Borderline - Gesellschaftssymptom oder Modediagnose? von Tim Wiese (Einschalten Aufnahmegerät) Ton 1 Lukas Tagebuch Wir haben einen Montag im Oktober. Ich beginne jetzt mit meinen Aufnahmen. Und zwar möchte ich Einblick geben in mein Leben. Mein Leben mit Borderline. (Kurzer Musikakzent) Ton 2 Lukas Tagebuch: Im Augenblick sind starke Schuldgefühle aufgetaucht, die mich richtig auffressen. Das ist ... Das tut richtig im Bauch weh schon. Ich habe da, glaube ich, auch schon bisschen Panik. Das ganze ausgelöst durch ein Missverständnis mit meiner Chefin. Wo ich denke ,Oh mein Gott, die wird mich doof finden. Sie wird mich rausschmeißen‘. Dahinter steckt, dass ich einfach richtig Angst habe, dass mich die Leute nicht mögen, dass ich denen vor den Kopf stoße und sie mich dann am Ende verlassen. (Kurzer Musikakzent) (Café-Atmo) Autor: Mein erstes Treffen mit Lukas findet in einem Coffeeshop statt. Vor mit steht ein junger Mann, 30 Jahre alt, gutaussehend, er versucht ein Lächeln. Ton 3 Lukas: Guten Tag, Hallo ... Autor: Lukas heißt eigentlich anders. Aus Angst vor Diskriminierung will er im Radio seinen echten Namen nicht nennen. Es gibt viele Vorurteile gegen Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie seien unzuverlässig, unberechenbar und unsozial. Ton 4 Lukas: Ich habe einfach Angst vor Ablehnung. Ich habe Angst davor, dass ich Leuten zur Last falle. Und, und, und ... Jedenfalls... da spielen gewaltige Ängste mit rein. Autor: Bei meiner Suche nach Betroffenen bin ich im Internet auf eine Seite von Lukas gestoßen. Dort wirbt er um Mitglieder für eine Selbsthilfegruppe, die er gründen möchte. Bei unserem ersten Treffen erzählt mir der junge Mann von seiner eigenen Leidensgeschichte und wie alles begann. Ton 5 Lukas: Mit 14 oder 13 da habe ich echt angefangen, zu überdrehen, indem ich dann Hochleistungssport gemacht habe. (Atmo Läufer) Ton 5 Lukas: Das war dann wirklich jeden Tag vier Stunden Training. Ich habe wirklich ganze Marathonstrecken gelaufen. Für mich war es irgendwie normal. Und irgendwann kam dann ein Arzt auf mich zu, nachdem er dann kiloweise Röntgenakten über mich hatte, und meinte, das ist krank. (Laufstopp) Autor: Bis zur Diagnose ist es aber noch ein weiter Weg. Ambulante Therapien und zwei längere Klinikaufenthalte führen nicht dazu, dass es ihm besser geht. Die Schule bricht Lukas nach der 12. Klasse wegen Depressionen ab. Mehrere Versuche, einen Abschluss nachzuholen, scheitern. Ebenso eine Berufsausbildung. Jobs als unqualifizierte Kraft hält er immer nur für kurze Zeit durch. Beziehungen zu anderen Menschen sind ihm nahezu unmöglich. Ton 6 Lukas: Das ist das, was mir am meisten weh tut, dass ich in einen Raum reinkomme und einfach keine Verbindung zu den Menschen herkrieg. Andere ziehen sich magnetmäßig an und bei mir fehlt dieser Magnet. Da fühle ich mich ganz oft als Antikörper oder als ... sogar als Alien. Autor: Erst als Lukas 24 Jahre alt ist, kommen Ärzte in einer psychiatrischen Klinik zu einem Befund: Ton 6_1: Da kam eben raus... ok Borderline. Davor hatte ich Pech mit Ärzten, die haben alle möglichen Diagnosen gestellt. Autor: Weil es schwer ist, die Borderline-Persönlichkeitsstörung zu fassen, verabrede ich mit Lukas, dass er für mich ein Audiotagebuch führt. Er verspricht, mit der Aufnahmefunktion seines Handys