COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 05. Oktober 2009, 19.30 Uhr Ein starkes Netz ? Kinderschutz drei Jahre nach dem Fall Kevin Von Barbara Leitner Musik: sanft Take: Röpke Kevin war in der Fürsorge des Staates. Das Jugendamt war als Vormund eingesetzt und das muss nach meinem und unserer aller Verständnis bedeuten, dass der Staat wesentlich die Verantwortung für das Kind übernimmt. Take: Nachricht Bremens Sozialsenatorin Röpke ist nach schweren Vorwürfen gegen ihre Behörde zurückgetreten. Wie die SPD-Politikerin mitteilte, übernimmt sie damit die politische Verantwortung für den Tod eines zweijährigen Jungen. Das Kind, das sich in der Obhut des Jugendamtes befand, war gestern in einer Bremer Wohnung tot aufgefunden worden. Take: Böhrensen Wir müssen, das ist meine feste Überzeugung, das ganze Hilfe-System zum Schutz von Kindern auf den Prüfstand stellen. Wir müssen alles Menschenmögliche tun, damit so etwas nicht wieder passieren kann. Sprecher vom Dienst: Ein starkes Netz ? Kinderschutz drei Jahre nach dem Fall Kevin Eine Sendung von Barbara Leitner Sprecherin: Kevin aus Bremen schafft es im Oktober 2006 in alle Medien. Was sonst nur in Zahlen, kurzen Meldungen und dicken Akten Ausdruck findet: vernachlässigte, misshandelte, getötete Kinder bekommt Namen und Gesicht, löst Erregung und Entrüstung aus. Kevin, Lea-Sophie, Jessica - Vornamen, die mit einem Mal seltsam vertraut klingen. Politiker nennen die Kinder in ihren Reden beim Namen. Take: Merkel Wir wollen die Erziehungskraft der Familien stärken. Dabei dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass eine immer größer werdende Zahl von Familien ihre Erziehungsverantwortung nicht allein wahrnehmen kann. Schicksale, wie das des kleinen Kevin in Bremen zeigen das. Fassungslos haben wir sie verfolgt. Jeder einzelne von uns, aber auch der Staat: Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen oder wegschauen. Wir müssen uns einmischen. Musik: Wechsel von leise auf laut Take: Merchel Dieser so genannte Fall Kevin war eine Wende, weil er viel aufgerüttelt hat. Sprecherin: Joachim Merchel, Professor für Organisation und Management in der Sozialen Arbeit. Take: Merchel Die Jugendhilfeakteure habe sich durchaus gefragt, wie kann das passieren, dass ein einzelner Mitarbeiter in einer Behörde so schludrig arbeitet und es fällt im Grunde kaum auf. Da ist eine Menge an Nachdenken der Profession über sich selbst passiert und auch Nachdenken über den Zustand der Organisation Jugendamt und der Verfahren im Jugendamt. Sprecherin: In einem Jugendamt in Deutschland zu arbeiten ist schon auf Grund der Geschichte des Amtes keine leichte Aufgabe. Aus der Armenfürsorge und der Strafjustiz hervorgegangen, gelten die Mitarbeiter lange als "die, die die Kinder wegnehmen". Mühsam polieren sie in den 80er und 90er Jahren das Image der kommunalen Behörde auf. Das Jugendamt wird zum Dienstleister für Eltern. Mütter und Väter können Unterstützung erbitten, wenn sie meinen, sie kommen mit der Erziehung ihrer Kinder allein nicht weiter. Doch auf diese Weise erfüllt das Jugendamt zur Jahrtausendwende nicht seine Wächterfunktion. Immer öfter kommen Fälle von Kindesvernachlässigung oder Verwahrlosung ans Licht. Deshalb stellt eine Änderung des Sozialgesetzbuches bereits 2005 klar: Bei Anzeichen von Kindeswohlgefährdung müssen die Jugendämter sofort einzugreifen und mit Kita, Schule, Gesundheitswesen, Polizei und den Gerichten zusammenarbeiten. Take: Merchel Die haben plötzlich alle überlegt, was heißt das jetzt, wenn das so eine große Bedeutung