„Alles wird nie erzählt“ Eine Lange Nacht über Henry James und seine berühmte Familie Autor: Manfred Bauschulte Regie: Burkhard Reinartz Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherInnen: Frauke Poolman Erzählerin Bernd Reheuser Henry James (Jun.) Paul Baeck William James Walter Gontermann Henry James (Sen.) Edda Fischer Gertrude Stein u.a. Justine Hauer Alice James u.a. Sendetermine: 5. Dezember 2020 Deutschlandfunk Kultur 5./6. Dezember 2020 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik Sprecherin (Gertrude Stein): „Henry James - niemand hat Henry James vergessen, nicht einmal ich habe ihn vergessen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das sagt Gertrude Stein, die Mutter der literarischen Moderne. In ihrer eigenwilligen Diktion schiebt sie sogleich ein zweites Statement hinterher. Sprecherin (Gertrude Stein): „Ich wünschte, jeder hätte das richtige Gefühl für Henry James“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Gertrude Stein hat den Schriftsteller Henry James lange ignoriert, bevor sie ihm Anfang der 1930er Jahre in ihren Vorlesungen „Four in America“ ein bewunderndes Portrait widmet. Sie schwärmt von seinem Bruder William, bei dem sie in Harvard Philosophie studierte. Ihr Alter Ego, Alice B. Toklas, erzählt eine Anekdote aus der Studienzeit. Sprecherin (Alice B. Toklas alias Gertrude Stein): „Es war an einem wunderschönen Frühlingstag, nachdem Gertrude Stein schon seit Tagen Abend für Abend in die Oper gegangen und auch sonst reichlich in Anspruch genommen war, trotzdem es die Zeit der Abschlussexamen war; und nun fand die Prüfung für den Kurs von William James statt. Sie saß da und hatte den Fragebogen vor sich liegen, aber sie konnte einfach nichts hinschreiben. Lieber Professor James schrieb sie zuoberst hin, es tut mir so leid, aber mir ist wirklich heute ganz und gar nicht nach Philosophie-Examen zu Mute und damit ging sie. Am folgenden Tag erhielt sie eine Postkarte von William James, auf der stand:“ Sprecher Drei (William James): „Liebes Fräulein Stein, ich begreife vollkommen, wie Ihnen zu Mute ist. Mir geht es oft so ähnlich“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als junge Frau sieht Gertrude Stein in dem Philosophen William James einen außerordentlich beweglichen Geist, den sie sich zum Vorbild wählt. Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis sie erkennt, dass das literarische Schaffen des Bruders Henry von ähnlich inspirierender Bedeutung ist. Allerdings verlangt es eine entsprechende Einstellung - „das richtige Gefühl“ - , wie sie konstatiert. – Im Zentrum dieser „Langen Nacht“ stehen beide: Henry u n d William James. Das Wirken der Brüder wird von einer osmotischen Produktivität und Rivalität angetrieben. Als Psychologe und Philosoph führt William James ein Phänomen in das moderne Geistesleben ein, das wir als „stream of consiousness“ oder „Bewusstseinsstrom“ kennen. Henry James wird zum Begründer der modernen literarischen Fiktion. Seine Werke kreisen um eine provokante Frage, die er in der berühmten Erzählung „The Turn of the Screw“ bis ins Unerträgliche zuspitzt: Wie weit kann die Vorstellungskraft gehen? Die Brüder sind sich ihrer originären Bedeutung bewusst. Als sein Hauptwerk „The Principles of Psychology“ erscheint, schreibt William an Henry: Sprecher Drei (William James): „Allem Anschein nach wird mit deiner ‘Tragischen Muse’ und meiner ‘Psychologie’ das Jahr 1890 als epochales Jahr in die Geschichte der amerikanischen Literatur eingehen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alice James, ihre jüngste Schwester, hat eine eigene Sicht auf den Ruhm der Brüder. Darin klingt das Drama ihrer Familie an. Sprecherin (Alice James): „Im letzten Jahr hat Henry ‘Die tragische Muse’ publiziert, den Roman ‘Die Amerikaner’ und eine bewundernswerte Komödie herausgebracht. Zusammen mit Williams ‘Psychologie’ ist das keine schlechte Show für eine einzige Familie! Besonders wenn ich es schaffen sollte, bald zu sterben. Überhaupt ist das die schwierigste Aufgabe“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Tagebücher von Alice James, die lange nach ihrem Tod erschienen sind, sprechen ungefiltert von seelischer Krankheit und Leid. Sie beleuchten die Schattenseiten ihrer Familie, deren Portrait wir in dieser ersten Stunde zeichnen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts träumt Henry James Senior von einem Kulturaustausch zwischen Amerika und Europa. Der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten (von 1861-1865) zerstört jedoch seine Ideale. - In der zweiten Stunde verfolgen wir den Werdegang des Philosophen William James und geben wir Einblicke in seine Bahn brechenden Studien. - Die dritte Stunde ist schließlich dem Werk des Romanciers Henry James gewidmet, der den transatlantischen Traum des Vaters realisiert, kreuz und quer durch Europa reist und in England ansässig wird. Wir betrachten das fein gesponnene Netz aus Vorstellungskraft und Weltoffenheit, das er in seinen Romanen und Erzählungen ausbreitet. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret)): Auf den ersten Blick ist es verwirrend, wie oft die Namen William und Henry in der James-Familie in Gebrauch sind. Bereits der Begründer der Dynastie, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem irischen Ulster in die Vereinigten Staaten einwanderte, trägt den Namen William. Als Selfmademan kann er in wenigen Jahrzehnten einen unvorstellbaren Reichtum anhäufen. Mit drei Frauen zeugt er 14 Nachkommen, an die er sein Vermögen zu gleichen Teilen weitergibt, so dass keiner der Erben leer ausgeht und je arbeiten muss. Einer seiner Söhne ist der 1811 geborene, auf den Namen Henry getaufte Vater von William und Henry: Henry James Senior. Die Familie verwendet am liebsten Spitznamen, so wird aus dem Patriarchen, den die Finanzwelt als „William von Albany“ kennt: „Old Billy“. Für Henry James Junior wird „Harry“ als Verkleinerungsform gewählt und William „Willy“ gerufen. Um zu betonen, wie fest ihre Familienbande sind, schreibt Willy über den Bruder, als der schon seit Jahren in England lebt und sie sich nach längerer Zeit wieder gesehen haben: Sprecher Drei (William James): „Harry ist immer noch der Alte, wirklich, ich will nicht sagen ein Yankee, aber in jedem Fall ein Eingeborener der James-Familie. Er kennt keine andere Heimat“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das erste Zuhause der jungen James-Familie ist ein dreistöckiger Backsteinbau am Washington Square in Manhattan. Nach der Heirat zog Henry James Senior mit seiner Frau Mary 1840 von Albany in die Metropole der Ostküste. Wenige Blocks entfernt liegen der Broadway und die New York Society Library, wo sein Freund, der berühmte Philosoph Ralph Waldo Emerson, regelmäßig Vorlesungen hält. Am 11. Januar 1842 kommt William als Erstgeborener am Washington Square zur Welt. Nur 15 Monate später, am 15. April 1843, folgt ihm Henry. Von Anfang an steht Mary James als Helferin ihre Schwester Kate zur Seite. Schon einen Monat nach Henrys Geburt beschließt der Vater, New York wieder zu verlassen und nach Europa zu ziehen. Es schweben ihm für seine Nachkommen hohe Ideal der Bildung vor, die sich nur in der alten Welt realisieren lassen. Für die Familie beginnt ein Wanderleben. Nach einigen Aufenthalten in Frankreich bezieht sie in England in der Nähe von Windsor Castle das Frogmore Cottage. Hier erleidet Henry James Senior einen psychischen Zusammenbruch. Sprecher Zwei (Henry James Senior): „Eines Tages, es war gegen Ende Mai, ich hatte gerade ein komfortables Diner zu mir genommen und saß allein noch am Tisch, nachdem sich die Familie wieder aufgelöst hatte. Ich betrachtete müßig die Glut im Kamin, dachte an nichts und fühlte lediglich die angeregte Verdauung, als plötzlich - wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel - eine Angst mich übermannte, und ich zitterte am ganzen Körper. Es war ein vollkommen krankhaftes und elendes Entsetzen, das mich scheinbar grundlos gepackt hatte und welches meine perplexe Einbildungskraft nur in einer gewissen, unsichtbaren, vernichtenden Gestalt lokalisieren konnte. Die Sache dauerte keine zehn Sekunden, bis ich mich als Wrack fühlte, reduziert vom Zustand einer kraftvollen, lebendigen, fröhlichen Männlichkeit auf einen Zustand nahezu hilfloser Kindlichkeit. Die einzige Selbstkontrolle, die ich noch ausüben konnte, bestand darin mich auf meinem Stuhl festzuklammern. Ich empfand das größte Verlangen, so schnell wie möglich zum Fuß der Treppe zu laufen und meine Frau um Hilfe zu rufen, ja sogar auf die Straße zu rennen, um die Menschen um Schutz zu bitten. Doch mit immenser Selbstkontrolle hielt ich diese rasenden Impulse in Schach, entschlossen mich nicht von meinem Stuhl fortzubewegen, bis ich mich von dem Verlust an Selbstbeherrschung wieder erholt hatte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In anonymisierter Form wird William James diesen Bericht viele Jahrzehnte später in seine berühmten Studien zur Religionspsychologie aufnehmen. In den Annalen der James-Familie markieren die Angst- und Panikattacken des Vaters einen Einschnitt. Die Mutter Mary und Tante Kate müssen nach Beistand für den psychisch angeschlagenen Mann suchen. Die in London konsultierten Ärzte verschreiben Frischluft- und Wasserkuren, aber erreichen keine Besserung des desolaten Zustands. Hilfe findet er erst bei der Schriftstellerin Sophia Chichester (1795-1847), die er in einem Badeort trifft. Als Vorsteherin einer spirituellen Gemeinschaft vertritt sie die Ideen des schwedischen Theosophen Emmanuel Swedenborg. In psychischem Leid sieht dieser die Folge religiöser Verirrung oder „Verwüstung“. Auf längere Sicht erreicht Henry James Senior eine Linderung seiner depressiven Verfassung durch das Studium der Schriften von Swedenborg. Schrittweise lehren sie ihn, „seine Dämonen“, die periodisch auftretenden Angst- und Schwächezustände, zu überwinden. Jahrzehnte später erinnert sich Henry James, wie er als Kleinkind den Vater erlebte. Sprecher Zwei (Henry James Junior): „An einem dieser Tage, an dem der Vater besonders hilflos wirkte, begann ich zu laufen. Es kam plötzlich und überraschend, und schon bald war ich ein eifriger, selbst sicherer Wackelknirps. Es war, als hätte ich mit meinem Vater die Rolle getauscht. Langsam begriffen alle, warum ich es so schnell gelernt hatte. Ich wollte Willy überall hin folgen: ich hielt mit neugierigen Augen nach jeder möglichen Bewegung von ihm Ausschau und wenn er jetzt durchs Zimmer taperte, folgte ich ihm und ließ mich zu seinem großen Ärger nicht mehr abschütteln. In meiner ganzen Kindheit und Jugend habe ich ihn nie auch nur eingeholt oder geschweige denn übertroffen. Tante Kate sagte später noch oft: In dem englischen Sommer war der Haushalt sehr anstrengend“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret)): Mary James schwebt eine stabile Familienplanung vor und organisiert die baldige Rückkehr nach Manhattan. Hier bringt sie im Juli 1845 ihren dritten Sohn Garth Wilkinson zur Welt, der „Wilky“ genannt wird. Mit geringem Abstand folgt ihm im Sommer 1846 ein vierter Junge: Robertson, kurz „Rob“. Die sechsköpfige Familie, zu der Tante Kate und wechselnde Ammen gehören, hat ein Wohnhaus unweit des Union Square in der West Fourteenth Street gefunden. Als fünftes Kind wird hier im August 1848 die Tochter Alice geboren. Nach und nach stellt hat sich eine innerfamiliäre Aufgabenteilung ein. Die Aufsicht über die Jüngsten, Wilky, Rob und Alice, liegt bei Tante Kate, während der Vater sich voll und ganz der Erziehung der Erstgeborenen, Willy und Harry widmet. Als integrative Kraft schaltet und waltet die Mutter Mary. Durch das Studium der Ideen von Swedenborg und des französischen Sozialisten Charles Fourier wie durch seine Freundschaft mit dem Philosophen Emerson hat sich Henry James Senior nach und nach den Ruf eines „Gelehrten“ erworben. Unter diesem Nimbus firmiert, was die Familie „Vaters Ideen“ nennt, wovon aber keiner genau sagen kann, was sie bedeuten. Harry erinnert sich, wie er seinen Kameraden erklären soll, warum der Vater nie einer geregelten Arbeit nachgeht. Sprecher Zwei (Henry James Junior): „Was sollen wir denn unseren Freunden sagen, was Du in Wirklichkeit arbeitest? Darauf entgegnete unser Vater: Sag ihnen, ich bin ein Philosoph, sag ihnen, ich bin ein Wahrheitssucher, sag ihnen, ich bin ein origineller Geist, sag ihnen, ich bin ein Autor von Büchern, wenn du willst, oder am besten sagst du ihnen: ich bin ein Student“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Nach der Geburt der jüngsten Tochter Alice (1848) hält es Henry James Senior sieben Jahre in Manhattan, dann packt ihn erneut die Sehnsucht nach Europa. 1855 überquert der Tross der Familie, der aus drei Erwachsenen und fünf Kindern besteht, den Atlantik. Willy und Harry sollen unbedingt noch im jugendlichen Alter die deutsche und französische Sprache erlernen. Zunächst ziehen sie in die Schweiz, wo es Privatschulen gibt. Die Erziehungsideen des Vaters stoßen hier schnell auf Widerstand. Die Lehranstalten in Genf erweisen sich als stocksteife Institute, so dass es weiter geht durch Frankreich und England - von einem Schulexperiment zum nächsten. Nach zwei Jahren und einem längeren Intermezzo in Paris kehrt die Familie in die Vereinigten Staaten zurück. Im Sommer 1860 kann Harry einem Freund glücklich verkünden, dass ihr Nomadenleben ein Ende nimmt. Sprecher Zwei (Henry James Junior): „Wir reisen gerade nach Newport. Das ist der Ort in Amerika, an dem wir am Liebsten leben wollen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In Newport gibt es die progressive Sanborn – School. Hier haben sich angesehene Maler und Intellektuelle angesiedelt, die den James-Kindern privaten Mal - und Sprachunterricht erteilen. Die Rückkehr steht (1860) unter unheilvollen Vorzeichen. Reiche Südstaatler, die in dem idyllischen Ort die Ferien verbringen, verkaufen gerade ihre Anwesen und verlassen die Gegend. Ein Bürgerkrieg droht. Henry James erinnert sich 50 Jahre später - zu Beginn des Ersten Weltkriegs - an die Vorzeichen des Sezessionskriegs. Sprecher Zwei (Henry James Junior): „Ich habe aus Erfahrung gelernt, welche Schrankenlosigkeit, Monstrosität und hemmungslose Unberechenbarkeit die Kriegsbegeisterung auslöst - es ist ein Wissen, das mich vor Illusionen bewahrte. Der plötzliche, neue Geist in der Atmosphäre, der Unterschied, den man bemerkt, wenn sich alles schlagartig verändert, die Gesichter der Menschen, das Spiel der Mienen, das Schweigen, die beieinander stehenden Gruppen, die vereinzelten Wanderer und die allgegenwärtigen Werber von Rekruten: - das sind Eindrücke, die ich vor langer Zeit empfing, denen aber das Verstreichen von einem halben Jahrhundert nichts an Schärfe nehmen konnte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Tragödie des Sezessionskriegs, in dem die Nordstaaten unter Präsident Abraham Lincoln für die Abschaffung der Sklaverei eintreten und gegen eine Konföderation aus den Südstaaten kämpfen, beginnt im April 1861. Der Bürgerkrieg erfasst alle Teile der Gesellschaft und ruft die jungen Männer zu den Waffen. „Die Ideen“ von Henry James Senior lösen sich schlagartig in Luft auf. Energisch muss er verhindern, dass sich seine ältesten Söhne William und Henry freiwillig melden. Zunächst kann er Willy, der sich zum Maler berufen fühlt, zum Studium der Anatomie und Physiologie an der Lawrence Scientific School in Harvard überreden. Harry, der auf Grund einer Verletzung aus der Kindheit kriegsuntauglich ist, soll dem Bruder nach Harvard folgen und Jura studieren. Paradoxer Weise vermag der Vater nicht zu unterbinden, dass sich seine Jüngsten, der siebzehnjährige Wilky, und der sechzehnjährige Rob, freiwillig melden. Sie lassen sich mit einigen