich von den bewegten Massen der Pariser Rennplätze anregen und begeistern lassen. Schnelle Pferde, elegante Herren, kokett gekleidete Damen. So stellt man sich seither das mondäne Leben unter freiem Himmel vor. Zumindest in Paris. Als die Trabrennbahn Mariendorf vor 100 Jahren, am 9. April 1913, ihre Pforten öffnete, mutete es aber alles andere als pariserisch an. Das Wetter war ungemütlich, und ein zugiger Wind trieb feinen Sand über die eben erst angelegten Grünanlagen. Musik: Amboss-Polka (Archivnummer: XO 63859, 01 A0 16) Mariendorf war nicht die erste Pferderennbahn in der preußischen Metropole. Berlin strebte ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Gründerzeit entgegen, und große Freizeitanlagen waren seit jeher ein Anziehungspunkt in der bewegten Stadt, die auf Abwechslung aus war. Pferderennen gehörten dazu. Seit 1868 hielt man in Hoppegarten mondäne Galopprennen ab, in Karlshorst fanden seit 1894 die besonders vom Militär geschätzten Jagd- und Hindernisrennen statt, und bereits seit 1877 trabten Pferde mit Wagen, das sogenannte Sulky, in Weißensee um die Wette. Berlin ergoss sich in der Breite, zwischendrin riesige Brachflächen, auf denen immer wieder neue Sport- und Rennplätze entstanden. Für den Bau der Mariendorfer Bahn hatte sich der Renn-Club entschlossen, das Gelände in Weißensee zu verkaufen und den Erlös in eine neue Anlage zu stecken. Das Baufieber war groß, und den Investoren versprachen die Renn-Club-Funktionäre hohe Renditen. Auch hier ein Déjà vu? Berliner Bauskandale gibt es nicht erst, seit man in der Stadt Flughäfen errichtet. Mariendorf kam schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung ins Trudeln. Bereits Ende 1913 blieb der Renn-Club die Pacht schuldig, und die schöne neue Rennbahn stand vor der Pleite. Als die Finanzierungskrise nicht mehr abzuwenden war, trat der Verleger und Kunstsammler Bruno Cassirer ans Regiepult und verließ es für die folgenden zwei Jahrzehnte nicht mehr. In einer Sportchronik jener Jahre liest sich das so: Sprecher 2: Bei der im Laufe des Jahres 1914 erfolgten Liquidation des Renn-Clubs ergab sich, dass keinerlei Mittel mehr vorhanden waren. Der Trabrennverein Mariendorf übernahm alle Verpflichtungen seines völlig bankrotten Vorgängers. Aber wer war der Trabrennverein Mariendorf? Einzig und allein Bruno Cassirer... Sprecherin 1: Bruno Cassirer, eine Retter-Legende? Nicht ganz. Er war auch schon bei der Planung der Rennbahn ein zentraler Akteur im Hintergrund. Wichtige Planungsunterlagen hat er unterzeichnet, und bei der Wahl des Architekten dürfte er ebenfalls seine Finger im Spiel gehabt haben. Bruno Cassirer hatte also bloß ein paar personelle Korrekturen vorgenommen. Der Bau der Trabrennbahn Mariendorf war von Anfang an ein ambitioniertes Projekt. Schon die Auswahl des Baumeisters war auffällig. Der Jugendstil-Architekt August Endell hatte sich zunächst in München einen Namen gemacht, und er sollte bald auch in Berlin reüssieren. In voller Pracht ist dies heute noch sichtbar in den Hackeschen Höfen, die Endell derart reich verzierte, dass man noch immer den Eindruck gewinnt, durch eine Art nach außen umgestülptes Wohnzimmer zu schreiten. Mit den Entwürfen für die Trabrennbahn wollte der künstlerisch ehrgeizige Endell den Beweis antreten, mehr zu sein als bloß ein Auftragsarchitekt. Die öffentliche Anerkennung ließ nicht lange auf sich warten. Das Lob kam von niemand Geringerem als dem