COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen ab- geschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport / 09.12.2010 Der letzte Kinderarzt von Köln-Chorweiler Autorin: Andrea Steinert Red.: Claudia Perez ATMO 1 (Reportage-Szene): Telefon klingelt. Arzthelferin: "Praxis Dr. Geiß und Stolle, guten Tag ... ja, dann können Sie heute bis zwölf oder heute Nachmittag kommen, wie Sie es schaffen. Die Karte bitte mitbringen. Tschüss. ... Ist Zimmer drei frei?" -"Ja", - "Frau Mohammad bitte zur Anmeldung! Frau Mohammad Zimmer drei. Und Ibrahim bitte schon einmal ganz ausziehen ..." SPRECHER: Die Praxis von Dr. Geiß in Köln-Chorweiler ist voll. Im Wartezimmer drängeln sich die Patienten und auch am Empfang ist eine kleine Schlange. Früher konnten die Eltern mit ihren Kindern noch einfach so vorbeikommen. Inzwischen verlangt der Kinderarzt, dass sie Termine vereinbaren. Ansonsten käme er mit der Arbeit überhaupt nicht mehr nach, sagt er. Detlev Geiß ist der einzige Kinderarzt im Stadtteil Chorweiler, einer Hochhaussiedlung am Rande Kölns. Noch bis vor ein paar Jahren gab es einen weiteren Kinderarzt ganz in der Nähe. Aber der ist in ein besseres Viertel umgezogen. Und auch Dr. Geiß ist bereits 62 Jahre alt und sucht einen Nach- folger, dem er seine Praxis verkaufen kann. So ist es unter nieder- gelassenen Ärzten üblich, wenn sie in Rente gehen. Bisher hat er jedoch keinen Interessenten gefunden. Das große Geld kann man nämlich mit der Praxis nicht machen. O-TON 1 (Geiß): "Ich fürchte, dass ich sie hier am Ort nicht weiter veräußern kann. Und wenn ich sie veräußere, dann wird wahrscheinlich mein Nach- folger in einen anderen Stadtteil ziehen, denn der hat andere Voraussetzungen. Der muss noch seine Familie betreuen, seine Kinder großziehen und durch die Ausbildung bringen und natürlich für seine Einrichtung einiges an Kapital auf den Tisch legen und entsprechend Zinsen bezahlen." SPRECHER: An Patienten mangelt es nicht: 60 bis 80 Kinder und Jugendliche kommen im Schnitt täglich in die Sprechstunde. Die Praxis liegt in einem wuchtigen zwölfstöckigen Gebäude, im sechsten Stock, mit- ten im Stadtteil Chorweiler. Dr. Geiß teilt sich die Räume mit einer Praktischen Ärztin, die in die Versorgung der jungen Patienten mit eingebunden ist. Finanziell eng ist es erst seit einigen Jahren: O-TON 2 (Geiß): "Bis 2004 hatten wir ein auskömmliches Arbeiten. Dann wurde es schwieriger. Wir haben pro Jahr 20 Prozent unseres Einkommens verloren. Und 20 Prozent pro Jahr heißt bei gleich bleibenden Kosten, dass der Praxisinhaber 40 Prozent seines Einkommens verliert. SPRECHER: Im Jahr 2004 trat eine Gesetzesnovelle für das Gesundheitswesen in Kraft, die die Ausgaben zunächst tatsächlich reduzierte. Seither steigen sie längst wieder - und im Schnitt haben niedergelassene Ärzte heute ein Einkommen, von dem viele andere Berufsgruppen nur träumen können. So verbuchten beispielsweise Kinderärzte im Jahr 2008 durchschnittliche Honorareinkünfte aus der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von rund 193.000 Euro, wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung mitteilt. Von dieser Summe müsse allerdings noch gut die Hälfte als Betriebsausgaben ab- gezogen werden, zum Beispiel für die Gehälter der Sprech- stundenhilfen oder den Kauf medizinischer Geräte. Unter dem Strich bleiben rund 93.000 Euro