kriegsbegeisterten Kameraden aus der Sanborn-School als Offiziersanwärter anwerben und treten dem 54. und 55. Regiment von Massachusetts bei. Die Mannschaften dieser beiden Regimenter bestehen aus freigelassenen Afroamerikanern. - Das Weihnachtsfest 1861 feiert die Familie zum ersten Mal getrennt. Während Willy in Harvard weilt, muss Wilky bei seinem Regiment bleiben. Willy schreibt, wie er das traute Leben vermisst: Sprecher Drei (William James): „Viele Male und sehr traurig heute habe ich an Zuhause gedacht und beklagt, dass ich dieses Jahr Weihnachten von meiner einzigartigen Familie getrennt bin. Wie Wilky wundere ich mich, dass sie uns ebenso stark vermisst wie wir sie. Jetzt, wo ich beim Licht der Kerze hier sitze und schreibe, sehe ich Euch beim Abendessen vor mir: meine betagte Mutter, wie sie von unserem so standhaft beweglichen Harry gestützt wird, froh und redselig wie immer, meine Tante Kate mit der ihr eigenen alten, wilden Schönheit, mein bescheidener Vater in seiner sich kräuselnden sperrigen Haltung, der freundlich schwatzhafte Rob und die geheimnisvolle Alice: - wie in einem glorreichen Gedränge steht Ihr mir vor Augen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Dieser Familiengeist wird im Bürgerkrieg harten Bewährungsproben ausgesetzt. Während Wilky (Anfang 1862) zu ersten Gefechten ausrückt und Rob noch die Ausbildung an der Waffe absolviert, schreibt Henry James Senior an seinem Hauptwerk. Die Untersuchung der Beziehungen von Moral und Religion zum Leben trägt den Titel „Substanz und Schatten“ (1863). Willy nennt das Werk später spöttisch bloß „Substanz und Verschattung“, denn mit dem Erscheinen ist eine tragische Situation verbunden. Als der Verfasser die ersten Exemplare aus der Druckerei in den Händen hält, wird sein Sohn Wilky schwer verwundet von der Front nach Newport heim gebracht. Tage lang kämpft er von seiner Familie umgeben mit dem Tod. Willy ist aus Harvard herbeigeeilt und zeichnet den Verwundeten. Wilky kann zwar nach Monaten genesen, aber die Alpträume der Gefechte, die er erlebte, lassen ihn nie wieder los. Danach gilt die Sorge dem „Rohrspatz“ der Familie, Rob, dessen Regiment aus Farbigen in ein sinnloses Gemetzel nach dem anderen geschickt wird. In einem Brief des Vaters heißt es: Sprecher Zwei (Henry James Senior): „Mein Liebling Robin, Dein Brief vom Zweiten traf gerade ein und ich will keine Zeit verlieren, Dir zu schreiben, wie beruhigend es ist, zu hören, dass Du die Dinge so gefasst siehst. Sei nicht beunruhigt, Du bist niemals so wohl auf wie jetzt gerade, auch wenn Du Dich auf einem Tiefpunkt angelangt fühlst. Sei Dir dessen gewiss! Unsere Jungs zu Hause sind, wie Du sagst, gute Jungs, wir schätzen ihre Güte; aber erinnerst Du Dich an die Parabel vom verlorenen Sohn, worin das gemästete Kalb bei Musik und Tanz getötet wird, - das geschieht als Zeichen, um die Tugend zu feiern, die nie satt wird und durch ihren unerfüllten Zustand alles auf sich bezieht“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret)): Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, mit dem Henry James Senior seinen Jüngsten im Feld trösten will, ist nicht der einzige Beleg für seine Weltfremdheit. - Kurze Zeit später (1864) beschließt er das idyllische Newport wieder zu verlassen und in einen Backsteinbau am Ashburton Place in Boston zu ziehen. Dort hält es ihn zwei Jahre, bis die Familie im Herbst 1866 erneut umsiedeln muss. In Cambridge, in der Quincy Street, direkt gegenüber der Harvard Universität, ist ihm das Gebäude einer Bibliothek angeboten worden. Nach 25 Jahren Wanderleben wird die James-Familie hier endgültig sesshaft. - In dieser Zeit feiert Harry seinen 20. Geburtstag. Seit Beginn des Kriegs schreibt er anonym Artikel für Magazine und Zeitschriften. Die erste Erzählung, die unter eigenem Namen (im März 1865) veröffentlicht, heißt „The Story of a Year“. Es ist eine Romanze aus dem Sezessionskrieg. In der Figur der Lizzie entwickelt er die Psychologie einer Frau, die sehnsüchtig auf ihren Geliebten, einen Soldaten an der Front, wartet. Im Brief an einen Freund erläutert er die literarische Intention: Sprecher Zwei (Henry James): „Welch ein schrecklicher Krieg findet da gerade statt! Ich meine aus der Sicht von Frauen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Bereits in einem der ersten Prosastücke experimentiert Henry James mit dem Wechsel der Perspektive, der eins seiner literarisches Markenzeichen wird. Von Anfang an gelingt es ihm, sich unter extremer Anspannung dem Schreiben zu widmen und Erträge zu erzielen. Nach Kriegsende sind die Unternehmen der jüngeren Brüder von weit weniger Erfolgen gekrönt. Die Baumwollplantage von Wilky in Florida geht nach zwei Jahren Pleite. Sie zehrt das investierte Vermögen so wie Robs und seine eigenen Kräfte auf. Der „Rohrspatz“ ist zwar körperlich unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, aber die Fronterlebnisse haben ihn zu einem haltlosen Trinker werden lassen. Willy, der „Motor der Familie“, bricht gerade zu neuen Ufern auf. Weil er das Studium in Harvard stupide findet, hat er den Vater gebeten, ihm eine Studienreise in Europa zu finanzieren. Als Studienort schwebt ihm Dresden in Deutschland vor. Seit Jahren kümmert sich Willy um die Schwester Alice. In Phasen der Trennung schreibt er ihr Briefe: Sprecher Drei (William James): „Liebstes Kind, ich bin etwas krank und fiebrig heute Nacht und sitze im Überzieher unter der Lampe, um ‘der Einzigen, die ich liebe’ zu schreiben und wünsche mir für ein - zwei Stunden nichts so sehr wie ein flüchtig-sinnloses, beruhigend-erfreuliches Gespräch mit ihr. Ihre transparenten Augen, ihr weicher Ausdruck, ihre sanften Hände, ihre freundliche Stimme und Stimmung, erschienen mir nie so begehrenswert und liebenswert wie gerade“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): William, der künftige Psychologe, spürt, wie bedürftig die Schwester ist. Sie muss mit ihren Wünschen hinter die Brüder zurück treten und darf sich nie frei entfalten. Als Heranwachsende durchleidet sie eine Krise nach der anderen. Nach einem Zusammenbruch wird sie (1866) in der Obhut der Tante Kate nach New York geschickt, um sich einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen. In ihrem Tagebuch schildert sie die Anfälle ihrer Jugend in eindrücklichen Bildern. Sprecherin (Alice James): „Wenn ich still in der Bibliothek saß und las und mich plötzlich Wellen des heftigsten Bedürfnisses überfielen, die solche Impulse auslösten, wie, mich aus dem Fenster zu stürzen, oder dem gütigen Vater, wie er mit seinen silbernen Locken da am Tisch saß und schrieb, den Kopf abzuschlagen, so schien mir, als ob der einzige Unterschied zwischen mir und einer Wahnsinnigen darin bestand, dass ich nicht nur den ganzen Schreck und Schmerz zu erleiden sondern auch noch die Pflichten eines Arztes, einer Krankenschwester und einer Zwangsjacke zu erfüllen hatte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Henry James Senior ist Kosmopolit, Sozialist und Theosoph. Entsprechend exzentrisch sind seine reformerischen Ideen. So charakterisierte er vor dem Sezessionskrieg in einem Aufsatz die Aufgaben der Frau: Sprecher Zwei (Henry James Senior): „Die Tugend der Frau, ihr praktischer Sinn, der sie der Vergangenheit und Zukunft gegenüber gleichgültig sein lässt und sie zum Segen der gegenwärtigen Stunde macht, disqualifiziert sie für jegliche didaktische Würde. Bildung und Weisheit stehen ihr nicht. Von ihren Lippen wirken sogar die zehn Gebote unschön und überflüssig“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alice darf Liebesbeweise des Vaters und der Brüder empfangen, sie soll sich selbst aber nie zu Wort melden. In Briefen, die Willy ihr schickt, erwartet er, dass sie ihm ihre Bewunderung schenkt. Sprecher Drei (William James): „Du erscheinst mir von hier aus so wunderschön, so intelligent, so zärtlich, so ganz und gar das, was ein Bruder sich am meisten wünscht, dass ich, wenn ich wieder zu Hause bin, mir nichts anderes vorstellen kann, als den Arm um deine Taille zu legen und dich zu bitten, mir bei allem, was ich sage zu zustimmen, alles, was ich tue, gutzuheißen, mich für das, was ich bin, zu bewundern und nie, nie von mir enttäuscht zu sein“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alice James bleibt viele Jahre auf psychiatrische Behandlungen angewiesen, während sie sich in Bildungsvereinen und karitativen Zirkeln engagiert. Nach den jüngsten Söhnen, dem traumatisierten Wilky und dem trunksüchtigen Rob, ist sie mit ihren neurasthenischen Anfällen die dritte in der Familie, deren Schicksal von psychischen Krankheiten bestimmt wird. Als sie in einer Krise (1878) den Vater mit der Absicht konfrontiert, Selbstmord zu begehen, erteilt er ihr ausdrücklich die Erlaubnis. Ein Brief des Vaters an den Sohn Rob schildert den Dialog mit Alice: Sprecher Zwei (Henry James Senior): „Ich sagte Alice, dass sie meine uneingeschränkte Erlaubnis hätte, ihr Leben zu beenden, wann immer es ihr gefiele; nur hoffte ich, sie möge sich dann entschließen, und damit ihren Umständen Gerechtigkeit widerfahren lassen, es auf eine vornehme Weise zu tun, um ihren Freunden keinen Kummer zu bereiten. Daraufhin war sie mir sehr dankbar und entgegnete, dass sie nun, da sie es als ihr Recht betrachten dürfe, ihren Körper zu vernichten, wenn das Leben unerträglich werden sollte, es nie mehr tun könne: wenn sie je sich versucht gefühlt hätte, es zu tun, sei es mit der Absicht geschehen, ihre Bande zu sprengen und ihre Freiheit zu behaupten, doch nun, da ich ihr die Freiheit gegeben hätte, zu tun wir ihr beliebe, sei sie zufrieden und bereit an meiner Seite gegen das Übel in der Welt zu kämpfen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Von früh an wehrt sich die begabte Alice James dagegen, nie ernst genommen zu werden. Die Drohung, Selbstmord zu begehen, ist Ausdruck ihres Protests gegen die entwürdigende Situation. Nach und nach lernt sie, sich mit dem unauflösbaren Konflikt abzufinden. In der Quincy Street in Harvard, wo die Familie endgültig sesshaft wurde, versieht sie am Lebensabend der Eltern ihren Haushalt. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Brüder Wilky und Rob als wenig erfolgreiche Farmer im Mittleren Westen angesiedelt und ist Harry bereits zu einem angesehenen Schriftsteller in England avanciert. Willy strebt die universitäre Laufbahn eines Wissenschaftlers in Harvard an und hat Alice Gibbons, eine begabte Studentin geheiratet. Aus einem Brief von Williams Frau an ihren Sohn stammt die folgende Schilderung einer typischen Familienszene in der Quincy Street: Sprecherin (Alice Gibbons-James): „Ich habe den trauten Kreis der Quincy Street deutlich vor Augen, wenn sich Dein Vater, Deine Mutter und Tante Alice am Leseabend in der Bibliothek versammelten. Deine Mutter sitzt links vom Kamin an einem kleinen Tisch und liest, Alice auf dem Sofa, dein Vater in einem tiefen Sessel. Er spricht zu uns und bezieht seine Schwester Alice lebhaft ins Gespräch ein. An einem Montag, als William zur Fakultätssitzung muss, erzählt uns Großvater Henry von den wilden Streichen seiner Kindheit, deren Anführer er war. Als er von Abenteuern im Alter von sieben Jahren berichtet, erklärt Alice entschieden, sie beruhten auf seiner reinen Erfindungsgabe, während er beschwört, dass sie wahr seien. Deine Mutter hat ihr Buch beiseite legt und beobachtet amüsiert das Rededuell der Beiden. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mir über Alice im Klaren zu werden und in Erfahrung zu bringen, was ihr Leben zum Ausdruck bringen wollte. Es ist mir nicht gelungen. Das Versagen liegt auf meiner Seite“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mary und Henry James Senior sterben 1881 und 1882. Mit nur 38 Jahren folgt ihnen kurz darauf (1883) der unglückliche Wilky, dem eine bürgerliche Existenz versagt blieb. Danach verlässt die von chronischen Krankheiten geplagte Alice Harvard. Wie Henry erfüllt sie sich den Traum von einer transatlantischen Existenz. In der Lehrerin Katherine Peabody Loring hat sie eine Gefährtin gefunden, die das Leben mit ihr teilt. Durch die liebevolle Gemeinschaft mit Katherine gewinnt sie neue Kräfte, erfährt sie Jahre des Glücks. Sie beschreibt die ungewöhnliche Lebensgefährtin: Sprecherin (Alice James): „Katherine ist ein wundervolles Wesen. Sie besitzt die körperliche Überlegenheit, die den Mann von der Frau unterscheidet und gleichzeitig ausgesprochen weibliche Eigenschaften. Es gibt nichts, was sie nicht kann, vom Holzhacken, Wasserholen und Pferdezähmen bis zur Erziehung aller Frauen Nordamerikas“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alice James und Katherine Loring reisen zunächst einige Zeit kreuz und quer durch Europa, danach werden sie im Londoner Stadtteil Mayfair sesshaft. Später siedeln sie sich in Kensington in räumlicher Nähe zu Harry an. In den letzten Jahren vor ihrem Tod beginnt Alice ein Tagebuch zu schreiben, das heute zu den denkwürdigen literarischen Zeugnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählt. Ironisch, mitleidlos und wahrhaftig notiert sie ihre Gefühle und die verwickelten Umstände ihrer Existenz. In ihm finden sich philosophische Reflexionen wie diese: Sprecherin (Alice James): „Schmerz erscheint meinem Bewusstsein als Essenz des Universums. Leiden will gelernt sein und die Wissenschaft des Leidens ist die einzige Wissenschaft des Lebens“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In seinen Briefen an die Schwester schlägt Willy weiter den alten Ton des Mitleids an: Sprecher Drei (William James): „Du armes Kind! Du bist auf eine Weise heimgesucht, die wenige zu ertragen haben und meine Worte der Tröstung können nur leer erscheinen und langsam im Sumpf des Ekels, Schmerzes und der Hilflosigkeit ersticken! Mein Mitleid muss, wie Carlyle sagen würde, sich in Schweigen hüllen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Postwendend antwortet Alice ihm mit einem Brief, der zeigt, wie sie zu eigener Klarheit gefunden hat - fähig geworden ist, ihrem Bruder auf Augenhöhe zu begegnen: Sprecherin (Alice James): „Katherine und ich haben schallend über Deine Wendung vom ‘langsam im Sumpf des Ekels, Schmerzes und der Hilflosigkeit Ersticken’ gelacht, denn ich betrachte mich als eines der fähigsten Geschöpfe meiner Zeit, und wenngleich keine Studenten aus Harvard zu meinen Füssen sitzen und die Wahrheit über die Psyche schlürfen, so zittere ich doch nicht vor dem letzten Stoß der Trompete“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als Willy ein altes Farmgebäude am Mount Chocorua im Herzen von New Hampshire erwirbt, vertraut Alice ihrem Tagebuch unverschlüsselt an, was sie über ihn denkt, wie sehr sie ihn bewundert: Sprecherin (Alice James): „Er tut alles aus Gründen der Perfektion, erwirbt das herrlichste Haus, das sich denken lässt. Es hat 14 Türen, die alle nach Außen aufgehen. Sein Hirn ist aber nicht auf diese 14 beschränkt. Das ist möglicherweise kein Unglück“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Tagebücher zeigen, wie Alice sich in ständiger Konfrontation mit dem ältesten Bruder befindet. Sein Wirken bildet ihren inneren Gradmesser, stimuliert ihren Widerspruchsgeist. Sprecherin (Alice James): „William sagt in seiner ‘Psychologie’: ‘Genie ist in Wahrheit bloß ein klein wenig mehr als die Fähigkeit des Wahrnehmens auf ungewöhnliche Weise’. Dieser Satz erscheint dem schwesterlichen Verstand oder Herzen glücklicher gewählt als seine sonst so übliche Ausdrucksweise, die unisono lautet: Sie hat unendliche Schmerzen auf sich zu nehmen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Durch die räumliche Nähe in London entwickelt Alice mit der Zeit eine engere Bindung an Harry. Mit unbändiger Leselust verschlingt sie seit Beginn seiner