COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport vom 11.5.2010 Es geschah in... Leipzig - Vor und nach der Wende. Medienwandel in Ostdeutschland Autor: Martin Reischke Red.: C. Perez Atmo I Druckerei-Atmo Sprecher: Freitagabend in der Zeitungsdruckerei Leipzig, kurz nach neun. Andruck der Leipziger Volkszeitung, die Druckwalzen rotieren. Atmo II Klackern Förderkette Sprecher: Über eine Förderkette werden die frisch gedruckten Zeitungen durch die riesige Druckereihalle transportiert. Ein beruhigendes Geräusch, gleichmäßig und exakt. Birger Zentner hatte schon seit 14 Jahren als Redakteur für die LVZ - die Leipziger Volkszeitung - gearbeitet. Dann kam die Wende. Die Druckwalzen rotierten zuverlässig weiter, aber Zentners Journalistenleben war längst aus dem Takt geraten. 1. O-Ton Birger Zentner Das war die eine Seite, wir waren also persönlich verunsichert, aber wir waren natürlich auch in unserer Denkweise verunsichert. Wie gehen wir mit Journalismus um? Was kann Journalismus, was soll Journalismus, was darf Journalismus? Für uns waren damals ja Themen wir Pressefreiheit, das Thema hat ja nicht für uns gestanden, das kannten wir ja nicht. Die Pressefreiheit, die wir in der DDR hatten, war die Pressefreiheit, die die SED zugelassen hat. Sprecher: Als Journalist der Leipziger Volkszeitung war Birger Zentner besonders eng an die Linie der SED gebunden. Denn die LVZ gehörte neben 16 weiteren Tageszeitungen zum Presse-Imperium der SED, wurde von der Partei selbst herausgegeben. Die wichtigsten Positionen in der Zeitung waren mit ideologiefesten Genossen besetzt. Auch Zentner war Mitglied der SED - eine Einstellungsvoraussetzung für die Mitarbeit in der Parteizeitung. Nur: Welche Position er beziehen soll, weiß er 1989 selbst nicht mehr so genau. 2. O-Ton Birger Zentner Also: Wie ist denn das jetzt eigentlich mit dir selber, du hast jetzt, also: So und so viele Jahre warst du eigentlich der Überzeugung, Sozialismus ist das gesellschaftliche System, dem die Zukunft gehört, und plötzlich stellst du fest: Es ist nicht so, es ist anders, und du versuchst auch für dich selbst immer noch ein Stück zu retten davon, andererseits siehst du, dass das nicht zu retten ist, und du merkst auch, dass das falsch gewesen ist, also es ist eine sehr zerrissene Situation damals gewesen im Herbst 1989. Sprecher: Die Leipziger Volkszeitung ignoriert die Entwicklungen in ihrer Heimatstadt, so gut es geht. Die ersten Montagsdemos in der Leipziger Innenstadt werden in kleinen Randnotizen als "rechtswidrige Zusammenrottungen" diffamiert. Doch in der Redaktion gärt es längst. 3. O-Ton Birgit Schöppenthau Wir haben gesehen, dass die sozialistische Planwirtschaft durchaus ihre Grenzen hat, all diese Gemengelage ist an den Leuten, die auch im Familienleben..., die auch mit der Straßenbahn unterwegs waren, nicht vorbei gegangen, wir haben es gesehen. Dass die Zeitung so militant nach außen ne Geschlossenheit, die die Partei symbolisieren wollte, auch nach außen getragen hat, das hat noch ne gewisse Weile funktioniert, bis dann Leute wie ich im Frühjahr 89 gesagt haben: Das ist nicht so, ich kann nicht das schreiben, was ihr von mir verlangt. Sprecher: Als Jugendredakteurin soll Birgit Schöppenthau über das 89er-Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin berichten. Weil sie nicht mehr über jubelnde Menschenmassen schreiben will, wo gar keine sind, wird ein Disziplinarverfahren gegen sie eröffnet. Schöppenthau lenkt ein. 4. O-Ton Birgit Schöppenthau Man muss sich vorstellen, mir ist im Mai 89 mit Berufsverbot gedroht worden - ich wusste nicht mal, was Berufsverbot ist, und die Ansage, dass ich nirgendwo einen Fuß in die Tür bekomme, weder bei der SED-Zeitung noch bei einer anderen Zeitung noch als Müllfahrer, war für mich erschreckend. Sprecher: Im September 1989 wird auch Birger Zentner klar, dass die offizielle SED-Ideologie in der Redaktion mit den Ereignissen auf der Straße immer weniger zusammenpasst. 