Situationen festzuhalten, in denen es ihm besonders schlecht geht. Ton 7 Dr. Dulz Menschen mit einer Borderlinestörung haben große Angst davor, von Menschen verletzt zu werden und zwar aufgrund von in der Kindheit und Jugend gemachter Erfahrungen des Verletzt Worden Seins. Und Menschen mit einer Bordelinestörung versuchen, mit dieser brisanten Situation maßgeblich in einer diffusen Angst umzugehen. Das können Selbstverletzungen sein. Das können aber auch Beziehungsmuster mit Idealisierungen und Entwertungen sein. Sprecherin: Dr. Birger Dulz. Chefarzt der Hamburger Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen innerhalb der Asklepios Klinik Nord. Der Psychiater und Psychotherapeut ist einer der Herausgeber des „Handbuch der Borderline-Störungen“. Seit vielen Jahren forscht er zu dem Thema, behandelt Betroffene und kämpft gegen Vorbehalte. Ton 8 Dr. Dulz Bei Borderlinestörungen stimmen manche Dinge einfach nicht. Es stimmt nicht, dass alle missbraucht werden, dass sie alle kriminell werden, dass sie alle drogenabhängig sind, dass sie sich alle selbst verletzen. Was aber stimmt ist, dass es eine Gruppe von Patienten ist, die im Prinzip relativ gut zu therapieren ist, wenn man es denn kann. Es ist eine Gruppe von Patienten, die oft extrem kreativ sind, häufig hochintelligent, leistungsbereit, sehr viel Humor haben. Sprecherin: Weil sich Borderline sehr unterschiedlich darstellt, lässt sich die Persönlichkeitsstörung nicht leicht diagnostizieren. Die Vereinigung Amerikanischer Psychiater hat daher einen nicht ganz unumstrittenen Kriterienkatalog erarbeitet. In ihrem diagnostisch statistischen Manual für psychische Störungen, im DSM 4, werden Merkmale der Persönlichkeitsstörung aufgeführt. Unter anderem eine gestörte Selbstwahrnehmung, extreme Stimmungsschwankungen und chronische Gefühle von Leere. Erfüllt der Patient fünf der insgesamt neun Kriterien, dann spricht man von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ton 9 Dr Dulz Also wir wenden das an in der Praxis, auch in der Klinik. Es ist wirklich pragmatisch. Aber es beschreibt den Menschen insofern unzutreffend, als dass man von der Anzahl der vorhandenen Kriterien nicht automatisch darauf schließen kann, ob die Störung schwer ist oder nicht. Letztlich ist ein borderliniges Verhalten zum Beispiel in schweren persönlichen Krisen, Scheidungssituationen, relativ normal. Erst wenn sich jemand permanent in solchen Beziehungskrisen befindet, hat es einen Krankheitswert. Und wie wollen sie jetzt genau festlegen, wo ist es pathologisch und wo nicht. Das kann ja nur die subjektive Auswirkung für den Betroffenen sein. (Musikakzent) (Ton Einschalten Aufnahme) Ton 10 Tagebuch Lukas: So ich möchte das jetzt nicht länger aushalten. Das mit den ganzen Pärchen hier im Thermalbad. Nicht dass sie komische Sachen machen, sondern das erinnert mich dran, dass ich es nicht haben kann. Eine Partnerschaft zu einer Frau. Beziehungsweise ich will es gar nicht, weil das für mich sehr, sehr anstrengend sein würde. Ich ertrage keine körperliche Nähe und bekomme auch keine richtige emotionale Verbindung zu der Frau beziehungsweise überhaupt zu Menschen. Aber trotzdem macht mich das wütend, denn an sich will ich ja eine Partnerschaft. Ich träume davon, aber ich kann es nicht haben. Deswegen tue ich mir jetzt