HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Literatur Sonntag Titel der Sendung : Polnische Verhältnisse lesen ? mit der Schriftstellerin Olga Tokarczuk Autorin : Sabine Adler Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 11.12.2016 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Polnische Verhältnisse lesen ? mit der Schriftstellerin Olga Tokarczuk Von Sabine Adler Atmo: U-Bahn Moritzplatz (Ansage offen, Fahrgeräusch bleibt unter dem Text- Auszug) Sprecherin 1: Alle sagten immer wieder voller Begeisterung: die Stadt, die Stadt, und hatten offensichtlich eine gemeinsame Vorstellung im Kopf, die mir ? der gänzlich Fremden hier ? unbegreiflich war. War ich blind für etwas, was sie erblickten, für geheimnisvolle Verbindungen zwischen unordentlich dahingeworfenen Orten, die sich wie unterschiedlich geformte Perlen auf die verhedderten Schnüre der U-Bahnlinien reihten? (?Spiel auf vielen Trommeln?, S.82 f. ) (Geräusch eines fahrenden Zuges über Gleise) Autorin: Bleiben oder gehen? Heimat oder Fremde? Olga Tokarczuk ist jahrzehntelang mit einer Gründlichkeit sesshaft gewesen, als ob sie ihre Heimat Niederschlesien erst hätte verlassen können, nachdem jeder Winkel ausgeleuchtet, vermessen, betrachtet, reflektiert ist. Mit demselben Scharfblick schreitet sie später durch die Fremde, scheinbar ziellos, aber ebenso ausdauernd und intensiv. In der Großstadt Berlin droht sie sich jedoch selbst abhanden zu kommen. Sprecherin 1: Die Stadt, die Stadt, sagten sie immer wieder voll Stolz, voll Begeisterung und nahmen damit gemeinsam teil an einem mir unverständlichen Mysterium. Doch auch Neuankömmlinge schlossen sich ihnen darin an, diese waren in der Regel sogar noch begeisterter. Gab es auch solche wie mich? Verloren, doch guten Willens, diesen ?Stadt? genannten Traum im Freien gleich welcher Form zu fassen zu bekommen. (ebenda, S.83) Autorin: Fern der Heimat nimmt Olga Tokarczuk wechselnde Identitäten an und knüpft mit anderen Zugezogenen ein neues Netz, das ihren freien Fall ins Bodenlose auffängt. Die fremde Sprache bleibt ihr unverständlich, Gesichter schieben sich über Gesichter. Ein Jahr lang lebt sie in Kreuzberg nahe am Künstlerhaus Bethanien, folgt den Rhythmen der Nacht. Aus Berlin bringt sie ihren Erzählband ?Spiel auf vielen Trommeln? mit. MUSIK: Afrikanische Trommeln Sprecherin 1: Immer tauchte jemand auf, der nicht ganz nüchtern war und voller Begeisterung nach dem Tamburin griff, dem sichersten Instrument, das am besten bekannt war. Das war ihm gestattet. Sollte er ruhig meinen, er sei wieder im Kindergarten. Er schlug dann mit der Faust auf die Membran, bis die blechernen Rädchen schepperten, bis dieser metallische Klang nicht mehr zu ertragen war. Und wenn das betrunkene Tamburin uns zur Besinnung kommen ließ, schloss sich ihm natürlich die Blechtrommel an, sein militärischer Verwandter, und es wurde bedrohlich. (?) Es entstand ein Lärm, der nicht auszuhalten war, und alle anderen mischten sich ein: das afrikanische Dundun, das röchelnde Idiophon, das sich wie menschliches Reden anhörte, das nur von Frauen gespielte Tympanon, etliche doppelte Nakkars, einzelne selbstgemachte Trommeln, die aus dem angefertigt waren, was gerade zur Hand gewesen war, Kindertrommeln aus dem Spielzeugladen, aber auch die raffinierten exotischen Mu Jü in Fischform. Und dann erst entstand eine wahre Symphonie der Erfüllung, die Rhythmen überlagerten einander, echoten, liefen auseinander. (?) Jeder von uns war seine eigene ruhelose vibrierende Bewegung und trank den Rhythmus von außen auf wie etwas, das wichtiger war als das jämmerliche Piepsen unseres Ich. (ebenda, S.99 f.) MUSIK ausklingende Trommeln geht über in MUSIK (Assoziation mit Natur und Weite ? vielleicht Horn?) Autorin: Wenn Olga Tokarczuk schreibt, entflieht sie in die Einsamkeit auf ein Gebirgsplateau im polnisch-tschechischen Grenzgebiet. Alle ihre Bücher entstehen im Sommer in dem Landhaus dort. Es gehörte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges einem vertriebenen Deutschen, zu dem sie immer noch Kontakt hält. Überwintert wird in Wroclaw/Breslau. ATMO CAFÉ Autorin: Obwohl ganz in schwarz gekleidet, wirkt Olga Tokarczuk nicht düster. Ihre freundlichen grünen Augen strahlen. Sie schiebt sich den Dutt aus dem Geflecht langer Rastazöpfe zurecht, dreht sich eine Zigarette und wünscht sich von Krakau, wo wir uns treffen, nach Breslau, nach Hause. Zu Wroc?aw, das die Deutschen ruhig Breslau nennen können, spürte sie von der allerersten Begegnung an eine tiefe Verbundenheit. OT 2 Sprecherin 1: ?Ich habe Wroc?aw/Breslau zum ersten Mal mit sechs Jahren gesehen. Wir haben damals bei Zielona Góra/Grünberg gewohnt, das war ungefähr 1968, und damals gab es in Breslau noch viele Baulücken. Diese enorm zerstörte Stadt hat auf mich einen sehr großen Eindruck gemacht. Mir erschien sie wie ein großes Tier, das verletzt worden war und nun schwer verwundet darniederliegt. Diesem Riesentier gehörte mein ganzes Mitleid. Im Bus klebte ich am Fenster und war schockiert. Damals gab es sehr viele Ruinen, ganz anders als heute, wo alles renoviert ist.? Autorin: Drei Viertel der Stadt waren im Zweiten Weltkrieg zerstört, die jüdische Gemeinde ? die zweitgrößte Deutschlands ? vernichtet worden. Im Potsdamer Abkommen 1945 vereinbarten die Siegermächte nach Kriegsende die Westverschiebung Polens. Die deutschen Ostgebiete, unter anderem Schlesien, wurden Polen zugeordnet, die deutsche Bevölkerung vertrieben. Autorin: In die ehemals deutschen Orte zogen Polen ein. Sie stammten aus dem Ostteil des Landes, der nun der Sowjetunion gehörte. Ribbentrop und Molotow, die Außenminister des