Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 15. März 2014 / 11.05 – 12.00 Uhr 'Populisten' und 'Urbane' - Journalismus und Medien in Orbáns Ungarn Reportagen von Jan-Uwe Stahr Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Opener (Stimmen) Les Visages… Musik Eine gefeuerte ungarische Talkshow-Moderatorin über die neue Gängelung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wie ich soll diese Frage ein bisschen anders fragen und warum? Weil wir eine andere Antwort bekommen möchten? Interessiert mich nicht! Eine Kommunikationswissenschaftlerin über politisch unabhängige große Zeitungen, Radio- und Fensehsender. „Es gibt keine! Keine einzigen!“ Und ein junger Journalist über den Erfolg eines neuen Internet-Nachrichten-Portals. Ich bin mir sicher, viele von unseren Lesern mögen uns deshalb, weil wir keine Anhänger von irgendjemand sind. Gesichter Europas: Populisten und Urbane – Journalismus und Medien in Orbáns Ungarn. Eine Sendung mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik MOD Einen politischen und kulturellen Neuanfang für Ungarn kündigte Viktor Orbán an, als er vor vier Jahren das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Dazu gehörte auch eine neue Medien-Politik. Die zuvor links-liberal ausgerichteten öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender wurden auf einen neuen national-konservativen Kurs gebracht, mit Hilfe eines neuen Mediengesetzes und einer neuen Aufsichtsbehörde, in der Orbáns Fidesz-Parteileute jetzt das Sagen haben. Ein unabhängiger, kritischer Journalismus hat es deshalb schwer in Ungarn - trotz verfassungsrechtlich garantierter Pressefreiheit. Eine unzensierte Presse, das war schon eine Forderung der Revolutionäre von 1848, an die Ungarn am heutigen Nationalfeiertag gedenkt. Historisch gewachsen ist aber auch ein kulturell-politisches Lagerdenken in Medien und Gesellschaft. Schon lange gibt es in Ungarn Urbanisten und Populisten. Atmo vor Kiosk Gerade zwei mal zwei Meter misst das grün-rote Holzbüdchen an der Ecke Prater- und Szigony Utca, im 8.Budapester Stadtbezirk. Es steht auf dem breiten Bürgersteig gegenüber einem Sparmarkt und einem chinesischem Ramsch-Laden – im Schatten 10geschossiger Plattenbauten. Traditionelle Zeitungskioske wie dieser sind selten geworden in Ungarn, seitdem jeder Supermarkt, jede Einkaufsmall auf meterlangen Regalen ein riesiges buntes Presseangebot präsentiert. Hier, am Büdchen, muss der Kunde erst sagen, was er will, bevor Kioskbesitzer Laszlo Wölfinger die gewünschte Ware aus dem Inneren seines Miniladens hervorzaubert und sie auf den kleinen Tresen legt. Einen Plausch gibt es gratis dazu. REP 1: Meinungsmacher – Ansichten eines Zeitungsverkäufers (Ungarisch: Kundin fragt) Autor „Haben Sie Batterien?“, fragt die Kundin den Kioskbesitzer. ( Kioskmann antwortet auf Ungarisch..) Autor „Nein. Die gibt es da drüben, im China-Laden“, antwortet der Mann hinter der Plexiglas-Scheibe und macht eine Kopfbewegung in Richtung der Hochhäuser. Batterien hat er nicht. Zigaretten und Süßigkeiten auch nicht. Aber Zeitungen und Zeitschriften – fast alle, die es gibt, sagt er. Sie stapeln sich im Inneren seiner winzigen Holzbude. O-Ton (Wölfinger, Ungarisch) Autor „Tageszeitungen, Wochenzeitungen, halbjährliche, vierteljährliche Zeitschriften, Kinderzeitschriften. Sex-Hefte nur wenige – wegen der Schulkinder, die hier vorbeikommen.“ Der Kioskmann lächelt hinter seiner runden Brille. Laszlo Wölfinger heißt er, das steht auf der kleinen Urkunde mit Bild, die am Fenster klebt: Eine Auszeichnung des 8.Stadtbezirks, für verdiente Kleinunternehmer. Atmo/O-Ton (Mann kauft eine Fernsehzeitung, ….(Verkaufsdialog Ungarisch) Autor Ein alter Mann kommt zum Stand. Er will eine Fernsehzeitung. Laszlo Wölfinger macht eine halbe Drehung, greift in das Regal an der Seitenwand und legt das Heft auf den Tresen. 110 Forint, etwa 40 Cent kostet es. Atmo/OTon Verkaufsdialog…Ungarisch Autor „Fernsehzeitungen verkaufe ich viele“, sagt Wölfinger und schüttelt den Kopf. „Dabei ist die Programm-Vorschau in jedem modernen Gerät auf der Fernbedienung abrufbar. Aber die Alten wissen nicht wie das funktioniert.“ Sein Glück! Das Nicht-Wissen verschafft ihm Umsatz. „Sein oder nicht sein – das ist die Frage“ Autor Seit 17 Jahren steht Laszlo Wölfinger in seinem winzigen Kiosk, hier vor den Hochhäusern. Jeden Wochentag, von morgens halb fünf bis abends um sieben und samstags bis um vier. Bis kurz nach dem politischen Umbruch, 1989 war der gelernte Gärtner in einem Agrar-Institut beschäftigt, doch das wurde geschlossen. Später arbeitete er als Verkäufer in einem Buchladen, bis es Pleite machte. „Ach ja“, sagt der drahtige Kleinunternehmer, „und zwischendurch sei er ein Jahr in Deutschland gewesen – als Diskjockey.