nicht länger an und breche den Thermalbadbesuch ab. (Ton Ausschalten Aufnahme) Ton 11 Dulz Die Störung ist extrem davon abhängig, was im Außen passiert. In einer Situation von einer relativen stabilen Beziehungssituation wird jemand mit einer Borderlinestörung wahrscheinlich relativ gut im Alltag klar kommen. Wenn jetzt aber hier eine Irritation eintritt. Der Partner zieht aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt, ist dadurch nicht mehr so verfügbar, kann auch nicht mehr so kontrolliert werden. Dadurch entsteht Angst, Irritation. Dadurch kann es sein, dass jemand aktuell überhaupt nicht mehr in seinem Leben klar kommt. Auch auf beruflicher Ebene nicht mehr. Sprecherin: Die Ursachen der Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Ausprägung sind noch unzureichend erforscht. Aktuell gehen Wissenschaftler davon aus, dass eine Traumatisierung im Kindesalter eine wichtige Rolle spielt. Patienten berichten häufig, dass sie körperlich oder sexuell missbraucht worden sind. Für Birger Dulz kommt aber einem anderen Faktor eine entscheidendere Bedeutung zu. Ton 12 Dr. Dulz Gibt es in der Familie Personen, die versuchen, zu schützen und zu halten. Das ist in diesen, ich sag jetzt mal Borderlinefamilien, typischerweise nicht der Fall. Das heißt, ein Patient lernt alles an normalen Beziehungsmustern nicht. Er lernt nicht, dass Menschen verlässlich sein können, dass man geschützt werden kann, dass die Gefühle wahrgenommen werden. Dass sich darauf dann sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung sozusagen draufpropfen können, ist aus meiner Sicht nur ein Extra. (Ton Einschalten Aufnahme) Ton 13 Lukas Tagebuch Ich bin wieder gerade in einem der ganz großen Löcher. Und es ist kaum auszuhalten. Ich habe immer wieder Ansätze von Flashbacks, die ich immer wieder verdränge, indem ich Krampfanfälle bekomme. So erkläre ich es mir zumindest. (Stöhnt) Autor: Von den Flashbacks berichtet Lukas in seinen Tagebuchaufnahmen häufiger. Was es genau damit auf sich hat, erfahre ich bei einem gemeinsamen Spaziergang. (Schritte im Park) Ton 14 Lukas: Das sind Sie ja, ich habe Sie gar nicht gesehen. Wie geht es? Autor: Wir haben uns in einem Park verabredet. Hier falle es ihm leichter zu reden, erklärt mir Lukas. Ich frage ihn nach möglichen Gründen für seine Erkrankung. Ton 15 Lukas: Ich weiß nur, dass meine Mutter erzählt hat, dass der Großvater sehr gewalttätig war den Kindern gegenüber und ich habe halt in diesem Haushalt gewohnt. Ich erinnere mich eben an nichts und ich habe zwar Flashbacks, wie es im Film so ist, man sieht den Täter nicht. Man sieht nur ein Bruchteil von der Szene. Fühlt sich aber genau so an, als wäre ich in dieser Szene drin, als würde ich das noch mal durchleben. Reporter Tim Wiese: Aber was sind das für Flashbacks, was erleben Sie da, was sehen Sie da? Lukas : Für mich fühlt sich das an, wie als wenn ich durch einen Missbrauch gehe. Noch mal. Entsprechende Bilder kommen auch dazu. Sehr aufreibend. (Ende Parkatmo) Ton 16 Dr. Dulz Es sind ja nicht alle real traumatisiert. Wir gehen heute von etwa 80 Prozent aus aufgrund einer Multicenterstudie, an der ich mitgewirkt habe. Bei den anderen finden wir aber eigentlich immer eine extreme psychische Vernachlässigung. Sprecherin: Auch genetische Ursachen für Borderline werden in