DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 27.01.2015 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 – 20.00 Uhr Die Ungewollte Nation In Israel und Palästina ist etwas zusammengewachsen, was nicht zusammen gehören will Von Daniel Cil Brecher URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik: Darbuka-Solo O-Ton Hanan All I had to do to accept this invitation … as equals Sprecher 1: Ich musste nur 20 Minuten laufen, um die Einladung anzunehmen. Ich konnte das Auto stehen lassen. Ich lief durch die palästinensischen Felder und Weinberge, die mein Haus umgeben. Mein Frau hatte mich gewarnt: Geh‘ nicht, das ist gefährlich. Aber ich sagte: Ich gehe trotzdem. Mein Herz raste nicht, aber es schlug schneller. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Palästinenser getroffen. Ich bin in der Armee gewesen und habe Palästinenser verhaftet, habe sie schikaniert. Ich habe palästinensische Bauarbeiter bei mir im Haus gehabt, habe während des Wachdienstes in Alon Shvut palästinensische Bauarbeiter in die Siedlung hinein gelassen oder ihnen den Zugang verwehrt. Aber ich hatte noch nie, nie, nie im Leben Kontakt mit einem Palästinenser als Freund oder Nachbarn, als jemand, der gleichberechtigt ist. Musik: Darbuka-Solo O-Ton Sami For many years I was the one to organize … the narrative that they come from. Sprecher 2: Jahrelang habe ich Proteste gegen diesen Rabbiner organisiert und gegen andere Siedler. Die Siedler waren tabu. Ich hätte nie mit ihnen gemeinsame Sache gemacht. Ich habe mich immer gegen ihre Anwesenheit gewehrt. Aber wenn du Frieden schließen willst, musst du dich mit deinen ärgsten Feinden zusammensetzen. Für Palästinenser sind das die Siedler. Wie könnten wir sonst den Siedlern deutlich machen, welches Unrecht sie uns antun? Und wie könnten wir sonst ihre Seite der Geschichte hören? Musik: Darbuka-Solo Ansage Die ungewollte Nation. In Israel und Palästina ist etwas zusammengewachsen, was nicht zusammen gehören will. Ein Feature von Daniel Cil Brecher. Musik: Darbuka-Solo O-Ton Hanan And I walk in and there … go to hell Sprecher 1: Ich komme rein, und da stehen etwa fünfzehn Palästinenser und fünfzehn Siedler herum. Ich beginne ein Gespräch mit einem palästinensischen Paar aus Beit Ummar. Die Frau ist in eine traditionelle braune Robe gehüllt. Ich sehe nur ihr Gesicht und ihre Hände. Sie wohnen in Beit Ummar, und ich habe in Karmei Tzur gewohnt, direkt nebenan. Kinder aus Beit Ummar haben Steine über den Zaun auf unsere Kinder geworfen und auf unsere Autos bei der Einfahrt. Und ich erinnerte mich, dass meine Frau, wenn sie auf unsere kleine Tochter böse war, rief: geh nach Beit Ummar! Das heißt: geh zum Teufel. Autor Der US-amerikanisch-israelische Rabbiner Hanan Schlesinger wohnt seit über dreißig Jahren in den Besetzten Gebieten Palästinas. O-Ton Hanan It’s not supposed to happen … this party, this kumsitz. Sprecher 1: Eigentlich geschieht so etwas nicht. Palästinenser sprechen nicht mit Siedlern, und Siedler nicht mit Palästinensern. Dann kommt ihr Mann an, holt sein Smartphone aus der Tasche und zeigt mir die Lage ihres Hauses auf Google Maps. Wir waren Nachbarn, direkte Nachbarn, nur getrennt durch einen Zaun! Das war unglaublich, unwirklich. Dann zeigt er auf meine Kippa, mein Käppchen, und sagt: Wenn meine Kinder jemanden mit einer so großen Kippa sehen, fangen sie an zu weinen. Ich wusste nicht, was er meint. Mochten sie die Farbe nicht? Leute wie du, sagt er, die eine Kippa tragen und einen langen Bart, tragen auch Gewehre und schießen auf unsere Kinder. Unsere Kinder haben Angst vor dir. Dann fiel bei mir der Groschen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich in seinen Augen, in den Augen seiner Kinder, aussehe. Er hatte Recht. Wenn wir in den Feldern spazieren gehen, in ihren Feldern, nehmen wir Gewehre mit, zur Verteidigung. Ich sehe mich als einen friedlichen Menschen, aber er sah mich als Aggressor, als kriegerisch. Diese Art Erfahrungen hatte ich die ganze Zeit während der Zusammenkunft. Autor Das denkwürdige Treffen von lokalen Repräsentanten jüdischer und palästinensischer Ortschaften in der Westbank fand im Januar 2014 statt. Mit Hanan Schlesinger, der mir von diesem Treffen erzählte, traf ich mich im Herbst 2014 in Alon Shvut, einer kleinen, modernen jüdischen Siedlung südlich von Betlehem. Das Dorf sieht aus wie der schmucke, reiche Vorort einer Großstadt: Einfamilienhäuser, Garagen, Schulen, ein Hallenbad. Mit einer Ausnahme: die Mauern und der Stacheldraht. Und am Eingang werden alle Fahrzeuge streng kontrolliert. Musik Atmo: Mix Knesset Streit/ arabische Nachrichten Musik Autor Zwei Jahre ist es her, dass ich zuletzt in den Besetzten Gebieten war. Jetzt gibt es hier noch mehr Umgehungsstraßen und Tunnel - eine Infrastruktur, die nur für die Siedler geschaffen wurde. Auf dem Weg von Jerusalem