hat, werden wir dieser Bedeutung gerecht. Müssen wir unsere Arbeitsweisen überprüfen. Das hat eine Menge bewegt in den Jugendämtern, obwohl materiell nur relativ wenig neu geregelt worden ist. Sprecherin: Jugendämter sind kommunale Behörden. Deren verfassungsgemäße Selbstverwaltung verlangt, dass in jedem Rathaus eigenständig entschieden wird, wie die Kinder- und Jugendhilfe aufgebaut ist, wie sie mit den bedürftigen Familien arbeitet und ihre "Fälle" kontrolliert. Zudem ist ihr Etat davon abhängig, wie wichtig der Bürgermeister die Förderung von Kindern nimmt und wie die Kassenlage vor Ort ist. Die ist in vielen Kommunen seit langem schlecht. Nicht nur der Kinder- und Jugendarbeit, auch den ambulanten Hilfen für Familien wurden in den zurückliegenden Jahren die Mittel entzogen. Das Jugendamt in Bremen - so brachte der "Fall Kevin" zu Tage - entschied nicht fachlich, sondern nach Kostenanalyse über Kinderschutzfälle. Kevins Leidensgeschichte belegt auch, sie ist nicht das Ergebnis des Versagens eines einzelnen Mitarbeiters. Take: Brößkamp Was aus meiner Sicht problematisch ist, ist, dass es eine Reihe von Jugendämtern gibt, wo erst nach dem Eintritt besonderer Fälle von Kindesvernachlässigung oder Kindstötung an dieser Spirale irgendwie der personellen Ausstattung gedreht worden ist. Sprecherin: Amseln Brößkamp leitet im Jugendamt Plön, in Schleswig Holstein, den Allgemeinen Sozialen Dienst, kurz ASD genannt. Der ASD spürt vor allem die höhere Sensibilität für Kinderschutz. Immer mehr Fälle werden angezeigt. Das Amt Plön stellt zwei neue Mitarbeiter ein. In anderen Jugendämtern schreiben Mitarbeiter Überlastungsanzeigen, weil ein Sozialarbeiter bis zu 100 Familien betreuen muss. Take: Brößkamp Gerade wissend um diese Diskussion, auch um den Druck der persönlichen Verantwortung ist das enorm schwer, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen. Kann ich die Situation, die ich beobachtet habe noch tragen, oder muss ich dieses Kind raus nehmen. Und wenn ich mich wirklich davon leiten lasse, ausschließlich von diesem Aspekt der fachlichen Bewertung und sage nein, dieses Kind bleibt erstmal da. Dann steht trotzdem ein enormer Druck, der sinngemäß so aussieht, und was ist mit mir, wenn meine Einschätzung nicht richtig gewesen ist, wenn es doch letztendlich dazu kommt. Sprecherin: Anselm Brößkamp ist ein ruhiger, bedachter Mann. Groß, mit weißem Haar hält er freundlich den Blick und wird auch seinen Mitarbeitern das Gefühl vermitteln: Ich vertraue Dir und ich sorge dafür, dass du dich im Team beraten kannst und nicht allein stehst, wenn es hart auf hart kommt. In seinem Amtsbezirk kommt es im Dezember 2007 zu einer Tragödie. Eine schizophrene Mutter bringt ihre fünf Kinder um, und das, obwohl der ASD wiederholt Hausbesuche durchführt und mit dem Gesundheitsdienst im engen Kontakt steht. Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung sagt der Sozialpädagoge: Auch der beste Kinderschutz kann nicht verhindern, dass Kinder zu Tode kommen. Es gibt Grenzen. Der 54-Jährige hält es für falsch, Kinderschutz von diesen extremen Fällen her zu denken. Der Alltag seines Amtes sieht anders aus. Take: Brößkamp Da erleben wir Eltern, die ihr Kind neben sich legen, dabei Fernsehen gucken und das Kind füttern. Das ist ja erstmal at hoc überhaupt kein Grund, ein Kind von dieser Mutter wegzunehmen. Aber es führt auf Dauer, wenn die Mutter permanent diesen Prozess fortsetzt, doch zu einer erheblich emotionalen Verwahrlosung dieses Kindes. Dass man sich wirklich die Frage stellen muss, wenn die Mutter