Zeitfragen 11.10.2016 Eindrücke aus der Paketdienstbranche Gelockt, gelinkt und abserviert Von Frank Drescher Manfred W "Ich habe viele stressbedingte Krankheiten gekriegt. Im Grunde lohnt sich es für uns nicht mehr zu fahren, weil wir würden auch theoretisch mit dem Arbeitsamt genug Geld zusammenhaben, dass wir nicht mehr arbeiten bräuchten." Manfred W. will bald sein Geschäft aufgeben. Er ist Sub-Subunternehmer eines Logistikunternehmens der Pharmabranche. Er liefert Medikamente an Apotheken aus. Marinel Urse (rumänisch) "Es war wirklich ein Alptraum. Nicht nur die Tatsache, dass es so wenig Geld gab. Auch dieser Druck und dieser Stress. Hätte mich damals jemand gefragt, wie ich heiße, hätte ich das nicht sagen können, so viel Druck gab es dort." Marinel Urse über seine Zeit als Paketfahrer in Deutschland, beim Sub-Subunternehmer eines Subunternehmers der Logistikfirma Trans-o-flex. Andreas Schumann vom Bundesverband der Kurier-Express-Paketdienste "Solche Klagen begegnen uns häufig in Situationen, wo wir ein großes Kräfteungleichgewicht haben. Andreas Schumann vom Bundesverband der Kurier-Express-Paketdienste, kurz BdKEP, einem Interessenverband von Subunternehmern der großen Paketdienste. Wie sieht das erwähnte Kräfteungleichgewicht in der Praxis aus? Die Antwort suche ich als Beifahrer in einem Lieferwagen. Der Fahrer neben mir ist so ein Subunternehmer. Er liefert Medikamente aus. Auf dem Tourenplan stehen 7 Apotheken in einer großen Stadt. Am Steuer sitzt Manfred. Das ist nicht sein richtiger Name. Er befürchtet Nachteile, wenn der bekannt wird. Trotzdem sucht Manfred Öffentlichkeit: Manfred W "Weil ich einfach nicht verstehe, weil es rein rechnerisch nicht geht, mit unseren Margen klarzukommen, wie uns dann immer erzählt werden kann, das Geld reicht vorne und hinten." Warum es aber eben nicht reicht, will Manfred mir zeigen. Es ist seine zweite Tour heute, knapp 100 Kilometer lang. Kurz vor 15 Uhr geht es im Großhandelslager los. Der erste von acht Stopps ist für 15 Uhr 20 vorgesehen. Manfred W "Der Zeitplan haut nicht hin. Weil sie sehen ja selber: der Verkehr, den wir haben, der ist ja extrem. Wenn sie jetzt mal vorstellen, dass die Zeiten bei uns gleich sind, egal ob wir Tag oder Nacht fahren, wir haben laut Plan dieselben Zeiten. Und das geht gar nicht." Und egal, ob er Umwege fahren muss oder länger braucht: Manfred bekommt am Ende nur die Zeit vergütet, die im Tourenplan steht. Schon beim ersten Stopp ist er 5 Minuten in Verzug. Sein Zeitplan sieht drei Minuten Aufenthalt pro Apotheke vor: Anhalten, das Auto entladen, die Transportwannen in die Apotheke tragen, den Empfang der Ware quittieren lassen und wieder zurück zum Auto. Kaum zu schaffen für ihn, wenn er beispielsweise mehr als einmal zum Auto laufen muss, weil so viel Ware auszuliefern ist. "Dann schönen Dank! Schönen Feierabend, Wiedersehen." Aber das interessiert Manfreds Auftraggeber nicht, einen mittelständischen Spediteur, nennen wir ihn Müller. Der will wie Manfred nicht genannt werden. Aber es ist nicht "Müllers" Name, der auf Manfreds Lieferwagen steht. Dort prangt der Name von Müllers Auftraggeber, nennen wir ihn "Meier". Ein Großunternehmen mit über 2 Milliarden Euro Umsatz. Damit spielt "Meier" in einer Liga mit Giganten wie Hermes, GLS oder DPD. Und Manfred ist "Meiers" Sub-Subunternehmer. Für Manfred sieht die Rechnung so aus: 18 Cent bekommt er pro gefahrenem Kilometer für Sprit, Reparaturen und Finanzierung seines Transporters. Weitere 18 Cent erhält Manfred pro Minute dafür, dass er den Lieferwagen fährt. Sein Fahrerlohn also. 18 Cent pro Minute, das macht 10 Euro 80 pro Stunde. 