5. O-Ton Birger Zentner Es spitzte sich dann eigentlich zu an ganz konkreten Dingen. Nämlich für mich an den Leipziger Montagsdemonstrationen, die ich zuerst nicht wahrgenommen habe, dann etwas später ignoriert habe und erst in einem dritten Schritt in mich aufgenommen habe, um zu sehen: Was ist dort? Sprecher: Also folgt Zentner seinem journalistischen Impuls: Er schaut sich die Dinge selbst an. 6. O-Ton Birger Zentner Gibt ein ganz konkretes Datum, ich glaube, ist der 25. September 1989, dort habe ich zum ersten Mal auf diese Montagsdemonstrationen geguckt und habe geguckt: Was sind das eigentlich für Leute, die dort lang laufen? Und kriegte im Grunde genommen einen Schreck, weil mein Bild eigentlich völlig zerstört wurde: Das waren weder Chaoten, keine Kriminellen, das waren Menschen im Grunde wie ich auch. Trenner: Atmo II Klackern Förderkette Sprecher: Zwanzig Jahre später, wieder in Leipzig: Die Stadt kann sich vor Ehrentiteln kaum noch retten. Heldenstadt, Wiege der friedlichen Revolution; längst sind Montagsdemos und Nikolaikirche zu den Symbolen ostdeutschen Freiheitsstrebens geworden. Als im vergangenen Jahr die Leipziger das 20. Jubiläum des Wendeherbstes feierten, hat sich die LVZ zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Statt nur in Erinnerungen an mutige Demonstranten zu schwelgen, berichtet die Zeitung in einer kleinen Serie auch über ihre eigene Rolle als Parteiblatt der SED. Für LVZ-Chefredakteur Bernd Hilder eine Frage journalistischer Transparenz. 7. O-Ton Bernd Hilder Wir waren damals eine andere Zeitung, die Leipziger Volkszeitung war eine SED- Zeitung, und das ist sie heute nicht mehr, und warum sollen wir davor die Augen verschließen. Ich glaube, unsere Leser haben es einfach verdient, dass wir offen sagen und offen darstellen, wie wir zu Wendezeiten agiert haben. Sprecher: So zeigt die LVZ auch, wie neben den üblichen Erfolgsmeldungen und Schmähungen des Klassenfeinds am 6. Oktober 1989 ein angeblicher Leserbrief veröffentlicht wurde, in dem der Kampfgruppenkommandeur Günter Lutz fordert, "konterrevolutionäre Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden - wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand". Jetzt recherchierte die LVZ die Hintergründe der Geschichte - mit mäßigem Erfolg. 8. O-Ton Bernd Hilder Auch wir konnten nicht klären, wie genau dieser Aufruf in die Zeitung gekommen ist. Ist da jemand zu den Setzern gegangen, ist da jemand in die Druckerei gegangen, ist da jemand in die Redaktion gekommen und hat ne Anweisung gegeben, hat das jemand getan, ohne anderen etwas davon zu sagen - auch das konnten wir nicht endgültig klären, wir wissen nur, dass dieser Aufruf in der Zeitung gestanden hat. Sprecher: Auch der damalige Leipziger Lokalredakteur Birger Zentner weiß nicht, wer die Worte des Kampfgruppenkommandeurs ins Blatt gehoben hat - und woher sie überhaupt genau kamen. Erinnern kann sich Zentner allerdings an die Reaktion einiger empörter Leser. 9. O-Ton Birger Zentner Konkret war es eine Frau, die einen Protestbrief gebracht hat zu diesem Brief des Kampfgruppenkommandeurs, und ich glaube später ist noch ein Mann gekommen, der uns einfach mal sagen wollte: Leute, denkt mal drüber nach, was ihr hier für einen Mist schreibt. Sprecher: Doch könnte es vielleicht auch sein, dass die regimetreue Haltung der LVZ den Demonstranten am Ende sogar genutzt hat? 10. O-Ton Birger Zentner Ich glaube schon, dass die Art und Weise, wie die Partei mit Hilfe der Zeitung und auch der Aktuellen Kamera und sonst was, mit denen, die Protest geübt haben, umgegangen ist, dass die mit dafür verantwortlich war, dass die Leute gesagt haben: Nun erst recht. Sprecher: Auch Lokaljournalist Zentner handelt schließlich eigenmächtig. Vor der historischen Montagsdemo am 9. Oktober auf dem Leipziger Ring werden zahlreiche SED-Mitglieder angewiesen, Plätze in der Nikolaikirche zu besetzen - und so zu verhindern, dass echte Gläubige und Demonstranten zum Friedensgebet kommen können. 