Deutschen Reiches und der UdSSR, hatten 1939 in einem Zusatzprotokoll des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes Ostpolen zum sowjetischen Interessengebiet erklärt. Auch die Eltern von Olga Tokarczuk verloren ihre Heimat an die Sowjetunion. Sie mussten umsiedeln und ließen sich 1000 Kilometer weiter westwärts in Niederschlesien nieder. In einem Dorf, in dem nur die Deutschen geduldet wurden, die sich polonisieren lassen hatten. Olga Tokarczuk wurde von einem Kindermädchen mit deutschen Wurzeln betreut und war somit von klein auf von Menschen aus verschiedenen Kulturen umgeben. OT 4 Sprecherin 1: ?Für mich war es etwas ganz normales, dass die Bevölkerung gemischt war, das es viele Kulturen gab, viele Sprachen. Ich erinnere mich, dass ich diese Gegend an der Grenze interessant fand, weil man nicht alles gleich auf Anhieb sah und verstand. Das war auch ein bisschen geheimnisvoll. Man konnte sich Geschichten ausdenken über die Leute, die dort wohnten, oder die, die dahin kamen. Breslau ist die Verkörperung dieser Mischung. Dieses Breslau wurde zu einem Ort, der viele verschiedene Menschen aufnahm, wo sie sich integrieren konnten. Und doch ist die Stadt tief in ihrem Inneren heute polnisch. Hier spricht niemand andere Sprachen und es gibt wenige Ausländer, kaum Nichtchristen. Wie in ganz Polen. Es ist charakteristisch für Polen, dass es während der Zeit des Kommunismus zu einem Monolithen wurde, was die Kultur betrifft. Ich will mich nicht selbst betrügen und etwas schönreden. Auch für Breslau gilt, dass es heute nach wie vor sehr homogen ist, selbst wenn sich die Stadt immer gern als ein Multi-Kulti-Ort ausgibt.? Autorin: Breslau, Schlesien, die ehemaligen deutschen, nun polnischen Gebiete, wurden von den neuen Bewohnern nicht wirklich in Besitz genommen. Erst als das wiedervereinigte Deutschland 1991 die Oder-Neiße-Grenze als Polens Westgrenze anerkannte, konnten sich die Einwohner sicher sein, nicht wieder Hab und Gut packen und für die alten Eigentümer Platz machen zu müssen. Solange aber unklar war, ob die Deutschen nun der Vergangenheit angehörten, solange nahm sich auch niemand des deutschen Erbes an. Doch jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sagt Olga Tokarczuk. OT 5 Sprecherin 1: ?Die Geschichte Breslaus ist längst nicht zu Ende erzählt. Wir wissen wenig über die deutschen Spuren in der Vergangenheit bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Ich finde, wir sollten diese deutschen Spuren viel genauer zurückverfolgen, denn unter den früheren deutschen Einwohnern gab es eine Reihe Nobelpreisträger. Man könnte Straßen nach ihnen benennen, damit man weiß, welche berühmten Einwohner Breslau mal hatte.? Autorin: Eine Josef-von-Eichendorff-, Gerhard-Hauptmann- oder Ferdinand-Lassalle-Straße, eine Dietrich- Bonhoeffer- und Edith-Stein-Straße wären nach ihrem Geschmack. Könnte Breslau der Ort sein, an dem Olga Tokarczuks nächstes Buch spielt? OT 6 Sprecherin 1: ?Natürlich, klar! Das wäre eine echte Aufgabe. Ich habe schon länger vor, ein Buch über die Geschichte Niederschlesiens zu schreiben.? Zäsur (MUSIK) OT 7 Sprecherin 1: ?Kaum jemand weiß, dass nach 1948 einige Zehntausend griechische Flüchtlinge in Niederschlesien aufgenommen wurden. Das waren Kommunisten, die aus Griechenland während des Bürgerkrieges rausgeworfen wurden. Sie kamen nach Breslau, Reichenbach (Dzier?oniów), Langenbielau (Bielawa) und Waldenburg (Wa?brzych), damals bereits polnische Orte. Und diese griechische Gemeinschaft gibt es dort bis heute, allerdings ist sie inzwischen fast völlig polonisiert.? Zäsur (MUSIK) OT 8 Sprecherin 1: ?Dann ist da noch die Gruppe der französischen Remigranten. Das sind Polen, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich emigriert waren und dort während des Zweiten Weltkrieges in der französischen Résistance gekämpft hatten. Die neue kommunistische Regierung in Polen bat sie, in die Heimat zurückzukehren. Einige Zehntausend kamen. Sie sprachen inzwischen Französisch, aßen französische Gerichte. Und nachdem sie sich in Niederschlesien niedergelassen hatten, gingen sie ganz in der polnischen Gesellschaft auf.? ?Oder die Leute aus Ostpolen, aus den Regionen hinter dem Bug. Aus Podolien und Wolhynien und den Gebieten, die Polen an die Sowjetunion verloren hat. In Waldenburg lebten Ostpolen mit Frankreich-Rückkehrern zusammen. Völlig unterschiedliche Kulturen ? dementsprechend gab es Verständigungsschwierigkeiten.? Zäsur (MUSIK) OT 9 Sprecherin 1: ?Und schließlich noch die Geschichte mit den Juden, sie ist ungewöhnlich im Europa der Nachkriegszeit, denn von den Juden, die den Holocaust in der Sowjetunion überlebt hatten, kamen viele nach 1945 nach Niederschlesien. Sie waren in die Sowjetunion geflohen und sind dann hinter den Ural deportiert worden, was sich als ihre Rettung erwies. Sie versuchten, ihre jüdische Gemeinschaft wieder aufzubauen. Es gab sogar die Idee einer Jüdischen Republik in Reichenbach und Langenbielau.? Autorin: Der polnische Sachbuch-Autor Gabriel Berger hat zu diesem fast vergessenen Kapitel polnischer Geschichte ein gründliches Quellenstudium betrieben und widmet dem historischen Versuch, ein Gebiet unter jüdische Selbstverwaltung zu stellen, eine Abhandlung, die jüngst im Berliner Lichtig-Verlag erschien. Der Titel: ?Umgeben von Hass und Mitgefühl - Jüdische Autonomie in Polen nach der Schoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns?. OT A: Gabriel Berger - Jüdisches Autonomes Gebiet (deutsch) ?Es ging darum, dass die Juden in Polen verbleiben, aber eine weitgehende Autonomie bekommen und zwar im kulturellen Bereich vorwiegend. Es entstanden