Kunstkritiker Karl Scheffler, dessen Buch "Berlin - ein Stadtschicksal" 1910 erschienen war. Scheffler war es wichtig zu betonen, wie sehr Endells Wurf sich von bisherigen Anlagen für Pferderennen unterschied. Sprecher 2: "Die modernen Rennbahnarchitekturen sind ja durchweg unendlich nüchtern und formlos. Einige öde Tribünenkonstruktionen, und ein provisorisch erscheinendes Restaurationsgebäude stehen beziehungslos auf flachem Gelände da. Versuche, zu einer einheitlichen architektonischen Gestaltung sind kaum jemals gemacht worden; meines Wissens ist Endell der erste, der den Charakter der Interimsarchitektur auf der Rennbahn überwunden und etwas geschaffen hat, das nicht nur an sich anmutig ist, sondern auch neue Entwicklungsmöglichkeiten zeigt. Er hat die profanen Grundformen, wie sie sich von selbst ergeben haben, beibehalten, hat sie aber so durchgeistigt, so gruppiert und in eine rhythmische Ordnung gebracht, dass man zum ersten Mal von einer spezifischen Rennbahnarchitektur sprechen darf. Die scheußlichen Eisen- und Holzgerüste sind ihm zu geistreichen, herb graziösen Ingenieursarchitekturen geworden." Sprecherin 1: Karl Scheffler mochte sich der Anmut der Tribünen erfreuen. Die Welt, in der man Pferde gegeneinander um die Wette rennen lässt, blieb ihm allerdings fremd. Besonders deutlich wird das in der Schilderung einer Szene im Verlag, die auch nach Jahren der Bekanntschaft mit Cassirer immer noch Verwunderung bei dem strengen Kunstkritiker auslöste. Karl Scheffler über Cassirer: Sprecher 2: "Begabte Trainer und Fahrer verstand er zu entdecken, er führte Rassepferde für die Zucht ein, schuf ein Mustergestüt und machte die Trabrennen zu Ereignissen, so dass auch hier eine persönliche Liebhaberei sich ausweitete zu einem Dienst am Allgemeinen. Wenn er mit den Vorstandsmitgliedern der Trabrennvereine beriet, so lag die Führung der Verhandlungen in seiner Hand (...). Während einer Konferenz mit ihm über Fragen der Kunst und Literatur klingelte beständig das Telefon; er sprach mit Leuten der Sportpresse, mit seinem Trainer und Fahrer, kaufte Heu und Hafer und nannte die auf Grund eines eigenen Stallhumors gebildeten Namen der Rennpferde mit derselben Sicherheit, mit der er soeben Namen moderner Künstler ausgesprochen hatte. Im Wartezimmer saßen Künstler, Autoren und Pferdemenschen, Papier- und Getreidelieferanten, Buchbinder und Stallleute und wunderten sich übereinander." Sprecherin 1: Nach dem Fin de Siècle, in den Jahren um 1910, war Berlin zu einer Stadt der sportlichen Massen geworden. Überall entstanden neue Sportstätten. Radrennen erfreuten sich großer Beliebtheit, es wurden lange Staffelläufe organisiert und eine Turn- und Körperkultur trieb die Menschen vor allen an Wochenenden hinaus ins Grüne. Pferderennen nahmen dabei eine besondere Stellung ein, weil Tradition und Standesbewusstsein sich auf der Rennbahn auf aufregende Weise mit den Emotionen der neuen Vergnügungsmassen verknüpften. Der Galopprennsport und die Zucht edler Vollblüter waren als elitäre Liebhaberei des englischen Hochadels bekannt; ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es viele Anhänger auch in Preußen. Der romantische Dichter Achim von Arnim verfasste einen Aufsatz über den Sinn und Zweck der Vollblutzucht; und als in Hoppegarten 1868 die ersten Rennen abgehalten wurden, vergewisserten sich die Besucher unter den offenen Tribünendächern ihrer gesellschaftlichen Stellung, streng nach