Laufbahn jedes seiner Bücher. Am Liebsten wäre auch sie Schriftstellerin geworden. Das opulente Werk „Prinzessin Casamassima“ aus dem Jahr 1886 zieht sie besonders in den Bann. Henry James zeichnet in dem Roman „Prinzessin Casamassima“ nicht nur das Bildnis seiner invaliden Schwester. Explizit legt er der Titelheldin auch die unkonventionellen Vorstellungen von Alice in den Mund. Auf subtile Weise gibt Henry James seiner Schwester in dem Roman zu verstehen, wie sehr sie von ihren Brüdern bestaunt und bewundert wird. In dem Werk errichtet er ihr ein literarisches Denkmal. Zunehmend finden sich dagegen in den Tagebüchern von Alice luzide Meditationen über das Sterben: Sprecherin (Alice James): „Dieses lange, langsame Sterben ist zweifellos lehrreich, weil es auf enttäuschende Weise völlig frei von Aufregung ist: ‘Natürlichkeit’ findet ihren höchsten Ausdruck. Man gleitet von allen Aktivitäten ab, von einer nach der andern, merkt gar nicht, dass sie vorüber sind, bis man plötzlich findet, dass die Monate verflogen, das Sofa nicht mehr zum Liegen und die Morgenzeitung nicht zum Lesen bestimmt sind, aber auch der Verlust des neuen Buchs wird kaum bedauert. Man dreht sich mit Gleichmut im Kreis, der einen umgibt, bis der Fluchtpunkt erreicht ist, nehme ich an. -Vergeblichkeit behauptet sein unbestrittenes Schwanken, aber ich bin zufrieden, weil ich mich mehr den je spüre, aus der Kürze der Zeit einfach mehr Kraft ziehe. Wenn ich mir über mein Seelenleben Sorgen machen müsste, würde es einen Beigeschmack von Ungewissheit für die fliehenden Momente hinterlassen, aber ich fühlte mich niemals vorher so absolut gleichgültig allen armen, schäbigen, alten Sachen gegenüber. Es ist schlicht Tatsache, dass ich schon so lange tot gewesen bin und es war einfach ein grimmiger Stoß verflossener Stunden, wenn ich mich dem ständigen Horror gegenüber sah - seit dem schrecklichen Sommer 78 -, als ich an die Tiefe des Sees trat, sich die dunklen Wasser über mir schlossen und ich weder Hoffnung noch Frieden fand; jetzt geht es nur noch um das Schrumpfen einer leeren Erbsenschote, die beiseite gelegt werden will“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alice James stirbt am 6. März 1892 in London mit 44 Jahren an Krebs. An ihrem Totenbett sitzend schreibt Harry an Willy, der sich zunächst weigerte, ihr Ableben zur Kenntnis zu nehmen. Eine Zeitlang glaubte er ernsthaft, sie sei scheintot und in einen Zustand der Trance verfallen. Sprecher Zwei (Henry James): „Ich saß Stunden lang in dem stillen kleinen Zimmer, wo sie so viele Monate ihres letzten Leidens verbrachte, wo sie nun liegt in Vollendung des Bildes dessen, wonach sie sich seit Jahren sehnte, zuletzt mit Erbarmens würdiger Intensität. Sie wirkt schön und edel - in aller Erhabenheit des Ausdrucks, die Du Dir vorstellen kannst und ist kaum noch gezeichnet von der scheußlichen Auszehrung der letzten Lebenstage“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Lebensgefährtin Katherine Loring bringt die Urne mit der Asche von Alice James zurück in die Vereinigten Staaten. Dort wird sie neben ihren Eltern auf dem Cambridge Cemetry am Charles River begraben. Auf einer Italienreise entdeckt William kurze Zeit später eine Urne aus Marmor, die er für ihr Grab bestimmt. Er versieht sie mit einer Inschrift aus dem „Paradiso“ von Dante: Sprecher Drei (William James): „Durch Martyrium und Exil zum Frieden“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als Henry James ein dutzend Jahre später - als alter Mann - den Friedhof von Cambridge und die Gräber seiner Familie besucht, schildert er die näheren Umstände seines Besuchs auf äußerst ergreifende Weise - so wie in seinen Romanen. Sprecher Zwei (Henry James): „Ich habe den Eindruck, dass die tendresse von Cambridge wie eine wartende Löwin im Weg steht. Ich möchte ein wenig von dieser tendresse bewahren, aber sie huscht zitternd hinweg oder täte es, wenn sie könnte. Doch dieses Flüchtige festzuhalten, das macht den Meister aus: das und nur das. Besteht nicht die höchste, die tiefste Schwingung des Ganzen in der unverlierbaren Erinnerung an jene Abendstunde am Mount Auburn - auf dem Friedhof von Cambridge - als ich nach langem Warten auf die günstige Stunde - meine einsamen Schritte zu jener unbeschreiblichen Gruppe von Gräbern lenkte. Es war spät im November, die Bäume ganz kahl, die Dämmerung früh zu erwarten, die Luft vollkommen still, im Westen wechselte der Himmel in jene schreckliche, geisterhafte, reine, pinkfarbene Röte hinüber, die sich im Winter hinter den Wäldern Amerikas zeigt. Es war die Stunde, als eine gesegnete Flut von Empfindungen plötzlich eine Vision auslöste und mich hinweg trug. Der Mond stand am Himmel, früh, bleich und jung und schien sich in dem weißen Gesicht des großen leeren Stadions zu spiegeln, das an die Kriegsgräber grenzte und über den Charles River zu mir herüber starrte in dem klaren Zwielicht. Alles war da, alles kam: das Wiedererkennen, die Stille, die Seltsamkeit, das Mitleid und die Heiligkeit und das Erschrecken. Williams inspirierte Nachdichtung auf der equisiten kleinen florentinischen Urne mit der Asche von Alice schnürte mir die Kehle zu mit ihrer durchdringenden Wahrheit, als sänke man auf die Knie in einer Art schmerzlichen Dankbarkeit. Aber warum schreibe ich von dem ganz Unaussprechlichen und Abgrundtiefen? Warum fällt mir nicht die Feder aus der Hand, wenn ich an den unendlichen Jammer und die Tragik der Vergangenheit rühre? Sie fällt, die arme hilflose Feder, vor all dem Unsagbaren, das ihr auf allen Seiten begegnet, vor dem kalten Medusenhaupt des Lebens, des gelebten Lebens“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als er dies über die Gräber seiner Familie schreibt, steht Henry James auf dem Zenit seines Ruhms als Schriftsteller. - Wir wollen an dieser Stelle aber noch einmal ausdrücklich an das literarische Vermächtnis seiner Schwester Alice erinnern. Für das sorgt hingebungsvoll die Gefährtin Katherine Loring. Sie lässt in vier aufwendigen bibliophilen Exemplaren ihr Tagebuch drucken. Jeder der drei James-Brüder, Willy, Harry und Rob, erhält eins. Das vierte und letzte Exemplar behält sie für sich. In einem Brief an Willy (Rom vom 28. Mai 1894) bringt Henry seine Bewunderung für das einzigartige Dokument zum Ausdruck: Sprecher Zwei (Henry James): „Ich war ungeheuer beeindruckt von dem Werk, das ein moralisches und persönliches Bild offenbart. Es ist heroisch in seiner Individualität und Unabhängigkeit, - wie es sich von Angesicht zu Angesicht dem Universum stellt, dabei ganz bei sich und für sich bleibt -, ebenso in der Schönheit und Eloquenz, mit der es das zum Ausdruck bringt; lassen wir auch die reiche Ironie und den Humor nicht außer Acht, so stellt es den Anspruch einer bekannten Familie eindrucksvoll unter Beweis“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Alle drei Brüder verweigern eine Publikation für die Öffentlichkeit, kategorisch erklären sie die Tagebücher zu einem rein privaten Dokument. - So verschwinden sie für Jahrzehnte in den Schubladen. Erst nach dem Tod von Katherine Loring, die 1943 mit 94 Jahren stirbt, erinnert der Literaturhistoriker F.O. Matthiessen in seiner Biographie der James-Familie (1947) nachdrücklich an die Bedeutung der Tagebücher von Alice James. Seither ist neben dem berühmten Philosophen William James und dem bedeutenden Romancier Henry James die authentische Stimme der Schwester Alice vernehmbar geworden. - In der Dichterin Emily Dickinson spürte Alice James früh eine verwandte Seele unter ihren Zeitgenossinnen. Wenige Wochen vor ihrem Tod las sie ein Gedicht von ihr und notierte es sich ins Tagebuch. In einem kurzen begleitenden Kommentar bemerkt sie: Für sie wiege die lyrische Farce die gesammelten philosophischen Wälzer der Welt auf: Sprecherin (Emily Dickinson): „Ich bin Niemand! Wer bist du? Noch ein Niemand mehr dazu? Schon sind wir ein Paar im Land! Still, sonst werden wir verbannt! Wie öde - Irgendwer - zu sein! Gemein - dem Frosch gleich - stumpf Den eignen Namen heraus zu schrein - Für den Applaus im Sumpf!“ Musik 2. Stunde Musik Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Lange Nacht ist heute der berühmten amerikanischen James-Familie gewidmet. Ihr entstammen bedeutende Männer wie der Philosoph William James und der Romancier Henry James. Die Nachkommen einer begüterten Familie pendeln seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und träumen von einem transatlantischen Geistesleben. In der ersten Stunde hörten wir, wie der grausame Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten (der 1860er Jahre) sie aus der Bahn warf. Ferner haben wir vom tragischen Schicksal der jüngsten Schwester Alice James berichtet. - Im Zentrum der zweiten Stunde steht das intellektuelle Wirken von William James. Um die weitgespannten Intentionen des experimentellen Psychologen und empirischen Philosophen anschaulich zu machen, werfen wir vorausschauend den Blick auf eine bemerkenswerte Episode in seinem Leben. Im April 1906 lehrt er als Gastprofessor an der jungen kalifornischen Universität Stanford. Sprecher Drei (William James): „Als ich im Dezember von Harvard nach Stanford aufbrach, erhielt ich zum Abschied einen Gruss von meinem kalifornischen Freund B: ‚Ich hoffe, sie vermitteln Dir, wenn Du da bist, wenigstens den Hauch eines Erdbebens, so dass auch Du diese kalifornische Institution kennen lernst’. Entsprechend war ich, als ich am Morgen des 18. April um halb sechs in meinem Kabuff auf dem Campus von Stanford wach lag und spürte, wie das Bett zu wackeln begann, zunächst vom freudigen Erkennen eines solchen Bebens erfüllt: ‚Bei Jupiter, das ist ja B’s Erdbeben! Das hat er vorausgesagt!’ Unwillkürlich stand ich auf, fiel aber sofort hin und wurde auf das Gesicht geworfen, das Beben erschütterte den Raum wie ein Terrier, der eine Ratte schüttelt. Alles, was sich erhöht befand, fiel zu Boden, wurde mit lautem Krach von den Möbeln gerissen und durch das Büro geschleudert. Auf dem anschließenden Höhepunkt erfüllte ein grauenhaftes Brüllen die Luft draußen. Im nächsten Augenblick war alles still. Nach und nach setzte Geflüster naher und ferner Stimmen ein. Bewohner in Schlafanzügen und notdürftiger Bekleidung suchten Schutz auf der Straße und folgten dem dringenden Wunsch nach Austausch. - Die Angelegenheit war, wie ich vom Lick - Observatorium später hörte, in 48 Sekunden erledigt. Für mich fühlte sie sich genauso lange an, andere meinten, es sei ihnen viel länger vorgekommen. In meinem Fall waren die Sensation und Emotion so mächtig, dass ich mir keine Gedanken machen, keine Reflexionen anstellen und keine Willenskraft aufbringen konnte. Mein Gefühl bestand in dem freudigen Staunen über die Vitalität, die die Vorstellung eines ‘Erdbebens’ auslöst, sobald sie als Realität sinnlich erfahrbar wird“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret)): In 48 Sekunden war für die Einwohner von Palo Alto alles vorbei. Das Erdbeben verwandelte den Campus von Stanford in ein Trümmerfeld. Im rund 35 Meilen entfernten San Francisco löste das Beben am Morgen des 18. April 1906 einen gewaltigen Feuersturm aus, der drei Tage und Nächte lange wütete und die Stadt in Schutt und Asche legt. William James versucht als Zeuge der Katastrophe anschließend in Vorlesungen die schockierende Erfahrung zu verarbeiten. Als Philosoph, der am europäischen Geistesleben intensiv partizipiert, ist ihm bewusst, wie die Ideale universeller Aufklärung durch das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 erschüttert wurden. Im Gegensatz zu europäischen Philosophen, die auf prinzipielle Entscheidungen drängen, nimmt William James eine spontane Haltung ein. Explizit rückt er „Emotionen“ und „Sensationen“ ins Zentrum, verzichtet er auf ein Urteil. - Doch wenden wir uns zurück zu seinen Anfängen und seiner Jugend im idyllischen Städtchen Newport zu, wohin die James-Familie (1860) kurz vor Ausbruch des Sezessionskriegs gezogen ist. Die Zukunft von „Willy“, wie er genannt wird, ist ungeklärt. Der 19-Jährige, der Unterricht bei dem berühmten Maler William Morris Hunt nimmt, fühlt sich zum Künstler berufen. Er schreibt an den Vater, der schon einen Wissenschaftler in ihm sieht: Sprecher Drei (William James): „Ich vermag nicht zu erkennen, warum die spirituelle Einstellung eines Menschen nicht unabhängig von seinen ästhetischen Aktivitäten verlaufen kann, warum die Kraft, die ein Künstler in sich fühlt, ihn vergessen lassen soll, was er ist. Bei ihm verhält es sich doch ebenso wie bei einem Wissenschaftler (zum Beispiel Georges Cuvier) oder einem Sozialisten (wie Charles Fourier)“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit Beginn des Bürgerkriegs werden die Weichen der späteren Laufbahn gestellt. Um der Einberufung zum Militär zu entgehen, drängt der Vater Willy, ein Studium an der Lawrence Scientific School in Harvard aufzunehmen. Hier belegt er Kurse in den Fächern Anatomie, Chemie, Physiologie und Zoologie. Über die näheren Umstände berichtet er einem Freund (im Mai 1862): Sprecher Drei (William James): „Wie das Wörterbuch anorganischer und kosmischer Wissenschaft, das mir die kostbare Zeit raubt, beschaffen ist, erkennst du daran, dass ich aufmerksam alle Nachrichten von der Kriegslage verfolge, Artikel von höchster Dringlichkeit für die Tagespresse schreibe und private Studien in Pathologie, Botanik, Geschichte und Orthographie durchführe (inbegriffen Recherchen über den Atheismus bei Spinoza, Pythagoras, Pocahontas und anderen großen Regisseuren von Opern). Ferner unternehme ich extensiv naturgeschichtliche Forschungen, beim Billard, bei der Rasur, bei drei Herzensangelegenheiten (einer Blonden, Brünetten und Weißhaarigen), bei der Gymnastik und so weiter und überhaupt - ich habe gar keine Zeit, Briefe wie diesen zu schreiben“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In den ersten Kriegsjahren verfolgt Willy ein regelloses Studium, während ihn die vielen Todesnachrichten von den Fronten verstören. Unter den Gefallenen sind Verwandte und Freunde. Als er hört, dass sein Bruder Wilky schwer verwundet nach Hause gebracht wurde, eilt er umgehend an sein Krankenbett. Tag und Nacht sitzt er neben ihm, hält den Block auf den Knien und zeichnet den mit dem Tode Ringenden. Er hofft ihn durch seine physische Gegenwart am Leben zu halten. Danach nimmt er aus innerem Antrieb das Studium der Medizin auf. Intensiv beschäftigen ihn Debatten, die das sensationelle Werk von Charles Darwin „Der Ursprung der Arten“ (1859) entfacht. Er verfolgt sie unter dem Einfluss von Louis Agassiz, eines Lehrers in Harvard. Der Zoologe kritisiert die provokanten Thesen Darwins, wonach es eine natürliche Entwicklung des Lebens der Arten auf der Erde gegeben habe. Als Kreationist hält Agassiz am Schöpfungsbild der Bibel fest, konkurriert aber auf dem Feld der Forschung mit dem Evolutionisten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs rüstet Agassiz eine Expedition aus, um Fischvorkommen am Amazonas zu untersuchen. Willy ist an der Forschungsreise mit dem Schiff „Colorado“ beteiligt. Die Eltern erhalten einen Bericht der Überfahrt nach Brasilien: Sprecher Drei (William James): „Zwölf tödliche Tage waren ich, mein Körper und meine Seele, in einem Zustand von unbeschreiblicher Hoffnungslosigkeit, Heimatlosigkeit und ohne jede Freude“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Während der Expedition empfindet Willy das Sammeln von Material als lästig und überflüssig. Eine Zeit lang machen ihm die Pocken zu schaffen und er klagt über Augenleiden und Rückenschmerzen. Ein Tanzabend am Strand zeigt, wie aufgeschlossen er der Welt gegenübersteht. Seiner Schwester Alice erstattet er wie gewohnt ausführlich Bericht: Sprecher Drei (William James): „Die Mädchen waren hübsch anzuschauen