eigene Wirtschaftsstrukturen, von Juden organisiert. Sie hatten eigene Schulen, Verlage, Theater, Kultur- und medizinische Einrichtungen mit Jiddisch als Sprache. Also ein komplettes System der Selbstorganisation ihrer jüdischen Teilgesellschaft in Polen.? Autorin: So aufgeschlossen die kommunistische polnische Führung dem jüdischen Autonomen Gebiet anfangs gegenüber stand, so schnell war es damit vorbei, als der sowjetische Diktator Josef Stalin eine Kehrtwende gegenüber dem soeben gegründeten Staat Israel vollführte. Wohlwollen schlug in Ablehnung um, als klar wurde, dass sich Israel nicht als sozialistischer Vorposten in der arabischen Welt verstand. Wirklich sicher konnten sich Juden in Polen auch nach dem Ende des Holocaust nicht sein. Zahlreiche Übergriffe fanden statt, es kam an etlichen Orten zu Pogromen, so in Kielce, Warschau, Krakau, Tschenstochau, Radom oder ?ód?. Gabriel Berger hat die Opfer zusammengerechnet. OT B: Gabriel Berger - 2000 Tote Juden nach 1945 (deutsch) ?Man beziffert die Gesamtzahl der ermordeten Juden nach dem Zweiten Weltkrieg etwa von 1945 bis 1949 auf 1600 bis 2000. Das klingt sehr dramatisch. Man muss es aber in Beziehung setzen zu der allgemeinen Situation, die in Polen herrschte: Es gab eine sehr große Anzahl von kriminellen Morden, bis zu 8000 pro Jahr, was die allgemeine Bevölkerung betraf. Es gab eine allgemeine Rechtlosigkeit, die betraf natürlich die gesamte polnische Bevölkerung, aber insbesondere die Juden.? Autorin: Zwar stammen die meisten Helfer, die Juden das Überleben während des Holocaust ermöglicht hatten, aus Polen, die israelische Gedenkstätte Jad Vaschem verzeichnet 6600 polnische sogenannte Gerechte der Völker, doch andere Landsleute erwiesen sich als Helfershelfer der Nazis. OT C: Berger - Kollaboration ?Es wurde in Polen 1945 der Mythos des polnischen Heldenvolkes aufgebaut und gepflegt. Das kollidiert aber mit den Fakten, weil es sich so nicht zugetragen hat. Es gab eine starke Kollaboration. Es gab eine freiwillige Kooperation, besonders der Landbevölkerung mit den Deutschen zum Beispiel beim Eintreiben von Juden. Und es gab Denunzianten. Personen, die sich Geld hinzuverdienten, indem sie Juden erpressten, die es geschafft haben, aus dem Ghetto herauszukommen und irgendwo unterzutauchen. Und es gab eigenhändige Morde von Bauern, in Ostpolen besonders, an Juden verübt, meistens vor dem Hintergrund des Eigentums, das man übernehmen wollte. Das ist eine Massenerscheinung gewesen, die der Heldenattitüde widerspricht.? Autorin: Bis 1947 verließen 170 000 jüdische Bürger Polen. Zehn Jahre später, während der sogenannten Tauwetterperiode, die der Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow einläutete, rechnete man in Warschau und anderswo mit den Stalinisten ab. Juden, die häufig hohe Positionen in Partei- und Staatsämtern hatten, wurden einmal mehr verfolgt. In jener Zeit floh auch Gabriel Berger mit seiner Familie. OT D: Berger - Juden als Stalinisten bestraft ?56, das war nach dem 20. Parteitag in der Sowjetunion, kam es in Polen zunächst und dann in Ungarn zu einem politischen Umschwung. Die Führer dieser Länder versuchten sich in Demokratie. Sie versuchten sich dem Einfluss der Sowjetunion zu entziehen, was Freiräume schaffte für die Gesellschaft. Bedauerlicherweise waren das auch Freiräume für die Antisemiten in Polen. Es kam zu einer neuen Welle des Antisemitismus, die dadurch angeheizt wurde, dass man Juden pauschal vorwarf, den stalinistischen Terror betrieben zu haben. Die anderen, die Nicht-Juden, wurden damit entschuldet. Man hat damit den Sündenbock gefunden.? Autorin: Die letzte Ausreisewelle 1968 wurde durch die Studentenproteste in Gang gesetzt, jüdische Aktivisten wurden - als Aufrührer gebrandmarkt ? exmatrikuliert. Von rund 300 000 Juden in Polen nach dem Krieg hatten sich nur rund 4000 für?s Bleiben entschieden. Polnische Historiker forschen durchaus intensiv über die polnische Kollaboration mit den Nationalsozialisten und publizieren ihre Ergebnisse. Weil bislang das Ausmaß der Zusammenarbeit mit den faschistischen Besatzern aber fast nur Experten bekannt ist, wünschen sie sich, dass namhafte Schriftsteller wie Olga Tokarczuk dieses brisante Thema aufgreifen. So könnte die öffentliche Diskussion in Bewegung geraten. Bei der Erfolgsautorin rennen die Historiker mit diesem Ansinnen offene Türen ein. OT 10 Sprecherin 1: ?Über solche Themen wissen wir sehr wenig. Es müsste aufgeschrieben werden, dass Polen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs so monolithisch war, wie das die Kommunisten immer glauben machen wollten. Es ist schon paradox, dass Polen zu einem Land mit einer einzigen Kultur, einer einzigen Religion wurde, so wie das die nationalistischen rechten Ideologen in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen angestrebt hatten. Paradox ist auch, dass ausgerechnet die Kommunisten das umsetzten, was die Nationalisten wollten. Und dass es ihnen gelungen ist. Über diese Sünden würde ich gern in einem Buch erzählen.? Autorin: Olga Tokarczuk ist bekennende Lokalpatriotin, alles Provinzielle ist ihr dennoch fern. In dem Nachwort zu ?Spiel auf vielen Trommeln? schrieb die Literaturkritikerin Katharina Döbler 2006: Sprecherin 2: Bisher hat sie ja eher über Landschaften geschrieben, über Gegenden wie das Tal in Niederschlesien, wo sie lebt. Ihre kleinen und überschaubaren literarischen Welten besitzen eine Intensität, die die Weite und Ferne weder sucht noch braucht. (ebenda, S.137 ) Autorin: Eine vorläufige Bestandsaufnahme, denn als müsste Olga Tokarczuk die ausdauernde Sesshaftigkeit kompensieren, begab sie sich vor rund zehn