“ Jetzt ist er 57. Seine Frau ist ihm davongelaufen. Sein Sohn, der noch studiert, wurde zuckerkrank. „Es hat sich vieles verändert in den letzten 20 Jahren“, sagt Wölfinger und reicht einem Kunden eine Boulevard-Zeitung nach draußen. Atmo Geld klingelt in der Schale Autor Die bunten Boulevard-Blätter gehen hier am besten. Wölfinger zieht zwei Exemplare aus den Stapeln unterm Tresen hervor. „Mai Nap“ – „Heutiger Tag“ heißt die eine im handlichen DIN A4-Format. „Blikk“ die andere, sie ist doppelt so groß. Der Zeitungsverkäufer schaut auf die Titelseite vom „Mai Nap“. Ein Obdachloser hat angeblich 600 Million Forint bei der Lotterie gewonnen. Hmm, meiner Meinung nach ist das Ganze ein Quatsch. Es gibt noch eine andere Titelgeschichte: Ein ehemaliger Fußball-Profi wurde als IM enttarnt. Das ist der „Mai Nap“ . Die ist eher ein bisschen rechts. Nicht so viel Boulevard, mehr Inhalt, im Vergleich zum „Blikk“ – das ist nur linksliberaler Dreck, wie ich immer sage. Autor Eine Boulevard-Zeitung für die Rechten, eine für die Linken. Noch deutlicher wird der Unterschied bei den politischen Tageszeitungen. Sie liegen im Regal weiter unten, die ungarischen Traditionsblätter „Népszabádság“, „Magyar Nemzet“ und „Magyar Hirlap“. Wölfinger bückt sich, zieht je ein Exemplar hervor. Die Magyar Nemzet, zu Deutsch „ungarische Nation“ ist eine rechte Zeitung, „die Lieblingslektüre von unserem Ministerpräsidenten Viktor Orbán“, sagt der Presse-Experte und schaut kurz auf die Titelgeschichte über Simon Gábor, einen Politiker der Sozialisten Simon Gábor muss gehen – ich weiß nicht, wer er ist, zum Glück. Ich will gar nicht auf dem Laufenden sein in solchen parteipolitischen Vorfällen. Für mich sind das keine relevanten Informationen. Autor: Auf die „Ungarische Nation“ legt Wölfinger jetzt die „Volksfreiheit“ – die „Népszabadság“. Sie ist immer noch Ungarns größte Tageszeitung – ein Blatt der Sozialisten. Ein echtes linkes Tagesblatt. Ja, sie beschimpfen selbstverständlich die rechten Politiker. Überall Orbán, Orbán – sie sprechen ihn nicht als Ministerpräsident oder sonst noch was an, sondern schreiben nur Orbán. Ach, so geht es auch auf der anderen Seite… Autor Dann ist da noch der „Magyar Hirlap“, einstmals die Zeitung der ungarischen Kommunisten. Jetzt gehört sie einem rechtsnationalen Groß-Industriellen und Orbán-Förderer. Antisemitische Töne gehören zum politischen Stil des „Magyar Hirlap“. Der heutige Aufmacher: Ein Interview zum Thema Holocaust-Gedenken und kommunistische Volksverbrechen: Hier, der ehemalige Ministerpräsident nach dem Tod von Antall, ach ja, Péter Boross. Ich mag ihn nicht. Aber ich mag viele Menschen nicht. Autor Viel hält der Kioskbesitzer nicht von den Tageszeitungen, die er hier verkauft. „Sie sind nur an den politischen Parteien ausgerichtet und absolut einseitig“, findet er. Und ich verstehe junge Leute, dass sie nicht kaufen Zeitungen. Autor Auch Fernsehen und Radio kann man vergessen, sagt Wölfinger. Ich gucke nicht Fernsehen, sehr wenig. Nachrichten gar nicht, weil Nachrichten heute in Ungarn alles Propaganda. Rechts oder links, egal - Propaganda! Autor Tagsüber, in seinem Kiosk, surfe er am liebsten im Internet, wenn er mal Zeit hat und liest Online-Zeitschriften Alles was den Computer betrifft. Das gucke ich mir immer an. Wissen Sie, ich interessiere mich eher für Technik, da geht es um die Realität, da gibt es keine Märchen. Autor Auch in Ungarn versorgen sich immer mehr Menschen mit Informationen aus dem Internet. - Die Tage der großen Zeitungen scheinen gezählt. Und die der kleinen Zeitungs-Kioske auch, sagt Laszlo Wölfinger. Das sei schade, denn bei ihm bekommt man mehr als nur Zeitungen und Zeitschriften: Man kann sich unterhalten. Oder es gibt etwas Leckeres zu essen, wie zum Beispiel heute seine selbstgemachten Frikadellen. Habe ich gestern gemacht. Kalt aber gut. MUSIK MOD Lit 1 „Viktor Orbán – Ein Stürmer in der Politik“ – so heißt die rechtzeitig vor der ungarischen Parlamentswahl erschienene Biographie von Igor Janke über Ungarns mächtigen Ministerpräsidenten und Medienpolitiker. Mit Episoden aus seinem Leben zeichnet der polnische Journalist und Buchautor das Bild einer schillernden Persönlichkeit: Musik Lit Lit 1 Im März 1987 hielt ein junger, bärtiger Student den Polonisten und Dozenten István Kovács auf. Freundlich aber bestimmt bat er ihn, so nett zu sein, den Artikel des polnischen Historikers Maciej Ko´zmínski über den Hitler-Stalinpakt ins ungarische zu übersetzen. Es war nämlich gerade Redaktionsschluss bei der Zeitschrift Századvég und sie hätten gerne noch diesen Text, der damals als rebellisch galt, in ihr untergebracht. Die Bitte war reichlich unverschämt, angesichts des großen Umfangs des Textes und der knappen Bearbeitungszeit, denn der Lehrer hatte insgesamt einen Tag von seinem Studenten bekommen. Der bärtige Student hieß Viktor Orbán. Die Studenten hatten herausgefunden, wie man einen unbequemen Text im Druck unterbringt. Sie gaben das Gesuch um eine Druckerlaubnis mit einem akzeptablen, unspektakulären Inhaltsverzeichnis ab. In die Druckerei gingen dann andere Texte. Der Beamte, der den Druck genehmigt hatte, erzählte Kovács später, wie ihn die Studenten an der Nase herumgeführt hatten. Musik Atmo Intro zur Fernsehsendung „Zár Óra“…. MOD Die Fernseh-Sendung „Zár Óra“. Sie war eine Kultur-Talkschow in Ungarn. Und obwohl sie täglich und zu mitternächtlicher Stunde ausgestrahlt wurde, hatte sie durchschnittlich 100.000 Zuschauer. Das war außergewöhnlich viel, jedenfalls für ein Land mit nur zehn Millionen Einwohnern, wie Ungarn. Garant dieses Erfolges war