hierher sind jetzt die palästinensischen Dörfer und die Menschen, die darin leben, kaum noch zu sehen. Hohe, L-förmige Wälle schützen die nur für Juden gebauten Schnellstraßen. Sie erinnern mich an Lärmschutzwände oder Lawinenbarrieren, sind aber als Schutz gegen Steine und Geschosse gedacht. Am Tag zuvor war ich die gleiche Strecke schon einmal gefahren, allerdings auf dem parallelen Straßensystem für Palästinenser. Ich wollte nach Bethlehem. Um in die Stadt hineingelassen zu werden, musste ich durch zwei Tore im Schutzwall und eine von Wachtürmen umgebene Schleuse. Die Szenerie erinnerte mich an Reisen in die DDR. Ich hatte mich mit Sami Awad verabredet, einem Palästinenser, der auch an jenem historischen Treffen im Januar 2014 teilgenommen hatte. O-Ton Sami Generally I would say that most Palestinians … leadership to be in at this point. Sprecher 2: Die meisten Palästinenser sind müde. Viele haben die Hoffnung verloren. Einige plädieren für gewaltsamen Widerstand, einige für gewaltlosen, aber die meisten denken, dass sich in ihrer Generation nichts mehr ändern wird und zweifeln selbst daran, ob sie jemals frei sein werden. Sie konzentrieren sich auf das tägliche Überleben – Familie, Arbeit. Hier in Bethlehem gibt es drei Durchgänge in den Mauern, in den Zäunen und Siedlungen um uns herum. Bethlehem kann in nur einer Minute völlig von der Außenwelt abgeschlossen werden. So sieht die Besatzung aus. Die Leute fragen sich: Wie lange soll das noch weitergehen? Vielleicht ist es Zeit, die Palästinensische Verwaltung aufzulösen. Sie hat doch nichts erreicht. Aber dann riskieren wir Chaos. Für die palästinensische Führung ist die jetzige Stimmung nicht günstig. Autor Sami Awad ist Christ und gehört zu der ständig schrumpfenden christlich-arabischen Bevölkerung dieser ehemals christlich-arabischen Stadt. Er stammt aus einer Flüchtlingsfamilie, die 1948 ihr Haus in Westjerusalem verlassen musste, und ist heute Direktor des Holy Land Trust. Diese Organisation will unter anderem Palästinenser auf eine Koexistenz mit Juden vorbereiten und wird von EU-Ländern finanziert. In Bethlehem ist seit dem Gaza-Krieg vom vergangenen Sommer die Stimmung schlechter denn je. Ich sprach mit einem halben Dutzend Menschen hier. Alle wollen auswandern. Auch in Israel selbst ist die Stimmung gedrückt. Im Frühjahr hatten Politiker und Medien nach dem Scheitern der Friedensgespräche das Ende der Zwei-Staaten-Lösung konstatiert. Jetzt blieb offenbar nur eines: Gewalt. Für Sami Awad war die Zwei-Staaten- Lösung ohnehin der falsche Weg. O-Ton Sami The framework of finding a solution … that exist in this land. Sprecher 2: Die Suche nach einer Lösung war ganz eng auf die politische Zwei-Staaten-Lösung konzentriert. Natürlich muss es am Schluss eine politische Lösung geben, aber Frieden muss zwischen den Gemeinschaften entstehen, zwischen allen Gemeinschaften. Wir müssen die historischen Wurzeln aller Gemeinschaften in diesem Land akzeptieren. Die jüdische Gemeinschaft zum Beispiel hat hier in der Westbank mehr Geschichte, mehr Wurzeln und mehr heilige Stätten als in Israel selbst. Eine politische Lösung, die diese Wurzeln leugnet, wird nur zu weiteren Kriegen führen. Um Frieden zu schaffen, müssen wir einen Paradigmen-Wechsel herbeiführen – nicht die Verbundenheit einzelner Gemeinschaften mit dem Land leugnen, sondern die Verbindung aller Gemeinschaften mit dem Land respektieren. Autor Den Begriff ‚Paradigmen-Wechsel‘ hatte ich bereits einige Male gehört, von verschiedenen Seiten. Was Awad und seine arabischen und jüdischen Mitstreiter dahinter verbergen, kommt einem politischen Erdbeben gleich: die palästinensische Akzeptanz der Siedlungen. Ich fragte Awad auf den Kopf zu: können die Siedler wirklich bleiben? O-Ton Sami Look, it is challenging … and in the peace-making process. Sprecher 2: Das bleibt ein Problem. Meine Generation wuchs mit einer ganz engen Perspektive auf: Gerechtigkeit und Frieden kann nur durch die Gründung eines separaten palästinensischen Staates erreicht werden. Ein Staat braucht Land, und in diesem Sinn waren die Siedlungen ein Hindernis. Deshalb mussten sie aufgelöst werden. Aber das stellte sich als nicht realistisch heraus. Deshalb mussten wir unsere Perspektive verändern. Und das fällt uns nicht leicht. All dies ist ganz neu, und wir müssen erst die Sprache dafür finden. Aber dieser Perspektive gehört die Zukunft, in unserem Leben hier und im Friedensprozess. Autor Eine Lösungs-Perspektive, die nicht auf ethnischer Exklusivität oder Dominanz beruht, wird nur von einer kleinen Minderheit auf beiden Seiten akzeptiert. Erhalt und Ausbau des Nationalstaats für Juden ist in Israel weiterhin der Kern von Politik und Kultur. Im Gegensatz dazu gab es in der palästinensischen Politik immer schon eine Strömung, die einen gemeinsamen, nicht ethnisch oder religiös definierten