Jahren auf eine ausgedehnte Wanderschaft, auf der sich die ursprüngliche Meisterin fürs Regionale als scharfsichtige Reise-Autorin erwies. In der Fremde horchte sie in sich hinein und scannte ihre Umgebung. ATMO Flughafen Ansage (nicht auf Deutsch!) Sprecherin 1: Heute sind Flughäfen mehr, als ihr Name sagt, sie bilden eine spezielle Kategorie von Stadtstaaten mit festem Standort, jedoch ständig wechselnder Bevölkerung. Die Flughafenrepubliken, Mitglieder des Internationalen Luftfahrtverbandes, haben noch keine Vertretung bei den Vereinten Nationen, aber das wird sicher nicht mehr lange dauern. Sie sind ein Beispiel für ein System, in dem die Innenpolitik weniger wichtig ist als die Verbindungen mit anderen zum Verband gehörenden Flughäfen, denn nur damit können sie ihre Existenz rechtfertigen. Sie sind ein Beispiel für ein extravertiertes System, die Verfassung steht auf jedem Fahrschein gedruckt, und der einzige Personalausweis seiner Bürger ist die Bordkarte. Die Einwohnerzahl ist stets fluktuierend. (?Unrast?, S.68) ATMO Flughafen - Start Autorin: In dem 2008 auf Deutsch erschienen Band ?Unrast? hat sie Reisenotizen gesammelt, dazu Skizzen und Fragmente, die einen neuen Roman erahnen lassen. Die Texte vermitteln, wie dicht bei der Schriftstellerin Reiselust, Wallfahrten und Nomadentum beieinander liegen. Tokarczuks Akteure, sie selbst eingeschlossen, sind Getriebene, keine Flüchtlinge, aber Flüchtende vor der Starrheit der Zuordnung, der Verwurzelung. Ihre Bekanntschaften sind mal kurz wie ein Augenblick, mal schaut sie hinter Fassaden, gar in Abgründe. Sprecherin 1: Ich fuhr im Autobus mit einem guten Dutzend völlig verhüllter, schwarz gekleideter Frauen. Durch den schmalen Schlitz sah man nur ihre Augen, und ich war überrascht, wie sorgfältig und schön sie geschminkt waren. Kleopatra- Augen. Anmutig tranken die Frauen Mineralwasser durch einen Strohhalm, der Halm verschwand in den schwarzen Stofffalten und gelangte dann irgendwie an ihren hypothetischen Mund. Zum Zeitvertreib lief ein Film in dem Linienbus, und zwar Lara Croft. Fasziniert betrachteten wir das biegsame Mädchen mit den glänzenden Schultern und Schenkeln, das bis an die Zähne bewaffnete Soldaten reihenweise umlegte. (?Unrast?, S.138) Atmo/Musik ?Lara Croft?? Autorin: ?Die Reise ist wohl die größtmögliche Annäherung an das, was unsere moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität?, sagt Olga Tokarczuk. Umso anachronistischer muten dagegen die Ideen vom monolithischen, homogenen Polen an, die mit der neuen nationalkonservativen Regierung wieder Konjunktur haben. Geschichtsvergessenheit paart sich mit Abschottung ? beides keine Rezepte, den gegenwärtigen Krisen wirksam zu begegnen. Warschau weigert sich, Syrier, Afghanen, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, verweist auf hunderttausende Ukrainer, die allerdings meist schwarzarbeiten in Polen und keinerlei Unterstützung bekommen. Zudem waren viele schon vor dem Krieg in der Ostukraine nach Polen geflohen. Olga Tokarczuks Großmutter war Ukrainerin. OT 11 Sprecherin 1: ?Meine Großmutter lebt nicht mehr, ich kannte sie nicht. Ich denke auch nicht, dass ich mich aus familiären Gründen zu diesen Themen hingezogen fühle. Ich glaube, dass viele Polen eine Nähe zu den Ukrainern empfinden. Wenn man heute durch Krakau, Warschau, Breslau oder andere Städte geht, hört man überall Ukrainisch. Die Ankunft der Ukrainer in Polen ging ganz geräuschlos und ohne viel Aufhebens vor sich. Sie kamen und kommen einfach und bleiben. Man kann sie nicht von Polen unterscheiden, und nach einigen Jahren wird auch ihr Akzent nicht mehr zu hören sein. Wir waren ja schon einmal zusammen in einem Staat, und trotz der zum Teil schrecklichen Dinge, die wir einander angetan haben, wird diese Nähe wohl bestehen bleiben. Mich freut, dass Ukrainer für Polen keine Fremden sind.? Autorin: Doch das Klima, das die neue nationalkonservative Regierung in Warschau schafft, hat auch in dieser Seelenverwandtschaft Risse entstehen lassen. Die meisten Bewohner der ukrainischen Minderheit hatten sich in der Region Przemy?l niedergelassen. Jetzt sind viele fortgezogen, in der Öffentlichkeit wagen sie nicht mehr, Ukrainisch zu sprechen, weil ihnen ein kalter Wind entgegenschlägt. Musik Autorin: In Monastirz haben polnische Nationalisten mit einem Bohrhammer das symbolische Grabmal für 19 ukrainische Kämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg zertrümmert. Einem Mann wurde vor einigen Wochen sein ukrainisches Trachtenhemd zerfetzt, die ukrainische Flagge, die er auf einer Gedenkstunde trug, verbrannt. Über Jahrzehnte war es Ukrainern und Polen gelungen ? trotz der belastenden Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs ? wieder gut miteinander auszukommen. Nun hat das von der Partei Recht und Gerechtigkeit beherrschte polnische Parlament die alten Wunden wieder aufgerissen, als es die Verbrechen der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA im Zweiten Weltkrieg als Völkermord bezeichnete. Die begonnene Versöhnung stockt, von der erhofften gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung spricht derzeit niemand, stattdessen machen die polnischen Nationalisten Stimmung gegen die Ukrainer. Aber auch der große Nachbar Russland, der Krieg gegen die Ukraine führt, beobachtet derartige Streitigkeiten unter den europäischen Verbündeten mit Wohlgefallen. Von Polen als einst multiethnischem Staat mit einem großen Anteil von Juden, Deutschen, Ukrainern, Weißrussen, Litauern ist heute wenig übrig. OT 12 Sprecherin 1: ?Heute ist es die neue Ideologie in Polen, die wieder Geschichtsfälschung betreibt. Sie