die junge TV-Moderatorin Alinda Veiszer. Abend für Abend porträtierte sie ungarische Schauspieler, Schriftsteller und Wissenschaftler und stellte ihre Arbeit vor– auf eine Art, die Publikum wie Gäste faszinierte. „Zár Óra“ – „Ladenschluss“ zu Deutsch, war ein anspruchsvolles High-Light des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Bis es von der neuen Medien-und Kultur-Politik der national-konservativen Orbán-Regierung ausgelöscht wurde. Genauso wie die Karriere der ambitionierten Journalistin Veiszer. Atmo Straße, Autos, Schritte REP 2: Ladenschluss – Alinda und das seltsame Ende einer TV-Karriere Atmo Straßenatmo (Autos, Schritte) Autor Der 13. Budapester Stadtbezirk unweit von Parlament und Regierungsviertel ist ein beliebtes Wohnquartier von erfolgreichen Kulturschaffenden. Hier, in einem modernen Appartementgebäude mit Tiefgarage, wohnt Alinda Veiszer. 33 Jahre jung und erfolgreiche TV-Moderatorin. Bis vor kurzem. Atmo Klingelton Haustür Autor „Ophra Winfrey“ steht auf ihrer Klingel – der Name der berühmten amerikanischen Talkshow-Moderatorin. Eine kleine Tarnung. Atmo Türöffner Autor Alinda wohnt im obersten Stockwerk. Sie wartet an der geöffneten Wohnungstür. Hinter ihr stehen Pál, ihr Lebenspartner und Leila, die gemeinsame eineinhalbjährige Tochter. Atmo Begrüßungsszene, reingehen in die Wohnung Autor Das Appartement ist modern eingerichtet mit offener Küche, weißem Designer-Ecksofa, gigantischem TV-Flachbildschirm, großem Aquarium – und einem bunten Ritterzelt, für Leila. Kritisch mustert die Kleine den unbekannten Besuch. Einige Worte kann sie schon… auch nicht so einfache Wörter kann sie schon sprechen. Über uns kann sie schon sprechen, über was sie gemacht hat. …und sie kommuniziert ganz komplizierte Sätze. Autor Mutter und Vater – beide Journalisten – lächeln stolz. Sie stellt auch schon eine Menge Fragen, sagt Alinda. Nämlich: wie heißt du? Und wer bist Du? Und was noch? (fragt Leila auf Ungarisch) wann kommt Vater? (Lacht) Autor Alinda schüttelt lachend ihren blonden Lockenkopf. Doch dann wird ihr Blick ernster hinter der schwarzen Hornbrille. “Wir wollen vielleicht bald auswandern“, sagt Alinda, „deshalb lernen wir jetzt Deutsch.“ Sie und Pál sehen ziemlich schwarz für die Zukunft: Die geistige Enge, die berufliche Perspektivlosigkeit, sagt Alinda, und nimmt dann ein dickes Buch vom Tisch. Ihr Buch. Die interessantesten Porträts aus ihrer populären Mitternachts-Talkshow. In diesem Buch sind 30 Interviews, 30 Gespräche… (Das Kind will mit in dem Buchblätter) …darunter Professoren, darunter Schauspieler … Autor Alinda ist sichtlich stolz auf ihre Sendung „Zár Òra“. Sie hat sie geliebt. Ihre Zuschauer auch. Ich habe Preise gewonnen. Unser Team hat Preise gewonnen. Wir waren so anerkannt und alles was du haben willst, wenn du anfängst mit dieser Sendung. Autor Im Sommer 2011 war dann Schluss mit „Zár Óra“ Auf einmal haben sie gesagt: Es geht nicht weiter. Warum? Ich weiß es nicht, auch heute weiß ich es nicht. Autor Die Sendung - eine Ikone, der aufgeklärten, kultur-interessierten Fernsehzuschauer, passte offenbar nicht zum neuen medien- und kulturpolitischen Kurs. Und diesen bestimmte nun die ein Jahr zuvor gewählte national-konservative Regierung von Viktor Orbán. Nicht nur Politik- und Kultur- Sendungen wurden in den öffentlich-rechtlichen Medien radikal ausgetauscht – auch das Personal. Das waren ganz andere Leute. Die kommen aus anderen Medien, aus so genannten konservativen Medien. Wir haben uns noch nie getroffen, die waren wirklich ganz neu für mich. Autor: Über 500 Journalisten wurden vor die Tür gesetzt. Doch die populäre Moderatorin Veiszer durfte bleiben. Sie bekam eine neue Sendung angeboten. „Ejjeli örjarat“ – „Nachtwache“. Ebenfalls eine Kultur- und Porträtsendung. Allerdings mit neuen Arbeitsbedingungen: Die Gäste, die eingeladen werden wurden, mussten nun zuvor „von oben“ genehmigt werden. Und nicht nur die Gäste – auch die Fragen! „Ich sollte nun eine Frageliste einreichen“, erzählt Alinda empört, während Tochter Leila sich in ihr Ritterzelt verkriecht. Das war ganz interessant. Wie soll ich diese Frage ein bisschen anders fragen und warum? Weil wir eine andere Antwort bekommen möchten? Interessiert mich nicht! Autor Die Journalistin stellte sich quer. Doch es gab keine Diskussionen, und auch keine Informationen über die offensichtlich neue redaktionelle Linie der öffentlichen Sender. Alles blieb im Nebulösen. Auch die neuen Chefs: Und dann habe ich gefragt: Entschuldigung, wer ist das und das und das? Und dann haben sie gesagt, das ist der neue Chef. Super. Zum Beispiel, ich kenne diesen Menschen nicht. Heute auch nicht. Wir haben uns persönlich nicht kennengelernt. Autor Auch Alindas „Nachtwache“ wurde schließlich aus dem Programm gekippt. Wegen „Umstrukturierungen“ hieß es offiziell, weil „zu kritisch“, hinter vorgehaltener Hand. Im Sommer 2012 kam Alindas Tochter zur Welt. Nach nur dreimonatiger Babypause kehrte die engagierte Kultur-Journalistin zurück; sie will weiterarbeiten. Man unterbreitete ihr nun ein Angebot, von dem klar ist, das sie es nicht annehmen würde: Ansagerin bei einer Volksmusik-Hitparade im Hörfunk. Ausgestrahlt auf