Staat forderte. Die Teilung bleibt für Palästinenser weiterhin eine von den Juden aufgezwungene Lösung, die weder der geographischen Verteilung noch den kulturellen und familiären Bindungen der palästinensischen Bevölkerung entspricht O-Ton Sami We need to create a different scenario … detrimental to any peace that can happen. Sprecher 2: Wir brauchen ein neues Szenario, das Gleichheit bringt, aber auch volle Kompensation für das Land, das für Siedlungen und die Mauer konfisziert wurde. Dann steht uns auch noch die Idee der Exklusivität im Weg. Viele Juden sind immer noch dem extremistischen Gedanken verhaftet, dass dieses Land ausschließlich ihnen gehört. Diese Mentalität blockiert den Weg zum Frieden. Autor Bezieht sich Awads Szenario der Abschaffung der ethnischen Exklusivität nur auf die Besetzten Gebiete? O-Ton Sami It is not just in the Westbank … real peace that happens in this land. Sprecher 2: Nein, nicht nur die Westbank. Als Christ zum Beispiel habe ich meine Wurzeln in Bethlehem, aber auch in Galiläa oder in Nazareth oder an anderen Orten im heutigen Israel. Der Diskurs beginnt sich jetzt zu verändern. Viele begreifen jetzt, dass sie das Recht aller anerkennen müssen, sich überall frei zu bewegen und sich überall niederlassen zu können, im gesamten Gebiet. Musik: Darbuka-Solo O-Ton Hanan From my perspective … they are in a terrible state. Sprecher 1: Aus der Sicht eines Siedlers ist der jetzige Zustand nicht schlecht. Es klingt gefühllos, aber wir haben hier und da einen Toten zu beklagen, haben hier und da ein bisschen Angst, aber ansonsten ist das Leben gut hier. Sehr gut sogar. Wir leben in unserer biblischen Heimat und erfüllen uns unsere Träume. Was könnte besser sein? Aber für die Palästinenser bedeutet der Status Quo Unterdrückung. Das habe ich vor elf Monaten noch nicht so deutlich gesehen. Außerdem kann jeden Moment eine dritte Intifada ausbrechen, die uns und ihnen schaden wird. Wir Juden schauen lieber weg und versuchen, den Konflikt beherrschbar zu halten, gerade weil unsere Lage nicht so schlecht ist. Aber für die Palästinenser ist die Lage schrecklich. Autor Der Rabbiner Hanan Schlesinger bezeichnet seinen Sinneswandel als Transformation, als das Ende einer 34-jährigen Blindheit. Vor 34 Jahren hatte er sich vom Traum eines Lebens in der biblischen Heimat aus den USA in die Westbank locken lassen. Ist er nun auch bereit, diesen Traum in Frage zu stellen? Die immer noch gültigen Verträge von Oslo sehen die Errichtung von zwei getrennten Staaten für zwei getrennte ethnische Gruppen vor. Hat er sich mit dem Gedanken versöhnt, dass er und andere Siedler nach diesem 20 Jahre alten ‚Friedensplan‘ möglicherweise umziehen müssen? O-Ton Hanan Separation is not necessarily … on the same piece of land in certain places. Sprecher 1: Eine Trennung ist nicht unbedingt nötig. Die Trennung, die in den Osloer Verträgen vorgesehen ist, würde neue Flüchtlinge schaffen, auf beiden Seiten. Neue Flüchtlinge bedeuten neues Unrecht, Leiden, Unterdrückung. Wir suchen nach einer Lösung, die niemanden zum Flüchtling macht. Das bedeutet entweder eine Ein-Staaten-Lösung oder zwei Staaten, die teilweise auf demselben Territorium liegen. Autor Die Ein-Staaten-Lösung würde das Ende des zionistischen Traums vom Staat der Juden bedeuten. Ist Schlesinger zu diesem Schritt bereit? O-Ton Hanan A one-state-solution is … trust each other and accept each other. Sprecher 1: Die Ein-Staaten-Lösung ist für mich und andere Juden unakzeptabel, weil wir zumindest einen jüdischen Staat auf diesem Planeten haben wollen. Deshalb stellen wir uns eine Zwei-Staaten-Lösung vor, die Kantone vorsieht oder eine Föderation mit gemeinsamen Gebieten. Das ist kompliziert. Eine komplizierte Lösung setzt gegenseitiges Verstehen und Vertrauen voraus, gegenseitige Akzeptanz. Autor Auch Hanan Schlesinger formuliert sehr vorsichtig, immer mit einem Auge auf seine eigene Zielgruppe. Selbst unter den gemäßigteren Siedlern dürfte seine Initiative nicht gerade willkommen sein. Welche persönlichen Folgen hat seine Position als Direktor des Roots-Projekts gehabt? O-Ton Hanan When I talk to my family … hateful of our Arab neighbors. Sprecher 1: Wenn ich mit meiner Familie darüber spreche, mit meinen Kindern und ihren Familien, stoße ich auf eisiges Schweigen. Ist das nicht gefährlich, fragen sie. Ich stoße auf Schweigen, auf Widerstand, auf ein wenig Neugier, auf viel Misstrauen und Angst. Mein bester Freund hat mir deswegen die Freundschaft gekündigt. Kürzlich erzählte meine Frau, dass eine gute Freundin von ihr uns nicht mehr zum Essen einladen will. Sie hat Angst vor einer Konfrontation zwischen mir und ihrem Mann. Er ist ein radikaler Verfechter des Siedlungsgedankens und betrachtet Araber mit Argwohn und Hass. Musik: Darbuka-Solo Autor Für den nächsten Tag bin ich zu einem Treffen der „Roots“-Gruppe