8 Euro 50 davon entsprechen dem Mindestlohn. Der wird fällig, wenn Manfred nicht selbst fährt, sondern einer seiner Mitarbeiter. Manfred W Mit dem Geld, was wir für die Arbeitszeit kriegen, kommen wir nicht hin. Können wir machen, was wir wollen, wir haben's zehnmal durchgerechnet.Ich zahl mir selber, wenn ich alle Stunden berechne, so zwischen drei Euro und 3 Euro 50 aus. Nicht mehr. So hatte sich Manfred seinen Ruhestand nicht vorgestellt. Eigentlich sollte sein Fuhrgewerbe seine Frührente aufbessern und nicht aufzehren. Jetzt arbeiten für ihn nur noch eine Vollzeitkraft und fünf Minijobber. Das war nicht immer so. Früher lief es besser für ihn. 11 Angestellte hatte er zeitweise, und 16 Transporter. Manfred W "Aber wenn die Haltungskosten für die Fahrzeuge dann zu teuer werden, und das Geld nicht hereinkommt, ist natürlich schlecht. Oder die Personalkosten. Wir haben auch immer probiert, vernünftige Löhne zu zahlen, nicht so wie andere mit Schwarzgeld und nur zur Hälfte angemeldet." Damit war es 2013 vorbei. Bei seinem Auftraggeber fing ein neuer Manager an. Der schlug ihm neue, schlechtere Konditionen vor. Und Manfred sah sich gezwungen, diese Konditionen anzunehmen. Manfred W Reporter: Aber sie sind doch freier Unternehmer. Sie hätten die Konditionen doch auch ablehnen können. Warum haben Sie das nicht getan? "Wir hatten zu diesem Zeitpunkt eine beachtliche Summe an Fahrzeugen investiert, und mit anderen Worten war man ja dann gebunden." Auf seiner Liefertour durch den Feierabendverkehr hat er zeitweise eine halbe Stunde Rückstand auf seinen Plan. Bis zum Ende der Tour holt er eine Viertelstunde davon wieder auf. Indem er Umwege fährt, auf denen keine Staus sind. Manfred W Das ist der Verkehr, der nicht mitberechnet wird, weil das wird ja nach einem Navigationssystem berechnet, die Touren. Dieses Navigationssystem ist das simpelste. Berechnet nur die Tour. Aber ohne Verkehrseinfluss, ohne alles. Und dementsprechend kommt bei uns natürlich die Fehlzeit zustande, die wir nicht bezahlt kriegen. 184 Minuten soll die Tour laut Plan dauern, doch Manfred ist genau 199 Minuten unterwegs. Er bekommt aber nur die 184 Minuten bezahlt. 15 Minuten drüber, das sind allein 2 Euro 70 an diesem Tag. REPORTER Gut, ne Viertelstunde, die nicht bezahlt wird, das klingt ja erst mal nicht so schlimm. Manfred W: Es geht ja nicht nur um die Viertelstunde. Manfred hat nämlich vier solcher Touren, bei denen es regelmäßig länger dauert. Macht nach seinen Berechnungen etwa 400 Euro pro Monat, die er nicht bezahlt bekommt. Doch warum stellt er den erhöhten Aufwand seinem Auftraggeber nicht einfach in Rechnung? So, wie es beispielsweise Baufirmen oft mit ihren Auftraggebern tun? Manfred W Wenn da 15 Minuten drin sind, die zu viel sind, dann werden die rigoros erst mal runtergestrichen. Mehrmals haben wir das angesprochen. Sogar mit GPS sind wir rumgefahren und haben dieses Problem dokumentiert. Da heißt es, wir sollten zehnmal 'ne Tour messen mit GPS, und der Zwischenwert wird genommen, und nix ist passiert, das Problem wird immer weiter auf die lange Bank geschoben. Andreas Schumann "Das Problem in diesen Situationen ist, dass gut ausgebildete Verhandler von Großunternehmen auf kleinste und mittlere Unternehmer treffen, die in ihrer Verhandlungstaktik nicht so weit ausgebildet sind wie die großen Unternehmen und deshalb in diesen Verhandlungen häufig den Kürzeren ziehen." Andreas Schumann vom Bundesverband BdKEP. Ein Zusammenschluss von Subunternehmern der