brutto Jahreseinkommen - plus der Einkünfte durch Privatpatienten. Von einem solchen Verdienst ist Dr. Geiß in Chorweiler jedoch weit entfernt. Macht er etwas falsch? ATMO 2 (Reportage-Szene): Arzt: "Guck mal hier, eine Lampe". Weinendes Kind: "Nein". Arzt: "So jetzt stellst du dich mal hin." Kind weint. Arzt: "Zeig mal, wie groß du bist." Vater: "Das haben wir doch trainiert ... Ein junger Mann mit seiner vierjährigen Tochter ist vom Doktor zu einer Vorsorge-Untersuchung bestellt worden. ATMO 2 (Fortführung der Reportage-Szene): Arzt: "Wollen wir denn nachher mal gucken, wo die Bonbons sind? Sonst war sie aber nicht so ängstlich, oder? ... So kenne ich sie gar nicht. Ist sie heute mit dem falschen Bein aufgestanden? ... Arzt: "Jetzt komm mal hier hoch geklettert. Komm mal hier hoch. Komm. Komm. Prima. Prima. Sie ist in allem noch ein bisschen ängstlich und unsicher, aber nun ja, das ist eigentlich ungewöhnlich. Mit den Vierjährigen kommt man eigentlich ganz gut klar. Normalerweise." SPRECHER: Dr. Geiß untersucht weiter. Als das Kind Bilder beschreiben soll, spricht es allerdings kaum. Nun ist der Arzt doch etwas besorgt. Er wird mit dem Kindergarten der Kleinen Kontakt aufnehmen, um zu hören, wie sie sich dort macht. Dann bittet der Vater um weitere Unterstützung: (13:16 Atmo kurz hochziehen) Eigentlich hätte seine Tochter in einer Klinik einen Hörtest machen sollen, aber zum ver- einbarten Zeitpunkt hatte kein Arzt Zeit. Dr. Geiß hört sich das Problem an und überlegt, wie er helfen kann. Keine Frage: Um "Fünf-Minuten-Medizin" handelt es sich hier nicht. ATMO 3 (Reportage-Element): Arzt: "Tschüss. Hast du gut gemacht." Vater: "Tschüss", Kind: "Tschüss". SPRECHER: Den jungen Vater kennt Dr. Geiß schon lange: Er saß selbst als Kind hier. Und auch Enkelkinder ehemaliger Patienten hat er be- reits behandelt. Husch-husch geht hier gar nichts: O-TON 3 (Geiß): "Einen großen Teil unserer Arbeit macht aus, überhaupt mal zu verstehen, weswegen kommt einer, was hat er für ein Problem. Und dann natürlich auch, was ist an dem Problem medizinisch dran. Und am Ende muss man dann natürlich auch erklären, wie das Problem gelöst werden kann. Und das alles kostet Zeit. Und das wird heutzutage im Honorarsystem nicht mehr so beachtet. 1, 27:42 Derjenige, der eine mittelständische Bevölkerung versorgt, ist damit etwas entlastet. Man kommt schneller auf den Punkt. Sowohl bei der Vorgeschichte, wie bei dem, was nachher wichtig ist. Wenn die Therapie nicht richtig erfolgt, dann kann man sich ja alles andere ersparen. Da müssen wir schon Wert drauf legen." SPRECHER: Dr. Geiß braucht für die Untersuchungen vergleichsweise lange - und er hat keine Privatversicherten. Denn die leben nicht in Chor- weiler, sondern in den schickeren Stadtteilen Kölns. Dem Kinder- arzt fehlen damit die lukrativen Einnahmen, die sich durch privat Versicherte erzielen lassen. Was viele seiner Kollegen tun, nämlich aus den Einkünften der privat Versicherten die gesamte Praxis mit zu finanzieren, geht bei Dr. Geiß nicht. In Chorweiler hat man schon gehört, dass der Kinderarzt keinen Nachfolger findet. Und es herrscht Unruhe. ATMO 4: Außenatmo; 13:00 Einkaufszentrum SPRECHER: Vom Kölner Hauptbahnhof aus sind es 13 Minuten mit der S-Bahn nach Chorweiler. Zum Kinderarzt ist es dann nicht mehr weit, nur ein paar Minuten. Der Weg führt durch ein buntes