der Wissenschaft diskutiert. Ergebnisse aus Familienuntersuchungen liefern Hinweise auf neurobiologische Veränderungen. Birger Dulz betrachtet diesen Faktor aber sehr zurückhaltend. Ton 17 Dr. Dulz Man wird immer für jede psychische Störung ein Korrelat im Gehirn haben und manche kennen wir. Heute wissen wir, dass es mit der Genetik weitaus komplizierter ist, dass es nicht so ist, dass der Bereich der Gene unveränderlich ist. Das heißt, wir haben hier auch Wechselwirkungen mit Erfahrungen, Umwelt. Also ein Borderline-Gene wird es nicht geben. Aber es gibt sicherlich gewisse Verwundbarkeiten hinsichtlich der Ausprägung einer solchen Störung. (Musikakzent) Ton 18 Dachser Begonnen habe ich in meiner Tätigkeit vor, ich glaube, 35 Jahren, als ich noch in der psychiatrischen Poliklinik der medizinischen Hochschule Hannover gearbeitet habe. Und dort zunehmend mit einer Reihe von Patienten konfrontiert worden bin, die niemand so richtig einordnen konnte und die auch von den psychiatrischen Oberärzten manchmal als schizophren, dann manchmal - je nach Vorliebe- als Egopathen bezeichnet worden und mit denen niemand wusste, so richtig umzugehen. Sprecherin: Professorin Christa Rohde -Dachser. Die Psychoanalytikern und Soziologin lässt ihre Erfahrungen aus dem Klinikalltag in Hannover einfließen in ein Buch: “Das Borderline-Syndrom“. Es ist die erste umfassende Beschreibung der Störung, die in Deutschland erscheint. Über die Jahre erlebt die Professorin mit, wie sich der Blick auf Borderline ändert. In den 70er und 80er Jahren wird die Störung noch irgendwo zwischen einer Psychose und einer Neurose verortet, also als Grenzfall zwischen organischer und entwicklungsbedingter Krankheit. Mittlerweile steht eine andere Frage im Zentrum der Forschung. Ton 19 Dachser: Die Frage der Bedeutung des Traumas für die Borderlineentwicklung war, glaube ich, der entscheidende Durchbruch. Also hin zu der Überlegung einer Persönlichkeitsstörung, die jenseits von bestimmten angeborenen Variablen auf in der Regel frühkindlichen Erfahrungen beruht. (Türsummer) (Schritte im Treppenhaus) Autor: Besuch bei Lukas. Ein Mietshaus in einem Hinterhof. Während ich durch das Treppenhaus mit dem Linoleumboden gehe, bin ich gespannt, was mich erwartet. Bisher hat Lukas ein Treffen bei ihm Zuhause immer abgelehnt. Seine Wohnsituation sei ihm peinlich. (Tür öffnet sich, Begrüßung) Autor: Als ich die Wohnung betrete, kann ich Lukas Bedenken nachvollziehen. Hier stehen so gut wie keine Möbel. Im Flur lehnen ein paar Kartons an der Wand. Müll stapelt sich in der Ecke. Die Küche gleich links ist fast leer. Ton 20 Lukas: Das ist eine minimale Ausstattung mit Mikrowelle, Ofen, Gefrierfach, Tisch und Stuhl. Und dann eben ein Waschbecken.. Autor: Einen Kühlschrank gibt es nicht. Ton 21 Lukas: Wozu denn? Ich esse sowieso nur Tiefkühlware. Autor: Ein gebrauchtes Messer liegt auf dem Boden. Plastiktüten. Ton 22 Lukas: Das ist Müll. Das kommt weg. Ich habe sogar alles Geschirr in die Kiste gekloppt. Weil wenn Geschirr rumliegt, dann würde es einfach nur dreckig aussehen. Ansonsten sieht es Monate lang ziemlich schlimm aus, bis ich dann sag, Ok, jetzt muss etwas getan werden‘ und dann mache ich auch etwas. (Schritte durch Wohnung) Autor: Vor fast vier Jahren ist Lukas eingezogen. Seitdem hat sich nicht viel