propagiert ein Polen, das sich angeblich von seinen Knien erhebt. Dieser Trend ist in vollem Gange und überrollt uns gerade wie eine Lawine. Wir müssen etwas tun, darüber reden, um diese Krankheit zu überwinden, kluge Leute zu werden, die mit ihren guten Zeiten in der Geschichte ebenso zurechtkommen wie mit ihren dunklen Seiten. Eine Gesellschaft formiert sich nicht aus dem Nichts. Sie muss solche Fragen immer wieder neu verhandeln. Unsere Vielfalt ist mir sehr wichtig.? Musik-Zäsur Autorin: Das historisch vielfältige, multiethnische, multikonfessionelle Vaterland fesselte Olga Tokarczuk zu keiner Zeit so sehr wie während der Arbeit an ?Jakobs Büchern?, die 2014 im Original erschienen sind. Der vollständige Titel nimmt das gesamte Buchcover ein: Die Jakobsbücher oder Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen (die kleinen nicht mitgezählt). Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen. Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung. Auf über 900 Seiten schildert Tokarczuk teilweise fiktiv die historische Bewegung der Frankisten, die im 18. Jahrhundert für Europa weites Aufsehen sorgte. Frankisten waren osteuropäische Juden, die zum Katholizismus konvertierten, angeführt wurden sie von Jakob Joseph Frank. OT 13 Sprecherin 1: ?Das Buch ist sehr europäisch. Es spielt in Polen, Schauplatz könnte aber ebenso Italien oder Deutschland sein. Es geht im Kern darum, wie sich eine Gesellschaft in der Krise entwickelt. Wir haben es im Polen jener Zeit mit einer Wirtschaftsflaute zu tun, und genau in diesem Moment kommt eine Gruppe von Fremden, Andersgläubigen, die wir heute als Emigranten bezeichnen würden. Menschen mit anderer Religion, anderer Sprache, die sich aber mit bestimmten Schichten der Bevölkerung verständigen können. Genaugenommen ist es die Geschichte darüber, wie eine Gesellschaft diese Neuen aufnimmt, sie quasi aufsaugt. Autorin: Im Zentrum steht die reale Figur des Juden Jakob Frank. Er wurde Mitte des 18. Jahrhunderts geboren und versuchte von frühester Jugend an, Fesseln zu sprengen. Ihm wird das Schtetl zu eng, in dem sich die osteuropäischen Juden von der Welt abschotten. Die Regeln und Vorschriften seines Glaubens sind ihm zu rigide, er pfeift auf den Talmud und die Thora, schlägt über die Stränge, provoziert, bis man ihm nach dem Leben trachtet, sucht Schutz in Istanbul und konvertiert dort zum Islam. Wenig später vollführt er die nächste Kehrtwende und lässt sich taufen. Seinem Beispiel folgen Tausende Anhänger, alles sogenannte Frankisten. In einer politisch unruhigen Zeit ? beim Chmelnyzkyj-Aufstand 1648 sind zahlreiche Juden ermordet und vertrieben worden ? versteht er es wie ein Messias, leichtgläubige Juden um sich zu scharen. (kurzes musikalisches Motiv) Sprecherin 1: Wenn Jakob durch Dörfer oder Städte geht, laufen die dortigen traditionellen Juden ihm nach und rufen: ?Dreifaltigkeit! Dreifaltigkeit!?, als sei das ein Schimpfwort. Manchmal heben sie Steine vom Boden auf und bewerfen Jakobs Anhänger damit. Andere, die schon vom verbotenen Propheten Schabbtai Zwi angesteckt sind, sehen ihn neugierig an, aus ihnen werden dann solche, die Jakob folgen. Die Menschen sind arm und daher misstrauisch, ein Armer kann sich nicht viel Vertrauen leisten. Ehe der Dicke dünn wird, stirbt der Dünne, sagt man hier. Sie wollen Zeichen und Wunder sehen, Sterne, die vom Himmel fallen, Wasser, das zu Blut wird. Was Jankiel Lejbowicz, genannt Jakob Frank, zu ihnen sagt, verstehen sie nicht ganz. Aber weil er so schön aussieht in seinen türkischen Gewändern, weil er eine so außergewöhnliche Erscheinung ist, beeindruckt er sie sehr. (?Die Jakobsbücher?, aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, unveröffentlichtes Manuskript mit Genehmigung der Autorin) (kurzes musikalisches Motiv) OT 14 Sprecherin 1: ?Seit mein Buch erschienen ist, fragen mich immer wieder viele, die auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln sind, ob ihre Vorfahren möglichweise auch unter den Frankisten zu finden seien. Das bedeutet doch, dass unsere Gesellschaft ein Gemisch ist, von dem wir nur Bruchstücke kennen.? Autorin: In Polen, in dem bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nur noch rund 4000 Juden lebten, machen die sogenannten ?Krypto-Juden? neuerdings von sich reden. Jüdische Bürger, die aus Angst vor antisemitischen Übergriffen in der Zeit der Volksrepublik Polen ihre Identität verschwiegen haben und sich jetzt zu erkennen geben, Mitglied in den jüdischen Gemeinden werden. Der Jude Jakob Frank, der sich Mitte des 18. Jahrhunderts zum Katholizismus bekannte, hatte einen hochrangigen Taufpaten: keinen geringeren als König August III. Vom letzten König Polen-Litauens Stanislaw II. August Poniatowski wurde der Konvertit sogar geadelt, weil die katholische Kirche ihm einen massenhaften Übertritt ehemaliger Juden verdankte. Doch der Konvertierte trieb falsches Spiel, benutzte den Glauben, um sich zu bereichern und wurde ins Kloster nach Tschenstochau verbannt. Olga Tokarczuk zeigt in ihrem Roman, wie im damaligen Polen mehrere Religionen nebeneinander existierten, häufig genug aber auch gegeneinander agierten. OT 15 Sprecherin 1: ?Es gibt keine ethnischen Polen. Wir sind eine mitteleuropäische Mischung aus Deutschen, Juden, Tschechen, Ukrainern, Armeniern. Ich würde mir wünschen, dass mein Buch verstehen hilft, dass wir anders auf die Staaten Europas schauen müssen, dass auch Frankreich nicht rein französisch war. Mein Roman zeigt, wie wichtig dieses 18. Jahrhundert für Europa war. Mit der Aufklärung, in der Enzyklopädien verfasst wurden, in der man in Wiener Cafés Bildungsjournale las