Einkaufszentrum. Den Arzt scheint jeder hier zu kennen. Zumindest wenn man Eltern mit Kindern fragt: O-TON 4 (Umfrage in Einkaufszentrum): Frau: "Ich weiß es nicht. Ich kann mir nicht erklären, warum keiner kommt ... Ich bin selber bei Herrn Dr. Geiß als Kind in Behandlung gewesen. Und jetzt gehe ich mit meinen Kindern Jahre später. Ich würde mir wünschen, dass er jemanden findet, der dann für unsere Kinder zuständig ist." (0:22) Mann: "Ohne Nachfolger: Das ist eine, ich sage mal, nicht Katast- rophe, aber schon: In Chorweiler ist viele Kinder. Und es fehlt Kin- derarzt: Der einzige Doktor. Wenn der auch schließt: ... Sieht nicht gut aus." Junge Frau: "Ich weiß nicht, woran das liegt. ... Ist vielleicht nicht so einfach. Ist ja ein Multikulti-Viertel hier." ... Ihre Mutter: "Weil viele über Chorweiler schimpfen, aber wir haben selber lange hier gewohnt. Und ich habe immer gerne hier gewohnt. ... Wenn man hier lebt, ist es anders, als wenn die Leute von außen sagen: Ach, die Hochhäuser, und da, und die Türken, und da, und da. Ich habe das nie als so schlimm empfunden." SPRECHER: Warum findet sich kein neuer Kinderarzt für Chorweiler? Wer ist für die ärztliche Versorgung verantwortlich? Auf dem Papier sind die Zuständigkeiten eindeutig geregelt: Nach dem Sozialgesetzbuch Nummer 5 sorgt in Deutschland nicht der Staat dafür, dass es aus- reichend Arztpraxen gibt, sondern in erster Linie die Kassenärzt- lichen Vereinigungen selbst. In der deutschen Sozialversicherung gilt das Prinzip der Selbstverwaltung. Die Ärzte tragen damit eine hohe Verantwortung, auf der anderen Seite haben sie aber auch viele Freiheiten. So bestimmt nicht etwa das Gesundheits- ministerium, was ein Arzt für eine bestimmte Leistung erhält. Die Ärzte-Organisationen vereinbaren das mit den Krankenkassen selbstständig. Was den Sicherstellungsauftrag betrifft, der natürlich auch für Köln-Chorweiler gilt, sei man sich keiner Schuld bewusst, erklärt der Kölner Kreisvorsitzende der Kassenärztlichen Ver- einigung Nordrhein, Dr. Frieder Götz Hutterer. Zu Köln-Chorweiler sagt er klar: O-TON 5 (Hutterer): "Wir haben keine Unterversorgung. Aber die Bevölkerung fühlt natürlich, wenn die Wege länger sind. Zum Beispiel der Kinderarzt. 1:01 Es gibt ja die offizielle Betrachtung, die sich nach der Bedarfs- planung der einzelnen Kreise richtet. Danach sind wir überall über- versorgt, das gilt für den Kreis Köln, das ist die Stadt Köln." SPRECHER: Während in der Praxis von Dr. Geiß das Telefon nicht still steht, gibt es also der offiziellen Lesart nach gar keine Unterversorgung. Die Erklärung liefert der Kreisvorsitzende gleich mit: Chorweiler wird nicht als eigenständiges Versorgungsgebiet betrachtet, sondern die Stadt Köln als ganzes. Und wenn man die vielen Ärzte mitzählt, die in den reichen Gegenden im Kölner Süden oder in der Innenstadt praktizieren, erhält man einen geradezu luxuriösen Ver- sorgungsgrad: Für Kinderärzte liegt er in Köln bei über 120 Pro- zent. Wobei 100 Prozent als völlig ausreichend gelten. Eine Statistik, die die Ärztedichte nach Stadtteilen aufschlüsselt, gibt es allerdings nicht. Immerhin aber Zahlen, die sich auf die deutlich größeren Stadtbezirke beziehen. Der Stadtteil Chorweiler mit seinen rund 13.000 Einwohnern gehört dabei zu einem Bezirk mit insgesamt 80.000 Menschen. Hier versorgt ein Kinderarzt im Schnitt knapp 2000 