in der Wohnung verändert. Ton 23 Lukas: Dann kommen wir zu meinem Zimmer. Das ist auch minimalistisch eingerichtet, beziehungsweise eigentlich gar nicht eingerichtet. Ich habe keine Bilder an der Wand... Schreibtisch. Kleines Schränkchen für Sachen. Bett mit Lattenrost. Ansonsten war es das schon. Autor: Lukas führt den trostlosen Zustand seiner Wohnung auf seine mangelnde Selbstachtung zurück. Er schafft es nicht, sich um sich zu kümmern. Schlimmer noch. Regelmäßig durchlebt er autoaggressive Phantasien. Ton 24 Lukas: Ich gehe da auf Waffen, mit verschiedenen Maschinen auf mich zu und zerstöre mich. (Musikakzent) Sprecherin: Etwa zwei Prozent der Menschen leiden an der Persönlichkeitsstörung. In einigen Studien ist sogar von bis zu fünf Prozent die Rede. Während zur Beginn der therapeutischen Arbeit von Christa Rohde-Dachser der Begriff Borderline noch relativ unbekannt war, ist er heute im Verdacht, für eine Modediagnose zu stehen. Ton 25 Dachser: Wenn man sagt, dass Diagnosen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung sich immer ein Stück weit gewandelt haben, dann kann man durchaus sagen, dass Borderline auch eine Modediagnose ist. Als ein fortwährender Versuch, das, was es Menschen schwer macht, das Leben wirklich zu bewältigen, in immer neuen Ansätzen zu definieren und dafür wäre für mich Borderline durchaus ein positiver Ansatz, der früher oder später vielleicht überwunden worden ist durch andere Diagnosen. Ton 26 Dulz: Wenn Sie die Publikationen zum Beispiel von Sigmund Freud angucken, dann werden Sie feststellen, dass Borderlinepatienten um Neunzehnhundert sehr genau beschrieben worden sind. Sie wurden nur anders bezeichnet. Freud hat seine Patientinnen und Patienten, die meisten jedenfalls, als Hysteriker bezeichnet. Heute würden wir bei mindestens der Hälfte, wenn nicht mehr, davon ausgehen, dass die eine Borderlinestörung hatten. So gesehen ist es eine Modediagnose. Das hat aber nichts damit zu tun, dass die Patienten in relativ identischer Weise nicht immer schon existiert haben. (Ton Aufnahme startet) Ton 27 Tagebuch Lukas (atmet schwer): Ich liege gerade mit dem Oberkörper auf dem Boden und mache einen körperbezogenen Skill, um die Anspannung herunterzufahren. Auf gut Deutsch eine Kraftübung. Ich habe jetzt massive Probleme mit dem Gefühl, nicht zu genügen. Und das hat dann dazu geführt, dass ich suizidale Ideen hatte. Suizidale Gedanken. Und die habe ich durchbrochen, indem ich Eis in die Hand genommen habe. Hat super funktioniert, das nimmt sofort die Spannung runter. Und jetzt fahre ich die Spannung noch weiter runter, indem ich Kraftübungen mache. Ton 28 Dulz: Wenn ein übermäßiger Druck entsteht, dann kann man den auf vielerlei Weise reduzieren. Zum Beispiel durch das Beißen auf eine Chillischote, durch das Malen von Mandalas, durch Sport. (Kramen Tasche) Ton 29 Lukas: Und deswegen habe ich hier Brause, die nehme ich dann einfach pur in den Mund. Das zischt und haut richtig rein. Dann habe ich hier noch Ammoniak. Das sind so Riechampullen, wenn man die aufbricht, dann sticht das richtig stark in die Nase und das haut einen dann auch aus Dissoziationen raus oder aus Flashbacks raus. Das habe ich immer dabei, egal wo ich hingehe. Ton 30 Dulz: Alles das können Skills sein. Das heißt Skills muss man sich individuell