großen Logistik-Konzerne. Nur eine verschwindend kleine Minderheit der Branchenbetriebe ist Mitglied, 200 Firmen, vielleicht ein Prozent der in Frage kommenden Unternehmen. Andreas Schumann rechnet mir vor, wie ein Unternehmer wie Manfred kalkulieren müsste - was beileibe längst nicht alle tun: 8 Euro 50 pro Stunde brutto beträgt der gesetzliche Mindestlohn. Plus Arbeitgeberanteile der Sozialversicherung, Insolvenzgeldumlage und Berufsgenossenschaft. Andreas Schumann ... Jetzt kommt dazu: Wie lange arbeitet der Mitarbeiter? Wir haben 20 Tage bezahlten Urlaub pro Jahr angenommen, wir haben 10 bezahlte Krankheitstage, das sind die Hälfte der durchschnittlichen Krankheitstage, die die Statistiken ausweisen, und wir haben 7 bezahlte Feiertage pro Jahr und wir haben einen Tag Ausbildung dazugerechnet und kommen dann für die Kosten für den Arbeitnehmer pro Stunde geleistete also produktive Arbeitszeit von 11 Euro 83. Das ist ein Euro mehr, als Manfred von seinem direkten Auftraggeber "Müller" fürs Fahren bekommt. Angeblich kriegt der schon von seinem Auftraggeber "Meier" zu wenig. Das würde ich beide gern fragen. Aber "Müller" ist nie telefonisch für mich erreichbar. Und wenn ich "Meier" konfrontieren würde, befürchtet Manfred Nachteile. Manfred Wir sehen hier eine generelle Bewegung, dass Druck auf das schwächste Glied in der Kette ausgeübt wird. Und wie stark dieser Druck ist, das ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Und hier ist natürlich insbesondere das Management des Auftraggebers in der Verantwortung, für ein entsprechend erträgliches Umfeld zu sorgen. Der Unternehmensberater Horst Manner-Romberg erstellt regelmäßig Gutachten über die Paketbranche, zum Beispiel für die Bundesnetzagentur. Die Situation am Paketmarkt erscheint paradox: Dank boomendem E- Commerce steigt die Nachfrage nach Paketfahrern. Doch deren Vergütung ist mitunter prekär. Das Prinzip von Angebot und Nachfrage: Es funktioniert offenbar nicht überall. Horst Manner-Romberg Einer der Faktoren, der diese Situation zusätzlich befeuert, ist die mangelnde Zahlungsbereitschaft der Kunden. Das gilt sowohl für die Versenderkunden, die die Paketdienste unter erheblichen Preisdruck stellen, aber letztlich auch der Empfängerkunden. Ortswechsel. In einer kleinen ostdeutschen Stadt zur Feierabendzeit. Ein alter VW-Transporter. Der Wagen fährt schon lange keine Pakete mehr aus. Er gehört Oliver G., einem gut trainierten Mann um die 50, graumeliertes Haar. Der Wagen ist Oliver noch aus seiner Zeit als Transportunternehmer geblieben, gut 20 Jahre war er das. Aber das endete böse, mit einer Pleite. Seine Altersvorsorge: Weg. Das Haus, das er jetzt betritt: Beinahe gepfändet. Es gehörte früher seinen Großeltern. Er verbrachte hier seine Kindheit. Jetzt arbeitet Oliver wieder als Handwerker. Außer dem VW-Transporter ist ihm von seiner Firma noch ein Schuldenberg geblieben. 23.000 Euro muss er noch abtragen. Von 1200 Euro netto. Oliver Eigentlich traurig, beängstigend. Aber am schlimmsten ist, dass meiner Meinung nach die Behörden zugucken, wie Schindluder getrieben wird. Denn die Behörden sind ja diejenigen, die erst einmal ermöglichen, dass es Unternehmen gibt wie Trans-o-flex oder deren Systempartner, die so mit den Leuten umspringen können. Auch Oliver heißt eigentlich anders. Seit den frühen Neunziger Jahren war er Subunternehmer des Logistik- Konzerns Trans-o-flex. Mit mehreren Kleintransportern belieferten er und seine Mitarbeiter Friseurgeschäfte, Apotheken, Arztpraxen. 