mit ihren glänzenden schwarzen Haaren. In ihren Kämmen trugen sie weiße Blumen, die einen betörenden Duft verströmten. Wir tanzten eine gewöhnliche Quadrille und eine Polka, dann einen eher peinlichen Figurentanz, dessen Namen ich vergessen habe. Wir redeten ununterbrochen, gestikulierten, steckten die Köpfe zusammen und verbrachten einen entzückenden Abend. Oh Jesuina, Jesuina, meine Waldkönigin, meine Tropenblume, warum konnte ich mich Dir nicht verständlich machen? - Gerade sehe ich, wie sie mit ihren langen, herabfallenden Haaren am Strand entlang geht und sehne mich danach, ihr mein Versagen zu erklären“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Amazonas-Expedition von Agassiz ist ein Fehlschlag. Sie kann keinen Beweis erbringen, dass der Fischreichtum des riesigen Flussgebiets einem separaten Artenwandel unterliegt. Nach der Rückkehr setzt Willy das Studium der Medizin fort, bittet aber nach einiger Zeit den Vater, ihm einen Studienaufenthalt in Europa zu finanzieren. Im Sommer 1867 wird Dresden die erste Station seiner Reise durch Deutschland. Er liest „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe im Original und findet in dem Buch seine eigenen Selbstmordfantasien wieder. In Briefen an die Eltern schwärmt er hingegen von der dialektischen Philosophie Hegels, die er Passagen weise für sie übersetzt. Im böhmischen Bad Teplitz kuriert er seine chronischen Rückenbeschwerden. Danach reist er weiter nach Berlin, wo er beginnt, Tagebuch zu schreiben. Im Anschluss an eine „Hamlet“ - Aufführung notiert er sich Gedanken über die Macht von Gefühlen: Sprecher Drei (William James): „Hamlet ist ein trefflicher Beweis dafür, dass die Macht eines Gefühls stärker wirkt als jedes Wort, und der Versuch, es auszusprechen, zur Aufgabe führt. Gerade dies Scheitern weckt die Fantasie und setzt einen Gegensinn frei. Am Ende erscheint in Hamlets Gefühl jede Aktion als unangemessen fehlgeleitet“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Seit den ersten Tagen des Bürgerkriegs ist die innere Welt von Willy in Aufruhr. Was ihn antreibt, ist der pure Drang nach Bildung und Wissen. Das Pensum der Lektüren in mehreren europäischen Sprachen ist immens. Die Reise durch Deutschland führt ihn von Berlin, wo er den Philosophen Wilhelm Dilthey kennenlernt, weiter nach Heidelberg. Hier hört er Vorlesungen des bewunderten Physiologen Hermann von Helmholtz. Als er im Herbst 1868 wieder in Harvard ist, zieht er zurück zu den Eltern in die Quincy Street. Er ist fest entschlossen, das Medizinstudium zu beenden. Mit Erfolg gelingt das im kommenden Jahr (1869). Nach Erlangung des akademischen Grads lichtet sich das Wirrwarr der Gefühle keineswegs. Willy hat sich in Minnie Temple verliebt. In einem Brief an Harry, der ähnliche Gefühle für die Kusine aus Newport hegt, beschreibt er ihren Besuch in Harvard: Sprecher Drei (William James): „Was kann ich Dir aus unserem Elternhaus erzählen? Minnie Temple war vor vierzehn Tagen für eine Woche bei uns. Sie war in jeder Hinsicht entzückend, obwohl sie recht schmal aussah, war sie sehr fröhlich. Ich bin mir bewusst, dass ich ihr vor Jahren Unrecht tat, als ich ihr meine Abneigung zeigte. Sie ist eine achtbare Persönlichkeit geworden, beweist durch ihre Aufrichtigkeit einen bewundernswerten Mut und bekennt sich zu ihren Schwächen - ich meine, sie zeigt so ihre religiöse Seite. Mehr noch, sie ist ganz ohne Vorurteile mehr als jeder andere Mann oder jede andere Frau, die ich kenne“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit seiner erotischen Schwärmerei nimmt Willy das Ideal seiner späteren pragmatischen Philosophie vorweg: ihre Vorurteilslosigkeit. Ein Brief der kranken Kusine konfrontiert ihn umgekehrt mit der Verletzlichkeit von Gefühlen: Sprecherin (Minnie Temple): „Je länger ich lebe, umso mehr fühle ich, dass es irgendeinen Trost für die meisten Menschen geben muss, wenn sie leiden und traurig sind, unabhängig von Stoizismus. Jedes Mal, wenn ich einen Menschen mit Schwierigkeiten begegne, bricht es mir so sehr das Herz, dass ich ihm kaum ein Wort des Trosts spenden kann. Es liegt mir auf der Zunge, aber ich kann es nicht, weil ich in mir eine unbeschreibliche Traurigkeit spüre und ein Geheimnis, das uns hält. Wenn ich nicht schlafen kann, sollte ich vielleicht etwas von dem Chloral nehmen, das Du mir geben hast. Mein gestriger Brief sollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass wir einander nicht nahe sind. Wir sind Herzensfreunde“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Ungeschminkt artikulieren Minnies Briefe ihre Empfindsamkeit. Da stirbt sie überraschend (am 9. März 1870). Die Todesnachricht versetzt William in einen Schockzustand. Als er nach Tagen die Fassung zurückerlangt, wendet er sich in einem fiktiven Antwortschreiben an die tote Geliebte. Sprecher Drei (William James): „Minnie, Dein Tod lässt mich die Nichtigkeit meiner egoistischen Wut spüren. Ein Verzicht ist unvermeidlich: es gilt die Umkehr einzuleiten, was immer sie bedeutet. Seitdem die Tragödie in unserer Mitte ist, heißt es, ein Verhältnis zum Schicksal einzugehen, ihr ins Auge zu sehen und sie bis ans Ende auszutragen, anstatt auszuweichen und von ihr doch niedergedrückt zu werden. Gebrauche deinen Tod oder dein Leben, das ist gleichbedeutend. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit dreißig Jahren (1870/71) erlebt William James den totalen Kollaps seines bisherigen Fühlens und Denkens. Der „Breakdown“ mutet wie eine Wiederholung des psychischen Zusammenbruchs an, den der Vater im gleichen Alter erlitt und der seine religiöse Bekehrung einleitete. Henry James Senior hat gerade (im Juli 1869) sein Alterswerk „Das Geheimnis von Swedenborg” abgeschlossen. In Williams Weltsicht sind Geheimnisse nicht vorgesehen. Sie soll künftig von Vorurteilslosigkeit und Willensfreiheit bestimmt werden. - Am Ende folgt auf seine psychische Krise der erlösende Befreiungsschlag. Im Januar 1873 erhält er den ersten Lehrauftrag an der Naturhistorischen Fakultät von Harvard, wo er die Fächer Anatomie und Physiologie unterrichten kann. Die Vermittlung seines stupenden Wissens vor Studenten im Hörsaal fordert ihn heraus und verleiht ihm Festigkeit. Als er auf einer anschließenden Europareise Harry trifft, berichtet dieser den Eltern: Sprecher Zwei (Henry James): „Willy macht auf mich einen starken, geradezu brillanten Eindruck. Der Willy unserer Jugend scheint mir vollständig wiederhergestellt - im Aussehen, Geist, Humor und mit einer unerschöpflichen Auffassungsgabe versehen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): William etabliert sich an der Universität Harvard, indem er Schritt weise die medizingeschichtliche Ausrichtung seiner Vorlesungen in eine eigene Thematik überführt, die er Physiologische Psychologie tauft. Entscheidende Anregungen zu der neuen Fragestellung hat er auf Reisen durch Deutschland bei Forschern wie Gustav Theodor Fechner, Hermann Lotze und Wilhelm Wundt erhalten. Impulse der Evolutionstheorie von Darwin regten sie an, physiologische Wirkungen auf Gefühl und Verstand der Menschen zu untersuchen. Ihre Forschungen werfen bis heute unbeantwortete Fragen auf: Was lenkt die Physis des Menschen? Wie entstehen Emotionen? Wie wirkt die Physis auf die Rationalität des Menschen? In seinem ersten Aufsatz „The Sentiment of Rationality“ (1878) schlägt William die Richtung der künftigen Psychologie des Philosophierens ein. Sprecher Drei (William James): „Es beginnt mit subjektiven Markierungen, das heißt mit einem starken Gefühl von Leichtigkeit, Frieden und Ruhe. Dieses Gefühl der Angemessenheit des gegenwärtigen Augenblicks und seiner Absolutheit - die Abwesenheit dessen, was erklärt, errechnet oder gerechtfertigt ist - nenne ich das Gefühl der Rationalität“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Für William darf es keine Zweifel mehr geben. Sein Forschen zielt auf Daten, Fakten und Exempel. Entsprechend experimentiert er mit Stoffen und Themen. Das Studium sinnlicher Eindrücke bildet die Grundlage der Wissenschaften. Der frühe Aufsatz über „das Gefühl der Rationalität“ zeigt, wie intensiv seine Forschungen um Formen subjektiven Erleben kreisen. - In den Jahren, in denen er sich Bausteine seiner Psychologie erarbeitet und zurecht legt, lernt er eine Studentin kennen, in die er sich verliebt. Die Arzttochter Alice Gibbons verfügt über einen beachtlichen naturhistorischen und literarischen Enthusiasmus. Nach der Hochzeit (im Juli 1878) ziehen sich die Liebenden für die Flitterwochen in die Einsamkeit der Adirondack Mountains an der kanadischen Grenze zurück. Willy schreibt über ihren „honeymoon“: Sprecher Drei (William James): „Die Ehe ist ein einfacher und natürlicher Zustand. Wir verbringen einen Sommer wie eine Ballade in einem entzückenden Kinderbett zwischen den bewaldeten Hügeln. Ich muss nicht erklären, dass wir in dieser Situation den psychischen Reaktionen völlig freien Lauf lassen, wie es dem Genuss der Gattung angemessen ist“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als das Paar am Ende des Sommers nach Harvard zurückkehrt, ist Alice schwanger. Im Mai 1879 bringt sie ihren ersten Sohn zur Welt, der - wie könnte es anders sein - auf den Namen Henry (III.) getauft wird. In den kommenden zehn Jahren folgen vier weitere Kinder. Der zweite Sohn erhält - natürlich - den Namen William (III.). Alice ist als Mutter und Mitarbeiterin von Willys Seite nicht mehr weg zu denken. Er genießt inzwischen im Universitätsleben einen hervorragenden Ruf. Seit den ersten Tagen in Harvard steht er im Austausch mit dem Sprachwissenschaftler Charles Sanders Peirce (1839-1914). In dem Philosophen Josiah Royce (1855-1916) gewinnt er einen unzertrennlichen Freund. Es finden sich Schüler wie George Santayana (1863-1962) und John Dewey (1859-1952) ein, die von sich reden machen werden. - Im April 1882 sterben gleichzeitig Charles Darwin und der Freund des Vaters, der Philosoph Ralph Waldo Emerson. William und Henry James gehören zu den Trauergästen, die auf der Strecke von Cambridge nach Concord, wo Emerson begraben wird, eigens einen Eisenbahnzug gemietet haben, um ihm das letzte Geleit zu geben. Als im Dezember 1882 der eigene Vater im Sterben liegt, befindet sich William auf einer erneuten Deutschlandreise. In einem Abschiedsbrief wendet er sich an den Mann, dem er aus Gewohnheit widersprach, dessen Intentionen ihn aber nie losgelassen haben. Sprecher Drei (William James): „Geliebter alter Vater, Du bist jetzt alt genug, hast auf mannigfache Weise der Welt, Deine Botschaft hinterlassen und wirst nie vergessen werden. Auf der anderen Seite bist Du allein zurückgeblieben, so lass uns hoffen und beten, dass unsere liebe Mutter darauf wartet, sich mit Dir endlich zu vereinen. Wenn Du uns verlässt, dann geschieht es auf harmonische Weise. Auch wenn es mir fremd anmutet, Dir ‘Auf Wiedersehen’ zu sagen, weil das Leben wie ein einziger Tag und wie ein einziges Zeichen zu sein scheint, so kommt nichts dem Akt gleich, Dir ‘Gute Nacht’ zu wünschen. Gute Nacht, hoch verehrter, alter Vater. Wenn ich dich nicht wieder sehe: Lebe wohl! Ich wünsche Dir: Ein gesegnetes Lebewohl!“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das erste Buch von William James erscheint zwei Jahre nach dem Tod des Vaters (Dezember 1884). Es trägt den Titel: „Das literarische Vermächtnis von Henry James“. Das schmale Werk ist keine Gedenkschrift sondern die Darstellung des Werdegangs von „Mister James“. William hat die Widerstände aufgegeben, die er gegen die Theosophie hegte. Der Psychologe untersucht zum ersten Mal Motive persönlicher Religiosität. Indem er alle Formen historischer und organisierter Religion abgelehnt habe, sei Henry James Senior zu einem „religiösen Propheten“ geworden. Das Erscheinen des Buchs ist mit einem Schicksalsschlag verbunden. Alice und William verlieren im Alter von 18 Monaten ihren dritten Sohn Hermann, der nach dem deutschen Physiologen von Helmholtz benannt wurde. In der Folge wirft sich William entschiedener denn je auf sein „Psychologie-Buch“. Bei Reisen, die ihn an europäische Universitäten führen, hält er sich auf dem Laufenden. Brennend interessiert ihn, was Kollegen auf der anderen Seite des Atlantiks treiben, zum Beispiel der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt in Leipzig und Jean-Martin Charcot in Paris. Die Hypnose-Experimente des Psychiaters Charcot an der Salpêtrière beeindrucken ihn so stark, dass er nach ihrem Vorbild in Harvard ein eigenes „Committee on Hypnosis“ einrichtet. Mit Studenten beginnt er Hypnose- und Schlafexperimente durchzuführen. Er schreibt über den Schlaf: Sprecher Drei (William James): „Der Schlaf übt eine aktive Funktion aus und rührt aus einem Zustand extremer Konzentration von Aufmerksamkeit“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Durch Aufnahmefähigkeit und Wissensdurst ist William zu einem angesehenen Forscher gereift. Nach der Ernennung zum Professor für Philosophie (1885) lässt er in der Irving Street in Harvard ein repräsentatives Wohnhaus für seine vielköpfige Familie errichten. Bei Wanderungen im Herzen von New Hampshire hat er einige Zeit zuvor eine einsame Farm (mit 75 Hektar Land) entdeckt und als Sommersitz erworben. Am Mount Chocorua in den White Mountains wird er zum Gründer einer Kolonie von Künstlern und Wissenschaftlern, die über Jahrzehnte hier zusammenkommen. - Im Sommer 1889 treibt es ihn einmal mehr über den Atlantik, um einer Veranstaltung in Paris beizuwohnen, die Pierre Janet und Charles Richet, Schüler von Charcot, ausrichten. Am „Ersten internationalen Kongress für Physiologische Psychologie“ nehmen 120 Gelehrte teil, darunter illustre Gestalten wie Wilhelm Wundt aus Leipzig und ein junger, noch unbekannter Arzt aus Wien mit Namen Sigmund Freud. Nach Abschluss des Kongresses und 20 Jahren Forschung legt William letzte Hand an ein Werk, das von der Fachwelt so respektvoll wie staunend aufgenommen wird. Noch heute tituliert man es als „Moby Dick der modernen Psychologie“. Das Mammutwerk „The Principles of Psychology“ bündelt in zwei Bänden über 100 Kapitel und umfasst 1400 Seiten. Der Psychologe Stanley Hall widmet ihm eine hymnische Besprechung: Sprecher Zwei (Stanley Hall): „Der Autor ist ein wahrer Sturmvogel, der von schier unlösbaren Problemen fasziniert wird. Andererseits ist er sich da, wo Experten und Spezialisten im Zweifel sind, seiner Sache absolut sicher“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Der Themenkatalog der „Principles“ bildet einen Fundus, bei dem spätere Phänomenologen wie Henri Bergson und Edmund Husserl, der Philosoph Ludwig Wittgenstein und noch Hirn- und Verhaltensforscher unserer Tage Anregung finden. Das Spektrum der Forschung reicht von Beobachtungen neurologischer Details bei der Raumwahrnehmung bis zu ausgefeilten Tests bei der Schulung von Aufmerksamkeit. Die Leitfäden des labyrinthischen Aufbaus sind Reflexionen über Willensbildung. Sprecher Drei (William James): „Wir bewerten uns auf Grund von Standards der Stärke und Intelligenz, der Gesundheit und sogar des Glücks. Sie wärmen unser Herz und befähigen uns zur Bewältigung des Lebens. Aber tiefer als diese Einstellungen reicht der Sinn für Angemessenheit, den wir benötigen. Angesichts seiner wirkt alles entweder schattenhaft oder heroisch.