und darüber diskutierte.? (kurzes musikalisches Motiv) Sprecherin 1: In Chaims Elternhaus bekehrt Jakob drei Personen. Chaim selbst vor allem gefällt ihm sehr, und weil er vorausschauend denkt, macht er sich gleich am nächsten Tag an die Arbeit. Nun begleitet ihn bereits ein ganzer Menschenzug von Ort zu Ort, mehrere Dutzend Fuhrwerke, zahlreiche Reiter und einiges Fußvolk, das der ganzen Karawane nicht schnell genug folgen kann. Abends erst werden die Nachzügler, müde und hungrig, am Ziel eintreffen, sich zum Schlafen niederlegen, wo immer ein Platz sich findet, in einer Scheune, in der Schenke auf dem Boden. Die Dörfer reichen Jakob einander weiter wie ein Wunderding. Wo er Rast macht, laufen sofort die Menschen herbei, spähen durch die Fenster, lauschen seinen Reden, auch wenn sie nicht alles verstehen, und Tränen der Rührung treten ihnen in die Augen. (ebenda) (kurzes musikalisches Motiv) Autorin: Die orthodoxen und auch die chassidischen Juden in Osteuropa haben Jakob Frank verstoßen, seine Anhänger wurden verbannt. Doch die katholische Kirche feierte ihn. Bis zum Erscheinen der ?Jakobsbücher? im Verlag ?Wydawnictwo Literackie? kannte man diese schillernde ambivalente Figur in Polen kaum. Was sich schlagartig änderte. Tokarczuks historischer Rückblick mit seinen unübersehbar aktuellen Bezügen wurde in hoher Auflage gedruckt. Doch bei den ersten Lesungen dachten die Besucher noch, bei den Frankisten handele es sich um Anhänger von General Franco in Spanien oder um Leute in Zahlungsschwierigkeiten, die Bau-Kredite in Schweizer Franken aufgenommen haben. OT 16 Sprecherin 1: ?Über Jakob Frank wusste niemand etwas, man hatte seine Geschichte unter den Teppich gekehrt. Keiner wollte über ihn sprechen: Die orthodoxen Juden nicht, denn für sie war Jakob Frank ein Verräter. Ein Verräter, der sich vom Judentum losgesagt hatte. Aber auch die polnische katholische Kirche wollte nicht über ihn reden, denn sie spielt in dieser Geschichte eine recht unrühmliche Rolle. Die Frankisten waren so etwas wie eine Fünfte Kolonne, sie gehörten zu niemandem so richtig. Auch die Nachfahren der Frankisten hüllten sich in Schweigen. Den Historikern ist all das natürlich bekannt, aber in der Öffentlichkeit wurde über diese polnisch-jüdischen Beziehungen wenig gesprochen.? Autorin: So schwierig wie einst das Verhältnis zwischen Polen und Juden ist heute die Beziehung zwischen Polen und Muslimen. Nicht einmal Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien wird Schutz gewährt. Das war keineswegs immer so, erinnert Olga Tokarczuk. Polen grenzte an das Osmanische Reich, war das Zuhause vieler Sprachen und Glaubensrichtungen. Die Schriftstellerin versucht, die eine oder andere Schicht, die über der polnischen Vergangenheit liegt, abzulösen. Das hat heftige Diskussionen zur Folge. OT 17 Sprecherin 1: ?Es gibt völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich Polen entwickeln soll und wie unsere Geschichte zu sehen ist. Ich finde das furchtbar, ich hätte nicht gedacht, dass es eine solch tiefe Spaltung gibt. Ich habe dann angefangen, mich mehr in die Gesellschaft einzubringen. Wir organisieren ein kleines lokales Festival in unserem Dorf in Nowa Ruda. Im Moment ist es für Polen wichtiger, zu handeln und sich einzumischen, als zu Hause zu sitzen und zu schreiben. Derart heftige und entscheidende Diskussionen hat es seit Jahren nicht gegeben. Ich bin übrigens optimistisch, was den Ausgang anbetrifft. In solchen Zeiten bilden sich in einer Gesellschaft neue Werte heraus. Polen braucht jetzt diese Debatte!? Autorin: Tatsächlich war es weniger der Jakob-Frank-Roman, der Anstoß erregte, als vielmehr eine Äußerung am Rande der Verleihung des Nike-Preises 2015. Olga Tokarczuk hat ihn drei Mal in der Kategorie Publikumspreis bekommen und zuletzt zwei Mal als Haupt- und Publikumspreis. Sie ist demnach in ihrer Heimat eine beliebte Schriftstellerin, auf deren Stimme man hört. Von der sich nationalistische Kreise aber offenbar provoziert fühlten, als sie ihre Landsleute aufforderte, sich auch den dunklen Kapiteln der polnischen Geschichte zu stellen. Sie wurde Ziel eines sogenannten Shit-Storms, es hagelte Proteste. OT 18 Sprecherin 1: ?Ich nannte drei Epochen, die ich als besonders düster empfinde. Einmal das 18. Jahrhundert und unsere Rolle als Kolonialherren. Für Engländer oder Deutsche klingt das vielleicht seltsam, aber auch Polen hat eine koloniale Vergangenheit, auch wenn Polen keine Kolonien in Afrika oder Amerika besaß. Aber Polen verfolgte im 17. und 18. Jahrhundert auf den Gebieten der heutigen Ukraine und des heutigen Weißrussland eine sehr aggressive und gewalttätige Kolonialpolitik. Wir wissen wenig darüber, wie Polen andere Völker im Osten gewaltsam kolonisiert hat. Zweitens sollten wir uns eingestehen, dass es Leibeigenschaft gab, dass Bauern wie Sklaven behandelt wurden. Man kann das Sklaverei nennen. Eine Sklaverei, dank der es Polen im 17. und 18. Jahrhundert zu wirtschaftlichem Wohlstand gebracht hat. Und drittens unser Verhältnis zu den Juden und den Pogromen. Das ist eine dunkle Seite, die in Polen immer heftige Emotionen auslöst. Darüber ist keine ruhige Debatte möglich, sie artet immer in wildes Geschrei aus. Ich hatte überhaupt nichts Strittiges geäußert, sondern offensichtliche Punkte aufgeführt, die jeder Historiker kennt. Umso mehr erstaunten mich die Morddrohungen danach. Allerdings bin ich nicht besonders ängstlich und werde meine Ansichten deswegen bestimmt nicht ändern. Schließlich habe ich auch eine Menge Unterstützung von ganz unterschiedlichen Seiten erfahren. Und so ist durch mich immerhin eine Diskussion angestoßen