einem Kurzwellensender. Alinda lehnte ab und wurde nach Ablauf des gesetzlichen Mutterschutzes Ende 2013 gekündigt. Ihre bis dahin glänzende Karriere wurde beendet. Sie kann es noch immer nicht begreifen. Für mich war das ein Ziel, unabhängig zu sein. Also habe ich immer Menschen von der rechten und der linken Seite eingeladen. Weil ich glaube, dass die öffentlich-rechtlichen Medien bei uns das so machen sollen. Also keine Frage, dass ich das gemacht habe und das ist ganz egal jetzt. Autor „Ich kann noch immer nicht emotionsfrei darüber sprechen“, entschuldigt sich Alinda. Was sie heute macht? „Ich arbeite noch immer als Moderatorin“, sagt sie. Jetzt aber bei Diskussionsabenden. Zum Beispiel heute Abend mache ich eine kulturpolitische Sendung sozusagen. Autor Alindas „Sendung“ läuft jetzt in einem freien Theater. Ihre Gäste: Zwei Regisseure. Das Thema: Auswanderung. Und mit den Zuschauern diskutieren wir über diese Emigration und diese Fragen: Warum diese Menschen weggehen, warum sie bleiben, warum sie zurückkommen, usw. Autor Hundert Zuschauer werden erwartet. Früher, im Fernsehen hatte sie hunderttausend. Die Zeiten haben sich geändert. MUSIK Musik Lit 2 LIT 2 Zusammen mit seiner Familie lebte Viktor Orbán zunächst im Haus der Großeltern in Alcsútdoboz, dann zogen sie in das benachbarte Felcsút . Ihr Haus stand am äußersten Rand des Dorfes. Ein Haus in der Mitte des Dorfes bedeutete damals Ansehen und eine hohe gesellschaftliche Position, am Rande des Dorfes verhielt es sich genau umgekehrt. Im Haus der Orbáns gab es kein fließendes Wasser. Viktor und sein jüngerer Bruder wurden von Kindheit an nachmittags auf die Maisfelder der anderen, wohlhabenden Bauern geschickt, um dort die abgebrochenen Kolben zu sammeln. In den Ferien mussten sie einen Monat auf dem Staatsgut in der Nähe arbeiten. Auch zu Hause hatten sie viele Aufgaben: Kartoffeln schälen, Tiere versorgen und den Hof fegen. Der Vater erzog die Kinder mit harter Hand. Wenn Viktor aufbegehrte, und das kam häufig vor, rutschte dem Vater schnell die Hand aus. Musik MOD Als einer der bedeutendsten ungarischen Wirtschafts-und Staatsreformer des 19.Jahrhundert gilt István Széchenyi. Unzählige Straßen und Plätze in ganz Ungarn sind heute nach ihm benannt und sogar Entwicklungs- Programme der Regierung. Doch die unter Széchenyi begonnene Modernisierung erfasste nur einen Teil der Gesellschaft: Während Budapest sich zur modernen, multikulturellen und liberalen Wirtschafts- und Kulturmetropole nach englischem und französischem Vorbild entwickelte – verharrten die ländlichen Provinzen in Rückständigkeit. Der steuerfreie Großgrundbesitz und die Abhängigkeit der verarmten Bauern von den Adeligen blieben weiter bestehen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der KuK-Monarchie entfaltete sich eine starke kulturell-politische Bewegung, die das traditionelle, ländliche Ungarntum in das öffentliche Bewusstsein rückte. Der weltoffenen Großstadt-Kultur standen diese völkisch gesinnten Nationalisten ablehnend gegenüber. Eine Kluft zwischen diesen zwei Lagern – Populisten und Urbanisten genannt - tat sich auf, zunächst nur in der Literatur. Aber sie legte die geistige Grundlage für eine gesellschaftliche Spaltung, die bis heute wirkt. Atmo 3 Stimmen in der Küche, Lachen… Ágnes Széchenyi wohnt auf dem Budaer Burgberg. Aus ihrer, mit antiken Möbeln, hölzernen Kronleuchtern und deckenhohen Bücheregalen großbürgerlich anmutenden Wohnung hat man einen schönen Blick über die Stadt. Die 56jährige Literaturhistorikerin, weitläufig verwandt mit dem berühmten Reformer Istvan Széchenyi, arbeitet an der ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest und lehrt Kommunikationswissenschaften in der nordost-ungarischen Provinzhauptstadt Eger. Durch ihre Arbeit ist sie mit der ungarischen Pressegeschichte und den kulturellen und politischen Lagern von Populisten und Urbanisten und deren geschichtlichen Wurzeln bestens vertraut. REP 3 Das Vermächtnis der Presse- u. Literaturgeschichte Atmo Blättern im Buch Autor Agnes Széchenyi sitzt auf ihrem Sofa, blättert in einem Geschichtsband. Die Literaturhistorikerin musste erst auf eine kleine Trittleiter steigen, um das Werk aus dem obersten Fach ihres wohl drei Meter hohen Bücherregals zu ziehen. Atmo/O-Ton …Ungarisch Autor: „Ich suche nach einer Abbildung von den historischen Parlamentsnachrichten“, sagt sie und gleitet mit den Fingern durch die Seiten. Atmo Blättern… Autor Kein Ring, eine unauffällige Halskette, dunkles Kostüm, kurzes schwarzes Haar – die 56jährige Wissenschaftlerin legt Wert auf schlichte Eleganz. O-Ton Ungarisch Autor „Hier zum Beispiel, das ist diese handschriftliche Zeitung“. Agnes Szechényi tippt auf eine Abbildung. Erscheinungsdatum der handschriftlich vervielfältigten Politik-Postille: 1830. Herausgeber: Lajos Kossuth, Journalist, Politiker, späterer Revolutionär von 1848 und Gegenspieler von István Szechényi, dem Reformer. Dieser setze anders als Kossuth weniger auf politische sondern mehr auf technische Innovationen – auch für Ungarns rückständiges Pressewesen István Széchenyi hat 1832 eine Zeitung nach englischem Vorbild geschaffen. Er war kein Redakteur, aber er