Rang voneinander unterschieden. Die überwiegende Kopfbedeckung war der Zylinder, aber auf den billigen Plätzen dominierte die Schiebermütze. Die preußische Metropole gefiel sich in der Dramatisierung ihrer sozialen Mobilität. Das edle Rennpferd verkörperte dazu die nicht restlos domestizierte Kraft eines wilden Tieres und wies in seiner züchterischen Entwicklung zugleich die Handschrift menschlicher Gestaltungslust auf. Pferderennen, das war mehr als bloße Zerstreuung. Vielmehr sollten sie Leistungsprüfungen zur Kontrolle der züchterischen Ambitionen sein. Wer gewinnt, wird schon die richtigen Gene haben. Pferdezucht ist seit jeher Ausdruck und Umsetzung von Bio-Politik. (Musikakzent) Zur Attraktion der Massen wurden die Rennen aber auch deshalb, weil die Zuschauer spürten, dass längst das von Motoren dominierte Zeitalter der Mechanisierung angebrochen war. Die Begeisterung für Pferderennen war so gesehen auch ein Abwehrzauber gegen eine überwältigende Industrialisierung. In dem Nervensturm, den das Gefühl von Gewinnen und Verlieren auf dem Rennplatz auslöst, wurde ein Unbehagen vertrieben, das der alte Fontane bereits im "Stechlin" durchblicken ließ. Sprecher 2: "... und ich weiß nicht, seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter. Oder es kommt einem auch bloß so vor." Sprecherin 1: Was Fontane als vages Gefühl zum Ausdruck bringt, hat unlängst Ulrich Raulff, der Leiter des Literaturarchivs Marbach, als Ende des "kentaurischen Paktes" beschrieben. Sprecher 2: Mensch und Pferd hatten getrennte Wege eingeschlagen. Da der Mensch es künftig vorzog, die seinen mit Kraftwagen zu befahren, hatte er sie planiert und asphaltiert. Das Pferd gehört zu jenem Teil der Wirklichkeit, den Condoleezza Rice, die vormalige amerikanische Außenministerin, als the roadkill of history bezeichnet hat; es gehörte zu denen, die die Geschichte überfahren hat. Sprecherin 1: Aber vorerst wohnte man auf den Rennbahnen der feierlichen Illusion bei, dass das Bündnis zwischen Mensch und Pferd von Dauer ist. Dass einer wie Bruno Cassirer sich dem eher belächelten Trabrennsport zuwandte, war dennoch ungewöhnlich. Seiner Erscheinung nach hätte er gut in die vornehme Welt von Hoppegarten gepasst. Er war angesehen und hatte einflussreiche Freunde. Als Geschäftsführer der Künstlervereinigung Berliner Secession hatte er gemeinsam mit seinem Cousin Paul Cassirer entscheidend zur Durchsetzung eines modernen Kunstverständnisses im wilhelminischen Berlin beigetragen. Von 1898 an hatten die Cassirers in ihrem kleinen, aber feinen Salon die wichtigsten Werke des französischen Impressionismus gezeigt. "Über Manet und Monet zu money", hieß es dazu in einer Karikatur der Zeitschrift "Lustige Blätter". Wie weitreichend der Einfluss des Cassirer-Salons auf das Berliner Kunstleben war, unterstreicht Udo Kittelmann, der Leiter der Neuen Nationalgalerie, Berlin. O-Ton Udo Kittelmann 1: 19: 07 Man kann sagen, man hatte einen Weitblick ... Es sind die großen Klassiker der Moderne, die an einem Ort ausgestellt wurden. Und das kommt ja auch ... selten genug vor. Sprecherin 1: Bemerkenswert ist bis heute aber auch, wie sehr Bruno Cassirer und sein Cousin Paul als Vermittler und Ermöglicher zwischen den Künstlern gewirkt haben. O-Ton Kittelmann 2: Ich glaube, dass Künstler ... der Berliner Impressionisten ein- und ausgingen. Sprecherin 1: Die Arbeitsweise des Kunstmanagers Cassirer ähnelte durchaus der des