Hilfen nicht annehmen kann, geht das tatsächlich auf Dauer weiter. Und da gibt es nicht den Tag X sozusagen, an dem das passiert, sondern dass muss permanent neu eingeschätzt werden. Sprecherin: Das ist äußerst subjektiv. Deshalb verabschieden sich die Jugendämter gerade in diesem Bereich mehr und mehr von der Improvisation: Führen das Mehr-Augen-Prinzip für die Fallberatung ein, vernetzen sich regional mit verlässlichen Partnern, beginnen Erkenntnisse der Forschung umzusetzen und sich nach klaren und überprüfbaren Verfahren und Regeln zu organisieren. Und das ist notwendig. Joachim Merchel von der Fachhochschule Münster. Take: Merchel Es gibt viele Fälle, wo Mitarbeiter im Jugendamt sagen, da ist ein Fall so eben noch mal gut gegangen, knapp an der Katastrophe vorbei gerutscht. Und wie kann man diese Fälle analysieren? Wie kann man da sprachfähig werden? Wie kann man daraus lernen, damit solche Fehler künftig weniger passieren? Also diese Form von Fehlermanagement, das muss in Jugendämtern besser installiert werden und da gibt es auch die ersten Projekte. Sprecherin: Projekte, die auch vom Familienministerium initiiert wurden und in denen Wissenschaftler und Praktiker aus Jugendhilfe wie Gesundheitswesen an einem Tisch sitzen, das Wissen ihres Faches, aber auch seine Grenzen offen legen und im Miteinander neue Verfahren finden. Diese Begegnung braucht eines: Zeit. Zeit, die die Politik den Akteuren des Kinderschutzes seit dem "Fall" Kevin nicht lässt. Regie: wie aus Lautsprechern - akustisch abheben Take: Merkel Ab 1. Juli wird es eine zusätzliche Untersuchung für dreijährige Kinder geben. Take: v. d. Leyen Wer nicht kommt, das kann man ganz leicht im Melderegister abgleichen, wird ein zweites Mal aufgefordert und dann geht das Jugendamt hin und guckt nach... Sprecherin: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Ursula von der Leyen im Jahr 2007. Auf eines hatten Kevin und die anderen in die Schlagzeilen geratenen Kinder aufmerksam gemacht: Es gibt eine erhebliche Lücke zwischen dem, wie Hebammen, Kinderärzte und Pädagogen die Kinder und die Eltern kennen lernen und dem, was ein Jugendamt erfährt. Take: Thyen Wir haben das Gesundheitswesen, was abgeschottet ist gegen die Jugendhilfe. Und die Jugendhilfe ist völlig abgeschottet gegenüber dem Schulsystem. Und jeder hat seine eigenen Regelungen und Bürokratien und Datenschutzaspekte. Das ist historisch so gewachsen und vieles davon ist auch gut. Also ich möchte auch nicht, das jede Familie zu einer gläsernen Familie wird, indem jeder beliebig irgendwelche Daten austauschen kann. Aber es braucht Möglichkeiten, es braucht Ressourcen in dem Bereich und diese Arbeit kostet auch Zeit. Sprecherin: Professorin Ute Thyen ist Kinderärztin und stellvertretende Direktorin der Universitätskinderklinik Schleswig-Holstein in Lübeck. Anerkennend beschreibt sie, wie im benachbarten Dänemark multiprofessionelle Teams von Gesundheitsschwestern, Psychologen, Ärzten alle Kinder willkommen heißen, regelmäßig untersuchen und dadurch auch schützen - gleich sie ob aus der Unterschicht- oder Oberschichtfamilie stammen. Wenn nötig, besucht das Team die Familie auch öfter als zehnmal, bevor ein Kind zur Schule kommt. Neben den Kinderärzten, die natürlich auch praktizieren, sichert dieses System eine gute Gesundheitsfürsorge. Ähnlich funktioniert es in Finnland, Frankreich, Großbritannien. Take: Thyen In Deutschland ist es halt so, dass die Ärzte so stark genutzt werden. Jetzt auch mit diesen verbindlichen Früherkennungsuntersuchungen, immer ein bisschen unter diesem