hat das in Ungarn zuvor unbekannte Format mit drei Spalten eingeführt. Es war eine gedruckte und sehr gute Zeitung. Autor Die Budapester Presselandschaft war damals, Mitte des 19.Jahrhunderts, schon recht vielfältig, sagt die Wissenschaftlerin. Aber ein regelrechter Boom bei Zeitungen und Zeitschriften setzte erst im letzten Drittel ein - in der Zeit des so genannten österreichisch-ungarischen Ausgleichs. Die Gründe: Ungarns rasanter Wirtschaftsaufschwung, ein liberales Pressegesetzes und: Die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Ungarn. Agnes Szechényi legt das Geschichtsbuch zur Seite. „Viele Juden fanden nun, aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Lese- und Schreib-Kundigkeit eine Anstellung an den neu gegründeten Universitäten“, sagt sie Und selbstverständlich bei den Zeitungen auch. Es liegt eine Statistik aus dem Jahr 1910 vor: Ca. 40 % der Journalisten waren jüdischer Abstammung. Autor Die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung Ungarns fand jedoch hauptsächlich in der Hauptstadt ab. Budapest war bürgerlich und liberal geprägt. Ungarns assimilierte Juden, obwohl eine Minderheit, spielten in Wirtschaft und Kultur eine tragende Rolle. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. Am Ende des ersten Weltkrieges befand sich Ungarn im totalen Chaos. Das alte System – die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie - war auseinandergebrochen Autor Das Königreich Ungarn wurde von den Siegermächten zerstückelt, verlor zwei Drittel seines Landes an die neuen Nachbarstaaten. Kurzfristig kam ein kommunistisches Terror-Regime an die Macht. Doch das wurde gestürzt durch das ebenfalls gewalttätige Regime des Admiral Horthy. Restungarn rutschte in eine tiefe Krise. Sie führte zu einer neuen Identitätssuche. Auch in der Literatur. Es kam zu einer intellektuellen Spaltung zwischen so genannten Populisten und Urbanisten, erzählt die Forscherin und streichelt ihren alten Hund, der sich zu ihr auf das Samt-Sofa gelegt hat.. Jetzt sind wir in den 1930er Jahren angelangt. Die so genannten Populisten bäuerlicher Abstammung, die sehr talentiert waren und sich vor allem mit den ungarischen Schicksalsfragen auseinander gesetzt haben, haben damals eine Zeitschrift gegründet namens „Válasz“ – auf Deutsch: die “Antwort“. Und das war auch die Geburtsstunde eines für Ungarn spezifischen Genre: Die literarische Soziographie, in der das bäuerliche Leben verschiedener Regionen vorgestellt wurde. Autor Ein Teil dieser populistischen, der ungarischen Mythologie und Vergangenheit zugewandten Literaten, unterstützte den damaligen Ministerpräsidenten Gömbös, der den deutschen Nationalsozialisten nahestand. Ein anderer Teil fand das nicht in Ordnung. So entstand eine komplizierte intellektuelle und politische Gemengelage. Dennoch: Zu dem gemeinsamen Nenner der Populisten gehörte: Antikapitalistische Haltung. Dazu gehörten auch Antisemitismus und Nationalismus. Autor Man träumte von der Wiederherstellung eines großungarischen Königreichs. Auch die Ablehnung der Urbanisten gehörte zum gemeinsamen Feindbild der völkisch gesinnten Populisten. Denn das Schriftsteller-Lager der Urbanisten, zu dem auch der berühmte Lyriker Jozsef Attila zählte, propagierte ein liberales, weltoffenes Gesellschaftsbild. Zudem gehörten ihm viele jüdische Ungarn an. Viele behaupten, dass die Gegenüberstellung von Urbanisten und Populisten nur eine Tarnung des Antisemitismus ist. Autor Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die kulturellen Gegensätze in der ungarischen Gesellschaft von den Kommunisten gleichgeschaltet. Doch mit dem schleichenden Machtverlust des Kadar-Regimes, tauchten sie wieder auf: In der Oppositionsbewegung. Das Lager der völkisch gesinnten Oppositionellen wurde von dem Journalisten und Dramatiker István Csurka repräsentiert, die bürgerrechtlich und international orientierten Kadar-Gegner von dem Journalisten Miklos Vásarhély. 1986 – also noch vor der Wende – kündigte Csurka das Oppositionsbündnis auf: In der Begründung zog er eine Parallele zu den Gegensätzen von Urbanisten und Populisten in der 30er Jahren. Csurka hat auch darauf hingewiesen, dass die Urbanisten Juden sind. Praktisch hat er einen alten Konflikt zwischen zwei Lagern wieder ins Leben gerufen – nur mit anderen Protagonisten. Autor Nach der Wende sammelten sich die beiden Lager in neuen politischen Parteien, der liberalen SZDZ (SDS) und den nationalkonservativen MDF (MDF). Beide Parteien sind inzwischen wieder verschwunden. Aber die Lager existieren weiter und die Fronten zwischen ihnen sind verhärtet, sagt Agnes Szechenyi und rührt ein Stück Kandiszucker in ihrer Kaffeetasse. Für die größten Populisten heute halte ich Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei. Und für die korruptesten auch. Und die Urbanisten: Zurzeit versammeln sie sich in dem Wahlbündnis rund um Bajnai , Gyurcsány und Mésterházy. Aber eigentlich sind das eher linke Modernitätsbefürwortern als Urbanisten. Autor Anders als in dem ersten Jahrzehnt nach der Wende, geben die Populisten heute auch den Ton in den meisten Medien an. 90 Prozent der Medien, seien es Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk oder Fernsehen, sind auf der Seite der nationalkonservativen Populisten oder der Rechtsextremen, schätzt die Professorin. Der Rest steht im Lager der links-liberalen. Und unparteiische, unabhängige Medien? „Es gibt keine! Keine einzigen!