Pferdesportfreundes. Im noch jungen Trabrennsport forcierte Bruno Cassirer nicht weniger als die umfassende Professionalisierung eines bis dahin dilettantisch betriebenen Freizeitvergnügens. Genauso hatte er selbst es ja einmal begonnen. Das erste Pferd, dessen Verkauf an Cassirer im Rennkalender von 1899 vermerkt ist, hieß Nuscha B. Gut zehn Jahre später züchtete Cassirer seine Pferde auf dem Gestüt Damsbrück bei Spandau selbst. Dabei dürfte es ihm kaum um Geltung gegangen sein. Bei den Trabern fanden vor allem Bauern und Gemüsehändler zusammen, die sich schon aus beruflichen Gründen Pferde hielten. Diese galten als duldsam und robust. Die Gangart des schnellen Trabs hatte das französische Militär entwickelt, um ausdauernde Botenritte ausführen zu können. Keine Spur von Imponierlust und Verschwendung; alles stand deutlich im Zeichen eines Nützlichkeitsgedankens, den Cassirer weiterentwickeln wollte. Sprecherin 1: Bruno Cassirer entstammte einer weitverzweigten jüdischen Unternehmerfamilie aus dem westpreußischen Breslau. Pauls Vater Louis Cassirer gründete nach der Übersiedlung nach Berlin die Kabelfabrik Dr. Cassirer und Co., die bald eine industrielle Schlüsselstellung einnahm. Berlin erlebte den Boom der Gründerjahre und die Cassirers hatten entschlossen auf Zukunftsindustrien gesetzt. Zum Familienstil gehörte aber auch ein Sinn für alles Musische. Die Talente waren weit gestreut. Ernst Cassirer, ein Vetter von Bruno, wurde einer der bedeutendsten deutschen Philosophen jener Zeit. Sein Bruder Fritz war ein angesehener Dirigent. Sein Cousin Paul Cassirer, mit dem er 1898 den Kunstsalon Cassirer zu einer führenden Adresse der europäischen Kunstwelt gemacht hatte, stieg nach der geschäftlichen Trennung von Bruno zum bedeutendsten Kunsthändler der Weimarer Republik auf. Und irgendwann war die Anerkennung für das seltsame Wandeln Bruno Cassirers zwischen Kunstsalon und Pferdewelt unvermeidlich. Der Schriftsteller Alfred Döblin brachte es auf die kurze, einprägsame Formel: Sprecher 2: "Er betreibt Verlag mit Kunsthandel, gemildert durch Pferdezucht. Vom ersten verstehe ich wenig, vom zweiten weniger, vom dritten nichts. Aber das Ganze gefällt mir." Sprecherin 1: Cassirer war um die Trennung der Sphären von Kunst und Rennbahn durchaus bemüht. Aber im Verlauf der Jahre gab es doch einige Berührungspunkte. Zu vielen Künstlern unterhielt er freundschaftliche Beziehungen. Wenn man ihn treffen wollte, musste man entweder ins berühmte Romanische Café oder auf die Trabrennbahn. Der Maler Max Slevogt, mit dem Cassirer seit seiner Geschäftsführertätigkeit für die Malervereinigung Berliner Secession verbunden war, widmete sich in Ölbildern und zahlreichen Skizzen wiederholt den schnellen Vierbeinern, und der junge Schriftsteller Wolfgang Koeppen erhielt den Vertrag für seinen ersten Roman "Eine unglückliche Liebe" erst nach einer Begegnung im Rennstall. Cassirer war aufgefallen, wie einfühlsam der schweigsame Koeppen mit den Cassirer'schen Rennpferden umzugehen verstand. Der Dichter Christian Morgenstern, einige Jahre Lektor im Cassirer-Verlag, stellte seine Begabung, ein Rennen zu beobachten, sogar in einem Gedicht unter Beweis: Sprecher 2: An Bruno Cassirer (Zum Trabrennfahren, Untermais, 1906) I Phoebe hieß die schlanke Creatur Flog dahin als wie ein Pfeil vom Bogen; Doch da kam ein schwarzer Hengst gezogen - Dass der Lieben leides wiederfuhr. II Eine andere war - wie soll ich sagen? War der