Argument, der Doktor ist ja eh da. Sprecherin: Dabei hält es Ute Thyen für absurd zu glauben, dass Eltern, deren Kind kurz vorm Verhungern ist, in ihrem Wartezimmer sitzen und auf eine Vorsorgeuntersuchung warten. Zwar erreichen die Ärzte durch die vom Familienministerium neu eingeführte Untersuchung U 7a mehr Eltern, vor allem auch aus Migrantenfamilien, und sie hilft, schneller körperliche Fehlentwicklungen zu entdecken. Doch sie dient nicht dem Kinderschutz, betont die sanfte 52-Jährige. Es kommt vor, dass verzweifelte Eltern ärztliche Hilfe suchen, weil sie sehen, was mit ihrem Kind passiert ist, nachdem sie es stark geschüttelt, grob geschubst oder brutal geschlagen haben. Was kann der Arzt über die medizinische Versorgung hinaus tun? Take. Thyen Und nie ging es darum, dass die Leute da nicht hingucken wollten. Sondern sie haben in der Regel gesagt, ich brauche Handwerkszeug. Sprecherin: Die Ärztin stellt eines klar: Kindesmisshandlung oder Verwahrlosung ist keine medizinische Diagnose wie ein Knochenbruch. Sie zu erkennen, verlangt mehr als nur eine Verletzung zu sehen. Da geht es auch um eine Dynamik in der Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind, geht um es Familiengeschichte, materielle, soziale, emotionale Ressourcen, eine Entwicklung. Und wenn all das in der Praxis eines niedergelassenen Arztes mit 50 wartenden Patienten und ohne entsprechende Bezahlung durch die Krankenkassen aufgeklärt ist, stellt sich die nächste Frage: Wie drückt ein Arzt seine Beunruhigung aus und bleibt im Kontakt mit den Eltern? Wie sagt er ihnen, dass er helfen will, es aber nicht allein kann? Ute Thyen bildete in den vergangenen Jahren etliche ihrer Kollegen auf diesem Gebiet fort, wie übrigens auch Erzieherinnen, Lehrerinnen, Richterinnen von erfahrenen Kinderschützern geschult werden, Kindeswohlgefährdungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Take: Thyen Dann ist der nächste Schritt, dass der Arzt sagen müsste und wissen Sie was, ich kenne da jemanden. Ja, die heißen frühe Hilfen. Und die brauche ich nur anrufen und dann kommen die mal vorbei bei ihnen. Oder: die haben da so ein Elterncafe in dem und dem Stadtteil. Und die sind da donnerstags morgens um neun und da gehen sie jetzt doch einfach mal vorbei. Oder da ist ein Elternzentrum, oder so was. Und dann kommen sie doch nächste Woche wieder zu mir und sagen mir, wie es gelaufen ist, ob das eine gute Sache war. Regie: akustisch abheben Take: v. d. Leyen Ich möchte ihnen heute das neu gegründete "Zentrum Frühe Hilfen" vorstellen. Es handelt sich um einen zentralen Baustein im Konzept der Bundesregierung, um Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen. Es geht vor allem darum, die Strukturen vor Ort besser aufeinander abzustimmen. Das Programm selber ist mit 10 Millionen ? ausgestattet und befristet bis zum Jahr 2010. Sprecherin: Familienministerin Ursula von der Leyen bei der Eröffnung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen im Juli 2007. Es stand bereits ein Jahr vor dem Fall "Kevin" in der Koalitionsvereinbarung, dieses Vorhaben zu realisieren. Take: Sann Es geht da drum, Türen auf zumachen, zu den Familien zu sagen, wir sind da, wir bieten viel an, kommt vorbei, wenn ihr Fragen habt, wenn ihr Unterstützung braucht. Also es ist mehr so, ja die Tür zum Jugendamt so ein Stück weit weiter auf machen. Sprecherin: Alexandra Sann ist Psychologin. Sie vertritt das Deutsche Jugendforschungsinstitut, das gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Träger des Zentrums ist. Dieses Nationale Zentrum ist