erarbeiten, was dem jeweiligen hilft oder der jeweiligen. Das ist aber kein eigenständiges Therapieverfahren, sondern ein kleiner Bestandteil der DBT. Sprecherin: DBT steht für Dialektisch Behaviorale Therapie. In dieser Verhaltenstherapie lernen die Patientinnen und Patienten den Umgang mit Stress und Krisen. Sie trainieren ihre soziale Kompetenz und mit widersprüchlichen Gefühlen umzugehen. Während die DBT mehr auf die Symptome gerichtet ist, werden in psychodynamischen und psychoanalytischen Verfahren Gründe für die Störung aufgearbeitet. Ton 31 Dachser: Warum musst du dich so verhalten, damit etwas, was du zu tief fürchtest, nicht wiederkehrt? Sprecherin: Die Patienten sollen zudem in der Beziehung zum Therapeuten erfahren, wie Beziehungen funktionieren und warum sie gestört sein können. Meistens werden die verschiedenen Ansätze miteinander kombiniert, wie Psychiater und Psychotherapeut Birger Dulz erklärt. Ton 32 Dulz: Diese Therapieverfahren führen bei einer großen Zahl von Patienten wirklich zu erstaunlichen Verbesserungen. Bis hin dazu, dass sie normal wieder arbeiten können, dass sie auch kritisch sich in Beziehungen auseinandersetzen können, dass sie Kinder gut erziehen können, dass sie in helfenden Berufen hervorragend sind. Sie finden nirgendwo so viele (ehemalige) Borderliner wie in helfenden Berufen. (Musikakzent sanft) Ton 33 Lukas/Rafael Zyska: (Türklingel, öffnen Tür) Hallo, Guten Tag ... Hereinspaziert Autor: Jeden Tag wird Lukas von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin des ambulanten psychiatrischen Dienstes besucht. Einer von ihnen ist Rafael Zyska. Ton 34 Zyska: Wir begleiten im Alltag, wir reflektieren miteinander. Wir haben natürlich ein Hintergrundwissen, ein psychiatrisch-psychologisches, aber auch pflegerisches. Und gleichzeitig versuchen wir, eine Beziehung aufzubauen. Eine tragfähige Beziehung und versuchen, die Menschen in ihrem häuslichen Umfeld nach ihren Regeln zugucken. Was braucht derjenige wirklich für sein Leben, wie er es möchte. Autor: Die Pflegekräfte unterstützten Lukas zum Beispiel bei Behördengängen und sonstigen Erledigungen. Außerdem helfen sie ihm bei dem Versuch, Struktur in sein Leben zu bringen. Ton 35 Lukas: So gleich mal an den Laptop dran. (Zyska) Genau. (Lukas) Da habe ich meine ganze Tagesstruktur drin, was ich Ihnen ja vorher gezeigt habe. (Tippen Tastatur) Autor: Lukas hat eine Exceldatei angelegt. Mit ihr plant er jede halbe Stunde des Tages. Auch die Mahlzeiten mit konkreten Speisen sind eingetragen, damit er sie nicht vergisst. Ton 36 Lukas: Und dann habe ich hier verschiedene Kategorien. Habe ich es gemacht, habe ich es nicht gemacht. Und was mir super gut hilft, um zu gucken, ist Handlungsbedarf, habe ich eine Spannungskurve, ne Konzentrationskurve, die ich dann immer stündlich eintrage. Ton 37 Zyska und Lukas: (Zyska) Wie sieht der heutige Tag aus, haben Sie den schon geplant? (Lukas) Ja der sieht nicht so voll aus, ich muss noch zum Jobcenter, was abgeben, das muss heute sein. (Zyska) Was ist diese große Lücke? 