pferdgeword´ne gute Wille. ,Oh, mein langer Fleiß wird Früchte tragen' Bis dann alle vor ihr lagen... III Doch am schönsten warst doch Glocke, Du! Mit geblähten Nüstern gleichsam sieg- Witternd zogst Du in den fröhlichen Krieg -, und so fiel Dir dann der Sieg auch zu. - Sprecherin 1: Christian Morgenstern ließ sich nicht nur Rennluft um die Nase wehen. Ein Vierzeiler beschreibt in ironischer Freundlichkeit auch die berufliche Beziehung zu seinem Chef: Sprecher 2: Ein wahrer Diomedes bist Du, nachgeboren Du fütterst deine Pferde mit Autoren Mit mir, gerecht zu sein, war´s freilich umgekehrt Mir opfertest Du fast ein - halbes - Pferd Sprecherin 1: Bruno Cassirer hatte auf seiner Dreifelderwirtschaft aus Verlag, Kunsthandel und Pferdezucht viel erreicht. Bei aller Liebhaberei für schön gestaltete Bücher war er im Verlag erfolgreich und im Kunsthandel eine wichtige Person im Hintergrund. Binnen zweier Jahrzehnte hatte er Trabrennen zu einer anerkannten Sportart etabliert. Für seine Zucht führte er amerikanische Hengste und Mutterstuten ein und dominierte mit deren Nachkommen über Jahre das Renngeschehen. Der sportliche Höhepunkt war der Sieg seines Pferdes Walter Dear im legendären Prix d' Amérique von 1934 in Paris-Vincennes, dem bedeutendsten Trabrennen der Welt. Aber der politische Horizont hatte sich längst verfinstert. Die Nazis drängten Cassirer aus seinen Ämtern im Trabrennsport, und ab 1936 war es keinem jüdischen Verleger mehr erlaubt, Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu sein. Das kam einem Berufsverbot gleich. Bruno Cassirer hielt aus, so gut er konnte. Insgeheim glaubte er noch, dass der Spuk des Nationalsozialismus schnell vorübergehen würde. Erst nach den Pogromen vom 9. November 1938 emigrierte er mit seiner Familie nach Oxford. Er entkam dem Massenmord der Nazis, aber die Vertreibung aus Deutschland hat er nicht verwunden. Seinem Lektor Max Tau schrieb er ein paar Monate vor seinem Tod im Oktober 1941: Sprecher 2: Sie können sich gewiss von der Vereinsamung, in der ich lebe, keinen Begriff machen. So dankbar ich für vieles sein müsste, so ist mir doch vom Lebensnotwendigen zu viel genommen. Es ist, als ob von den Wurzeln zu viel abgeschlagen ist, so dass der Zustrom an Lebenskraft unterbunden ist. Sähen Sie mich in einem ruhigen Zimmer eines alten kleinen Hauses am Schreibtisch, mit schönen Lithographien an den Wänden, würde ich Ihnen erzählen, dass ich Neues plane, dass nichts hier mich hindert, dass auch hier viel von dem, was mir gelungen ist, bekannt geworden ist und dass meine Pläne hier warmes Verständnis finden, dann fänden Sie mich sicher undankbar. Und doch bin ich sehr unglücklich. (...) Ich kann leider nicht vergessen. Wie ich immer durch die selben Straßen ging und fuhr, dieselbe Kunst liebte, die Schritte kannte, die sich meiner Tür näherten, so fühle ich mich auch all den Menschen-, die ich immer um mich gesehen habe und die ich nicht mehr sehe, so nahe, dass dieses Leben der Erinnerung mein jetziges Leben ständig beunruhigt. Sprecherin 1: Es ist ein persönlicher Brief, aber es klingt wie die Verabschiedung einer ganzen Epoche. Nach dem Krieg war das kulturelle Erbe Cassirers so gut wie vergessen, und es brauchte einige Jahre, bis man sich der Bedeutung des Cassirer'schen Schaffens wieder erinnerte. ______ Musik: Lauf mein Pferdchen trab, trab, trab (Hänschen Frömming, Archivnummer: XO 84091, 10:07 - 12 :09) Sprecherin 1: Während