eine Art Think thank der Jugendhilfe. Die Wissenschaftler vom Münchner DJI erforschen gemeinsam mit Kollegen der Bundeszentrale, welche Unterstützung Eltern von Säuglingen und kleinen Kindern in Deutschland gegenwärtig finden können, welche wie wirken und welche internationalen Erfahrungen in Deutschland genutzt werden können. Gleichzeitig begleiten sie in allen Bundesländern sehr verschiedene Modellprojekte, in denen Familien nach der Geburt eines Kindes unterstützt werden. Nicht alles davon ist neu, kritisierte das Bundesjugendkuratorium und lohnenswert wäre gewesen, das zu untersuchen, was es schon gibt. Dennoch: Durch diese verschiedenen Angebote sollen Eltern erfahren und erleben, wie sie ihr Kind wahrnehmen, fördern, die Beziehung zu ihm gestalten können - ein Wissen, das vielen jungen Müttern und Vätern fehlt. Take: Sann Es muss nicht immer so sein, dass quasi das Existenzielle schon gefährdet ist, dass das Kind keine Nahrung bekommt oder schwer körperlich misshandelt wird. Es gibt auch diese subtileren Formen. Und die zu erkennen, ist sehr sehr schwierig. Und da auch eine Grenze zu finden, wo ist das jetzt noch individueller Erziehungsstil. Ist das noch tolerabel oder ist da schon eine Grenze überschritten. Das sind auch Prozesse, wo sich so was ja über viele Monate und Jahre hin summiert zu einer Vernachlässigung im Ergebnis. Sprecherin: Durch frühe, niedrigschwellige Kontakte von Hebammen, Krankenschwestern, Familienbegleitern sollen Defizite überbrückt werden. Studien sagen, dass eine nur drei Monate währende Elternbegleitung in den ersten Lebensmonaten eines Säuglings die Sensibilität der Mutter spürbar erhöht und dadurch beide zufriedener sind. Solche Formen von Intervention gelten deshalb als tatsächliche "Frühe Hilfen". Durch sie können spätere Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten vermieden oder gemildert werden, und damit auch hohen Kosten in der Jugendhilfe. In Deutschland aber gibt es diese Hilfen fast nur in Modellprojekten: Take. Thyen Es ist kein systematisch in der Fläche verankertes System. Und es gibt anders als bei den Hilfen auf Erziehung nicht wirklich einen Rechtsanspruch darauf. Also wenn Sie jetzt als Eltern sagen würden, ich möchte gerne frühe Hilfen, dann ist das nicht einklagbar, wenn es das jetzt gerade mal in ihrer Nachbarschaft gar nicht gibt. Also das ist so eine reine Angebotsstruktur, es ist sehr häufig noch sehr mittelschichtsorientiert. Also die Leute, die in der Lage sind, sich Hilfen zu suchen und so was auch gerne annehmen. Da funktioniert das ohne Probleme. Aber Zugangswege zu schlecht erreichbaren, sprich sozial marginalisierten Familien, da habe ich noch ein großes Fragezeichen, ob das wirklich effektiv funktioniert. Dass die frühen Hilfen in solche Familien rein gehen. Sprecherin: Prof. Ute Thyen leitet den wissenschaftlichen Beirat für das Nationale Zentrum Frühe Hilfen und kennt die Evaluationsberichte. Die verraten: So wertvoll die Ansätze auch sind, die in den zurückliegenden Jahren erprobt wurden: Gerade mal einige Tausend Familien wurden damit angesprochen. Verallgemeinerbare Strategien, wie es gelingt, auf belastete Familien zuzugehen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen, fehlen. Dazu kommt, dass diese vom Bund geförderten Modellprojekte 2010 auslaufen, es ungewiss ist, ob Länder oder Kommunen sie weiter fördern. Take. Thyen Da sagen die Ärzte natürlich, ich guck da genau hin. Ich sehe das auch. Aber was soll ich denn machen. Es gibt keine Hilfen, die ich dieser Familie anbieten kann in der Fläche. Also da