“ Autor Ein konstruktiver öffentlicher Dialog, wie er für eine Demokratie so wichtig ist, kommt wegen der unversöhnlichen Lager in Politik und Medien in Ungarn bis heute nicht zustande. bedauert die Kommunikationswissenschaftlerin Agnes Szechényi MUSIK Musik Lit 3 LIT 3 Professor Kovács war ziemlich bekannt in den Reihen der Budapester Intellektuellen. Damals traf er sich ein paar Mal mit liberalen Leuten. Einer von ihnen sagte ihm unumwunden: „Wir wissen schon, wen man hassen muss. Orbán muss man hassen.“ Am nächsten Tag ging der Professor ins Parlament, um Orbán zu sich zum Abendessen einzuladen. „Ich wollte ihm helfen. Ich hätte es gerne gesehen, dass er seine eigene intellektuelle Korona hat“, erinnert sich Kovacs. Der Professor kochte Fischsuppe und unterbreitete während des Essens den Vorschlag, Orbán sollte eine Vorlesungsreihe an der Universität haben. Er stimmte zu, bat aber darum, dass der Raum nicht zu groß sein sollte, weil es ihm unangenehm sei, vor halb leeren Bänken zu reden. Er glaubte nicht, dass viele zu seinen Vorlesungen kommen würden. Professor Kovacs: „Ich verschaffte ihm natürlich den größten Saal. Als Orbán dann zum ersten Mal kam, war der Saal brechend voll. Bei den folgenden Vorlesungen war es genauso.“ Musik MOD Der ungarische Botschafter in Deutschland musste im vergangenen Jahr beim deutschen Fernsehen anrufen und sich wegen eines angeblich Orbán-kritischen Beitrags beschweren – er lief im Kinderkanal „Kika“. In Budapest marschierten Fidesz-Anhänger vor der schwedischen Botschaft auf wegen einer unrühmlichen Ungarn-Reportage im schwedischen Fernsehen. Die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet konterte den vermeintlichen Angriff auf die Nation mit einer Schweden-kritischen Artikelserie. Die Regierung von Viktor Orbán hat eigens eine Presseabteilung nur für ausländische Medien eingerichtet. Sie soll das international angeschlagene Image der Fidesz-Regierung verbessern. Ihr Sprecher, der Staatssekretär Ferenc Kumin, beschwert sich in seinem Blog regelmäßig über unfaire und unwahre Berichterstattung über sein Land, verweigert aber ein Interview zu diesem Thema. Das mächtige Fidesz-Lager gibt sich arrogant und wenig souverän im Umgang mit aus- und inländischen Journalisten, die mehr wollen als nur die Propaganda der Regierung nachzubeten. Doch vor allem in den ungarischen Internetmedien, gibt es junge Reporter, die sich nicht mehr ins traditionelle politische Lager-Schema einordnen lassen. Sie wollen einen frischen, kritischen und unabhängigen Journalismus. Atmo Straßenatmo mit Straßenbahn und Sirenen Nur wenige Straßenbahn-Haltestellen von Parlament und Regierungsviertel entfernt, am pulsierendem Margit Körút firmiert Ungarns jüngstes und schnell wachsendes Online-Nachrichtenportal. Sein Name: „444“. Sein Ruf: Frisch, frech frei und unabhängig. Die 20köpfige Redaktion arbeitet im zweiten Stock eines Wohnhauses. REP 4: Das Nachrichten-Portal 444 Atmo Gehen vom Konferenzraum in Redaktionsraum, an Gergös Arbeitsplatz... Autor Ein rotlackierter Rodelschlitten lehnt an der Wand des Wohnungsflurs. Daneben steht ein schwarzer Computer-Server. Nervös flackern die grünen LED-Leuchten seiner Festplatten. Atmo Stimmen der anderen im Hintergrund Autor Gergö kommt mit Gläsern und einer Wasserflasche aus der Küche, geht hinüber in das kleinere der beiden Wohnzimmer. Hier ist Gergös Arbeitsplatz, der von Támas, von Bence und auch der von Peter – dem Chefredakteur von „444“. Aber der ist nicht da. Atmo Computer an, Kaffeetasse Autor Im großen Wohnzimmer nebenan arbeiten weitere acht Männer. Allesamt sind sie zwischen Mitte zwanzig bis Mitte dreißig. Einer von ihnen ist Gergö Plankó. Er trägt ein offenes Holzfällerhemd und verwuschelte schwarze Locken. Was „444“ bedeutet? Auf der ungarischen Computer-Tastatur ist das „Ausrufezeichen“ dort , wo normalerweise die Vier ist. Wenn man schnell schreibt und dabei vergisst die „Shift“-Taste zu drücken beim „Ausrufezeichen“, dann hat man eine vier geschrieben. Besonders beim Chatten passiert es häufig, da dort sehr schnell geschrieben wird. Autor Auch bei 444, Ungarns jüngstem Online-Nachrichtenmagazin, wird extrem schnell geschrieben. Besonders die Kurz-Nachrichten in der linken Spalte. Auf der linken Seite sieht man etwas Neues. Vorbild war dafür war die Pinnwand bei Facebook. Dort stehen kurze Nachrichten. Es gibt jeden Tag zwei Moderatoren, die diese Kurznachrichten zusammenstellen. Manchmal wird aus einer kurzen Nachricht auf der linken Spalte auch eine größere Geschichte für die rechte Seite. Autor Bence und Tamás, Gergös Schreibtisch-Nachbarn sind heute die Tages-Moderatoren. Bence googelt gerade, Tamas wippt mit den Füßen auf einem Skateboard und hört beim Schreiben Musik auf kleinen Kopfhörern. Gerade erscheint seine frische Kurznachricht auf der Seite. Das ist aus einer Pressemitteilung von einem Staatssekretär der Fidesz-Regierung, der nicht so richtig