worden, nicht wahr?? Autorin: Wie Olga Tokarczuk findet auch ihr Landsmann Gabriel Berger, der das Verhältnis von Polen und Juden in der jüngeren Geschichte analysiert, die Debatte überfällig. Es fehle nicht an Wissen um die Geschichte, sondern an Verständigung darüber, was zur Kenntnis genommen und was immer noch ignoriert wird. OT E: Berger - Geschichtsaufarbeitung ohne Massenwirksamkeit (deutsch) ?Wenn ich die polnische Literatur betrachte, die Kriegszeit und den Holocaust betreffend, muss ich den Hut ziehen und sagen, dass sie hervorragend ist, sehr tiefgründig, sehr gut aufgestellt. Die andere Frage ist natürlich, inwiefern diese Forschungsergebnisse massenwirksam werden.? OT 19 Sprecherin 1: ?Ich bin sehr beeindruckt davon, wie sich die Deutschen mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Mit den allerdunkelsten Seiten ihrer Geschichte. In Polen konnte es wegen des kommunistischen Regimes eine solche Diskussion nicht geben, wie über nichts öffentlich diskutiert wurde. Somit wurde all das auf später vertagt und mit aller Kraft verdrängt. Die Bücher von Jan Tomasz Gross über die Pogrome von Kielce und Jedwabne sowie Untersuchungen von anderen Historikern lieferten unbestreitbare Fakten, dass Polen Juden Gewalt antaten, dass sie sie an Deutsche verrieten und auslieferten. Ich bin mit der Geschichtsfälschung aufgewachsen, dass wir während des Zweiten Weltkrieges und der Besatzung einfach nur arme Polen waren, die nichts dagegen tun konnten, was die Nazis den Juden antaten. Wir schieben die Diskussion schon so lange vor uns her, dass darüber immer mehr wichtige Zeitzeugen sterben und wir diese Vorgänge nur noch aus Dokumenten nachvollziehen können, die wiederum auch nicht mehr vollständig vorhanden sind. Die Diskussion muss jetzt dringend beginnen. Sie hat angefangen, aber noch ist offen, ob sie auch die Grundschulen erreicht und nicht nur Stoff für eine Plauderei auf der Grillparty bleibt.? MUSIK: Clockwork Organe (Liebliche Musik mit Einleitungssatz bei 00:07 ?Städtischer Wohnblock 18a, Siedlung Nord. Das war wo ich wohnte. Mit meiner M. und meinem P.?) Autorin: Olga Tokarczuks Literatur wird häufig als anarchisch beschrieben, was stimmt, wenn damit unangepasst, unkonventionell, Offenheit für Nichterprobtes gemeint ist. Als künstlerisches Vorbild nennt die 1962 geborene Schriftstellerin den amerikanischen Regisseur Stanley Kubrick, dessen Filme durch ästhetische Perfektion bestechen und einer breiten Themenauswahl folgen. Psycho-Terror in ?Clockwork Orange?, Literaturverfilmungen unter anderem von Vladimir Nabokovs ?Lolita?, Historienstreifen wie ?Spartakus? oder ? Shining? ? eine Horror-Story. Autorin: Auch die experimentierfreudige Polin folgt nicht dem einen Thema, nicht der einen Struktur. OT 21 Sprecherin 1: ?Ich suche mir, was mich fesselt. Das sind ganz unterschiedliche Themen. Aber mir imponiert es auch, wenn Künstler ein Thema auf verschiedene Arten darstellen und so nach einer oder mehreren verschiedenen vollendeten Formen suchen. In gewisser Weise habe auch ich immer nur ein Thema: die Ordnung der Welt, der Sinn dessen, was wir unser Leben nennen. Von meinem ersten Buch an ist das mein Thema. Der Zugang allerdings ist stets ein anderer. Aber ich habe das Gefühl, immer auf der gleichen Straße unterwegs zu sein. Vielleicht jeweils mit anderen Mitteln. Der Künstler, den ich am meisten verehre, ist Stanley Kubrick. Er machte jedes Mal etwas völlig anderes, und jedes Mal holte er alles aus sich heraus.? Autorin: Ihre Sujets und Formen sind höchst unterschiedlich, die Sprache aber immer brillant, die Formulierungen geschliffen. Sie und ihr Ehemann bilden ein produktives Gespann. OT 20 Sprecherin 1: ?Mein Mann liest die Texte immer sofort, wenn sie entstanden sind, und korrigiert sie auch. Er ist ein echter Stilist. Und ich habe einen kleinen Freundeskreis, eine Freundin, die Literatur-Kritikerin ist, zum Beispiel. Auch ihr schicke ich immer alles. Ich vertraue ihrem literarischen Urteilsvermögen. Sie steht mitten im Leben und bewertet die Bücher auch vor diesem Hintergrund. Aber ich spreche nie über ein Buch, bevor es geschrieben ist. Das würde mir doch gewaltig auf die Nerven gehen.? Autorin: Den ?Jakobsbüchern? hat Olga Tokarczuk mit üppig ausgeschmückten Szenen so viel Leben eingehaucht, dass sie sich eine Verfilmung dieses historischen Stoffes gut vorstellen kann. Die ?Jakobsbücher? auf der Leinwand ? das könnte funktionieren. Mit Jakob, dem Menschenfänger, als Held. Einer, der an einer blauen Aureole über seinen Opfern erkennt, dass er sie überzeugen konnte, vom jüdischen zum katholischen Glauben überzutreten. (kurzes musikalisches Motiv) Sprecherin 1: Werden die Christen auch erlöst, oder ist es nur das jüdische Ende der Welt? ? Das ist nicht sicher. Sie wollen mit ihm sprechen. Im Gespräch mit Hilfe eines Dolmetschers ? Nachman oder Chaim aus Warschau ? bemühen sich die Herren, Überlegenheit zu wahren. Zuerst rufen sie ihn zu ihrem Wagen. Jakob geht hin, unterhält sich höflich. Er fängt damit an, dass er ein einfacher Mann sei, ungebildet, sieht sie dabei aber so an, dass unter seinem Blick ihre ganze Hoheit dahinschwindet. Von da an stehen auch sie in der Menschenmenge, nur ihr dicker Pelz und die Feder an der Mütze unterscheiden sie von den anderen. In Busk ist das ganze Dorf auf der Straße, Fackeln brennen, klirrender Frost ist eingekehrt, und der Schnee knirscht unter den Füßen. Eine Woche bleibt Jakob im Haus von Nachmans Bruder Chaim und dessen Frau. Nachmans kleiner Sohn Aronek und die anderen Jungen laufen hinter ihm her wie Pagen hinter ihrem König. Hier sieht Jakob über beinahe jedem Kopf