Kinder und Jugendliche. In der Innenstadt sieht das ganz anders aus: Dort sind es nur rund 870 junge Patienten, die sich einen Kinderarzt teilen müssen. Und auch in anderen Be- zirken mit einer besser gestellten Bevölkerung sieht es günstiger aus. Und das, obwohl es eigentlich umgekehrt sein sollte. Ärmere Menschen sind häufiger krank und aus diesem Grund auf kurze Wege besonders angewiesen. Auch die Kassenärztlichen Ver- einigungen kennen das Problem und suchen Lösungen: O-TON 6 (Hutterer): "Derzeit arbeitet man daran, diese Bedarfsplanung kleinzelliger zu überprüfen. Das wird aber noch viele, viele Jahre dauern. Und es ändert nichts daran: Selbst wenn für Chorweiler speziell und auch für andere Bezirke neue Bedarfszahlen raus gegeben worden sind, müssen Sie jemanden finden, der da hingeht!" SPRECHER: Tatsächlich kann laut Gesetz kein Arzt gezwungen werden, sich an einem bestimmten Ort niederzulassen. Wie aber kann dann den Kindern von Chorweiler geholfen werden? Dr. Hutterer hat zu- sammen mit der Stadt Ärzte aus Chorweiler befragt: O-TON 7 (Hutterer): "Und wenn man grob erst mal sagt, was die denken: Chorweiler ist eben kein attraktiver Standort. Es ist schmuddelig. Das werden die dort natürlich nicht gerne hören ... Dort gibt es sehr viele Junkies, die da in den Ecken liegen und das wird natürlich den Patienten, die ein etwas gehobeneres Ambiente mögen, das sind vor allem die Privatpatienten, nicht gut gefallen. Und insofern ist es sehr schwierig, dort im Rahmen dieser Mischkalkulation, die wir an- scheinend auch brauchen, private und gesetzlich Versicherte hin- zubringen. Und dies ist letztendlich auch die Message an die Stadt, die da was machen können: Sie sollten Voraussetzungen schaffen, ... dass es auch ein attraktives Gebiet ist." SPRECHER: Tatsächlich gilt Chorweiler als ein schwieriger Stadtteil. Die Sied- lung im Kölner Norden wurde in den 70er Jahren hochgezogen und sollte auf engem Raum Wohnungen für die Menschen bieten, die in den anliegenden Industriegebieten arbeiteten. Bald entwickelte sie sich jedoch zu einem sozialen Brennpunkt. Seit 1985 versuchte die Stadt verstärkt, die Lebensqualität vor Ort zu verbessern. Und zu- mindest eines hat sie erreicht: In Chorweiler gibt es heute ein lebendiges soziales Leben mit Jugendzentrum, Spaßbad, Zweig- stellen der Stadtbücherei und der Volkshochschule. Auch eine Gesamt- und eine Waldorfschule sind vorhanden. Für weitere große Investitionen in den Stadtteil fehlt heute jedoch das Geld. Die Ärztin Anne Bunte leitet seit einem Jahr das Gesundheitsamt in Köln. Nun steht die Überlegung im Raum, ob die Stadt zumindest preiswerten Praxisraum in Chorweiler anbieten soll. Auf diese Weise könnten Ärzte bei der Miete etwas sparen. Dr. Bunte ist jedoch skeptisch: O-TON 8 (Bunte): "Dass man versucht, Räumlichkeiten zu finden und zu unter- stützen, ist das eine. Ich weiß aber auch definitiv aus Regionen, dass dort Räumlichkeiten sehr günstig angeboten werden. Dann aber wieder die Rahmenbedingungen für die Ärzte, die sich nieder- lassen wollen, entscheidend sind. Wie eben das Gefühl der Sicher- heit, der Sauberkeit. Aber eben auch das Gefühl, eine Praxis ent- sprechend wirtschaftlich führen zu können. Und das wiederum kann eine Stadt nicht beeinflussen." SPRECHER: Hinzu kommt, dass es für die Stadt schon rein rechtlich schwierig ist, einzelne Ärzte zu unterstützen: O-TON 9 (Bunte): "Da geraten wir noch in EU-wirtschaftliche Diskussionen hinein, weil Subventionieren dürfen Sie nicht ohne weiteres!" 