des Krieges war die Trabrennbahn Mariendorf bei einem Bombenangriff schwer beschädigt worden. Nur noch 45 Traber konnten im Mai 1945 vorm Verhungern gerettet werden. Zuvor waren in den Ställen mehrere Hundert untergebracht. Doch es dauerte nicht lange, bis wieder Rennen ausgetragen wurden. Der russische Stadtkommandant Bersarin hatte auf dem Karlshorster Gelände für den 1. Juni 1945 eine Rennveranstaltung genehmigt, weil er darin in eine attraktive Einnahmequelle für die darniederliegende Wirtschaft erkannte. Für die Westalliierten war das wiederum ein Ansporn, bald auch Mariendorf wieder in Betrieb zu nehmen. Der Sänger des harmlosen Traberliedes war Hans Frömming, genannt "Hänschen", ein Berliner Junge, der seine ersten großen Rennen in Mariendorf gewann, als Cassirer noch die Geschicke der Bahn lenkte. Nach 1945 wurde Frömming zur großen Legende, der erste Mann mit über 5000 Siegen. Musik: Lauf mein Pferdchen trab, trab, trab (Hänschen Frömming) Seine Karriere ist symptomatisch die Entwicklung der Trabrennbahn nach dem Krieg. Die Musik spielte nun woanders. Die großen Rennen wurden im europäischen Ausland ausgetragen, in Italien, den USA und Frankreich, und dahin zog es neben Frömming auch die begabtesten Berliner Trainer. Der Trabrennbahn Mariendorf aber blieb das Derby, ein klassisches Rennen für dreijährige Pferde. (Musikakzent) Einmal im Jahr ist Mariendorf seither der Mittelpunkt des deutschen Trabrenngeschehens, das seinen Charme längst daraus bezieht, einmal bessere Zeiten gesehen zu haben. Die traditionelle Derby-Woche gleicht eher einem großen Familientreffen unter freiem Himmel als einem großstädtischen Event. Wo heute Pferderennen ausgetragen werden, ist man sich der Antiquiertheit der Unternehmung stets bewusst. Aber trotz oder gerade wegen dieser dicken Patina des Vergänglichen war die Mariendorfer Rennbahn nie gegen die Vereinnahmungen durch den Lifestyle gefeit. Anfang der 70er Jahre errichtete man ein großes, neues Tribünenhaus, das es mit vielen anderen Architektursünden dieser Jahre aufnehmen konnte. Und mit dem Vorhandenen ging man nicht zimperlich um. August Endells graziler Zielrichterturm wurde unter Missbrauch jeglicher Regeln des Denkmalschutzes kurzerhand abgerissen. Und wieder roch es verdächtig nach Bauskandal. Durch das neue Haus wurde dem Verein eine erhebliche Schuldenlast aufgebürdet. Doch das Bedürfnis nach Modernisierung zog auch Neugierige an, die wie eh und je auf der Suche nach Orten gesellschaftlicher Spannung waren. Nicht ohne einen gewissen Stolz zitierte man im Rennbahnmilieu gern Winston Churchill, der gesagt hat: Sprecher 2: Nicht alle auf der Rennbahn sind Verbrecher, aber alle Verbrecher sind auf der Rennbahn. Sprecherin 1: Und dann sind da jene Rastlosen, die Zerstreuung suchen oder auch nur das Gefühl, zumindest versuchsweise seine Existenz beim Wetten aufs Spiel zu setzen. Der Schriftsteller Jörg Fauser, der Anfang der 80er Jahre Autor des Berliner Stadtmagazins "Tip" war, hatte die Pferderennen als besonderen Ausdruck seiner selbstverschwenderischen Lebensweise entdeckt. Viele seiner Texte lassen auf ein besonders intensives Nachtleben schließen. Aber Fauser war auch früh morgens unterwegs, um das Training der Mariendorfer Traber zu beobachten. Sprecher 2: "Drüben kommen sie in einer Reihe aus dem Nebel am Tribünenbogen wie in einem dieser Filme über El Cid die lange Gerade herunter, acht neun Hengste, schnaubend und