30.000 Euro Monatsumsatz. Nach der Jahrtausendwende gab es eine Umstrukturierung. Und Oliver war nicht mehr Subunternehmer, sondern Sub-Subunternehmer. Die regionale Trans-o-flex- Niederlassung gehörte jetzt einem mittelständischen Spediteur. Und fortan war der Olivers Vertragspartner. Oliver Das ging es erstmal aufwärts, da ich Fahrer einstellen konnte. Und auch das Gebiet zu disponieren hat schon auch Spaß gemacht. Und wir haben da auch viel erreicht, von dem die heute noch profitieren, weil ich dann Touren umgestellt habe. Was sich für Oliver bald als Problem erwies: 90 Prozent seiner Aufträge kommen über den Trans-o-flex- Subunternehmer. Eine riskante Abhängigkeit. Oliver Die Gefahr war mir schon bewusst, deswegen habe ich auch immer nach anderen Kunden Ausschau gehalten. Hatte zum Beispiel auch mal ein Gespräch beim DPD. Aber die Bedingungen dort waren ähnlich, sodass das bloß ein erneutes Wagnis gewesen wäre, dort einzusteigen. Nochmal zu investieren in wieder Autos, die wieder bestimmten Vorgaben entsprechen mussten. Und am Ende wäre das Risiko wahrscheinlich noch größer geworden. Abhängigkeit von nur einem Auftraggeber ist für Unternehmer immer ein Problem. Aber lag das nun an Olivers geschäftlichem Ungeschick? Oder ist das ein gängiges Muster in der Paketbranche? Unternehmensberater Horst Manner-Romberg: Horst Manner-Romberg Das ist tatsächlich ein Muster, das wir durch die gesamte Branche hinweg sehen, dass versucht wird, die Subunternehmer exklusiv an sich zu binden. Nach meinem Kenntnisstand gibt es auch Verträge, die explizit die Tätigkeit für andere Anbieter ausschließen. Und selbst wenn das vertraglich nicht geregelt ist, wird das häufig so gehandhabt, dass sofern es zur Kenntnis des auftraggebenden Dienstleisters kommt, dass dann der bestehende Vertrag aufgekündigt wird. Verbandschef Andreas Schumann ruft die Subunternehmer darum auf, sich zu organisieren: Andreas Schumann Die kleinen Unternehmer sind in dem Moment schwach, wenn sie sich vereinzeln lassen, wenn sie sich gerade eben nicht im Verband organisieren, wenn sie alleine versuchen, solche Konditionen auszuhandeln. Wir stellen aber immer wieder fest, dass die Unternehmer, die in Schwierigkeiten geraten, aufgrund der Schwierigkeiten nicht bereit sind, sich verbandsmäßig zu organisieren. Oliver wurde klar, dass er in eine wirtschaftliche Schieflage geriet. Eigentlich hätte er sein Geschäft aufgeben müssen. Aber das war gar nicht so einfach: Die Finanzierungsverträge für die Autos. Das Personal. Dafür haftete Oliver mit seinem Privatvermögen. Oliver: Wenn aufgeben, was dann machen? Irgendwie muss man ja dann auch für Einkommen sorgen. Wie auch immer. Wenn man als angestellter Fahrer dahingeht, die Löhne waren so, das braucht man nicht machen. Da wär ich nicht besser gekommen. Außerdem stand in seinem Vertrag eine Klausel, die ihn zusätzlich von der Kündigung abschreckte. Denn im Falle einer Kündigung hätte sein Auftraggeber das Recht gehabt, monatlich 1000 Euro pro vereinbarter Tour einzubehalten. Eine Art Kaution. Das Geld würde Oliver erst nach Vertragsende erhalten. Vorausgesetzt, es gäbe keine Schadenersatzforderungen von den Endkunden. Für Oliver hieße das: Er müsste auf einen Teil seines Geldes ein Vierteljahr warten. Trans-O-Flex teilt dazu mit: 2. Stimme: "Es geht bei solchen Sicherungsleistungen auch um einen Schutz davor, dass ein Frachtführer nach seiner Kündigungserklärung seine Leistungen einfach einstellt, obwohl der Vertrag noch läuft. Die dadurch entstehenden Zusatzkosten sind grundsätzlich deutlich höher als solche Kautionen." Das mag so sein. Und die Klausel war ja auch