bräuchte man ja präventive Hilfsangebote. Die kriegt man nicht, wenn man nicht schon nachweisen kann, dass irgendwas passiert ist. Da muss schon ein defizitärer Zustand ja eingetreten sein, damit diese Eltern Hilfen zur Erziehung kriegen. Oder ich muss direkt eine Kindeswohlgefährdung machen, wo ich vielleicht noch ganz weit von entfernt bin. Ich möchte gerade handeln, damit keine Kindeswohlgefährdung eintritt. Regie: akustisch abheben - auf treibende Musik Take: Kohaupt Wenn man sieht, dass ein Kind in Not ist, dass es ihm nicht gut geht, dann kommt man selber in Not. Sprecherin: Georg Kohaupt, Familienberater und Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren. Kinder in Not erinnern uns an die selbst als Kind erfahrene Not. In uns allen gibt es Gedächtnisspuren von einem "zuwenig" - zu wenig gesehen, gestillt, getragen, gestreichelt, gefördert werden. Diese Erinnerungen mögen vergessen, verdrängt, vielleicht auch verheilt sein. Und Eltern - darin ist sich die Fachwelt einig - müssen auch nur ausreichend gut zu sein, damit es den Kindern gut geht. Dennoch schreit der selbst erfahrene Mangel innerlich in Momenten, in denen wir mit vernachlässigten oder misshandelten Kindern konfrontiert werden. Kein schönes Gefühl. Das muss weg. Handeln, sich als wirkmächtig erleben, schnelle Lösungen finden. Regie: akustisch abheben - auf treibende Musik Take v. Leyen Wir haben Fälle gehabt, wo Kinder unter den Augen des Jugendamtes verhungert sind über Monate. Aus diesen Erfahrungen heraus ist es eine Regelverpflichtung das Kind anzuschauen und auch sein häusliches Umfeld. Sprecherin: Ursula von der Leyen Anfang 2009, als sie den Entwurf des inzwischen gescheiterten Bundeskinderschutzgesetzes vorstellte. Take: Kohaupt Kinderschutz ist kein Kinderspiel. Oft hat man die Vorstellung, wenn man weiß, da ist ein Kind in Not, dann weiß das Jugendamt es und dann wird alles gut. Dann wird gar nicht alles gut. Dann fängt es an. Dann muss man gucken, welche Hilfe gibt es da. Das kostet Geld. Das muss auf den Weg gebracht werden. Die Hilfseinrichtungen müssen zur Verfügung stehen. Sprecherin: In den freundlich hellen Räumen des Kinderschutzzentrums in Berlin- Hohenschönhausen empfängt Georg Kohaupt jene Eltern, die im Umgang mit ihrem Kind etwas Neues lernen wollen oder müssen - um ihr Kind aus dem Heim zurück zu bekommen. All diese Eltern lieben ihre Kinder! Und sind doch enttäuscht oder verzweifelt, weil sie es nicht beruhigen können, es bockig ist, sich in ein Monster verwandelt. Oft ist das Leben der Eltern selbst voller Brüche, sind sie ausgrenzt, chancenlos auf dem Arbeitsmarkt, seit Generationen arm und ohne unterstützende Familienbande. Take: Kohaupt Das Schwierige ist, mit den Eltern, die das nicht besser können auch mitzufühlen. Also den Blick vom Kind weg zu bekommen, weil das kennen die Eltern schon. Dass alle gucken, was machen die denn da und dass alle sich beschweren, die Kinder sind zu laut. Im Treppenhaus machen sie Randale, im Supermarkt klappt es auch nicht. Sondern sozusagen einen Blick darauf zu nehmen, wie schwer es die Eltern, die dort scheitern mit ihrem Kind haben. Das ist schwierig, dafür brauchen Nachbarn, Lehrer, Erzieherinnen Anlaufpunkte, wo sie möglicherweise darüber sprechen können, was kann ich da selber machen? Trau ich mir das zu? Wie kann ich da Kontakt aufnehmen? Gefragt sind erstmal nicht schnelle Meldung und dann Jugendamt geh du dort hin, sondern gefragt ist Zivilcourage und auch Nachdenken darüber, wie kann ich selber hilfreich sein, um Brücken zu bauen. Sprecherin: Auch das