6:22 Da greift man in einen freien Markt ein. Das ist ein schwieriger Bereich. Der aber nicht nur in Köln schwierig ist, sondern auch auf Bundesebene zu Diskussionen führt." SPRECHER: Auch die "Kommunale Gesundheitskonferenz" der Stadt Köln sucht nach Lösungen. Hier sitzen alle wichtigen Akteure des lokalen Gesundheitswesens. Vor einigen Monaten hat das Gremium nun eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die prüfen soll, wie sich die Ärzte- dichte in Chorweiler erhöhen lässt. Aber das Verfahren dauert sei- ne Zeit: O-TON 10 (Bunte): "Man muss einfach wissen, dass dort auch nichts gegen die Zu- stimmung eines der Beteiligten beschlossen werden kann. ... Es wird dort diskutiert, aber es wird auch immer wieder klar, wie schwierig es ist. Und man versucht derzeit, Wege aufzuzeigen. Und diese Wege erst einmal denen aufzuzeigen, die davon betroffen sind. Denn, was nützt es, eine Entscheidung zu treffen, wenn man die Betroffenen gar nicht mitnimmt?" SPRECHER: Während die Stadt also lediglich moderieren kann, ist die AOK bereits tätig geworden: Sie unterstützt den einzigen in Köln- Chorweiler verbliebenen Kinderarzt inzwischen finanziell, damit dieser weiter durchhält. Die Krankenkasse hat mit Dr. Geiß einen so genannten Selektivvertrag abgeschlossen. Ulrike Leschik-Hähn, Regionaldirektorin der AOK Rheinland/Hamburg, erklärt die Ab- machung: O-TON 11 (Leschik-Hähn): "Was wir gemacht haben, ist: Aufgrund der Situation, dass da ganz viele unserer Versicherten in Chorweiler leben, und Herr Dr. Geiß gesagt hat, ich habe ein Problem, diese ganzen Dinge sicherzu- stellen, ich möchte aber andererseits auch gerne etwas leisten, damit die Kinder auch die Vorsorge nutzen! Das ist ja ein ganz wichtiges Thema. ... Dafür haben wir mit ihm einen so genannten Selektivvertrag geschlossen, in dem wir eben diese zusätzliche Leistung, auch die zusätzliche Zeit, die er aufwendet, extra ver- güten." SPRECHER: So kann Dr. Geiß mit dem zusätzlichen Geld der AOK seine türkisch sprechende Arzthelferin weiter beschäftigen. Das Geld der Krankenkasse hat die finanzielle Notlage der Praxis gemildert. Als Gegenleistung achtet er nun ganz besonders darauf, dass seine AOK-Versicherten auch wirklich zu allen Vorsorge-Untersuchungen kommen. Doch ein möglicher Nachfolger wird sich bei der Über- legung, ob er eine Praxis kaufen soll, kaum von unsicheren Zu- schüssen leiten lassen. Das weiß auch Ulrike Leschik-Hähn: O-TON 12 (Leschik-Hähn): "Unsere große Sorge ist, wenn Herr Dr. Geiß aufhört aus Alters- gründen - das steht ja kurz bevor -, dass es eben dann keinen Nachfolger gibt. Und das wäre dann schon sehr problematisch, weil es eben Menschen sind, die in einer sozial schwierigen Situation leben und dann die Gefahr besteht, dass die Kinder nicht mehr zum Arzt gebracht werden. Und dass es dann viele Spätfolgen gibt. Und das ist eigentlich das Problem, was wir sehen. 