erst einmal vereinbart. Aber ob sie einer gerichtlichen Überprüfung standhalten würde, steht auf einem anderen Blatt. Horst Manner-Romberg: Horst Manner-Romberg Hier kann man diesem Subunternehmer nur raten, zu einem Anwalt zu gehen und die rechtliche Relevanz überprüfen zu lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Klausel rechtskonform ist. Denn solche Zurückbehaltungen, wie wir sie aus anderen Branchen auch kennen, müssen immer begründet werden. Und so, wie ich diese Verträge kenne, mangelt es an solchen Begründungen. Und gegen eine solche Willkür kann man dann juristisch vorgehen. Aber nicht Oliver. Für einen Anwalt fehlten ihm da schon das Geld und die Nerven. Erst recht, als ihm der Trans- o-flex-Systempartner kündigt. In einem Aktenordner bewahrt er die ganzen unangenehmen Briefe aus dieser Zeit auf: Das Finanzamt kündigt an, Olivers Konten zu pfänden und auch seine Einkünfte direkt bei seinem Auftraggeber. Der Steuerberater will nur noch gegen Vorkasse für ihn arbeiten, wegen unbezahlter Rechnungen. Und die Bank schließlich kündigt ihm das Konto fristlos. Oliver Schlanke Katastrophe. Man hat eigentlich dann Jahre umsonst gearbeitet. Was haben sie dadurch alles verloren? Geld in erster Linie. Meine Altersvorsorge ist weg. Ich hab' eigentlich nicht bei null dann noch einmal anfangen müssen, sondern bei Minus. Wenn die Vergütung den tatsächlichen Arbeitsaufwand nicht deckt: Irgendwer zahlt am Ende immer drauf. Die Subunternehmer. Oder jemand wie Marinel Urse. Ich treffe ihn in Dortmund. Er ist Rumäne, 40 Jahre alt, hat mal Schlosser gelernt. Dann sein halbes Leben im Ausland verbracht: In der Hotellerie gearbeitet, in der Gastronomie in der Türkei. In Spanien verkaufte er zeitweise sogar Mobilfunkverträge, erzählt er. Und als es dort wirtschaftlich immer schwieriger wurde, wollte er in Deutschland sein Glück versuchen. Doch da hat er jetzt Probleme. Die Stadt Wuppertal will von ihm Gewerbe-steuern eintreiben. Knapp 400 Euro. Das ist ihm unheimlich: Wieso Gewerbesteuern? Er glaubte, dass er ein Angestellter gewesen sei. Marinel Urse (rumänisch) Da habe ich Angst bekommen, dass jemand in meinem Namen Geschäfte gemacht hat und sehr viele Der Steuerbescheid erinnert ihn an die unangenehme Zeit kurz nach seiner Ankunft in Deutschland. Er landet im Ruhrgebiet. Als Paketfahrer für eine Firma namens "Wuppertaler Kurier GbR". Er glaubte, dass er dort angestellt sei. Er erzählt, der Chef sei mit ihm auf ein Amt gegangen und habe ihm ein deutsches Formular vorgelegt, das er dann unterschrieben hat, obwohl er kein Wort Deutsch konnte. Marinel Urse (rumänisch) Mir wurden halt diese Unterlagen vorgelegt, ich habe sie unterschrieben, und das war's. Das passierte unter viel Zeitdruck und Stress. Auch meine Kollegen in der Unterkunft, die schon länger hier waren, standen permanent unter Stress. Darum habe ich unterschrieben, und wir sind sofort gegangen. Marinels Gewerbesteuerbescheid offenbart Erstaunliches: Nicht nur, dass er Miteigentümer einer Firma war. Auch schwankt die Anzahl seiner Miteigentümer ständig: Während der sechs Wochen, die er dort tätig ist, zwischen 35 und 38. Im Laufe des Steuerjahres sind insgesamt 57 Personen vorübergehend an der Wuppertaler Kurier GbR beteiligt. Ein ständiges Kommen und Gehen - unter Leuten, die für ihre Verbindlichkeiten notfalls auch gegenseitig geradestehen müssen. Nachfragen sind bei der Firma nicht mehr möglich. E-mail-Adresse, Telefon und Faxnummer: alles abgeschaltet. Marinel Urse (rumänisch) Ich glaube, der wichtigste Grund, warum die Fluktuation so