versteht, warum die Leute gegen das neue Atomkraftwerk sind, das Ungarn jetzt zusammen mit den Russen bauen will. Er sagt, auch Solar-Zellen nutzten doch schließlich die nuklearen Kräfte der Sonne. Das ist ganz offensichtlich Blödsinn, was der Mann da von sich gibt - und wir präsentieren das hier. Autor Kurznachrichten im vertraulichen-persönlichen Twitter-Stil. „Politik, Technik, Kultur, Sport und ziemlich viel Quatsch aus dem Internet. Wir machen alles“, sagt Gergö. Längere, selbst recherchierten Geschichten und Videoreportagen gibt es auch. „Wie bei den klassischen Nachrichten-Portalen, nur etwas frecher vielleicht, meint der junge „Onliner“ und klickt einen aktuellen Video-Feed auf seinem Bildschirm an. O-Ton Video mit Musikuntermalung … Autor Das Video zeigt den Kollegen Bence. Mit einem Kameramann lauert er in der Parlamentslobby auf Abgeordnete der Regierungspartei. Seine Frage an die Politiker ist immer die gleiche: Wie können sie über einen Vertrag abstimmen, dessen Inhalt sie gar nicht kennen? Atmo Video Autor Es geht um das neue ungarische Atomkraftwerk, das die Russen bauen sollen. Eine dazugehörige Studie über die Wirtschaftlichkeit hält die Regierung unter Verschluss. Atmo Video Autor Manche Politiker versuchen den 444-Reportern aus dem Weg zu gehen. Andere sondern nichtssagende Floskeln ab. Sichtbar genervt. Die einfache Journalistenfrage ist ihnen unangenehm. Der Grund dafür ist, sie sind daran gewöhnt, „weiche“ Fragen gestellt zu bekommen. Sämtliche Pressekonferenzen gehen so über die Bühne, dass niemand eine relevante Frage stellt. Aber wenn man zulässt, dass ein Politiker bequem wird, dann wird er auch bequem. Autor Der üblichen Hofberichterstattung etwas entgegen zu setzen. Das sehen die jungen Journalisten von 444 als ihren Auftrag. Ohne Rücksicht auf politische Lager. Es gibt bestimmt Menschen, die von uns eine eindeutigere oppositionelle Haltung erwarten, andere wiederum mehr auf der Seite der Regierung. Aber das Wesentliche ist, wir können bar jeder Erwartungen unabhängig bleiben. Autor Das kommt an bei den Nutzern. 100.000 sind es täglich. Tendenz steigend. Vor allem bei den jungen Ungarn, die sich ansonsten kaum noch für die Politik interessieren. Die meisten Medien versuchen ja gezielt die Jugendlichen ansprechen. Aber das wirkt meistens ziemlich gewollt. Anscheinend gelingt uns das ganz mühelos. Vielleicht wegen des Designs, oder wie wir die Nachrichten präsentieren. Um ehrlich zu sein, ich weiß auch nicht genau, aber es freut uns sehr, dass es so ist. Autor Seit einem Jahr gibt es 444. Der Chefredakteur und nahezu die gesamte 20köpfige Truppe ist von „index.hu“ gekommen, Ungarns ältestem und größten Online-Nachrichten-Portal. Warum sie dort ausgestiegen sind? Gergö lächelt und sagt nichts. Es könnte die zunehmende Einflussnahme von Regierungsstellen gewesen sein. MUSIK dann Kreuzblende mit: Atmo Fußgänger und Dom-Glocken Mod Eger ist die Hauptstadt des Komitats Heves. Der Verwaltungsbezirk liegt in Ungarns Nordosten. Die Region rund um die waldreichen Mittelgebirge Matra und Bükk ist dünn besiedelt und landschaftlich attraktiv. Aber sie leidet unter wirtschaftlichen Problemen. Kohlebergbau und Schwerindustrie haben die Wende nicht lange überlebt und Arbeitslosigkeit und Armut hinterlassen. Wer konnte zog woanders hin. Alte und schlecht Qualifizierte blieben. Seit einigen Jahren gibt es aber auch hoffnungsvolle Entwicklungen: Der Weinanbau rund um die Bischofsstadt Eger hat wieder Fuß gefasst. Neue Thermalbäder, Nationalparks und unverbrauchte Natur locken zunehmend Touristen an. Aus dem gröbsten heraus ist auch die Tageszeitung der Region, „Heves Hirlap“ aus Eger. Ihr Erfolgsrezept: unabhängiger, handfester Journalismus – wie er in der hauptstädtischen Tagespresse eher selten ist. Auf Qualität und Profitabilität legt auch der Eigentümer von „Heves Hirlap“ großen Wert: der deutsche Axel-Springer-Verlag. REP 5 : Wie eine Regionalzeitung sich behauptet Atmo (Geräusche in der Redaktion) Autor Ockerfarbene Wände, moderne Büromöbel aus dunklem Holzimitat, viele Grünpflanzen. Die modernen Redaktionsräume des Heves Hirlap sollen für eine entspannte, angenehme Arbeitsumgebung sorgen. Etwa zehn Redakteure arbeiten hier gerade an ihren Schreibtischen. Es ist ein Uhr - noch drei Stunden bis Redaktionsschluss. O-Ton (Anzeigenfrau) Ungarisch … Autor „Diese Kolleginnen sind noch unterwegs, irgendwo draußen in den Kreisen“, sagt Beata Fodor, die Leiterin der Anzeigenabteilung und zeigt auf zwei leere Schreibtische. O-Ton (Anzeigenfrau) Schritte… Autor „Und hier sitzen unsere Praktikanten“ sagt die Anzeigen-Chefin und nickt einem jungen Mann zu, der fleißig in seine Tastatur tippt, dann unterbricht und auf den Bildschirm starrt: Der Dekan der Hochschule in Eger gibt ihm gerade ein Online-Interview. Atmo Schritte Autor Im Nachbarraum telefoniert ein grauhaariger, älterer Redakteur. „Das ist unser Jurist, er trägt einen Doktor-Titel und kümmert sich um die Bereiche Recht, Polizeiwesen, Gerichte“, sagt Frau Fodor und lächelt im freundlich zu. O-Ton Anzeigenfrau (Ungarisch) Autor Hinter ihm arbeitet eine junge Kollegin. „Zita pflegt unsere Online-Seiten und postet Nachrichten