“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In den „Prinzipien“ wird zum ersten Mal die Idee entwickelt, dass es ausgehend von der Willensfreiheit moralische Äquivalente zu Krieg und Gewalt geben könne. Seit dem Bürgerkrieg fragt sich William: Wie könnten Kräfte sozialen Ausgleichs aussehen, die Menschen an Stelle der zerstörerischen Gewalt des Kriegs setzen? Wie lassen sich die Vorstellungen schöpferischer Friedensarbeit entwickeln? Mit dieser Fragestellung nimmt er die Friedensforschung des 20. Jahrhunderts vorweg. Die Pioniertat des Werks liegt in der Entdeckung des Bewusstseinsstroms. Sprecher Drei (William James): „Es gibt keine andere Identität als die im ‘Strom’ des subjektiven Bewusstseins erlebbare. Die Gleichheit der einzelnen Momente im Kontinuum der Gefühle konstituiert die wirkliche und als wirklich erfahrene ‘persönliche Identität’, die wir fühlen. Wenn die Verknüpfung an irgendeiner Stelle reißt, ist die erlebte Einheit verloren“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Resonanz auf die „Prinzipien“ ist so enorm, dass der Verleger Holt William auffordert, das versprochene Lehrbuch nachzuliefern. So entsteht als Kurzfassung des Mammutwerks, das als „Der James“ in die Geschichte der Wissenschaft eingeht, eine Fassung, die in der amerikanischen Psychologie als „Der Jimmy“ firmiert. Fächer übergreifende Vorlesungen von William genießen seit den 1890er Jahren legendären Ruf, der weit über Harvard hinaus strahlt. Im Hörsaal sitzt als Studentin auch die junge Schriftstellerin Gertrude Stein. Später legt sie sich Rechenschaft ab, welche kreativen Impulse von ihm ausgingen. Sprecherin (Gertrude Stein): „Jede Einzelheit muss in deiner Vorstellung präsent sein, sonst kannst du keine wirkliche Einfachheit erreichen. Diese wesentliche Einsicht verdanke ich meinem Lehrer William James. Er sagte: ‘Lehne nie etwas einfach ab. Es ist noch nichts bewiesen. Wenn du etwas einfach negierst, ist das der Anfang vom Ende deiner Intellektualität‘. Er beeinflusste mich enorm. Schon als ich auf dem College war, pflegte er zu sagen: ‘Wenn du fähig bist, dein Leben so stark wie möglich zu komplizieren, so wird es sich von selbst vereinfachen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Gertrude Stein ist von den Möglichkeiten des Bewusstseinsstrom fasziniert. Aus ihrer experimentellen Sicht fragt sie: Was passiert, wenn ich beim Schreiben ein und dasselbe Wort, zum Beispiel „Haus“ oder Rose“, mechanisch notiere? Welche Fehler oder fremden Worte mischen sich in die Reihe, ohne dass es beabsichtigt ist? Die Autorin entdeckt, wie durch Wiederholungen spontane Ausdrucksweisen möglich werden. Viele Impulse von William James fließen in die moderne Kunstpraxis ein. - Unterdessen haben sich seine Interessen erneut verschoben. Von der Psychologie ausgehend widmet er sich Fragen von Philosophie und Religion. Im Essayband „Der Wille zum Glauben“ (1897) greift er die berühmte Glaubenswette des französischen Philosophen Pascal auf, wonach der gläubige Mensch bei Abwägung von Verlust und Gewinn nichts zu verlieren oder zu gewinnen habe, wenn er glaubt. Unter den Vorzeichen der Willensbildung kleidet er die Wette mit moralischen Komponenten aus: Sprecher Drei (William James): „Alle menschlichen Wesen wollen an ein Universum glauben, worin Wahrheit und Güte vorhanden sind. Ohne die Möglichkeit des Auffindens von Wahrheit und des Erlangens von Güte wären moralische Entscheidungen vergebliche Übungen. Die leidenschaftliche Bejahung des Begehrens nach Wahrheit und Güte sieht sich einer Welt gegenüber, die aus realen Möglichkeiten, realen Unbestimmtheiten, Anfängen und Enden, realen Übeln, Krisen, Katastrophen und Fluchten sowie einem realen Gott und einem realen moralischen Leben besteht. Die moralische Frage ist also nicht eine Frage dessen, was gefühlt existiert, sondern dessen, was gut ist oder gut wäre, wenn es existierte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): William James entwickelt einen radikalen Erfahrungsbegriff, der auf die Vielfalt der Welt reagieren soll. Einerseits ist Erfahrung grenzenlos dem Chaos preis gegeben. Andererseits impliziert sie den Glauben an die ungeordnete Welt. So ist die Empirie dank der ihr innewohnenden Spannung in der Lage einen elementaren Vertrauensbeweis gegenüber der chaotischen Realität auszudrücken. - Auf dem Höhepunkt seines Wirkens pendelt William rastlos zwischen den Vereinigten Staaten, wo er an mehreren Universitäten lehrt, und Europa, wo er zum Mitglied bedeutender wissenschaftlicher Akademien ernannt wird. Als die Aufforderung an ihn ergeht, die legendären Gifford-Lectures (der Jahre 1901-1902) in Schottland zu halten, will er sie der Frage widmen, die ihn seit je umtreibt: Wie manifestiert sich die innere Wahrheit der Religionen? Im Brief an einen Freund beschreibt er die eigene Position: Sprecher Drei (William James): „Ich habe kein lebendiges Empfinden einer Beziehung mit Gott. Ich beneide die Menschen, die diese Empfindung haben, denn ich weiß, dass der Besitz eines solchen Vermögens mir unsagbar viel helfen würde. Das Göttliche beschränkt sich, was mein aktives Leben betrifft, auf abstrakte Begriffe, die mich als Ideale interessieren und eine Richtung andeuten“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Gifford - Lectures mit dem Titel „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ (1902) begründen den Weltruhm von William James. Die Materialsammlung rückt Zeugnisse von Religionsstiftern, Mystikern und Theologen gleichrangig neben Berichte von Alkoholikern, Hysterikerinnen und Wanderpredigern. Der offene und teilnehmende Blick des Psychologen entwickelt eine vorurteilslose Einschätzung von profaner wie sakraler Religiosität. Grundmuster seiner Betrachtungen ist, dass der Mensch Gott nie erklären oder erfassen kann. In jedem Einzelfall kommt das Bemühen zum Ausdruck, durch einen Sprung in Kontakt mit einer „höheren Instanz“ zu gelangen. Implizit verwebt er die religionspsychologische Beweisführung mit seiner empiristischen Position. Sprecher drei (William James): „Die Philosophie lebt von Worten; Wahrheit und Wirklichkeit jedoch überschäumen unser Dasein in einer Weise, die über verbale Formulierungen hinausgeht. In jedem lebendigen Akt der Wahrnehmung ist etwas Glitzerndes und Funkelndes, das sich nicht einfangen lassen will und für das die Reflexion zu spät kommt. Niemand weiß dies so gut wie der Philosoph. Er muss aus seiner Begriffsflinte immer neue Wortsalven abschließen, weil ihn sein Beruf dazu verdammt, aber insgeheim weiß er um deren Hohlheit und Bedeutungslosigkeit. Seine Formeln sind wie stereoskopische oder kinetoskopische Photographien, die man ohne entsprechenden Vorführapparate betrachtet; ihnen fehlt die Tiefe, die Bewegung, die Lebendigkeit. Gerade im religiösen Bereich kann der Glaube an die Wahrheit von Formeln die persönliche Erfahrung nie ganz ersetzen“. Sprecher Eins (Erzähler /Interpret): William James versteht sein religionswissenschaftliches Werk als Studie über die Natur der menschlichen Erfahrung. In Grundzügen beschreibt er, wie die subjektive und die objektive Gestalt der Erfahrung getrennt sind und trotzdem elementar von einander abhängen: Sprecher Drei (William James): „Die Welt unserer Erfahrung besteht zu allen Zeiten aus zwei Teilen, einem objektiven und einem subjektiven Teil; jener mag unvorstellbar viel größer als dieser sein und trotzdem kann dieser niemals übergangen werden oder unterdrückt werden. Der objektive Teil ist die jeweilige Totalsumme dessen, woran wir denken; der subjektive Teil ist der innere Zustand, in dem sich das Denken vollzieht. Das, woran wir denken kann gewaltig sein - z.b.die kosmischen Zeiten und Räume -, während der innere Zustand eine ganz flüchtige und kümmerliche Aktivität des Geistes sein kann. Aber die kosmischen Objekte soweit sie uns durch Erfahrung gegeben sind, sind nur geistige Bilder einer Existenz, die wir nicht in uns haben, auf die wir vielmehr nur von außen hinweisen, während der innere Zustand unsere Erfahrung selbst ist: seine Realität und die unserer Erfahrung sind eins. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Unter den Zuhörern der letzten Gifford-Lectures befindet sich sein Bruder Henry, der von London nach Edinburgh angereist ist. Weil er von den Anstrengungen der letzten Monate gezeichnet ist, will William mit ihm eine Erholungsreise durch Italien unternehmen. Über die Jahre haben sich die geistigen Welten der Brüder weit von einander entfernt. Was sie trennt, bringt William in einer harschen Kritik am jüngsten Roman von Henry (an „The Golden Bowl“) zum Ausdruck: Sprecher Drei (William James): „Warum kannst Du nicht hinsetzen, lieber Bruder - ich bitte Dich inständig darum, - und ein neues Buch schreiben, das ohne Zwielicht und Zwang in den Handlungsabläufen auskommt, eins, das kraftvoll und entschlossen Aktionen schildert, ohne Geplänkel in den Dialogen, ohne psychologische Kommentare und das schließlich von absoluter Geradlinigkeit im Stil ist? Du darfst es auch unter meinem Namen veröffentlichen! Ich stehe dazu und gebe Dir anschließend die Hälfte des Honorars. Ernsthaft, ich wünschte, Du würdest es tun, denn Du kannst es und ich denke, es fordert Dich heraus, Dich auf eine solche Weise zu erproben“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): William kritisiert an Henrys Werk das, was seine Leser als unverwechselbaren Reiz empfinden: Die Romane sind in Zwielicht getaucht, die Dialoge bilden ein vages Hin und Her ab und ihre Handlungen verlaufen nie gradlinig. Der Vorwurf basiert auf einem Perfektionismus, den die Schwester Alice in ihrem Tagebuch mit den Worten umschrieb: Für William müssten alle Türe nach Außen hin aufgehen. Henry antwortet auf die Anwürfe des Bruders umgehend: Sprecher Zwei (Henry James): „Es tut mir immer leid, wenn ich höre, dass Du etwas von mir gelesen hast, hoffte ich doch, Du würdest es nicht tun - denn Du scheinst mir von Deiner Konstitution her unfähig, ein Vergnügen an meinen Büchern zu finden und verdammt zu sein, sie von einem Gesichtspunkt zu betrachten, der mir beim Schreiben völlig fremd ist. Dein Urteil zeigt einmal mehr, wie entfernt und verschieden wir (völlig natürlich und eigenständig) arbeiten und respektive unser intellektuelles Leben führen. In Kürze dies: Philosophisch bin ich ‘an deiner Seite’. Du solltest, mir das in Rechnung stellen und erkennen, wie sehr ich das bin“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Bereits zu Beginn dieser Stunde hörten wir, dass William am 18. April 1906 in Palo Alto Augenzeuge des verheerenden Erdbebens von San Francisco wurde. An Henry schreibt er Tage später, wie ihn das Schockerlebnis getroffen hat und er es aus philosophischer Sicht beurteilt: Sprecher Drei (William James): „Nach meiner Auffassung kam das Erdbeben als permanente Macht des Seins zum Ausbruch, die lange ihre Aktivität zurückgehalten hatte. An dem besagten außergewöhnlichen Morgen sagte sie mit einem Mal: ‘Now give it to them! - Nun geht’s los!’ (Original in deutscher Sprache) Ich spürte, wie die Macht von einem Willen beseelt wurde, so gewaltsam war der Ausdruck, den sie aufbot“ Sprecher Eins (Erzähler /Interpret): In den Vorlesungen, die William anschließend über „Pragmatismus“ (1907) und „Das pluralistische Universum“ (1909) hält, bildet das erschütternde Erlebnis den Hintergrund, von dem ausgehend er Analysen und Betrachtungen entwickelt. Eine Sentenz des stoischen Philosophen Mark Aurel wird zur Maxime seines radikalen Empirismus: Sprecher Zwei (Mark Aurel): „O Universum! Ich will, was Du willst!“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): William James postuliert die Existenz eines unfassbaren und unkontrollierbaren Universums. Auf der Basis dieser Annahme entwickelt er das pragmatische Experiment, wonach es möglich sei, durch Akte der Willensfreiheit die chaotische Welt in der Balance zu halten und zu humanisieren. In den Vorlesungen betont er Hörern gegenüber nachdrücklich, wie die gemeinsame körperlich - sinnliche Präsenz Grundlage des pragmatischen Experiments sei. Sprecher Drei (William James): „Meine Gedanken beleben und bewegen diesen Körper, den Sie sehen und hören und beeinflussen dadurch Ihre Gedanken. Irgendwie gelangt der Erregungsstrom von mir zu Ihnen, wie zahlreich auch die Zwischenleiter sein mögen. In der Logik mögen begriffliche Unterschiede Isolatoren sein, soviel sie wollen, aber im Leben können begrifflich verschiedene Dinge in Verbindung treten und tun es in jedem Augenblick“. Sprecher Eins (Erzähler /Interpret): In seinen späten Vorlesungen über Pragmatismus will William James belegen, dass eine experimentelle Philosophie praktisch in der Lage ist, eine chaotische Realität zu erfassen. Zuhörer sind für ihn nicht nur die Adressaten seiner Worte sondern er sieht in ihnen Teilnehmer einer beweglichen Versuchsanordnung. Sprecher Drei (William James): „Was jeweils wirklich existiert, sind nicht Dinge, die schon geworden sind, sondern Dinge, die noch im Werden begriffen sind. Werden sie nicht mehr, so sind sie tot, und man kann sie dann, um sie wissenschaftlich zu definieren, auf unendliche viele Weisen begrifflich zerlegen. Aber versetzen Sie sich in das Werden auf Grund einer intuitiven Sympathie mit dem Ding, und Sie beherrschen sogleich die ganze Reihe möglicher begrifflicher Zerlegungen und werden nicht länger von der Frage gequält, welche von ihnen im absoluten Sinne wahrer sei. Die Realität sinkt zusammen, wenn sie in die begriffliche Analyse überführt wird, sie steigt wieder empor, wenn sie ihr eigenes ungeteiltes Leben lebt - sie bildet Knospen und Sprossen, ändert sich und schafft Neues. Die Philosophie soll diese Art lebendigen Verständnisses der beweglichen Realität anstreben und nicht der Wissenschaft in dem vergeblichen Versuch folgen, ihre toten Resultate zusammenzuflicken“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Seit der Wende zum 20. Jahrhundert führt William James die Existenz eines Gelehrten, für den der transatlantische Traum seines Vaters in Erfüllung gegangen ist. - Im Herbst 1909 kommt es noch einmal zu einer entscheidenden Begegnung in seinem bewegten wissenschaftlichen Leben. Zur 20. Jahresfeier der Clark-Universität in Worcester hat sein Freund, der Psychologe Stanley Hall, den Wiener Arzt Sigmund Freud eingeladen, „Fünf Vorlesungen über Psychoanalyse“ zu halten. William, der ihn aus Europa flüchtig kennt und seine Schrift zur Traumdeutung bewundert, zählt zu den geladenen Gästen. Weil er früher aus Worcester abreisen muss, begleitet Freud ihn zum nahe gelegenen Bahnhof. In seiner „Selbstdarstellung“ berichtet er von dem Spaziergang: Sprecher Zwei (Sigmund Freud): „Eine Zusammenkunft mit dem Philosophen William James hinterliess mir einen bleibenden Eindruck. Ich kann nicht die kleine Szene vergessen, wie er auf einem Spaziergang plötzlich stehen blieb, mir seine Handtasche übergab und mich bat vorauszugehen, er werde nachkommen, sobald er den herannahenden Anfang von Angina Pectoris abgemacht habe. Er starb ein Jahr später am Herzen; ich habe mir seither immer eine ähnliche Furchtlosigkeit angesichts des nahenden Lebensendes gewünscht“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Der radikale Empirist William James hat „seine Kräfte restlos verbraucht“, wie es seine Frau Alice ausdrückt, als er am 26. August 1910 in seinem Sommerhaus am Mount Chocorua das Bewusstsein verliert und stirbt. Jetzt liegt es in den Händen von Henry, das lose zusammen gehaltene Band der menschlichen Erfahrungen zu verknüpfen. Er schreibt über den Verlust des Bruders: Sprecher Zwei (Henry James): „Ich sitze schwer getroffen und in Dunkelheit, seit langer Zeit, seit frühester Kindheit war er mein idealer älterer Bruder. Über all die Jahre hin sah ich in ihm wie als kleiner ängstlicher Junge meinen Beschützer und Unterstützer, meine Autorität und Bestätigung. Sein Verschwinden verändert für immer das Gesicht des Lebens - unabhängig davon vermisse ich schon jetzt seine unerschöpfliche Gesellschaft und Persönlichkeit, eine Originalität, die ihm eine unaussprechlich lebendige Gegenwart verlieh. Seine intellektuelle Vitalität stand auf ihrem Höhepunkt - er hatte noch zwei oder drei leidenschaftliche Vorhaben und Pläne. Er hat sie verworfen, am Ende wollte er - so schrecklich das klingen mag - nur noch sterben“. Musik 3. Stunde Musik Sprecherin (Gertrude Stein): „Ich wünschte, jeder hätte das richtige Gefühl für Henry James“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das erklärt Gertrude Stein, als sie Anfang der 1930er Jahre mit dem Werk von Henry James in Berührung kommt. - In der ersten Stunde lernten wir das leidvolle Schicksal seiner Familie kennen und in der zweiten Stunde konnten wir den ungewöhnlichen Werdegang seines Bruders, des Psychologen und Philosophen William James verfolgen. In dieser dritten Stunde widmen wir uns seiner Erzählkunst und ihrem Geheimnis. Wir fragen: Was hat es mit „dem richtigen Gefühl für Henry James“ auf sich? – Erneut setzt die Rückschau im idyllischen Newport des Jahres 1860 ein. Der Vater, Henry James Senior, kann verhindern, dass seine Ältesten, Willy und Harry, für die Armee der Nordstaaten rekrutiert werden, indem er sie zum Studium nach Harvard schickt. Hinter seinem Rücken melden sich hingegen die minderjährigen Söhne Wilky und Rob freiwillig. Henry James, den wir bei seinem Rufnamen „Harry“ nennen, um ihn nicht mit dem Vater zu verwechseln, nimmt nur pro forma ein Jurastudium auf. In Wirklichkeit beginnt er unter Pseudonymen Geschichten und Rezensionen für renommierte Magazine wie „Atlantic Monthly“, „North American Review“ und „Nation“ zu schreiben. Seit er denken kann, hat er sich danach gesehnt ungehindert lesen und spazieren gehen zu können. Für ihn geht mit dem Schreiben ein Traum in Erfüllung. Da schockiert ihn die Rückkehr des Bruders Wilky aus dem Bürgerkrieg (1863). Er berichtet einem Freund, wie der Verwundete von der Front nach Hause gebracht wird: Sprecher Zwei (Henry James): „So deutlich wie die Dinge im Gegenlicht der Abendsonne, so gegenwärtig ist mir die Tragbahre, auf der mein jüngerer Bruder viele Tage lang lag, bevor er bewegt werden konnte. Auf ihr hatte man ihn während der langen Bootsreise von South Carolina über New York bis nach Newport transportiert. Der Vater von Cabot Russel, der das Schlachtfeld verzweifelt nach seinem eigenen Sohn abgesucht hatte, von dem sich erst viel später herausstellte, wo er gefallen war, hatte Wilky gefunden und ihn unter beschwerlichen Umständen in sein Elternhaus zurück gebracht, wo er auf den familiären Schmerz und unsere äußerste Anteilnahme traf. Bis heute ist in mir die Scham lebendig, die in der hektisch-chaotischen Zeit herrschte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das Erlebnis geht als Episode ungefiltert in „The Story of a Year“ (1865) ein, die erste Kurzgeschichte, die er unter seinem eigenen Namen verfasst: Sprecher Zwei (Henry James): „In der Dämmerung des vierten Abends wurde John Ford in Begleitung seiner im Kummer erstarrten Mutter und umgeben von schweigenden Freunden, die sich mit helfenden Händen um ihn sorgten, auf seiner Bahre vor die Tür getragen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Es schließt sich eine zweite Szene an, die von Lizzie, einer jungen Frau erzählt. Sie hat sehnsüchtig auf die Rückkehr des Geliebten von der Front gewartet. Sprecher Zwei (Henry James): „Als Lizzie vor der Tür von Johns Haus abgewiesen wurde, stieß sie auf ein achtlos weggeworfenes Stück Zeug an der Hausecke: Es war eine alte Militärdecke, in die sie sich hüllte, und anschließend hinaus auf die Veranda trat. An dem alten ergrauten Gewebe haftete der Geruch von Schlamm vermischt mit dem von Tabak. Mit einem Mal, schlagartig wurden die Sinne des Mädchens auf ferne südliche Schlachtfelder versetzt. Dort sah sie Männer im Schlamm liegen, Pfeife rauchen, eng in Decken gewickelt, von derselben leuchtenden Dämmerung eingefasst, die gerade ihren Schwächeanfall umgab. So schweiften ihre Sinne inmitten der Szenerie umher“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Zum ersten Mal werden wir Zeugen der Vorstellungskraft des künftigen Romanciers. Er greift ein Stück bedrückender Realität auf, die Rückkehr des schwer verwundeten Bruders aus dem Krieg, und verwebt es mit den Mitteln der Fantasie. Mit Hilfe aufmerksamer Beobachtung und sinnlicher Einfühlung entwickelt er den Stoff, bis er als Erzählung in der Vorstellung von Lucie ein Eigenleben zu führen beginnt. Jeden Morgen konzentriert er sich für einige Stunden auf das Schreiben. Durch den Vater kommt er in Verbindung mit Verlegern, die seinen publizistischen Interessen von Nutzen sind. In Verwirrung stürzt ihn eine Liebesgeschichte. Für Harry wie für seinen älteren Bruder Willy ist die Kusine Minny Temple aus Newport ein Objekt von Anziehung und Anbetung. So zeichnet er ihre einnehmende Persönlichkeit: Sprecher Zwei (Henry James): „Sie hatte überhaupt keine Angst, was ihr geschehen könnte, wenn sie mit ausreichend Aufrichtigkeit und Wissensdurst durchs Leben ging. Niemand hat je ein Geschöpf mit solcher Leichtigkeit in den Umgangsformen gesehen, das im Innersten so widersprüchlich ernsthaft war und in ungehemmter Sorglosigkeit endlos Fragen stellte. Alles, was um sie herum stattfand, fand in erster Linie in Bezug auf sie und zu ihrem eigenen Vorteil statt, um sie hervorzuheben und um sie stärker zur Geltung zu bringen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit Verve werben die Brüder wie ihre Freunde um Minnie Temple. Von Willys psychischer Krise im Anschluss an ihren überraschenden Tod hörten wir bereits in der zweiten Stunde. Harry verharrt lange in distanziert-verliebter Verehrung für die junge Frau. Erst nach ihrem Ableben kommt ihm zu Bewusstsein, was er in ihr gesehen hat. Sprecher Zwei (Henry James): „Je mehr ich an sie denke, umso mehr beglückt es mich, dass ich sie aus der wechselhaften Sphäre der Fakten in die beständige Sphäre der Gedanken übertragen habe. Dort kann sie zu einer Schönheit erblühen, die strahlender ist als sie unsere trüben Augen betrachten können. Ihr Bild wird meinen Geist als Maßstab und Richtschnur von Klarheit und Unbefangenheit bestimmen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die komplexe Erscheinung des amerikanischen Mädchens dient Henry James als Folie für einige exzentrische Frauenportraits. Ihre Charakterzüge finden sich zum Beispiel bei „Daisy Miller“, der Titelheldin seiner gleichnamigen Novelle: Sprecher Zwei (Henry James): „Winterbourne hätte zu gerne gewusst, was Daisy bei all den kalten Schultern, die man ihr zeigte, wohl empfand, und manchmal verdächtigte er sie gereizt, dass sie überhaupt nichts empfinde und merke. Er nannte sie im Stillen hoffnungslos kindisch und oberflächlich, die Inkarnation eines Leichtsinns und Unwissens, wie man sie weder zu billigen noch zu ertragen vermöge. Dann wieder brachte er es nicht fertig, daran zu zweifeln, dass in ihrem hübschen aber verantwortungslosen Köpfchen ein sehr trotziges, leidenschaftliches und wohl wissendes Bewusstsein über den Eindruck, den sie machte, leben müsse. Er fragte sich dann, ob dieser Trotz aus dem Wissen um die Unschuld komme oder daher, dass sie ein junges Geschöpf einer unkultivierten Bildungsschicht sei“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Am Schluss von „Daisy Miller“ (1879), nachdem die Romanheldin an Malaria gestorben ist, kommt es zu einem Dialog zwischen Giovanelli und Winterbourne, die um ihre Liebe konkurrierten: Sprecher Zwei (Henry James): „’Sie war die schönste junge Dame, die ich je gesehen habe und die liebenswerteste’. Und gleich darauf fügte er hinzu: ‘Und natürlich die unschuldigste’. Winterbourne forschte mit nüchternem, harten Blick in seinem Gesicht und wiederholte die Worte: ‘Die unschuldigste?’ - ‘Die unschuldigste!’“ Diese Feststellung kam um so vieles zu spät, dass unser Freund kaum zu begreifen vermochte, wie sie überhaupt noch hatte kommen können. ‘Warum zum Teufel’, fragte er , ‘haben Sie das Mädchen bloß zu dem Unglücksort geschleppt?’. Giovanelli hob die schmalen Schultern und Brauen, um damit jeden Verdacht abzuwehren. ‘Meinetwegen brauchte ich keine Angst zu haben; und sie - sie tat ja doch immer, was sie wollte’. Winterbourne blickte zur Erde. ‘Sie tat immer nur, was sie wollte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Der Dialog wirkt wie eine Replik auf die verflossene Jugendliebe. Die Betonung der Unschuld evoziert die latente Sexualangst der Protagonisten. Zudem stoßen wir auf eine Erfindung des Erzählers, in der es zur Meisterschaft bringt. Er setzt Figuren - wie hier Winterbourne und Giovanelli - als mythologische Paare ein, das heißt, er legt sie als Gegenspieler oder Doppelgänger so an, dass sie sich ergänzen oder einander spiegeln. Das psychologische Wechselspiel wirkt wie das osmotische oder rivalisierende Verhältnis unter Geschwistern. Die komplexe Erscheinung der Jugendliebe Minny Temple wird Henry James noch über Jahrzehnte verfolgen. Anklänge finden sich auch in seinem Meisterwerk „Bildnis einer Dame“. Die Protagonistin Isabel Archer trägt erkennbar im Auftreten und in ihrer äußeren Erscheinung Züge von Minny. Sprecher Zwei (Henry James): „Isabel Archer war ein junger Mensch mit vielen Theorien; ihre Einbildungskraft war bemerkenswert rege. Sie gehörte zu den Glücklichen, die geistig feiner gebaut sind als die Menschen ihrer Umgebung; ihre Auffassungsgabe war schärfer, und ihr Drang nach Erkenntnis machte auch vor entlegenen Dingen nicht Halt. Es traf wohl zu, dass sie unter ihren Zeitgenossen für ein Mädchen von ungewöhnlicher Tiefe galt, denn diese guten Leute geizten nie mit Bewunderung für eine Intelligenz, die ihren eigenen Horizont überschritt; man sprach von Isabel als einem Ausbund von Klugheit; man raunte sich zu, sie habe die Klassiker - in Übersetzung - gelesen.“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Weil die Leser mit seinen Figuren wie in einem vertrauten Schauspiel Umgang pflegen sollen, legt Henry James Wert auf die Darstellung ihrer inneren Einstellungen. So heißt es von Isabel Archer: Sprecher Zwei (Henry James): „Wir wollen ohne Zögern einräumen, dass Isabel sehr leicht der Sünde der Selbsterhöhung zum Opfer fiel; mit Wohlgefallen überblickte sie oft das weite Feld ihrer eigenen Natur; sie war gewohnt, meist schon nach flüchtigem Augenschein zu behaupten, sie habe Recht und zuweilen streute sie sich selber Weihrauch. Die Irrtümer und Versehen, die ihr auf diese Weise unterliefen, waren derartig, dass ein Biograph, den immerhin die Würde seiner Heldin am Herzen liegt, vor einer speziellen Schilderung zurückschrecken muss. Ihre Gedanken waren ein Durcheinander vager Umrisse, die niemals durch das Urteil von Menschen mit Autorität korrigiert worden waren. Mit allen ihren Meinungen war sie bisher ihrem eigenen Kopf und dabei natürlich den lächerlichsten Zickzackwegen gefolgt. Manchmal merkte sie, dass sie unrecht hatte, dann unterwarf sie sich für eine Woche einer leidenschaftlichen Selbsterniedrigung. Später trug sie ihren Kopf wieder höher als zuvor; es hatte alles keinen Zweck, das Verlangen in ihr, von sich selber nur freundlich zu denken, war einfach unbezähmbar“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Absicht des Romanciers ist es die Phantasien seiner Leser zu befriedigen, indem er vor ihnen das Innenleben der Figuren entwickelt. - Je erfolgreicher er als Schriftsteller wird, um so intensiver kann er eine weitere persönliche Sehnsucht realisieren. Sie besteht in dem Wunsch, so viel und so oft wie möglich zu reisen und unterwegs zu sein. In den frühen 1870er Jahren überquert er jährlich mehrere Male den Atlantik und streift er kreuz und quer durch Europa. Bis langsam der Entschluss in ihm reif wird, „in der alten Welt“ zu leben. Sprecher Zwei (Henry James): „Dort ist meine Arbeit und mit dieser gewaltigen Neuen Welt, da weiss ich nichts anzufangen. Beides kann man nicht haben - man muss wählen. Meine Wahl ist die Alte Welt - meine Wahl, mein Wunsch, mein Leben“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): 1876 wählt Henry James London zu seinem Wohnort und als Sprungbrett auf den europäischen Kontinent. Im Westend, Bolton Street / Ecke Piccadilly findet er eine Wohnung. 10 Jahre später mietet er in Kensington, Vere Gardens 21, ein geräumiges Appartement, das seinen gewachsenen repräsentativen Ansprüchen genügt. Von London aus zieht es ihn immer wieder gen Italien, nach Venedig, Florenz und Rom. Um die Reisen zu finanzieren, wird er regelmäßiger Mitarbeiter für Magazine und Zeitschriften, denen er Geschichten wie Berichte, Essays und Kritiken liefert. Eine Zeitlang ist er in Paris als Korrespondent für die liberale New York Tribune tätig. Seine Bücher entstehen aus den Fortsetzungsromanen für englischsprachige Monatsblätter auf beiden Seiten des Atlantiks. Schnell entwickelt er sich zum Meister des Genres. Zum Beispiel in seinem ersten Roman „Roderick Hudson“, dessen Folgen im Januar 1875 erscheinen. Mit seinem Titelhelden, einem in Rom lebenden Bildhauer, der vor einer Frau aus den Vereinigten Staaten floh, verbindet er eine Wunschbiographie. Der Erzähler Rowland Mallet bleibt dem Künstler wie ein Double oder Schatten auf den Fersen. Er verfolgt das Schicksal des Bildhauers, das durch die Leidenschaft für eine verführerische Frau fatale Züge annimmt. Die nächsten Romane, „Der Amerikaner“ (1878) und „Die Europäer“ (1879), verfahren nach ähnlichem Muster in der Erzählweise. Seine Reiseberichte publiziert er unter dem Titel „Transatlantische Skizzen“ (1875). Er beherrscht das Handwerk des Schreibens inzwischen in seiner ganzen Bandbreite. Woran es ihm mangelt, ist, den alltäglichen Sensationen gebührend Raum zu geben. In einem „Notebook“, das er anlegt, reflektiert er seine Arbeitsweise. Sprecher Zwei (Henry James): „Jetzt, da ich älter werde, da ich mehr Zeit habe, meine Arbeit nicht mehr so auf mir lastet und ich mit viel mehr Muße schreiben kann, sollte ich mich eigentlich bemühen, in gewissem Umfang flüchtige Eindrücke all dessen aufzuzeichnen, was kommt und geht, was ich sehe, fühle und beobachte. Etwas vom Leben einfangen und festhalten - eben das möchte ich“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In dem Roman „Bildnis einer Dame“ (1880/81), dessen Protagonistin Isabel Archer wir bereits kennenlernten, kommt er dem Ziel einer Erzählkunst nahe, die sich dem fliehenden Leben öffnen, zugleich spontan und präzise schreiben will. Der Frauenroman entwickelt die Psychologie der selbstbewussten Amerikanerin Isabel, die nach Europa geht und hofft mit ihrem ererbten Vermögen unabhängig leben zu können. Schon bald lässt sie sich zur Ehe mit einem Mann hinreißen, der sie betört, sich aber als Intrigant erweist. Der Roman durchleuchtet Isabels komplexe Gefühlslagen, die zwischen Unschuld und Moral hin und her springen. Über das Ende des Romans, das er bewusst offen lässt, schreibt der Autor: Sprecher Zwei (Henry James): „Die Kritik wird sich natürlich darauf richten, dass es kein richtiges Ende gibt, dass ich die Heldin nicht bis ans Ende begleitet habe, dass ich sie in der Luft hängen liess. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Alles wird nie erzählt - man kann nur nehmen, was sich zusammenfügt“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das „Bildnis einer Dame“ wird von der Kritik sofort als Meisterwerk erkannt und ist sogar ein finanzieller Erfolg, so dass er einem Freund schreiben kann: Sprecher Zwei (Henry James): „Jetzt bin ich Literat durch und durch. Beten Sie für mich, dass mein Ruhm nicht verblasst.