13.45 Uhr bis 17 Uhr. Da steht DBT-Know-How. Das sind ja immerhin bald drei Stunden. Gibt es da auch eine Pause drin? (Lukas) Ja, ich mache immer anderthalb Stunden, dann mache ich eine habe Stunde Pause, wo ich eine Serie angucke. (Zyska) Ok. Autor: Lukas trainiert täglich. Auch um selbstschädigendes Verhalten in den Griff zu bekommen. Viele Patienten haben Impulse nicht unter Kontrolle. Das kann zum Beispiel zu Drogenmissbrauch oder gefährlichen Sexualpraktiken führen. Bei Lukas ist es sein problematischer Umgang mit Geld. Ton 38 Lukas: Ja, da könnte man locker mal einen Kleinwagen kaufen dafür, was ich da an Schulden habe. Durch unkontrollierte Einkäufe. Auch durch Projekte, die ich für andere gemacht habe, aber dachte, ich muss sie finanzieren, weil ich einfach Bock drauf hatte. Irre Sachen, wirklich ganz, ganz skurrile Sachen schon. Dass ich einen Film machen wollte, komme was wolle. Da habe ich einfach alles zusammengekratzt, habe meinen Bruder angepumpt, habe auch Sachen gemacht, die wirklich nicht ok sind, um ans Geld ranzukommen. (Musikakzent Wut und Angst) Sprecherin: Auch extreme Wutgefühle können einige Borderline-Patienten nicht steuern, was sie für ihr Umfeld unberechenbar erscheinen lässt. Gleichzeitig wird das Leben der Betroffenen von Angst bestimmt. Die Gründe hierfür liegen für Birger Dulz ebenfalls in frühster Kindheit. Ton 39 Dulz: Normalerweise, wenn ein Säugling schreit, hat er Hunger, Durst, schwitzt oder friert zum Beispiel. Dann muss ein Elternteil in der Regel kommen und Abhilfe schaffen. Wenn aber die Eltern schwer gestört sind, also abwesend zum Beispiel, betrunken oder sonst wie, wird der Säugling in dieser Situation ein Ausmaß an Vernichtungsangst haben, das sich natürlich in den neuronalen Netzwerken niederlässt, die Angst. Wir haben aus meiner Sicht hier schon von ganz früh einen problematischen Umgang mit Angst. Sprecherin: Diese Angst bildet nach Meinung des Arztes die Basis für die Persönlichkeitsstörung. Auch durch reale Traumatisierungen kann Angst entstehen oder noch verstärkt werden. Ton 40 Dulz: Wenn Sie vergewaltigt würden, hätten Sie Wut und Hass oder hätten Sie Angst um ihre körperliche und seelische Integrität? Vermutlich ja letzteres. Und daraus resultiert für mich, dass das Zentralsymptom der Borderlinestörung Angst ist. Ton 41 Dachser: Also die Frage kann man stellen. Dass zum Missbrauch aber natürlich auch immer eine massive Aggression dazu gehört und zwar in der Regel zunächst die Aggression des Täters, die die Opfer leider, ob sie wollen oder nicht, mit internalisieren. Weil man als Kind immer eine Beziehung internalisiert. Und das wäre hier eine sadistische Objektbeziehung, in der sich das Kind als Opfer fühlt. Aber es lernt gleichzeitig, was es heißt, wenn man jemand anderes verprügelt. Sprecherin: Hier liegt für die Psychoanalytikerin und Soziologin Christa Rohde-Dachser der Grund, warum 70 Prozent der Menschen mit einer Borderline -Persönlichkeitsstörung Frauen sind. Ton 42 Dachser: Wenn es darum geht, was mache ich mit der unbewusst internalisierten Aggression des Täters, dann ist es für Männer, die ja aufgrund ihrer Männlichkeit immerhin zu Konkurrenz- und Machtverhalten erzogen werden, sehr viel naheliegender, dass sie sich mit dem sadistischen Teil identifizieren, während Frauen viel eher in der Opferrolle bleiben und die Aggression, die sie auch in sich haben, einfach gegen sich wenden. (Musikakzent Traurig) Anschluss Ton 42 Dachser: Und wenn Ihnen dann eine Frau mit sichtbar aufgeschnittenen Armen in der Sprechstunde entgegen kommt, ist das natürlich