eingeladen. Die Gruppe trifft sich weiterhin am Ort ihrer ersten Zusammenkunft. Inzwischen wird hier ein Gebäude für die Gruppe errichtet. Der Ort hat symbolische Bedeutung, denn er liegt mitten im Nichts, oder mitten in Allem, wie Hanan es ausdrückt. Die jüdischen Siedlungen und die arabischen Dörfer sind buchstäblich nur einen Steinwurf entfernt. Wir fahren in einer Autokolonne über einen holprigen Feldweg, Autos mit israelischen Kennzeichen und Autos mit den Kennzeichen der Besetzten Gebiete. Ganz in der Nähe ist eine Kreuzung von zwei für Siedler bestimmten Schnellstraßen und einer Tankstelle, auch nur für Siedler. Über der Kreuzung ein israelischer Wachturm. Wegen erhöhten Alarmzustands stehen heute gepanzerte Fahrzeuge und Soldaten mit schussbereiten Gewehren am Straßenrand. Sie behalten uns im Auge. Wir müssen anhalten, aussteigen und den Weg zu Fuß fortsetzen. Neben mir stolpert ein Herr in grauem Anzug über den Feldweg. Er stellt sich vor: ein palästinensischer Staatsanwalt aus Bethlehem. Unter anderen Umständen hätte ich seine Anwesenheit als beruhigend empfunden. Heute nicht. Atmo: Baustelle Autor An der sehr lauten Baustelle für das geplante Rootsgebäude angekommen, entsteht eine Diskussion. Die palästinensischen Bauarbeiter wollen keine Pause machen. Es ist Freitag, und der Arbeitstag ohnehin kurz. Wir drehen um. Das Treffen ist in das Café der Tankstelle verlegt. Atmo Tankstellen-Café O-Ton Ali Crazy, this place has become more popular than the Knesset itself. I don’t know … Autor Alle Leute im Café sind jüdische Siedler. Wir fallen auf. Ich setze mich neben einen der Initiatoren der Gruppe, den Palästinenser Ali Abu Awwad. O-Ton Ali I grew up here in the Westbank … just piece of paper. Sprecher 3 Ich bin hier in der Westbank aufgewachsen, in Beit Ummar. Ich bin damit aufgewachsen, dass die Siedler sich hier überall herumtreiben und dass wir von Siedlungen umgeben sind. Wir haben sie immer als unsere Feinde betrachtet, als die Leute, die unser Land stehlen und sich einen militärischen Apparat geschaffen haben, um sich zu schützen. Andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass ein Frieden nichts wert sein wird, wenn wir uns nicht mit den Siedlern verständigen. Autor Wollen die Siedler überhaupt Frieden, ein Ende des Konflikts? O-Ton Hanan They think in terms of ... that’s what people would think, and dangerous. Sprecher 1: Was sie wollen, ist den Konflikt beherrschen. In ihren Augen kann der Konflikt nie beendet werden. Sie haben diese sehr pessimistische, fast metaphysische Sicht, dass der Konflikt ewig dauern wird. In ihren Augen sind Gespräche überflüssig. Unnötig, unrealistisch und gefährlich. O-Ton Ali Se meturav. Que anachnu maskimim ... lo medabrim im mitnachalim. Sprecher 3 Das ist doch verrückt. Wir dürfen ihre Siedlungen bauen, aber mit den Siedlern sprechen dürfen wir nicht. Autor Ali Abu Awad und Hanan Schlesinger waren ins Hebräische übergegangen. Welche Sprache wird eigentlich bei Roots gesprochen? Wo hat Ali Hebräisch gelernt? O-Ton Ali I learned it in prison … speaking to them in English or Arabic. Sprecher 3 Ich habe es im Gefängnis gelernt. Palästinenser lernen Hebräisch, um zu überleben, in gefährlichen Situationen, aber auch wirtschaftlich. Wenn ich an einer Straßensperre mit den Soldaten Hebräisch spreche, werde ich besser behandelt. O-Ton Hanan I just add that it is problematic ... problem in our perspective. Sprecher 1: Ich will noch hinzufügen, dass ich es als problematisch empfinde, kein Arabisch zu sprechen. Ich habe Probleme damit, dass wir entweder Englisch sprechen müssen oder meine Sprache. In jüdischen Schulen müsste Arabisch unterrichtet werden. Dass es nicht unterrichtet wird, ist bezeichnend für unsere fragwürdige Sichtweise. Autor Ali Abu Awwad wurde als Teenager während der ersten Intifada verhaftet und saß vier Jahre in einem israelischen Gefängnis. Während der zweiten Intifada wurde er von einem Siedler angeschossen und schwer verletzt. Sein Bruder wurde getötet. Nach seiner Genesung engagierte sich Abu Awwad in einer Organisation, in der sich jüdische und arabische Angehörige von Konflikt-Opfern zusammenschlossen. Jetzt formt er zusammen mit Hanan Schlesinger die Führung der neuen Grassroots-Bewegung. O-Ton Ali On the one hand we represent one body … condition to reach a solution. Sprecher 3 Einerseits repräsentieren wir eine einzige Organisation und eine Botschaft, andererseits ist diese Botschaft nicht eindeutig. Über fast alle Punkte wird noch gestritten. Vielleicht wird ein Teil der Siedler palästinensische Staatsbürger werden. Ich weiß es nicht. Es geht eigentlich darum, dass wir eine Lösung wollen. Das ist der erste Schritt. Die erste Vorbedingung für eine Lösung ist, eine Lösung zu wollen. Autor Abu Awwad berichtet im Café, dass er sich mit einem Politiker der regierenden Likud- Partei verabredet