23:59 Und wenn man jetzt nicht gegensteuert, ist die Gefahr, dass wir in fünf Jahren vielleicht wirklich die Situation haben, dass wir in den sozialen Brennpunkten, die wir ja nun auch haben, ... dass dort dann da überhaupt keine Ärzte mehr sind. Und das ist etwas, was wir uns nicht erlauben dürfen. SPRECHER: Das Kinderarzt-Problem in Köln-Chorweiler ist seit mindestens ein- einhalb Jahren auch über die Stadt hinaus bekannt. So nahm bereits im März 2009 die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt vor Ort an einer Podiumsdiskussion zu eben diesem Thema teil. Seit Juli 2010 ist nun die Grünen-Politikerin Barbara Steffens Gesundheitsministerin des Landes NRW. Was kann sie tun? O-TON 13 (Steffens): Bisher ist das so bei der Bedarfsplanung: Die Länder haben über- haupt keinen Zugriff und auch nicht einmal eine Beteiligung. Also ich muss nicht einmal angehört werden. Ich kann irgendwo appel- lieren, ich kann Briefe schreiben, ich kann nett meine Meinung äu- ßern, aber ich habe keinerlei Gestaltungsspielraum." SPRECHER: Dennoch will die Ministerin den Prozess begleiten. Aber auch die Ärzte will sie nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. O-TON 14 (Steffens): "Natürlich ist in dem Moment, wo ich eine bestimmte Struktur von Patienten und Patientinnen habe, auch das Gespräch eines, was in einem höheren Maße notwendig ist für die Heilung eines Kindes als die Verordnung des klassischen Medikamentes. Und das kostet Zeit. Da gibt es eine Schieflage im System insoweit, als dass das Gespräch weniger finanziert und bezahlt wird. Was aber unter Um- ständen der einzige Weg ist, der zu einer Genesung führen kann, als irgendeine apparate-medizinische Untersuchung, die vielleicht in irgendwelchen anderen Fachgruppen stattfindet. Also: wir haben hier auch eine Aufgabe zu bewältigen innerhalb der Selbstver- waltung der Ärzte. Nämlich zu klären: Was muss eigentlich gerecht im Sinne der Patienten wie honoriert werden. Und da haben wir eine deutliche Schieflage." 17:30 Das wäre eigentlich etwas, was die Selbstverwaltung leisten müsste, aber was sie derzeit nicht leis- tet." SPRECHER: Die Ministerin will jetzt von Experten ausführlich ermitteln lassen, wo es in NRW Unter-, aber auch Überversorgung im Gesundheits- wesen gibt. Zudem knüpft sie Hoffnungen an eine mögliche klein- räumigere Bedarfsplanung. Auch in Berlin ist man tätig geworden. Dort hat Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler Fachleute um sich geschart. O-TON 15 (Steffens): Es gibt von Seiten der Gesundheitsministerkonferenz mit Rösler zusammen eine Arbeitsgruppe, die eingerichtet worden ist, wo die Länder und der Bund zusammen am Tisch sitzen. Von der erwarte ich als allererstes, dass genau dieses Verhältnis zwischen Ländern und Bund ganz klar geklärt wird ..., dass da den Ländern ein ande- rer Spielraum eingeräumt wird, mit zu gestalten und mit zu beraten. Und dann erwarte ich in einem zweiten und parallelen Schritt von Rösler, dass er dahin geht und dass er mit der Selbstverwaltung darüber redet ..., dass die Selbstverwaltung ihren Aufgaben wirk- lich nachkommen muss ... und die Selbstverwaltung dazu bringt." SPRECHER: Arbeitsgruppen also, wohin man blickt: Von der kommunalen Ge- sundheitskonferenz in Köln bis zur Berliner Runde. Nur an der Situation in Köln-Chorweiler hat sich bislang nichts geändert - ab- gesehen von der Einzelmaßnahme der AOK. Dr. Geiß hält weiter durch. Das kann er allerdings nur, weil er schon bessere Zeiten erlebt hat: O-TON 16 (Geiß): "In meinem Alter sind alle Schulden Gott sei dank bezahlt ... Ich betrachte inzwischen meine Arbeit als Hobby. Und Sie wissen ja, für ein Hobby muss man Geld mitbringen." Ende 1