“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als er „Das Bildnis“ in Florenz im Frühling 1880 zu schreiben beginnt, ist Henry James zum ersten Mal Constance Fenimore Woolson begegnet, einer Enkelin des Urvaters der nordamerikanischen Literatur: James Fenimore Cooper. Die Autorin, die (seit 1879) ebenfalls in Europa lebt, erreicht mit ihren Romanen eine breite Leserschaft in den Vereinigten Staaten. Zwischen den literarisch Gleichgesinnten entwickelt sich eine komplizierte Beziehung. Über viele Jahre und Stationen changiert sie zwischen Freundschaft und Liebschaft. Später wird Henry James die Briefe und Dokumente über ihr angespanntes Verhältnis vollständig vernichten. Sporadisch finden sich Hinweise in einem Brief der Schwester Alice an den Bruder Willy: Sprecherin (Alice James): „Harry ist irgendwo auf dem Kontinent und flirtet mit Constance“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Ungleich direkter heißt es in einem Brief von Alice, die das Liebesverhältnis argwöhnisch beobachtet, an die vertraute Tante Kate einen Monat später: Sprecherin (Alice James): „Harry treibt sich irgendwo auf dem Kontinent herum - mit einer Sie-Erzählerin (with a she-novellist). Als ich Einwände erhob, erzählte er mir, er denke, es handele sich um einen harmlosen Exzess“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit dem Selbstmord von Fenimore Woolson am 25. Januar 1894 findet ihr Verhältnis zu Henry James ein tragisches Ende. Unter Depressionen leidend springt die Autorin in Venedig aus dem obersten Stock der Casa Semitecolo in den Tod. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin wird sie auf dem Protestantischen Friedhof in Rom beigesetzt. Hier hatte Henry James das amerikanische Mädchen, „Daisy Miller“, die Heldin seiner gleichnamigen Erzählung, einst beerdigen lassen. Kryptische Spuren der Beziehung zu Fenimore finden sich in seinen Werken. Der Roman „Die tragische Muse“ (1890) entsteht in einem Hotelzimmer in Genf, während die ganze Zeit über Fenimore im benachbarten Hotel logiert. Beide schreiben an ihren Werken und sehen sich täglich. Parallel schildert „Die tragische Muse“ die biographischen Konflikte eines Malers und einer Schauspielerin. Beide Künstler sind bereit, sich ihrer Berufung zu stellen, und gleichzeitig in Liebschaften verstrickt, aus denen sie sich zu lösen suchen. Es gelingt ihnen nicht, ein haltbares Band zwischen sich zu knüpfen. Beim Verwischen von Spuren des Erlebten verfährt Henry James mit diskretem Raffinement. Das zeigt sich in der Erzählung „Der Altar der Toten“ (1894), in der er der Trauer über den Verlust von Fenimore Ausdruck verleiht. Im „Notebook“ skizziert er die Struktur: Sprecher Zwei (Henry James): „Der Kern der Geschichte ist ganz einfach sein Gefühl, dass sein Altar, den er liebt und pflegt, nicht vollkommen ist - dass er das nicht sein und nicht werden kann, bis seine eigene Kerze dort brennen wird. Es beginnt für ihn mit dem Tod seiner Mutter oder jedenfalls eines treuen Freundes. In seiner Verlassenheit verirrt er sich in eine katholische Kirche. Er sitzt in der Dämmerung eines Winternachmittags vor einem erleuchteten Altar und der Trost und Frieden tun ihm wohl. Im Ausland oder in London sieht er eine alte Frau eine Kerze kaufen - für einen ihrer armen Toten; und das gibt ihm den Gedanken, den Wink. Er entdeckt einen dunklen und vernachlässigten Seitenaltar der Kirche und er trifft eine Vereinbarung, dass er gegen eine Geldsumme ein paar Ewige Kerzen dort aufstellen darf“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In erzählten Welten bringt Henry James geschickt eigene Eindrücke und Erlebnisse unter. „Die ewigen Kerzen“ - die Zeichen der Trauer haben Entsprechungen in anderen Texten. Mit versteckten Anspielungen deutet der Autor sein Empfinden an. Indem er die Korrespondenzen erzählerisch verpackt, bewahrt er sie vor dem Vergessen. Seine Erzählkunst bringt er es in dieser Technik des bewahrenden Verbergens zu wahrer Meisterschaft. Das genügt ihm jedoch keineswegs! Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Schon lange träumt Henry James davon, sich als Dramatiker hervorzutun und erstellt er dramatische Fassungen seiner Romane für die Bühne. Schließlich schreibt er ein Theaterstück, das im Saint-James-Theatre im Herzen von London zur Aufführung gelangt. Aber die Komödie mit dem Titel „Guy Domville“ wird bei der Uraufführung vom Publikum ausgebuht und ausgepfiffen. Er muss sich eingestehen, dass sein Erzählstil fürs Theater nicht taugt. Perfekte Dialoge zu schreiben, genügt nicht, um ein Schauspiel zu verfassen. Dramatische Effekte entsteht, wo psychische Kräfte auf die Außenwelt treffen. Seine Prosa verfährt umgekehrt: sie verlegt und verbirgt die Erlebnisse in Innenwelten. Er notiert sich: Sprecher Zwei (Henry James): „Ich nehme meine eigne alte Feder wieder auf - die Feder meiner unvergesslichen Anstrengungen und heiligen Kämpfe. Mir brauche ich heute mehr nicht zu sagen. Weit, reich und hoch liegt die Zukunft noch vor mir. Ich weiß nun wirklich, dass ich mein Lebenswerk schaffen kann. Und ich werde es schaffen. Ich muss mich nur meinen Problemen stellen. Doch alles ist unbeschreiblich, zu tief und rein für jedes Wort. Lass es ruhen, von heiligem Schweigen bedeckt“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Nach dem Tod von Fenimore und seinem Scheitern als Dramatiker setzt Mitte der 1890er Jahre ein Umschwung im Leben von Henry James ein. Aus London zieht es ihn nach East Sussex, wo er in Rye das Lamb House erwerben kann. Es handelt sich um einen roten Ziegelsteinbau aus dem 18. Jahrhundert, der in einem guten Zustand ist und von einem Garten eingefasst wird. Nach Jahrzehnten des Hin und Her über den Atlantik und durch Europa bezieht er ein Haus, das unverwechselbaren Charme besitzt und ihm entspricht. Den Hausstand komplettieren eine Köchin und ein Butler. Eine weitere elementare Veränderung hängt mit dem Handwerk des Schreibens zusammen. Auf Grund schmerzhafter Sehnenscheidenentzündungen kann er nach dreißig Jahren nicht mehr wie gewohnt mit der Hand und einer Feder schreiben. Er sieht sich gezwungen, einen Sekretär einzustellen, dem er Bücher und Briefe diktiert. Als Werk des Übergangs vom Schreiben mit der Hand zum Diktat darf der Roman „What Maisie knew“ (aus dem Jahr 1897) gelten. „Maisie“ ist ein Scheidungskind, das abwechselnd die Zeit zwischen Mutter und Vater verbringt. Die kindliche Existenz sieht sich in eine unwirkliche Erwachsenenwelt verstrickt. Die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar, die „Maisie“ in die französische Sprache übersetzt hat, schildert die Titelheldin, wie sie zwischen Kindheit und Jugend schwebt: Sprecherin (Marguerite Yourcenar): „Wir werden nie genau erfahren, ob sie auf den letzten Seiten des Buchs acht oder zwölf Jahre ist. Dieses Persönchen ist im Grunde nur ein Katalysator oder ein Prisma. Dieses elegante, von ihrer Gouvernante sorgfältig frisierte und angekleidete viktorianische Mädchen führt Reden, die durch ihre Untertreibungen anstößig wirken und liefert kokette Wortgefechte, wobei es die Arglosigkeit eines Cherubs von Raffael wahrt. Einige der Szenen zwischen dem Kind und Mrs. Wix oder zwischen der Kleinen und Sir Claude sind schlechthin unmöglich. Und doch spüren wir genau, dass in ihnen die Poesie des Romans und eine tiefe und zwanghafte Realität liegen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Als seinen ersten Sekretär stellt Henry James (1897) James Mac Alpine ein, einen sympathischen Schotten. Dieser arbeitet mit den neuesten Maschinen der nordamerikanischen Maschinenbaufirma Remington, die ihre Produktion von Revolvern und Gewehren auf die Entwicklung von maschinellen Schreibgeräten erweiterte. Die mechanische Schreibmaschine erzeugt während des Diktats ein ungewöhnlich lautes Klappern. Die erste Novelle, die er seinem neuen Sekretär diktiert, heißt „Im Käfig“ (1898). Der Geräuschpegel der Schreibmaschine fließt direkt in die Handlung mit ein, die in einem Telegraphenamt ansiedelt ist. Die Heldin, eine namenlose Telegraphistin, findet sich „im Käfig“ ihres Schalters tagtäglich über Lese- und Entzifferungsarbeiten gebeugt. Sprecher Zwei (Henry James): „Es war ihr schon frühzeitig der Gedanke gekommen, dass sie in ihrer Position, der einer jungen Person, die in der Eingeengtheit eines mit Draht vergitterten Holzverschlages, das Leben eines Meerschweinchens oder einer Elster führte, eine große Anzahl von Menschen kannte, die sich selbst dieser Bekanntschaft nicht bewusst waren.“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In ihrem ewig gleichen Alltag mischt sich die isolierte Telegraphistin in die geheimen Liebesbotschaften eines Kunden ein, in den sie sich selbst nach und nach verliebt. Als der Kunde wider Erwarten die in seinen Telegrammen umworbene Geliebte gewinnen kann und heiratet, bleibt die Frau im Kabinett allein zurück. Sprecher Zwei (Henry James): „Schließlich wusste sie so vieles, dass sie ihre frühere Begabung für das einfache Erraten von Dingen ganz verloren hatte. Nun gab es keine Vermutungen und Spekulationen mehr. Die Wahrheit sprang ihr mitten ins Gesicht“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Die Novelle „Im Käfig“ markiert einen Wendepunkt im erzählerischen Werk. Der Autor diktiert, das heißt, er lässt seinen Sekretär auf der Maschine für sich schreiben. Für die geleistete Arbeit muss er ihn bezahlen. Mehr denn je befindet er sich in Verhältnissen von Abhängigkeit, die ihn zwingen, durch Schreiben genügend Geld für sein Auskommen zu verdienen. Trotzdem ist er nicht bereit, sich seine Erzählkunst durch die konkreten Vorgaben beschneiden zu lassen. Im Gegenteil: sie steigern noch die Lust an der Fiktion. Eindrücklich belegt das die Meisternovelle „The Turn oft the Screw / Das Durchdrehen der Schraube“, die direkt im Anschluss entsteht. Im „Notebook“ erklärt er ihren Plot. Sprecher Zwei (Henry James): „Notiere hier die Geistergeschichte, die der Erzbischof von Canterbury mir in Addington erzählt hat: Die Geschichte von den Kindern (Zahl und Alter unbestimmt), die man, wahrscheinlich nach dem Tod der Eltern, der Fürsorge von Dienstboten in einem alten Landhaus überlassen hat. Die schlechten und verdorbenen Dienstboten verführen und verderben die Kinder; die Kinder sind unheimlich schlecht und voll Bosheit. Die Dienstboten sterben (die Geschichte lässt offen, wodurch), und ihre Gestalten kehren zurück, um das Haus und die Kinder heimzusuchen, denen sie zu winken scheinen, die sie über gefährliche Plätze und versunkene Gräben hinweg rufen und zu sich bitten, so dass die Kinder ins Verderben rennen, umkommen müssen, wenn sie gehorchen und in ihre Macht geraten. Solange die Kinder von ihnen ferngehalten werden, sind sie nicht verloren; doch immer wieder versuchen diese bösen Geister, sie in ihre Gewalt zu bringen. Die Frage ist, ob die Kinder zu ihnen herüberkommen! Das alles (das Bild, die Geschichte) ist dunkel und unvollkommen, doch spürt man eine seltsam grausige Wirkung darin. So viel ist klar - ein außenstehender Zuschauer, ein Beobachter muss die Geschichte erzählen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Schon in der Skizze wird die geheime Lust des Verfassers am Grauen spürbar. Er setzt eine Folge von Eindrücken in Szene, die Leser im Ungewissen über das Schicksal seiner Figuren lassen und Empfindungen des Schreckens auslösen. Wie in der Novelle „Im Käfig“ bildet eine namenlose Gestalt das Zentrum. Dies Mal ist es die Erzählerin und Gouvernante der Kinder Flora und Miles. Sie ist eine Doppelgängerin der Erzieherin Mrs. Wix in „Maisie“. Mit theatralischen Effekten, die sie selbst erzeugt, beeinflusst sie ihre Zöglinge. Die einmal eingesetzte Schraube der Erzählung dreht und dreht sich, bis sie mit dem Tod des kleinen Miles in den Armen des Kindermädchens an ihr Ende stößt. Der Autor neben seinem Sekretär an der Remington schraubt an Möglichkeiten der Fiktion bis zu ihrem Anschlagpunkt. Er erlaubt sich alle Freiheiten des Fabulierens, wie weit Leser oder Interpreten ihm folgen wollen oder können, das bleibt ihnen überlassen. „Das Durchdrehen der Schraube“ des Schreckens mutet wie eine Erwiderung auf das Publikum an, das ihn vor einiger Zeit in London ausgebuht hat. Seither lautet sein Leitmotiv nämlich: Sprecher Zwei (Henry James): „Mir ist eine interessante Niederlage ausgesprochen lieber als ein banaler Erfolg“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Auffällig viele Werke von Henry James kreisen um die Kindheit und die kindliche Unschuld. Marguerite Yourcenau, die französische Übersetzerin von „Maisie“, bemerkte wie die Erzählungen untergründig auf eine gesellschaftliche Situation reagieren: Sprecherin (Marguerite Yourcenar): „Meisterwerke wie ‘Die Drehung der Schraube’ oder ‘Maisie’ sind nur vor dem ziemlich unangenehmen Hintergrund einer Zivilisation möglich, in der die physische Liebe eo ipso zur Heimlichkeit tendiert und wo eine Gesellschaft, die der Kindheit jede sexuelle Kenntnis, und mehr noch, jede sexuelle Regung kategorisch abspricht, sich gegenüber der kindlichen Reinheit zu fast immer faden und manchmal äußerst fragwürdigen Ergüssen hinreißen lässt. In der ‘Drehung der Schraube’ gerät das Thema der kindlichen Unschuld, die sich mit Wonne lüsternen Dämonen ausliefert, zum Roman Noir und zur Tragödie“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Im Lamb House in Rye führt Henry James seit Ende des 19. Jahrhundert die zurückgezogene Existenz eines Schriftstellers, der sich eigenen Gesetzen der Kunst verschrieben hat. Seinen ersten Sekretär ersetzt nach einiger Zeit durch die äußerst gewandte Mary Weld, eine vorzügliche Kennerin der englischen Literatur. Über viele Jahre wird sie zu seiner engen Mitarbeiterin, weil sie regen Anteil an seinem Schaffen nimmt. In ihren Erinnerungen schildert sie den Arbeitsalltag: Sprecherin (Mary Weld): „Henry James diktierte wunderbar. Er hatte eine melodische Stimme und schien es irgendwie immer zu spüren, wenn ich nicht mitkam. Das Geräusch der Schreibmaschine war für ihn wie die Begleitung des Sängers am Klavier“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): So entstehen in rascher Folge umfangreiche Romane, die er zum ersten Mal nicht in Form von Fortsetzungen für Magazine drucken lässt. Er hat beschlossen sie von Anfang an in Buchform zu gießen, weil seine alten Verleger sie reihenweise als zu melancholisch und zu elegisch empfinden. Der erste Roman in dieser Reihe mit dem Titel „Die Flügel einer Taube“ (1902) unternimmt in der Tat eine Art epischer Trauerarbeit, wie sie Henry James schön länger vorschwebte. Die Figuren eines Liebesdreiecks, zwei Frauen und ein Mann, bewegen sich auf Schauplätzen zwischen London und Venedig und sind in ein Existenzdrama verstrickt. Im Nachwort zum Roman skizziert er seine erzählerische Idee: Sprecher Zwei (Henry James): „Es handelt sich auf das Wesentliche reduziert, um die Idee, dass ein junger Mensch sich seiner grossen Lebensfähigkeit bewusst ist, aber schon früh vom Schicksal geschlagen und dem Untergang geweiht dazu verurteilt ist, nach kurzem Aufschub zu sterben, während er zur selben Zeit die Welt über alles liebt; dass dieser junge Mensch obendrein von seinem Untergang weiß und sich leidenschaftlich danach sehnt, vor dem Ende dennoch so viele der zarteren Empfindungen wie möglich ‘aufzubringen’ und auf diese Weise, wenn auch nur unvollkommen und für kurze Zeit, das Gefühl zu gewinnen, wirklich gelebt zu haben“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Mit dem Existenzdrama von Merton Densher, eines bettelarmen jungen Mannes verknüpft der Erzähler das Schicksal der reichen amerikanischen Erbin Milly Theale, die sich in ihn verliebt. Ihre Gestalt trägt erneut Züge der Kusine Minny Temple und der einstigen Geliebten Fenimore Woolson. Henry James verleiht seiner Trauer über den Verlust der beiden Frauen Ausdruck und setzt ihnen auf versteckte Weise ein Denkmal: Sprecher Zwei (Henry James): „Es versteht sich von selbst, dass die Heldin von ‘Die Flügel der Taube’ über eine große und ganz besondere Freiheit verfügt, dass sie frei ist zu schätzen und an sich heranzuziehen, wen sie mag; diese Freiheit stammt aus Quellen, die für eine vollkommene Unabhängigkeit günstiger sind als