groß war und warum die Menschen immer wieder gegangen sind, war einfach das übergroße Arbeitsvolumen, der Druck, der Stress. Er berichtet von Arbeitstagen, die von morgens fünf bis abends um sechs gingen, jedenfalls nie unter 10 Stunden dauerten. Dafür gab es 100 Euro pro Woche und ein Zweibettzimmer, das er sich mit einem Kollegen teilte, erzählt er. Merkwürdig auch: Die Lieferwagen mit denen er und seine Mitunternehmer unterwegs waren, gehörten gar nicht ihrer eigenen Firma, sondern: offenbar ihrem Hauptauftraggeber. Einer Firma namens Optimal-Logistik in Köln. Welchen Grund aber hat Optimal-Logistik, seinem Subunternehmer den Fuhrpark zu stellen? Wollte sich die Firma um die Lohnnebenkosten drücken? Meine Anfrage an sie bleibt unbeantwortet. Ich frage weiter, ganz oben in der Subunternehmerkette, bei Trans-o-flex. Es stellt sich heraus: Auch Optimal- Logistik ist nur ein Sub-Subunternehmer, kein direkter Vertragspartner. Trans-o-flex erklärt, der zuständige Subunternehmer habe die Zusammenarbeit mit Optimal-Logistik eingestellt. Wörtlich heißt es: TRANS - O- Flex: "Trans-o-flex versucht prinzipiell, Sub-Subunternehmerverhältnisse zu vermeiden. Hier haben wir aus Fehlern in der Vergangenheit gelernt, in der solche Konstruktionen von einzelnen Subunternehmern zu Lasten unserer Kunden, unseres System und sicher auch zu Lasten von Beschäftigten ausgenutzt wurden." Marinel jedenfalls reicht es nach sechs Wochen, und er verlässt die Wuppertaler Kurierfirma. Marinel Urse (rumänisch) Ich hatte eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Dort zu bleiben und mitzumachen und darauf zu warten, dass sie mir vielleicht ab und zu mal was zum Essen hinschmeißen. Oder halt gehen und auf der Straße zu landen und schauen, wie es weitergeht. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Ich hatte eine Frau von der Diakonie kennengelernt, bei der ich vorübergehend wohnen konnte, sodass ich dann immerhin ein Dach über dem Kopf hatte. Er geht im Streit und fordert von der Wuppertaler Kurier-GbR Lohn, der ihm seiner Meinung nach noch zusteht. Die Firma weist seine Ansprüche zurück. Er habe von Anfang an gewusst, dass es er Mitgesellschafter sei und nur am Unternehmenserfolg teilhaben könne. Und das sei ihm auch in seiner Muttersprache Rumänisch erklärt worden, heißt es in dem Antwortbrief. Marinel soll also Miteigentümer eines Kurierdienstes in Belegschaftsbesitz gewesen sein, dem aber nicht einmal die Lieferwagen gehörten. Horst Manner-Romberg, Unternehmensberater. Nach meinem Kenntnisstand ist das prägende Geschäftsmodell der selbstfahrende oder mitfahrende Subunternehmer, der je nach Dienstleister zwischen 5 und bis zu 12, 13 Beschäftigte dann hat. Und vor diesem Hintergrund halte ich diese Schilderung für sehr skurril, und ich denke, das ist in der Tat ein Einzelfall. Szabolcs Sepsi Die Bedingungen in diesem Fall waren besonders extrem. Für mich sieht das ganz klar nach einem Fall von Scheinselbständigkeit aus. Diese Firma, könnte man behaupten, wäre gar keine wirkliche Speditionsfirma. Es geht hauptsächlich um die Vermittlung von Arbeitskräften beziehungsweise um das Ausbeutung von Scheinselbständigen. Szabolcs Sepsi vom Projekt "Faire Mobilität", einer EU-weiten Initiative der nationalen Gewerkschaftsverbände, zuständig für Arbeitsmigranten, die in der Fremde Probleme mit Arbeitgebern bekommen. Bei ihm hatte Marinel Rat gesucht. Szabolcs Sepsi Die Konstellation treffen wir sehr häufig in der Speditionsbranche, wo leider auch viele sehr große Speditionsunternehmen ihre Aufträge weitergegeben haben an