tänzelnd, ein schwarzes, braunes, graues Flimmern, die Luft zittert zwischen ihren Flanken, das ist ja Wahnsinn, denkst Du, dieser Mythos kommt direkt auf Dich zu, und Du stehst da und reibst Dir Deinen Brummschädel, bis Du die Wagen siehst, die Trainer mit ihren Zigarrenstummeln im Maul und die Stallmädchen mit wehenden Haaren." Sprecherin 1: Es ist, als müsse Fauser sich kurz schütteln, um zu begreifen, wo er sich gerade befindet. Sprecher2: "Mariendorf liegt ja mitten in Berlin, und heute Abend wirst Du wieder drüben im Tribünenhaus sitzen an Deinem Tisch oder bei den Rentnern, die nach 30 Jahren immer noch zweifeln, ob Risiko lohnt, und bei den Metzgermeistern mit den dicken Geldbündeln und den Witwen, an deren Tischen die Geister ihrer toten Männer spielen, bei all den armen Schweinen, die sich in diesen Stunden endlich erleben. Du kennst sie gut. Du gehörst dazu." Musik, Atmo Sprecherin 1: Der Himmel über Mariendorf ist grau-blau, und noch immer finden hier Rennen statt. Die Pferde laufen schneller als früher. Die Zucht hat sich weiterentwickelt, und das Training der Pferde wird nach den Regeln des Hochleistungssportes betrieben, Dopingprobleme inklusive. Aber der Rennsport droht seine Geschäftsgrundlage zu verlieren. Die Pferde-Wette ist zum Ladenhüter geworden. Dabei mangelt es nicht an der Neigung zum Glücksspiel. Noch immer suchen die Menschen nach Wegen zum schnellen Geld. Aber Pferde spielen dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. Gelegentlich wird noch die Schönheit der Bewegungen eines schnellen Pferdes bewundert. Weit mehr aber ekelt die Vorstellung, ein ausrangiertes Rennpferd in falsch deklarierten Lebensmitteln zu finden. Unterdessen hat sich der Sozialtypus des demonstrativen Nichtsparers längst andere Orte gesucht, um sein Geld unter die Leute zu bringen. Man pokert auf virtuellen Online-Portalen und versucht seinen Fußball-Sachverstand zu versilbern. Seit Investmentbanker ganze Staaten an den Rand des Abgrunds getrieben haben, ist selbst die Metapher vom richtigen Pferd, auf das man setzen kann, in Verruf geraten. Es ist nicht die Zeit, den Umgang mit Verlusten als eine wichtige Schule des Lebens anzuerkennen. Jeder will Sieger sein. Von den Erfahrungen des Verlierers möchte man nichts wissen. Und doch sind Pferderennbahnen noch immer Festplätze menschlicher Gefühle, an denen sich die Welt wie in einem Brennglas findet. Wie verrechnest Du deine Verluste?, fragt Jörg Fauser in seinem Essay über Trabrennen. Aber dann erzählt er doch lieber eine Geschichte vom Gewinnen. Auf einer Reise über skandinavische Rennbahnen schien schon alles verloren, ehe in Norwegen doch noch etwas gelang. Sprecher 2: Im 4. Rennen haben wir einfach 100 Kronen auf Sieg gesetzt, wir haben uns schon wieder an der Ostsee im Sand gesehen, und dann gewinnt der, eine Riesenquote. War das das letzte Mal, als Dir die Tränen kamen? Guter Mann, das Pferderennen ist auch Leiden. Literatur Nicola Bröcker, Gisela Moeller, Christiane Salge (Hrsg.): August Endell (1871- 1925). Architekt und Formkünstler. Petersberg 2012 Jörg Fauser: Blues für Blondinen, Frankfurt, Berlin, Wien 1984 Siegfried Kracauer: Gesamtausgabe, Frankfurt und Berlin 2011 Harry Nutt: Bruno Cassirer, Berlin 1988 Karl Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre, München, 1946 Max Tau: Das Land, das ich verlassen musste, Hamburg 1961 Ulrich Raulff: Das Ende des kentaurischen Paktes, FAZ vom 28. 4. 2012 1