eine blaue Aureole. Fast die ganze Stadt lässt sich zum Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit bekehren, wie Jakob selbst es nennt. Am Tag bringen sie ihm kranke Kinder, damit er ihnen die Hand auflege. Dann kommen Menschen aus Dawidów, um ihn zu holen, danach wollen sie ihn in Lemberg sehen. Dort haben sie einen großen Saal, in dem eine Menschenmenge auf ihn wartet, doch als er sagt, dass sie bei seinem zweiten Besuch in Polen zu Esau werden gehen müssen, zur katholischen Religion also, damit die Letzten Tage anbrechen können, hebt ein Raunen und Tuscheln an, und viele verlassen wieder den Saal. Die Juden von Lemberg sind reich, gemein und verwöhnt. Lemberg ist ihm nicht so zugetan wie die armen Dörfer und die Schtetlech. Den Reichen und Zufriedenen pressiert es nicht mit dem Messias. Der Messias ist bekanntlich der, auf den man ewig wartet, also muss jeder, der daherkommt und sagt, dass er es wäre, ein falscher Messias sein, denn der echte kommt schließlich nie. Das ist der Sinn der Sache. Sie überschreien Jakob, als er in der Lemberger Synagoge zu sprechen beginnt. Schlussendlich reißt er das Rednerpult heraus und schleudert es in die Menge, dann muss er flüchten, denn sie rücken auf ihn zu, wütend und aufgebracht. (ebenda) (kurzes musikalisches Motiv) OT 22 Sprecherin 1: ?Mir schien diese Geschichte überaus spannend, dramatisch, sie besitzt bis heute ihre Gültigkeit. Erzählt wird in mehreren Handlungssträngen. Es geht auch um die Aufklärung in Polen, die Herausbildung der polnischen Sprache, das Leben der Aristokratie. Aber hauptsächlich um die mystischen Strömungen an den Grenzen Europas: unorthodox, sektenartig, ketzerisch an der Schwelle zur Aufklärung. Ich befasse mich mit der Frage, woher das Böse in der Welt kommt, wie man die Welt besser machen kann. Jakob Frank war in gewissem Sinne ein Prä-Zionist. Er hatte als Erster die Idee, dass sich Juden in der Diaspora zusammenschließen und einen kleinen Staat mit einer Selbstverwaltung gründen sollten. Auf der anderen Seite war er ein Psychopath und ein Mensch, der jedem Betrug aufsaß. Psychologisch, soziologisch ein komplizierter Charakter. Das ist eine überaus aufklärerische Geschichte, die uns verstehen lässt, woher wir kommen und was uns zu denen gemacht hat, die wir heute sind.? GLOCKEN ( schon früher unterlegen) Autorin: Kurz: Stoff für großes Kino. Bei den ?Jakobsbüchern? fängt der Leser auf Seite 905 an und liest sich ans Ende vor zu Seite 1. Wie der Titel verspricht enthält es tatsächlich sieben Bücher, unter anderem das ?Buch des Nebels?, Das ?Buch des Weges?, das ?Buch des Kometen?, das ?Buch des Metalls und des Schwefels?. Es ist reich illustriert mit historischen Kupferstichen, Landkarten, technischen Zeichnungen und Gemäldereproduktionen. Für den vielfach ausgezeichneten Roman, der in Polen mit dem höchsten Literaturpreis geehrt und in Schweden ?Buch des Jahres? wurde, ist jetzt vielleicht auch eine deutsche Übersetzung in Sicht. Die Textbeispiele stammen aus einer Übersetzungsprobe für potentiell interessierte Verlage. Die beiden Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein bemühen sich zurzeit intensiv um das Buch, und die derzeitigen Signale deutscher Verlage dürfen zuversichtlich stimmen. OT 23 Sprecherin 1: ?Zusammen mit den Nachforschungen und Recherchen habe ich fünf bis sechs Jahre gebraucht. Eine wunderbare Arbeit. Ich würde sie jederzeit wieder auf mich nehmen. Ich war besessen, es war wie eine Obsession. Mich hat nichts anderes mehr interessiert, nur noch dieser Stoff. Es war ein Abenteuer. Als Schriftstellerin mag ich die Einsamkeit; ich bin gern allein mit dem Stoff, der mich gerade beschäftigt.? Autorin: Die Staatsbürgerin in ihr drängt sie derzeit jedoch, auch öffentlich aufzutreten, Polens demokratische Kräfte zu stärken, nicht zuzuschauen, wie Nationalisten die Gesellschaft nach ihrem Gusto verwandeln. So ernst die Lage auch sein mag - Olga Tokarczuk hält es dennoch für verfrüht, in Alarmismus zu verfallen. OT 24 Sprecherin 1: ?Es ist ja nicht wie zu kommunistischen Zeiten, als sich alle Medien in Regierungshand befanden. Es gibt viele private Verlage. Und wenn wir heute so kritisch darüber sprechen können, zeigt das ja auch den Unterschied zu diesen alten Zeiten. Es gibt also keinen Grund, diese Tendenz zu dämonisieren. 25 Jahre Freiheit und Demokratie lassen sich nicht einfach ausradieren innerhalb einer vier- bzw. fünfjährigen Amtszeit einer Regierung oder eines Präsidenten. Und hier in Krakau oder in meiner Heimatstadt Breslau befinde ich mich in der Gesellschaft von Menschen, die sich ihren Sinn für Demokratie und Freiheitsinstinkt bewahrt haben. Deswegen ? ruhig Blut!? (kurzes musikalisches Motiv) Sprecherin 1: ?Wenn sie sich abends am Feuer unterhalten, beklagt Jakob sich bei Nachman, er fühle sich wie ein Kaufmann mit der schönsten Perle im Angebot, in dem die Menschen nur einen Schwindler und Schacherer sehen, weil sie den Wert der Perle nicht erkennen und sie für unecht halten. Und den Menschen erzählt er das, was Isachar ihn gelehrt hat, was Reb Mordke ihm an den Abenden vorspricht und was Nachman ihm erklärt, der in jeder Disputation bewandert ist, selbst aber weder gutes Aussehen noch Überzeugungskraft besitzt. Wenn Jakob sich dann in Fahrt redet, dichtet er noch so manches dazu. Ganz besonders haben es ihm drastische Vergleiche angetan, und auch vor Flüchen schreckt er nicht zurück. Er redet wie ein Prostak, ein einfacher Jude, wie ein Milchmann aus Czernowitz, ein Sattler aus Kamieniec, spickt aber die jiddischen Sätze mit türkischen Wörtern, sodass sie einer Challa mit Rosinen gleichen.? (ebenda) ENDE 1