hat. Einige Politiker der Partei von Premier Benjamin Netanjahu wollen große Teile der Westbank formell annektieren und den dort lebenden Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft anbieten. Mit wem will Abu Awwad über was genau sprechen? O-Ton Ali Ah, we try to engage politicians … … there are no heroes for peace anymore. Sprecher 3 Wir versuchen mit allen Politikern ins Gespräch zu kommen, auch mit palästinensischen. Alle sind sehr nett zu uns, so nett, dass du dich fragst: Warum gibt es überhaupt noch einen Konflikt? Wenn jeder wie Gandhi oder Martin Luther King redet. Aber sobald es um wirkliche Schritte geht, dann gibt es keine Friedenshelden mehr. Autor Präziser will er nicht werden. Die Organisation will weitere Führungspersönlichkeiten aus den arabischen und jüdischen Teilen der Westbank hinzuziehen und ihre Prinzipien an die Öffentlichkeit bringen: eine gewaltfreie Konfliktlösung, eine gemeinsame Zukunft beider Völker in offenen Grenzen, Bewegungs- bzw. Niederlassungsfreiheit für alle. Der politische Rahmen – ein Staat, zwei Staaten, eine Föderation - muss vorläufig offen bleiben. Zwei Wochen nach unserem Gespräch fand an der Tankstelle ein Anschlag statt. Eine Frau aus Alon Shvut wurde erstochen, mehrere Personen verletzt. Musik: Darbuka-Solo Autor Die israelisch-arabische Knesseth-Abgeordnete Haneen Zoabi ist die wohl meist gehasste Politikerin Israels. O-Ton Haneen We live in a bi-national reality … … because this is a fact. Sprecherin 1 Wir leben in einer binationalen Realität. Das müssen wir zugeben. Israel kann kein jüdischer Staat sein, weil wir hier leben. Wir leben hier. Wir sind hier. Ich will diese binationale Realität übersetzt sehen in ein binationales politisches System, in eine politische Form, die den Realitäten entspricht. Atmo: Haneen Zoabi im Wahlkampf Autor Haneen Zoabis Heimatort ist Nazareth, die größte arabische Stadt Israels. Ich traf sie im Hauptquartier ihrer Partei, dem National-Demokratischen Bündnis. Ihre Partei ist eine von zwei arabischen Parteien in der Knesseth. Wie denkt sie über die Zukunft der Besetzten Gebiete? Diese Frage hat für die palästinensische Minderheit eine ganz andere Dimension als für die jüdische Mehrheit. Durch die Errichtung des Mandatsgebiets Palästina 1918 und die Gründung des israelischen Staates 1948 wurden Grenzen gezogen, eine Region aufgeteilt, die Jahrhunderte lang zusammengehörte. Die arabische Bevölkerung wurde verteilt und verdrängt, familiäre, kulturelle und wirtschaftliche Bande zerrissen. Mit den israelischen Eroberungen im Sechstagekrieg von 1967 begannen diese Gebiete wieder zusammenzuwachsen, ein Prozess, der durch die Zwei-Staaten-Lösung wieder revidiert würde. Haneen Zoabis Partei unterstützt Präsident Mahmoud Abbas und die palästinensische Verwaltung in Ramallah. Bis vor kurzem hatte sie noch die Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung befürwortet. O-Ton Haneen Now, this is a wrong strategy … … justice will lead me to peace. Sprecherin 1 Das ist eine falsche Strategie. Die palästinensische Verwaltung beginnt zu begreifen, dass die israelische Strategie der Verhandlungen nur dazu da war, den Status quo zu erhalten und die Besatzung zu verfestigen, zu verhandeln, während die Siedlungen ausgebaut werden und Netanjahu Jerusalem weiter judaisiert. Frieden und die Zwei-Staaten-Lösung sind ein falsches Paradigma. Zuerst kommt Gerechtigkeit. Erst dann kann Frieden entstehen. Wenn Israel von Frieden spricht, meint es Frieden anstatt Gerechtigkeit, oder es meint Frieden, um den Status quo beizubehalten. Nein, ich will eine gerechte Lösung. Dann wird der Frieden folgen. Autor Die arabischen Parteien Israels haben erst spät damit begonnen, sich auch für die kollektiven Belange der Palästinenser einzusetzen, nicht nur für die des einzelnen Bürgers. Haneen Zoabi entstammt einer der führenden politischen Familien des arabischen Israel. Minister und Parlamentsvorsitzende zählen zu ihrer Verwandtschaft und einige hatten führende Position in linken zionistischen Parteien inne. Teile ihrer Familie lehnen ihren harten Kurs und ihr offenes Engagement für die Rechte der arabischen Bevölkerung in den Besetzten Gebieten ab. Als sie 2010 bei den Protest-Aktionen gegen die Absperrung des Gazastreifens auf einem der Blockade-Brecher mitfuhr, wurde Haneen Zoabi zum Hassobjekt der jüdischen Gesellschaft Israels. Sie selbst sieht in ihrem gesamt- palästinensischen Engagement allerdings eine natürliche Fortentwicklung. O-Ton Haneen The name of the game for the … the problem that we are not in a normal state. Sprecherin 1 In den ersten zwanzig Jahren ging es nur ums Überleben. In den folgenden zwanzig Jahren hatten wir zum ersten Mal Kontakt mit der Westbank und dem Rest unseres Volkes. Bis 1967 hatte Israel uns völlig isoliert. Wir durften nicht einmal in andere arabische Länder