wie eine indirekte Anklage. ,Schau her, dass hat man mir angetan‘. (Ton Aufnahme an) Ton 43 Tagebuch Lukas: Die Tagesbilanz sieht heute nicht so pralle aus. Auf Arbeit war ich komplett überfordert, habe total langsam gearbeitet, mein Denken hat nicht richtig funktioniert, weil die Anspannung so hoch war. Und immer wenn die Anspannung so hoch ist, fängt es an, dass sich Fehler einschleichen, dass ich wie neben mir stehe und dann die einfachsten Sache verpeile. Die einfachsten Sachen! Ich bin fix und alle ... Ja, scheiße! (Ton Aufnahme aus) Ton 44 Dachser: Weil ja immer wieder die Frage ist, ist Borderline eine Folge des sozialen Wandels und der Art und Weise, wie Gesellschaft sich heute darstellt? Da ist ein massiver Druck auf das, was Patienten dann auch selber von sich erwarten und dem sie dann irgendwann nicht mehr nachkommen können. Ton 45 Lukas: Das ist wie im Hamsterrad. Ich dreh, ich laufe ich sprinte, aber wo andere schon einen Kilometer gegangen sind, bin ich immer noch an derselben Stelle. Ton 47 Dulz: Ein weiterer Punkt. Wenn Sie als Kind keine klare Orientierung durch die Eltern bekommen, dann ist die Vielfalt in dieser Gesellschaft, die man auch positiv sehen kann, verwirrend, führt zur weiterer Desorientiertheit. Sprecherin: Auch in den veränderten Familienstrukturen sieht Birger Dulz einen Faktor für die Ausprägung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Er hat beobachtet, dass die Betroffenen häufig mit nur einem Elternteil oder in einer Patchworkfamilie groß geworden sind. Ton 48 Dulz: Wenn man in einer Zweipersonen-Familie aufwächst, dann ist es relativ unvermeidlich, dass wenn die Mutter von der Arbeit gestresst nach Hause kommt, das Kind irgendetwas abkriegt. In einer Dreigenerationen-Familie zum Beispiel käme dann der arbeitende Elternteil nach Hause, würde sich mit seinem Partner auseinandersetzen, Kind wäre bei Oma, wäre also für das Kind eine völlig andere Situation. (Musikakzent) Autor: Mehrere Wochen recherchiere ich zum Thema Borderline-Persönlichkeitsstörung. Immer wieder versuche ich, auch andere Betroffene zu treffen. Vergeblich. Meistens sagen sie mir kurzfristig ab oder erscheinen nicht zu dem Termin. Kurze Collage EMails: (Ton49) ... kommt für mich nicht in Frage. ... (Ton50): ... mir fehlt das Vertrauen. (Ton51).. möchte ich meine Zusage zurückziehen. (Ton52) Ein Treffen scheint mir unmöglich, weil ich mich in einer Krise befinde ... Autor: Eine Patientin gibt mir bereitwillig ein Interview. Aber noch im Gespräch kippt die Stimmung. Sie fühlt sich missverstanden und will schließlich nicht mehr, dass ihre Aussagen gesendet werden. Dank Lukas bekomme ich aber eine Ahnung, warum es Betroffenen schwer fällt, in der Öffentlichkeit und mit Fremden über ihre Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Vor ein paar Tagen höre ich seine letzte Tagebuchaufzeichnung. (Ton Aufnahme an) Ton 53 Tagebuch Lukas: Die Sitzung mit meiner Therapeutin war heute super. Wir haben eine neue Strategie uns jetzt ausgedacht. Ich bleibe ambulant. Ich werde allerdings erst einmal gucken, dass ich in eine TK komme. In eine Tagesklinik. Um dort einen intensiven Crashkurs durchzumachen. Ja, das fühlt sich gut an. Wir haben eine Lösung, was das Finanzielle betrifft. Jetzt möchte ich gucken, dass das auch so umgesetzt wird. (Musik)