aus dem Blatt auch bei Facebook“ fährt sie fort. Dann dreht sich die Anzeigenchefin um. „Und da kommt gerade unser Chef zur Tür herein“. Atmo Begrüßung Autor Janos Bán entschuldigt sich für die Verspätung, bestellt Kaffee für sich und seinen Besuch und bittet in sein Büro. Der 45Jährige wirkt sportlich-adrett, trägt dunkles Jacket und schwarze Jeans. Am rechten Handgelenk blitzt ein schmaler Metall-Armreif. O-Ton Bán (Ungarisch) Autor „Zwei bis dreimal in der Woche“, komme ich hier rauf nach Eger“, sagt er. Bán fungiert als Chefredakteur und Herausgeber gleich für zwei regionale Tageszeitungen: Den Heves-Hirlap in Eger und ein weiteres Blatt im Nachbarkomitat. Beide Zeitungen gehören zum deutschen Axel-Springer-Verlag, sagt Bán und greift nach der heutigen Ausgabe des Heves-Hirlap: Atmo Blättern... Autor Die heutige Titelgeschichte beschäftigt sich mit Straßenmaut, die in Ungarn auf allen Autobahnen und zumindest für Lkw jetzt auch auf vielen Nationalstraßen gilt. Die Frage ist, wie groß die Einnahmen von Maut-Gebühren sind. Werden diese Einnahmen für die Erneuerung der Landstraßen hier im Komitat verwendet? Wir haben auch über die neuen Regelungen in der Straßenverkehrsordnung berichtet. Autor Auf Seite zwei wird das Titelthema mit Zusatz-Informationen und Interviews mit Offiziellen und mit Bürgern noch weiter vertieft. Vor allem geht es darum, wie ausländische Lkw-Fahrer versuchen die Maut-Gebühren dadurch zu umgehen, indem sie kleine Landstraßen ohne Maut benutzen. Das verursacht große Schäden. Die Einheimischen interessiert vor allem: Wie kann man erreichen, dass die großen Lkw die Autobahnen benutzen? Und wie kann der Verkehr in den kleinen Dörfern sicherer werden? Autor Die tägliche Berichterstattung unserer Zeitungen sollen sich auf drei Schwerpunkte konzentrieren, sagt der Chefredakteur: Arbeit, Gesundheit und öffentliche Sicherheit. Atmo blättern Autor Bán blättert weiter. Zwölf Seiten hat der Heves Hirlap. Die große Politik ist hier eher klein und ziemlich weit hinten. „Die Orientierung an parteipolitischen Lagern, wie bei den großen Tagesblättern oder bei Radio und Fernsehen haben wir hier nicht“, betont der Chefredakteur. Die Leute hier in der Provinz sind mehr mit dem Durchkommen im Alltag beschäftigt als mit irgendeiner abstrakten, politischen Debatte. Sie haben weniger Zeit dafür. Anderseits ist ihr Urteilsvermögen nüchterner, glaube ich, weil sie die Alltagsrealität am eigenen Leib spüren. Man kann einem Dorfbewohner nicht damit beeindrucken, dass die Arbeitslosenzahlen und die Kriminalität sinken, wenn er selbst keine Arbeit hat und immer wieder beklaut wird – so einfach ist das. Autor Vor allem für die Rechtsextremen ist die so genannte „Zigeuner-Kriminalität“ ein politisches Thema. Sie sind sehr populär in der Region. „In unserer Zeitung versuchen wir diese Themen und Konflikte mit Sachlichkeit und Vernunft zu handhaben“ ,versichert der erfahrene Journalist. „Aber übergehen können wir sie nicht.“ Atmo blättern Autor Die Konflikte draußen in der Welt gibt es dagegen nur noch als Kurznachrichten. Auch die Kultur- und Theaterseite am Wochenende wurde abgeschafft. Jetzt bringt der Heves Hirlap stattdessen immer ein Porträt einer lokalen Persönlichkeit. Am Donnerstag gibt es eine Hochschulseite, die von der Fachhochschule in Eger selbst gestaltet wird. Sie ist für die junge Generation gedacht. Zum Beispiel: In diesem Artikel geht es um Gewinner von der Fernseh-Talentshow X-Factor , die an der Hochschule studiert haben. Damit will man um potenzielle Studenten werben. Autor Die Zeitung näher an die Leser bringen und gleichzeitig Geld sparen, das waren die großen Herausforderungen der letzten Jahre. Denn der Heves Hirlap, die einzige Tageszeitung der Region, stand finanziell am Abgrund. Wegen der Wirtschaftskrise brach das Anzeigengeschäft weg. Mitarbeiter mussten entlassen, der Verkaufspreis der Zeitung erhöht werden. Schmerzhaft für viele Leser mit wenig Geld. Die Auflage liegt bei 14.000, sagt Bán, aber unsere Zeitung geht durch viele Hände. Auch innerhalb der Nachbarschaft. Ja, das liegt am wenigen Geld. Die Nachbarin kommt dann um 10.00 Uhr, um die bereits gelesene Zeitung abzuholen. Drei bis vier Leser hat das durchschnittliche Exemplar vom Heves Hírlap – und das ist noch eine vorsichtige Schätzung. Autor Die Leser der Online-Ausgabe lassen sich dagegen exakt ermitteln: 30- bis 35.000 am Tag. Nicht schlecht für eine Provinzzeitung. Und auch ein Erfolg von Janos Bán. Ich finde auch den Journalismus bei einer Regionalzeitung interessanter als den ständigen politischen Schlamassel bei einer großen Budapester Tageszeitung. Autor Janos Bán mag seinen Job hier draußen in der ungarischen Provinz. Musik Gesichter Europas: Populisten und Urbane – Journalismus und Medien in Orbáns Ungarn. Eine Sendung mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr. Musik und Regie: Babette Michel. Technik und Ton: Angelika Bruchhaus und Wolfgang Rixius. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch von Igor Janke: Viktor Orbán – Ein Stürmer in der Politik, erschienen im Schenk Verlag Passau 2014, gelesen von Axel Gottschick. Redakteur am war Mikrofon: Norbert Weber. Musik 5