führt gegenwärtig zu einer großen Anspannung in den Jugendämter: dass sie dabei sind, diese Kontaktstellen zu schaffen. Dort können sich Pädagogen, Ärzte und Richter konsultieren, im Interesse des Kindeswohls an ihrem jeweiligen Platz zu entscheiden und zu handeln. In diesem Punkt hat nach Auffassung von Georg Kohaupt die Debatte um den Kinderschutz deutlich Verfahren und Verantwortlichkeiten geklärt, die Professionen enger zusammenrücken lassen. Doch der Preis der dafür bezahlt wird, beunruhigt den erfahrenen Experten. Zum einen passt ihm die Pauschalverurteilung für die schlecht bezahlten, mit Supervision nicht verwöhnten, oft ausgebrannten Mitarbeiter der Jugendhilfe nicht. Kein Wunder, dass es in diesem Feld Nachwuchssorgen gibt. Und wieder schaut er auf die bedürftigen Eltern. Take: Kohaupt Diese ganze Meldehysterie, die besteht, hat diese Seite in der Öffentlichkeit völlig zum Verschwinden gebracht. Also Jugendämter als Hilfeeinrichtung, als Einrichtung wo sich Familien hinwenden können, wo sie Unterstützung bekommen, wo jemand auch in die Familie kommt, um mit ihnen etwas zu machen, sind in der Öffentlichkeit immer weniger präsent. Bei den Leuten, die es mit ihren Kindern nicht gut machen, die ja so zwei Seiten haben, sie merken, Mensch, ich brauch Hilfe, und sie merken, wenn ich das irgendwo erzähle, was passiert dann? Erstens bekomme ich natürlich Vorwürfe, die Stirn wird gerunzelt, nimmt man mir das Kind weg? Manchmal ist das strafbar was die machen. Komm ich ins Gefängnis? Das heißt, im Moment basteln wir sehr daran, diese Familien zu isolieren statt sie zu ermutigen und das heißt, eine Veränderung im Kinderschutz die nur auf Meldung setzt, betreibt unbewusst ganz stark die Isolierung dieser Familien und ist deswegen für den Kinderschutz auch schädlich. Wir brauchen beide Säulen. Sprecherin Gleichzeitig zeigt die Debatte der zurückliegenden drei Jahre: So wenig ein Jugendamt nach Aktenlage über das Schicksal eines Kindes entscheiden kann, so wenig kann ein Ministerium von oben herab die dringend nötigen bundeseinheitliche Regelungen verordnen und eine Berufsgruppe misstrauisch ans Gängelband nehmen. Statt nur überhastet zu reagieren, um Kinder vor akuter Gefahr zu schützen, muss sich die Gesellschaft darüber verständigen, was ihr Prävention und damit das Leben von Kindern wert ist, meint Joachim Merchel.: Take: Merchel Kommunal werden wir eine intensive Debatte führen müssen: Was kosten frühe Hilfen? Warum brauchen wir frühen Hilfe und wie viel Geld muss da hinein gegeben werden, damit solche Problemzuspitzungen frühzeitig erkannt und vermieden werden können. Sprecherin: Das ist umso dringender, je mehr sich die Wirtschaftskrise in den kommunalen Haushalten bemerkbar macht und gleichzeitig mehr Familien in Notlagen treibt. Beinahe in allen Kommunen des Landes stiegen in den zurückliegenden Jahren die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung. Hilfen, die gewährt werden müssen, wenn ein Kind akut gefährdet ist: Oft für kurzfristige, äußerst bedenkliche Inobhutnahmen. Diese Hilfen sind teuer, aber Pflichtaufgaben für eine Kommune - und wie der Fall Kevin zeigte, stellte Bremen dafür nicht ausreichend Haushaltsmittel bereit. Heute den Kämmerern eine Förderung für Projekte zur Frühen Hilfen abzuluchsen könnte noch schwerer werden. Take. Thyen In Schleswig- Holstein kann ich Ihnen ganz klar sagen, dass viel in Bewegung gekommen ist, aber es hat keinen Cent Geld mehr gegeben in diesem System, sondern es musste alles mit vorhandenen Mitteln durch Umbau geschaffen werden. Das ist