reisen. Es war ein allmählicher Prozess politischer Bewusstwerdung. Auch der politische Diskurs hat sich entwickelt. Von 1970 bis 1995 haben wir um gleiche Rechte gestritten als israelische Bürger. Ab 1995 haben wir uns als nationale Minderheit zu definieren begonnen und Gleichheit als Palästinenser gefordert. Und dann haben wir begonnen, die Definition Israels als jüdischen Staat in Frage zu stellen, weil uns klar wurde: das ist kein normaler Staat. Autor Diese Evolution hat nun Folgen für die Lösungsparameter des israelisch-arabischen Konflikts. Auf beiden Seiten der Grünen Grenze wird es für die arabische Bevölkerung immer deutlicher: Mit der Formel „zwei Staaten für zwei Völker“, die von Premier Netanjahus Regierung gebraucht wird, soll nicht nur eine Trennung der Wohngebiete und Bevölkerungen herbeigeführt werden, sondern nicht zuletzt auch eine Neudefinition der Rechtsverhältnisse. „Zwei Staaten für zwei Völker“ bedeutet die weitere Festschreibung Israels als Staat der Juden, in dem Nichtjuden noch weniger Rechte bekommen sollen als sie ohnehin schon haben. Musik Atmo: Mix Knesseth/arab. Nachrichten zum Gesetzentwurf Musik Autor: Während meiner Israel-Reise im Herbst 2014 stellte der Premier gerade einen Gesetzentwurf für ein neues, umstrittenes Grundgesetz zur Debatte: „Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes“. Es will unter anderem den kulturellen Spielraum nicht-jüdischer Bevölkerungsgruppen drastisch beschneiden. So soll z.B. Arabisch als 2. Amtssprache abgeschafft werden, und jüdisches Recht soll einen höheren Stellenwert in der Gesetzgebung des Landes bekommen. Ende November hat das Kabinett den Entwurf mit einigen Gegenstimmen gebilligt. Diese Entwicklung hat viel dazu beigetragen, dass die Zwei-Staaten-Lösung, und mit ihr die an diese Lösung gebundene Palästinensische Verwaltung in Ramallah, unter Palästinensern kaum noch Unterstützung genießen. Atmo Café Strudel O-Ton Wadie Unfortunately, nowadays the only people … from the sea to the river Sprecher 4 Unglücklicherweise sind die einzigen, die heute noch an eine Zwei-Staaten-Lösung glauben, die Europäer. Die Israelis wollen eine Ein-Staaten-Lösung mit zwei Subunternehmern – einen im Gaza-Streifen und einen in der Westbank, die sich um die Palästinenser kümmern. Es macht ihnen auch nichts aus, wer das Ganze finanziert, solange sie es nicht selbst tun müssen. Die Palästinenser träumen inzwischen von einer Ein-Staaten-Lösung vom Mittelmeer bis zum Jordan-Fluss. Autor Wadie Abunassar ist ein israelisch-palästinensischer Meinungsforscher. Ich traf Abunassar in Haifa, in einem Restaurant namens „Strudel“. Es liegt in der so genannten „Deutschen Kolonie“, ein paar Straßenzüge mit hübschen Häuschen, die von der protestantischen Templer-Sekte aus Württemberg im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert errichtet wurden. Der Eigentümer von „Strudel“, das von Juden und Arabern frequentiert wird, ist christlicher Araber, wie Wadi Abunassar. Wieviel Sympathie genießt die palästinensische Führung unter Mahmound Abbas in Ramallah unter den Palästinensern in Israel eigentlich noch, will ich von ihm wissen. O-Ton Wadie Well, the support for the Fatah leadership … I think it is the contrary. Sprecher 4 Die Unterstützung für die Führung ist gleich Null. Nicht nur hier, sondern auch in Ramallah. Das ist kein Geheimnis. Leider ist es dieser Führung nicht gelungen, eine ernsthafte Befreiungsstrategie auf die Beine zu stellen. Ich glaube, dass auch Hamas versagt hat. Es ist ihnen nur gelungen, eine Illusion zu schaffen, eine Illusion, dass mit Gewalt etwas zu erreichen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Auch in Israel hat das Nationalbewusstsein der Palästinenser stark zugenommen, doch es hat auch Grenzen. Wenn die Palästinenser in Israel eines Tages die Wahl hätten zwischen Israel und einem Leben in einem eigenständigen palästinensischen Staat, was würden sie wohl wählen? O-Ton Wadie I believe 99% would go for Israel … according to what I do. Sprecher 4 99% würden Israel wählen. Nicht aus Liebe, sondern weil sie es hier besser haben. Wenn ich jetzt die Wahl hätte zwischen Israel und Deutschland, ich würde Deutschland wählen. Das geschieht ja auch unter israelischen Juden, die jetzt nach Deutschland ziehen. Menschen wollen in Würde und Sicherheit leben. Würde bedeutet gute Lebensbedingungen ohne Verfolgung, ohne Diskriminierung auf Grund von Glaube oder Herkunft. Ich will behandelt werden auf Basis meines Handelns, nicht meiner Herkunft. Musik: Darbuka-Solo Autor: Und welche Konfliktlösung wünschen sich jüdische Israelis? Das Konzept der zwei Staaten wurde ursprünglich von einer Regierung ganz anderen Schlages lanciert, von den Führern der Arbeitspartei Yitzchak Rabin und Shimon Perez. Damals wurde dieses Konzept noch von den rechten Parteien bekämpft. Inzwischen träumt