Subunternehmerketten. Und am Ende der Kette steht dann häufig ein scheinselbständiger Fahrer, der zu sehr schlechten Bedingungen arbeiten muss. Ahnungslose Arbeitskräfte, die wirklich alles mit sich machen lassen, sind im Logistikgeschäft begehrt. ZEITUNGSANZEIGE: Kurierfahrer für Hermes in Deutschland gesucht. Arbeitsort: Heilbronn. Dienstwagen wird gestellt. Paketverteilung an 6 Tagen pro Woche. Arbeitszeit abhängig von der Paketmenge. Bei meinen Recherchen erfahre ich von 15 Bulgaren, die sich nach Deutschland locken ließen. In der Gegend um Münster und Osnabrück sind sie ab Herbst 2015 für den Subunternehmer eines Subunternehmers des Paketdienstes Hermes unterwegs. Sie haben offenbar weniger als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, wie die Daten der Rentenversicherung nahelegen. Auf den Januar-Lohn warteten sie vergeblich, und Mitte Februar ist die Firma dann pleite, und sie sind ihre Jobs los. Wieder einmal gucken Beschäftigte bei Hermes-Subunternehmern in die Röhre. Dabei lässt Hermes seine Subunternehmer regelmäßig vom TÜV kontrollieren! Dabei hat Hermes schon lange einen Verhaltenskodex, der auch für Subunternehmer gilt! Und einen Ombudsmann, an den sich auch Fahrer von Subunternehmen wenden können, sofern sie denn von dessen Existenz wissen. Zum Fall der 15 bulgarischen Fahrer erklärt Hermes: STELLUNGSNAHME HERMES "Über Erfolg und Qualität der angegeben Maßnahmen sagt der Ihrerseits beschriebene Fall gar nichts aus. Denn beispielsweise ein Verhaltenskodex hat ja keinen direkten Einfluss auf die betriebswirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens. Doch im Ihrerseits beschriebenen Fall scheint es sich ja eben um einen Betrieb zu handeln, der Insolvenz anmelden musste. Die Gründe dafür sind uns nicht geläufig, da mit Hermes kooperierende Unternehmen im Regelfall weitere Auftraggeber haben und uns die daraus resultierenden Einflüsse auf die Geschäftstätigkeit selbstredend nicht bekannt sind. Weiter können die unsererseits unterstützten Maßnahmen direkt auch keine ungesetzlichen oder sogar mit vorsätzlicher krimineller Energie unternommenen Handlungen verhindern." Arbeitskräfte, die kein Deutsch sprechen und ihre Rechte nicht kennen. Vertragskonditionen, die die Subunternehmer vor Ausstiegshürden stellen. Und Tricksereien bei den Zeitvorgaben: Scheint, als sei Paketbranche in manchen Bereichen auf den Hund gekommen. Dabei steigt die Menge der beförderten Pakete in Deutschland seit Jahren. Marktversagen? Andreas Schumann: Wir haben gewisse gegenläufige Tendenzen. Andreas Schumann vom BdKEP Andreas Schumann: Wenn wir uns mal den E-Commerce angucken, haben wir dort eine Handvoll Versender, die 30, 40, 50 Prozent des Marktes abdecken. In dem Moment, wo die Versender mehr Sendungen in die Systeme einspeisen, fordern sie günstigere Preise, weil sie höhere Mengen reinbringen. Das heißt, wir haben zwar eine verstärkte Nachfrage nach Zustellung von Sendungen, aber wir haben gleichzeitig zurückgehende Stückerlöse. Trotzdem steigen die Umsätze pro Beschäftigtem in der Paketbranche. Offensichtlich landen diese Zuwächse aber bei den Konzernen, Subunternehmer und Lieferfahrer gehen oft leer aus. Zu deren Gunsten müssten sich die Kräfteverhältnisse auf dem Markt verschieben, wenn sich an ihren Arbeitsbedingungen etwas Grundlegendes ändern soll. Daran will Andreas Schumann mit seinem Verband arbeiten. Er will die Mitgliederzahl seines Subunternehmer-Verbandes mittelfristig auf 1000 erhöhen. Das wären dann etwa fünf Prozent aller kleinen und mittleren Pakettransport-Unternehmen.