manchmal ganz gut so. Das man sagt, wir haben nicht mehr Geld, aber wir müssen die Aufgaben dann halt anders verteilen. Sprecherin: Meint die Gesellschaft es ernst damit, die Lebensqualität von Kindern zu verbessern, muss die Politik andere Prioritäten setzen, sagt Ute Thyen. Take. Thyen Bei dieser frühen Kindheit und dieser chronischen Unterfinanzierung dieses Bereiches, der ja vollständig durch nur Familien abgedeckt wurde in den ganzen letzten 50 Jahren. Und jetzt plötzlich sozusagen will die Gesellschaft, das Gemeinwesen da mehr hingucken und die Kinder viel früher abholen. Das hat ja auch viel zu tun mit den Kinderrechten. Also dass das Bewusstsein ankommt, diese Kinder haben eigene Rechte auf eine gute Entwicklung, auf Erziehung, auf Bildung. Und das die Gesellschaft sich verantwortlich fühlt. Das ist ein ganz toller Prozess, aber da muss man wirklich ziemlich tief in die Tasche greifen, um das umzusetzen. Sprecherin Dabei ist der Bund nicht zuständig für den Kinderschutz. Das sind die Länder und die Kommunen. Und wieder wird die Verantwortung hin und her geschoben und - wie es nicht anders bei der Bildung geschieht - an halbherzigen Modellen gestrickt. Dabei gibt es in der Diskussion um das gescheiterte Bundeskinderschutzgesetz auch ermutigende Signale. Denn das fiel nicht nur wegen parteipolitischer Querelen durch. Vielmehr wehrten sich dagegen Kinderschützer, Jugendamtsvertreter, Ärzte, Juristen, Kommunalpolitiker gleichermaßen. Kinderschutz in diesem Land - so ihre Botschaft - kann sich doch nicht nur an solchen Eltern wie denen von Kevin, Jessica oder Lea- Sophie messen. Take: Kohaupt Familien früh zu unterstützen, das mit ihren Kindern gut zu machen, darf nicht nur unter den Gesichtspunkten von Frühwarnsystem und Kinderschutz gesehen werden. Das ist auch eine Diskriminierung, also ich helfe dir dein Kind gut zu erziehen, damit du es nicht misshandelst ist keine gute Botschaft. Sondern ich helfe dir, weil wir denken, dass ist ein interessantes Unterfangen und wenn du willst kannst du dabei Unterstützung brauchen. Sprecherin: Georg Kohaupt entwirft ein Bild von einer anderer Art Gemeinschaft: Eine, in der Kinder willkommen sind, auch mal die Nachbarn für sie einstehen und es keiner Melderegister bedarf, weil man sich gegenseitig hilft. Das Jugendamt übernimmt dabei auch nicht mehr die Rolle der Feuerwehr, eher die eines Impulsgebers, Unterstützers. Take: Kohaupt Jetzt hat in Deutschland ein Prozess angefangen, wo Kinderschutz in vielen Jugendämtern dialogisch entwickelt wird. Unter Beteiligung, nebenbei nicht nur der Fachleute, sondern hoffentlich gelingt es auch von den Nutzern der Jugendhilfe und den Eltern, deren Kinder nun geschützt werden müssen. Die sollen auch sagen was sie brauchen, was ihnen gefällt, was sie gern anders hätten. Also das ist ein Prozess, von dem ich mir etwas verspreche und möglicherweise kann man daraus auch Verallgemeinerungen, die dann auch rechtliche Form gewinnen könnten, schließen. Also vorsichtig alle mit ins Boot nehmen, eher in einem demokratischen Dialog als ex cathedra von oben. Das braucht auch Zeit. Und es braucht sozusagen auch Ruhe und Gelassenheit und nicht Aufgeregtheit politischer Tageskämpfe. Sprecher vom Dienst: Ein starkes Netz ? Kinderschutz drei Jahre nach dem Fall Kevin Eine Sendung von Barbara Leitner Es sprach: Nina West Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 Am kommenden Montag hören Sie: Rote Ampel für Grüne Gentechnik? Nutzen und Schaden von Pflanzen aus dem Genlabor Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 17