alle anderen Bedingungen der Welt - und es wäre unsere Aufgabe dies ganz speziell zum Ausdruck zu bringen. Im Geiste habe ich mir seit vielen Jahren einen bestimmten Typ von junger Amerikanerin vorgestellt, die mehr als irgendein anderes junges Mädchen, ‘die Erbin aller Zeiten’ war; daraus ergab sich die Möglichkeit eine solche Figur besonders erschütternd zu gestalten. Die Erbin aller Zeiten zu sein, nur um sich je mehr man es erkannte, um sein Erbe betrogen zu sehen, das hieß, wie mir schien, diese Rolle so zu spielen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Ein ganzes bewegtes Erzähler-Leben verfolgt Henry James das Bild der jungen und unabhängigen Amerikanerin, „des amerikanischen Mädchens“, das in der Lage ist, sein Begehren frei zu entfalten und zu äußern. In Milly Theale, der Heldin von „Die Flügel der Taube“ aus dem Jahr 1902, erkennen wir das Idealbild als „Erbin aller Zeiten“ wieder. In anschließenden Romanwerken, in „Die Gesandten“ (1903) und „Die Goldene Schale“ (1904) experimentiert er weiter mit der Perspektive seiner Erzähler, erneuert er das Gespür für Figuren und Handlungen. Seine Sekretärin erinnert sich: Sprecherin (Mary Weld): „Seine Sätze schienen sich über die Seiten auszubreiten wie die wunderbare und wild wuchernde Architektur einer mittelalterlichen Stadt und verliehen seinem Werk eine einsame Individualität“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Von der jungen Virginia Woolf stammt eine Momentaufnahme des alternden Schriftstellers. Im Brief an eine Freundin berichtet sie von einer Begegnung in den Sommerferien in Rye (1907): Sprecherin (Virginia Woolf): „Heute haben wir mit Henry James und Mr. und Mrs. Protero im Golfklub Tee getrunken. Henry James - seine Augen gleichen Glasmurmeln - starrte mich mit ausdruckslosem Blick an und er sagte: Sprecher Zwei (Henry James): „Liebe Virginia, wie ich höre, wie ich höre, wie ich höre - immerhin bist du ja die Tochter deines Vaters, sogar die Enkelin deines Großvaters, der Nachfahre sozusagen eines ganzen Jahrhunderts, eines Jahrhunderts von Federkielen und Tintenfässern. Ja, ja ja, wie ich höre, schreibst du“. Sprecherin (Virgina Woolf): „Das sagte Henry James auf der Straße, während wir warteten. Ich kam mir vor wie eine zum Tode Verurteilte“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Für sein Auftreten in der Öffentlichkeit hat sich Henry James die Maskerade eines leicht vertrottelten älteren Herrn zugelegt. Portraits aus der Zeit zeigen ihn entsprechend als dandyhaften Junggesellen mit Zylinder, steifem Kragen und Spazierstock. Zeitzeugen berichten, dass er sich für seine Spaziergänge durch den kleinen Ort Rye und die Umgebung am Meer einen Dackel angeschafft habe. Er braucht diese Maske der Unnahbarkeit und Überheblichkeit. Sie soll ihn schützen und seine Verletzlichkeit verbergen, weil er sich in Ruhe seinem Werk widmen will. Seit Jahren überarbeitet er seine Erzählungen und Romane, bündelt sie in Einzelausgaben und stellt ihnen erläuternde Einleitungen voran. Als Vorbild hat er das 23 Bände umfassende französische Gesamtwerk von Balzac vor Augen. So entsteht die „New York Edition“ seiner Werke. Sie wird es am Ende (nach seinem Tod) auf 24 Bände bringen. Bereits zu Lebzeiten verleiht sie ihm in der englischsprachigen Welt den Rang eines Klassikers, obwohl ihre Absatzzahlen gering bleiben. Aber dieser Umstand löst bei ihm nur einen seiner unverwechselbaren sarkastischen Kommentare aus: Sprecher Zwei (Henry James): „In meinem hohen Alter und nach meiner langen Karriere bleibe ich einfach gänzlich unrettbar unverkäuflich“. Sprecher Eins (Erzähler /Interpret): Mit seinem umfangreichen Werk - dessen ist sich Henry James gewiss - konnte er einlösen, was er sich einst, am Beginn seiner Laufbahn vorgenommen hatte. In seinem Aufsatz über „Die Kunst des Romans“ schrieb er schon im Jahr 1878 vorausschauend über seinen Erfahrungen als Autor: Sprecher Zwei (Henry James): „Welche Art der Erfahrung ist gemeint, wo beginnst sie und wo endet sie? Erfahrung ist nie begrenzt und nie abgeschlossen, sie ist ein unermessliches Feingefühl; eine Art riesiges Spinnengewebe aus feinster Seide durchzieht schwebend die Kammern des Bewusstseins und fängt jedes in der Luft befindliche Teilchen in seinem Netz. Genau das ist die Atmosphäre des Geistes, und wenn der Geist fantasievoll ist, nimmt er selbst die leisesten Andeutungen des Lebens auf, verwandelt er die bloßen Schwingungen der Luft in Offenbarungen. Deshalb wenn ich zu einem Anfänger so bestimmt sagen würde: ‚Schreibe aus der Erfahrung und nur aus der Erfahrung‘, empfände ich dies eher als eine quälende Mahnung, wenn ich nicht sofort hinzufügen würde: ‚Versuche, einer von den Menschen zu sein, die nichts gleichgültig lässt‘“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Das Geheimnis von Henry James liegt in dem Gefühl, dass ihn als Autor kaum etwas je gleichgültig lässt. Diese Haltung kann sich auf Leser übertragen, denn seine Geschichten sind jedes Mal Proben aufs Exempel: Wie weit sind die Leser bereit und fähig ihm zu folgen? - Im letzten Lebensjahrzehnt tritt Henry James wieder in regen Austausch mit seinem Bruder. William ist als Vortragsreisender oft in Europa unterwegs. In seinem letzten Buch „Ein pluralistisches Universum“ (1909) formuliert der radikale Empirist die zentralen Fragen seiner Philosophie: Sprecher Drei (William James): „Was sind ‚Gedanken‘ und was sind ‚Dinge‘ und wie sind sie verbunden? Was meinen wir, wenn wir von ‚Wahrheit‘ sprechen? Besteht eine Übereinkunft zwischen all diesen Tatsachen? Wie entsteht daraus die Vorstellung von Welt? Und könnte es nicht auch ganz anders sein?“ Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In einem Brief (aus dem Jahr 1907) charakterisiert William die deutlichen Unterschiede zwischen seiner philosophischen Sicht und dem literarischen Wirken von Henry: Sprecher Drei (William James): „Mein Ideal ist es die Dinge in einem Satz so direkt und genau wie möglich auszudrücken und anschließend kein weiteres Wort mehr darüber zu verlieren. Dein Ideal hingegen ist es, aus dem Nichts heraus etwas zu evozieren, ohne es genau zu benennen. Du gibst erst auf, wenn Du es in der Vorstellung des Lesers erreicht hast, dass die Umrisse eines soliden Gegenstandes mit vagen Vorstellungen von ihm verschwimmen“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): Ganz offensichtlich klafft ein Riss zwischen Williams Empirismus und Henrys Erzählkunst. Der Philosoph besteht auf Genauigkeit und Perfektion, während der Romancier Unruhe und Unsicherheit favorisiert. Und doch gibt es einen geheimen Berührungspunkt zwischen ihnen. Beide fragen: Warum und wie machen sich die Menschen ihre Fantasien und Vorstellungen von der Welt? Gegen Ende berühren sich - in diesen Fragen - die schöpferischen Intentionen der Brüder, die auf getrennten Wegen solange unterwegs gewesen sind. Als William im Sommer 1910 stirbt, verliert Henry mehr als einen Bruder und Widerpart. In einem Brief an den Freund H. G. Wells würdigt er den ungewöhnlichen Menschen, dem er seit Kindesbeinen folgte und der sein Vorbild gewesen ist: Sprecher Zwei (Henry James): „William brachte Licht ins Dunkel und schenkte mit Freigiebigkeit Menschen seinen Geist und sein Vermögen. Über meinen persönlichen Verlust - über das Verlöschen seiner leuchtenden Erscheinung in meinem Leben von früh an - will ich mit Vorsatz nicht sprechen. Ich fühle mich verlassen und habe Angst wie ein allein gelassenes Kind. Aber er ist ein Besitz von wirklicher Größe und ich werde mein Leben still auf ihm gründen bis ans Ende“. Sprecher Eins (Erzähler / Interpret): In den ihm verbleibenden Jahren wählt Henry James wieder London als seinen Lebensmittelpunkt. In Chelsea, Carlyle Mansions 21, findet er eine passende Wohnung mit einem wunderbaren Blick auf die Themse. Im Sommer 1914 wirft ihn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus der Bahn. Aus seiner Jugend hat er die Bilder des grausamen Sezessionskriegs in den Vereinigten Staaten noch vor Augen. Erneut steht die transatlantische Existenz vor bedrohlichen und ungeahnten Herausforderungen. Die folgenden Zeilen aus einem Brief an seine Nichte klingen wie ein Vermächtnis: Sprecher Zwei (Henry James): „Ich hasse die amerikanische Einfachheit. Ich suche meinen Stolz im Auftürmen von Schwierigkeiten jeder Art. Wenn ich den Namen James auf eine andere, kompliziertere Art aussprechen könnte, wäre ich sehr geneigt dies zu tun“. Sprecher Eins (Erzähler /Interpret): Als sein über alles geliebter Sommersitz, das Lamb House in Rye, für ihn unerreichbar wird, weil die Militärverwaltung die britische Küste für Ausländer zum Sperrgebiet erklärt, sieht er sich veranlasst, die englische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Am 1. Dezember 1915 erleidet er einen Schlaganfall. Danach diktiert er seiner letzten Sekretärin in einem wahnhaften Zustand lange Briefe, die er mit Napoleon signiert. Drei Monate später, am 28. Februar 1916 stirbt er in Gegenwart seiner Schwägerin Alice, die sich in der letzten Zeit intensiv um ihn gekümmert hat. Seine zahlreichen Londoner Freunde richten in der Old Church von Chelsea zu seinen Ehren einen würdigen Trauergottesdienst aus. Anschließend - mitten im Ersten Weltkrieg - wird die Urne mit seiner Asche in die Vereinigten Staaten transportiert und ebenfalls im Familiengrab auf dem Cambridge Cemetry am Charles River beigesetzt. Lamb House hat er frühzeitig Williams ältestem Sohn Henry vermacht. Als Jahrzehnte später Restauratoren das Haus in ein Museum verwandeln, finden sie in einem übersehenen Fach des Schreibzimmers einen Vierzeiler. Es wird vermutet, dass er von Henry James dem Dritten oder einem der Gäste stammt: Sprecherin (...): „There’ll be no algebra in heaven Nor learning dates and names; But only playing golden harps And reading Henry James. Im Himmel gibt es keine Algebra, Man lernt weder Daten noch Namen; Aber goldene Harfen spielen sie da Und sie lesen - Henry James“. Musik Absage: Alles wird nie erzählt - eine Lange Nacht über Henry James und seine berühmte Familie von Manfred Bauschulte Es sprachen: Justine Hauer, Bernd Rehhäuser, Edda Fischer, Jonas Baeck, Walter Gontermann und Frauke Pohlmann Ton und Technik: Christoph Bette Regie: Burkhard Reinartz Redaktion: Monika Künzel Musik kurz hoch und aus Hinweis auf die benutzte Literatur: 1) Werke von Henry James: Bildnis einer Dame. Köln 1957. Daisy Miller. Eine Erzählung. Köln 1986. Gespenstergeschichten. Köln 2017. Erzählungen. Köln 1983. Das Durchdrehen der Schraube. Eine Geistergeschichte. München 2012. Die Kunst des Romans. Leipzig 1984. Tagebuch eines Schriftstellers. Notebooks. Köln 1965. Der Amerikaner. Köln 1966. Die Gesandten. Köln 1982. Maisie. Köln 1982. Roderick Hudson. Köln 1985. Die Europäer, Köln 1983. Die Flügel der Taube. Köln 1985. 2) Werke von William James: Pragmatismus und radikaler Empirismus. Frankfurt/M. 2006. Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Frankfurt/M. 1997. Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. 4. Auflage Leipzig 1925. Das pluralistische Universum. Darmstadt 1994. 3) Werke von Alice James: The Diary of Alice James. Edited with an Introduction by Leon Edel. New York 1964 4) Sekundärwerke: Frederic Harold Young, The Philosophy of Henry James, Sr.. New York, 1951. F.O. Matthiessen, The James Family. Including Selections from the Writings of Henry James, Senior, William, Henry & Alice James. New York 1948. Marguerite Yourcenar, Die Zeit, die große Bildnerin. München 1998. F.O. Matthiessen, Henry James. The Major Phase. New York 1946. Robert D. Richardson, William James. In the Maelstrom of American Modernism. New York 2006. Jean Strouse, Alice James. A Biography. New York 1980. Hazel Hutchison, Henry James. Biographie. Berlin 2015. Maxwell Geismar, Henry James and His Cult. London 1964. Musikliste 1.Stunde Titel: Sonatina De Maig Länge: 01:05 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: pour un sérieux contrepointiste Länge: 00:32 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: Pastourelle en rondeau Länge: 01:28 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: ... pour un philosophe kantien Länge: 00:39 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: ... pour un champion de natation Länge: 00:48 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: ... pour un joyeux nouveau né Länge: 01:05 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: Armings Länge: 05:21 Interpret und Komponist: Ernst Reijseger Label: WINTER & WINTER Best.-Nr: 910136-2 Plattentitel: Do you still Titel: Menuet Länge: 00:26 Solist: Miquel Estelrich (Klavier) Komponist: Jaume Mas Porcel Label: Blau Best.-Nr: BLAU CD 144 Titel: aus: Bagatellen für Klavier, Nr. 3 Länge: 01:29 Interpret und Komponist: Valentin Silvestrov (Klavier) Label: ECM-Records Best.-Nr: 4766178 Titel: aus: Sinfonie Nr. 6, 4. Satz: Intermezzo. Larghetto [attacca:] Länge: 01:28 Orchester: Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Andrey Boreyko Komponist: Valentin Silvestrov Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM 1935;4765715 Titel: aus: Trois morceaux après des hymnes byzantins für Violoncello und Klavier (3 Stücke nach byzantinischen Hymnen), Nr. 2 Länge: 04:52 Solist: Anja Lechner (Violoncello) Interpret und Komponist: Vassilis Tsabropoulos (Klavier) Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM 1888; 9819613 2.Stunde Titel: Open your mind Länge: 01:24 Interpret und Komponist: Paolo Fresu (Trompete) Label: ACT Best.-Nr: 9466-2 Plattentitel: Mare Nostrum Titel: Wayra Länge: 01:30 Interpret: Yma Sumac Komponist: Moises Vivanco Label: Capitol Best.-Nr: DW684 Plattentitel: The Voice Of The Xtaby - Inca Taqui (Chants of the Incans) Titel: Laid in earth (When I am laid in earth) Länge: 04:09 Interpret: Ane Brun Komponist: Henry Purcell Label: V2 Best.-Nr: VVR1031192 Plattentitel: A temporary dive Titel: Après la pluie Länge: 03:27 Interpret: Jean-Louis Matinier & Kevin Seddiki Komponist: Kevin Seddiki Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2617 Plattentitel: Rivages Titel: Schumannsko Länge: 01:04 Interpret: Jean-Louis Matinier & Kevin Seddiki Komponist: Kevin Seddiki, Raphaël Merlin, Bijan Chemirani Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2617 Plattentitel: Rivages Titel: Les berceaux Länge: 01:27 Interpret: Jean-Louis Matinier & Kevin Seddiki Komponist: Gabriel Fauré Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2617 Plattentitel: Rivages Titel: The Seagull Länge: 01:25 Interpret und Komponist: Paolo Fresu (Trompete) Label: ACT Best.-Nr: 9466-2 Plattentitel: Mare Nostrum Titel: Mare Nostrum Länge: 05:55 Interpret und Komponist: Paolo Fresu (Trompete) Label: ACT Best.-Nr: 9466-2 Plattentitel: Mare Nostrum 3.Stunde Titel: summoning rhymes Länge: 01:23 Interpret und Komponist: Jun Miyake Label: yellowbird Best.-Nr: yeb - 7746 Plattentitel: Lost memory theatre - act II Titel: easy to let go Länge: 01:28 Interpret und Komponist: Jun Miyake Label: yellowbird Best.-Nr: yeb - 7746 Plattentitel: Lost memory theatre - act II Titel: Armings Länge: 01:07 Interpret und Komponist: Ernst Reijseger Label: WINTER & WINTER Best.-Nr: 910136-2 Plattentitel: Do you still Titel: Strabismo di Venere Länge: 01:14 Interpret und Komponist: Ernst Reijseger Label: WINTER & WINTER Best.-Nr: 910136-2 Plattentitel: Do you still Titel: Marta (Monsun) Länge: 01:16 Interpret und Komponist: Ernst Reijseger Label: WINTER & WINTER Best.-Nr: 910136-2 Plattentitel: Do you still Titel: Los them Länge: 03:26 Interpret: Dino Saluzzi Komponist: David Friedman Label: veraBra records Best.-Nr: 2156-2 A Plattentitel: Rios Titel: Penta y uno Länge: 04:30 Interpret: Dino Saluzzi Komponist: David Friedman Label: veraBra records Best.-Nr: 2156-2 A Plattentitel: Rios