Dreiviertel der jüdischen Israelis von einer völligen Trennung von Juden und Arabern, sagen Umfragen. Eine Mehrheit sieht sich durch Palästinenser bedroht, nicht nur durch ihre politischen Forderungen nach nationaler Gleichberechtigung, sondern schlicht durch ihre bloße Anwesenheit. Die fortgesetzte Besiedlung der Westbank und das Zusammenwachsen der in der Zwei-Staaten-Regelung für die Trennung vorgesehenen Gebiete, massiv betrieben durch die Rechtsparteien, hat zum scheinbaren Stillstand geführt. Der oft zitierte Status quo manifestiert sich sowohl in der Besatzungspolitik als auch in der israelischen Außenpolitik. Die rechts-zionistischen Parteien begründen ihn immer wieder mit einem zum Glaubensgrundsatz geronnenen Argument: Palästinenser wollen keinen Frieden, sie wollen ganz Palästina für sich. Diese Ängste werden bewusst geschürt. O-Ton Dahliah What you have now … between different pieces of the Westbank Sprecherin 2 Es gibt zur Zeit eine Regierungs-Koalition aus Kräften, die eine Fortsetzung der heutigen Realität will, in der Israel der einzige souveräne Staat zwischen Mittelmeer und Jordan bleibt. Konkret bedeutet das, dass Israel alles kontrolliert und die Palästinenser sich in einigen halb-autonomen Enklaven, in den größeren Städten wie Ramallah, Jenin, Tulkarem, selbst verwalten. Das ist der Plan von Naftali Bennet, der mit seiner Partei „Jüdische Heimat“ der Regierung angehört. Er sagt offen: „lass uns die großen Siedlungsblöcke annektieren und dann die palästinensischen Wohngebiete einkapseln unter israelischer Souveränität. Es wird keinen palästinensischen Staat geben.“ Das würde nicht nur eine Trennung von Westbank und Gazastreifen bedeuten, sondern auch eine Trennung der Gebiete in der Westbank voneinander. Autor Die israelische Politologin und Meinungsforscherin Dahliah Scheindlin traf ich in ihrer Wohnung in Tel Aviv. Scheindlin gehört zu einer jüngeren jüdischen Generation, die sich dem traditionellen Ethos Israels, dem Kampf um Verteidigung und Ausbau des jüdischen Staates, nicht mehr verpflichtet fühlt. Sie schreibt einen Blog für die Internet-Zeitschrift „972“. 972 ist die Telefon-Vorwahl für Israel und die Besetzen Gebiete. Das Internet- Magazin versucht eine neue Gesamtperspektive zu bieten. Es spricht vor allem jüngere Leser auf beiden Seiten an, die den alten Nationalismen kritisch gegenüberstehen. Ich wollte mit Scheindlin über die politischen Trittbrettfahrer des Zusammenwachsens sprechen. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre haben eine Reihe von prominenten israelischen und palästinensischen Politikern ihre - sehr unterschiedlichen - Visionen eines Gesamtstaates lanciert. O-Ton Dahliah The most famous among them … different tiers of citizenship inside Israel. Sprecherin 2 Der bekannteste ist unser heutiger Staatspräsident, der offen für eine Ein-Staaten-Lösung eintritt, bei der Palästinenser israelische Bürger werden würden mit gleichen Rechten. Im Prinzip ist das ja eine gute Idee. Ein Staat, in dem alle Bewohner gleichgestellte Bürger sind unter zivilem Recht. Die Idee kommt zudem noch von einem Politiker, der zur Rechten gehört. Aber man muss auch das Kleingedruckte lesen. Die Palästinenser bekämen Wahlrecht erst nach einer gewissen Karenzzeit und mit gewissen Beschränkungen. Das würde bedeuten, dass wir Bürger mit unterschiedlichen Rechten bekämen, also eine abgestufte Staatsbürgerschaft, wie wir sie schon jetzt in Israel haben. Musik: Darbuka-Solo O-Ton Meron There is not going to be a Two-State-Solution … there can be no status quo. Sprecher 5 Es wird keine Zwei-Staaten-Lösung geben. Beide Seiten wissen das. Netanjahu hat sich vor kurzem zwar noch dafür ausgesprochen, aber wir wissen, dass er dagegen ist. Das Gespräch darüber ist nur dazu da, den Status quo in Stand zu halten. Ich frage mich: Will die Palästinensische Führung überhaupt noch einen eigenen Staat? Die jüdische will ihn sicher nicht. Was wir haben, ist ein Zwischenzustand, den die internationale Gemeinschaft nötig hat für ihre eigene Position. Die internationale Gemeinschaft, Länder wie Deutschland, finanzieren den Status quo. Ohne die Milliarde Dollar, die die Palästinenser jährlich von der Welt empfangen, gäbe es keinen Status quo. Autor Meron Benvenisti war einmal Bürgermeister von Jerusalem. Er wurde nach dem Sechstagekrieg unter Oberbürgermeister Teddy Kollek zum Verwalter der neu eroberten Stadteile im arabischen Jerusalem bestellt. Ich besuchte Benvenisti in seiner Wohnung hoch über Jerusalem, genau auf der Grenze der vor 67 geteilten Stadt. Von der Grenze ist schon längst nichts mehr zu sehen. Benvenisti schaut selbstkritisch auf seine Amtszeit zurück. Seitdem hat er sich als Wissenschaftler mit den Problemen ethnischer Konflikte und ihrer Lösungen befasst – in Nordirland, Südafrika, im Kosovo. In Israel wird er als Vater binationaler Konfliktlösungsmodelle gesehen. In seinen Augen ist die Debatte über einen palästinensischen Staat verlogen. Es gehe ohnehin nur um 25 Prozent der Palästinenser, die in der Westbank leben, und um ein Gebilde, das gar nicht lebensfähig wäre. O-Ton Meron Benvenisti What the Palestinians want is … to pretend that they are a state. Sprecher 5 Die Palästinenser wollen einen Staat in den Grenzen von 1967, aber in Wirklichkeit ist dieses Gebiet schon zur Hälfte annektiert, das sogenannte Gebiet „C“. Der Rest ist eine Ansammlung von isolierten Regionen, die keine einzige Minute als Staat überleben könnten. Wir haben es nicht mit zwei Staaten zu tun, sondern mit einer Situation, die es den 2,5 Millionen Palästinensern in der Westbank erlauben würde, so zu tun, als ob sie ein Staat sind. Autor Wie könnte eine gemeinsame Zukunft aussehen, die der historischen Einheit der 1948 geteilten und inzwischen wieder zusammengewachsenen Gebiete Rechnung trägt? O-Ton Meron Benvenisti So what you have is a ... closer to realization than partition. Sprecher 5 Wir haben es mit einer Situation zu tun, die der in Südafrika ähnelt. Es geht um die Verwirklichung kollektiver Gleichheit und die Schaffung von Kantonen für die einzelnen kulturellen Gruppen, mit offenen Grenzen. Nicht nur in der Westbank und im Gazastreifen. Auch in Israel selbst, zum Beispiel in Galiläa, in Gegenden, in denen Araber eine Mehrheit bilden. Aber das sind alles Luftschlösser. Die Juden werden das nicht zulassen. Aber hier liegt die Lösung. Eine Lösung, in der nicht das Land geteilt wird, sondern die Macht. Für viele ist das ein Traum. Ich denke allerdings, dass wir diesem Traum heute näher sind als einer Teilung des Landes. O-Ton Uri Avnery Ein gemeinsamer Staat ist Unsinn. Ein gemeinsamer Staat ist unmöglich. Es kann ein gemeinsamer Staat sein im Sinne eines Kolonialstaates. Das heißt ein Staat, in dem eine Minderheit, eine jüdische Minderheit, eine arabische Mehrheit unterdrückt und ausbeutet. Das haben wir ja im Grunde schon. Aber das einen gemeinsamen Staat zu nennen, ist eine Vergewaltigung der Sprache. Autor Uri Avnery wurde 1923 im Münsterland geboren, war lange Jahre Knesseth Abgeordneter, ein linker politischer Aktivist. Sein 90. Geburtstag vor einem Jahr gab den Anlass für eine Debatte. Ihm zu Ehren debattierten bei einer Podiumsdiskussion in Tel Aviv fünf israelische Politiker und Intellektuelle über die Frage: Wird Israel in 90 Jahren noch existieren? Alle Anwesenden, unter ihnen auch Meron Benvenisti, antworteten mit Nein. Niemand hielt die Idee vom jüdischen Staat Israel für dauerhaft lebensfähig. Schon heute hätten Juden zwischen Mittelmeer und Jordantal keine Mehrheit mehr. Ebensowenig glaubten die fünf an die Zwei-Staaten-Lösung. Menschen wie Ali Abu Awwad und Hanan Schlesinger und ihre Roots-Bewegung könnten neue Hoffnung geben. Für Uri Avnery allerdings nicht. Früher einmal ein unverbesserlicher Optimist, scheint er nun ein unverbesserlicher Pessimist geworden zu sein. O-Ton Uri Avnery Wir haben etwas erfunden, eine improvisierte Erfindung ohnegleichen, nämlich eine ewige Besatzung. Dieser Zustand der ewigen Besatzung hat ungeheure Vorteile. Erstens, wie gesagt, braucht man nicht nachzudenken, was geschehen wird. Man behält die besetzten Gebiete vorläufig, vorläufig für die nächsten 100, 200, 500 Jahre. Man braucht überhaupt keine Rechte der Bevölkerung einzuräumen. Keine nationalen Rechte, keine Bürgerrechte, eigentlich auch keine Menschenrechte, obwohl es internationale Gesetze gibt, die total ignoriert werden. Von allen. Ich meine die Amerikaner und die Deutschen verlangen doch nicht von uns, dass wir die internationalen Gesetze einhalten. Das ist eine wunderbare Erfindung. Autor Uri Avnery weist schon seit der Gründung Israels auf die Notwendigkeit hin, auch einen arabischen Staat zu schaffen. Ein solcher Staat war im UN-Teilungsplan vorgesehen. O-Ton Uri Avnery Als meine Freunde und ich 1949 anfingen, von einem arabischen Staat neben einem palästinensischen Staat neben dem israelischen Staat zu sprechen, war unsere Idee nicht, die beiden Völker zu trennen, wie man heute oft sagt, sondern im Gegenteil. Wir glaubten schon damals – auch heute - an zwei Staaten, die nebeneinander leben mit offenen Grenzen mit einer gemeinsamen Wirtschaft und die langsam so zusammenwachsen. Ich glaube heute noch daran. Musik: Darbuka-Solo Absage Die ungewollte Nation. In Israel und Palästina ist etwas zusammengewachsen, was nicht zusammen gehören will. Ein Feature von Daniel Cil Brecher. Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. Es sprachen: Michael Evers, Axel Gottschick, Josef Tratnik, Marietta Bürger, Isis Krüger, Bernt Hahn, Volker Risch und Rainer Delventhal Ton und Technik: Ernst Hartmann und Beate Braun Regie und Redaktion: Karin Beindorff 21 Brecher: Stamford Hill 12 Brecher: Ungewollte Nation 21