11. O-Ton Birger Zentner Ursprünglich sollten auch Journalisten das gleiche Ziel verfolgen. Diese ganze Aktion unter den Journalisten ist an dem Montagvormittag, 9. Oktober zurückgepfiffen worden, und wir kriegten Anweisung: Ihr habt im Stadtzentrum nichts zu suchen, wie gesagt: Ich war schon so weit, dass ich bereit war, das auf Biegen und Brechen zu ignorieren, es war mir egal. Sprecher: Der Rest ist Geschichte: Der Aufruf zur Gewaltlosigkeit findet Gehör, fast 100.000 gehen am 9. Oktober 1989 friedlich auf die Straße, die Staatsgewalt hält sich zurück. Es ist ein überwältigendes Zeugnis der Leipziger Bürgerbewegung - doch der LVZ ist das Ereignis am nächsten Tag gerade mal eine dürre, vierzehnzeilige Meldung auf Seite 2 wert. 12. O-Ton Birger Zentner Uns hat die Tatsache, dass in der LVZ nichts oder wenig drinnen gestanden hat, in dem Moment erstmal noch gar nicht so sehr bewegt, das kam eigentlich erst in den Tagen danach, wo doch ein gewisser redaktioneller Druck aufgebaut worden ist, dann doch über diese Ereignisse stärker zu berichten, oder überhaupt zu berichten. Sprecher: Eine Woche später ist es soweit: Gemeinsam mit einem Kollegen wird Birger Zentner losgeschickt, um die erste Montagsdemo-Reportage für die LVZ zu verfassen. Heute liest sich der Text wie ein Dokument einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist: Tatsächlich beschreiben Zentner und sein Kollege Eberhard Heinrich zum ersten Mal das Geschehen, ohne in ideologische Phrasen zu verfallen. Und berechnen dann doch noch klein kariert, dass die Demo für den Ausfall von 320 Straßenbahnfahrten sorgte, tausende Werktätige auf ihre wohl verdiente Heimfahrt warten mussten. 13. O-Ton Birger Zentner Wenn man den heute liest, dann lacht man sich aus heutiger journalistischer Sicht eigentlich fast zu Tode, weil man, man merkt den ganzen Krampf in diesem Bericht. Ich habe den auch zu Hause, ich hole mir den immer mal vor, les den, und dann habe ich so im linken Auge eine Träne und das rechte wird mir vor Lachen fast zerrissen. Aber ist halt so gekommen. Und das war im Prinzip dann der Punkt, wo es eigentlich auch für die Zeitung kein Zurück mehr gab. Sprecher: Dann überschlagen sich die Ereignisse. Am 10. November sprechen die Redakteure der LVZ ihrer Chefredaktion das Misstrauen aus, Chefredakteur Rudi Röhrer tritt zurück. Einen Monat später hat sich die Opposition im Bezirk Leipzig eine eigene publizistische Plattform im Blatt erkämpft. Eine absurde Situation: Jedes Wochenende darf sie auf einer Doppelseite über die eigenen Aktivitäten berichten - in der LVZ, die immer noch von der SED herausgegeben wird. Längst ist die Zeitung vom Tagesgeschehen überholt worden - und versucht nun mühsam, wieder Anschluss zu finden. 14. O-Ton Birgit Schöppenthau Es war ne sehr unklare Situation, wir fühlten uns als SED-Zeitung, sahen aber auch die Veränderung in dem Land, waren mit uns selbst beschäftigt, um die journalistischen Maßstäbe neu zu formulieren für uns selbst, und in dieser ganzen Gemengelage berichtete ich nach wie vor Woche für Woche über Parteiveranstaltungen, wo sich die Genossen schwer taten, mehr zu tun als nur den Namen der SED in PDS umzubenennen. Sprecher: Doch darauf hat LVZ-Redakteurin Birgit Schöppenthau keine Lust mehr. Sie wechselt im Januar 1990 zur "Wir in Leipzig" - einer neu gegründeten Boulevardzeitung, die sich in der Messestadt etablieren will. Es ist, als würde Schöppenthaus Berufsleben von vorn beginnen. 15. O-Ton Birgit Schöppenthau Nach der Wende hatte ich das erste Mal den Auftrag, Neuigkeiten zu verbreiten als Journalist. ... ich habe das erste Mal in meinem Leben wirklich das Gefühl gehabt, mir werden Neuigkeiten aus den Händen gerissen. Trenner: Atmo II Klackern Förderkette Sprecher: Die ersten Nachwendejahre sind goldene Zeiten für die Presse in Leipzig. Zeitweilig erscheinen sieben lokale Tageszeitungen in der Messestadt. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt allerdings die DAZ (sprich als ein Wort) - die Leipziger Andere Zeitung: Ein unabhängiges Wochenblatt, herausgegeben vom Forum Verlag Leipzig. Plötzlich war der Weg frei für radikal anderen Journalismus, erinnert sich DAZ- Redakteurin Anja Riediger. 16. O-Ton Anja Riediger Ich denke, dass das schon so war: Stunde Null und jetzt definieren wir das alles neu, und über die LVZ haben wir uns nur lustig gemacht, also, die haben uns auch nur leid getan die Kollegen, die da schon zehn Jahre gearbeitet haben und nun plötzlich mit großen Augen dastanden und es anders machen wollten. Wir konnten uns das auch leisten, so ein bisschen überheblich zu sein, weil wir hatten so das Gefühl: Uns ist hier nichts vorzuwerfen, wir fangen hier an, und wir machen das mal so richtig. Sprecher: Woche für Woche berichtet die DAZ mit kritischen und unkonventionellen Geschichten über Politik und Kultur, Ökologie und Soziales. Doch noch haben sich nicht alle an die neuen Spielregeln journalistischer Berichterstattung gewöhnt. 17. O-Ton Anja Riediger Ich erinnere mich ganz genau an so einen Dialog mit dem Holger Jakisch, der war das erste mal auf dem Gericht bei einer Verhandlung, und da haben die gesagt: Was wollen Sie denn hier? - Hat er gesagt: Ich bin die Öffentlichkeit! - Ja, wieso? - Doch, das sei doch eine öffentliche Verhandlung! - Ja, hm, na gut, dann sei das jetzt wohl so. Sprecher: Verlagserfahrung oder wirtschaftliches Know-How hat niemand bei der DAZ. Anja Riediger und ihre Kollegen treibt vor allem eines an: Ihre eigene Euphorie. 18. O-Ton Anja Riediger Wir haben gedacht, ganz naiv: Wir machen eine gute Zeitung, die Zeitung kaufen Leute, wir nehmen das Geld, was die Leute uns für die Zeitung geben und machen damit die nächste Nummer - und das hat ja auch am Anfang noch geklappt und wir haben einfach gedacht, dass das so gehen könnte, und so mit Werbung verkaufen - da gab es zwar einen in der Redaktion, den Peter Fräbel, der sich drum kümmern sollte, der hatte aber auch keine Ahnung. Sprecher: Am Ende scheitert die alternative Wochenzeitung nicht nur an der sinkenden Auflage, sondern auch an eigenen wirtschaftlichen Fehlern. Ende April 1991 wird sie eingestellt. Trenner: Atmo II Klackern Förderkette Sprecher: Heute fühlt sich Leipzig gern als ostdeutsche Medienmetropole - die goldene Zeit der Pressevielfalt allerdings ist längst vorbei, wie fast überall im Osten. Von den sieben Tageszeitungen nach der Wende sind in Leipzig gerade einmal zwei übrig geblieben: Die lokale Ausgabe der BILD-Zeitung - und die Leipziger Volkszeitung. Der frühere LVZ- Redakteur Birger Zentner hat das kommen sehen, irgendwie. 19. O-Ton Birger Zentner Ich hatte im Herbst muss das gewesen sein 89 eine Begegnung mit einem Manager/Prokuristen der Würzburger Hofbrauerei oder so ähnlich, und der sagte mir damals: Es gibt zwei Dinge, wo die Leute drauf beharren: Auf ihrem regionalen Bier und ihrer regionalen Zeitung, und der hat Recht gehabt irgendwie. Sprecher: Nur: Dass gerade die frühere SED-Presse aus dem Systemwechsel gestärkt hervorgeht, erscheint vielen als paradox. LVZ-Chefredakteur Bernd Hilder versucht eine Erklärung. 20. O-Ton Bernd Hilder Das ist ein in der Tat großes Phänomen, denn die Erwartung auch vieler westlicher Verlage, die dann in die neuen Bundesländer gegangen sind, war natürlich: Wir machen hier eine neue Zeitung auf, wir geben den Leuten jetzt hier mal ne richtig tolle Zeitung, die unter den Bedingungen der Freiheit zustande gekommen ist, und dann werden die ganz schnell werden die Leser zu dieser Zeitung kommen. Das war ein riesiger Irrtum. Sprecher: Stattdessen passen sich auch die publizistischen Platzhirsche wie die LVZ der neuen Zeit an. Als Hartwig Hochstein im November 1991 als neuer Chefredakteur zur Leipziger Volkszeitung stößt, gibt es dort kaum noch Journalisten, die den alten Zeiten hinterher trauern. 21. O-Ton Hartwig Hochstein Es war fast eher umgekehrt ein Problem, weil es viele gab, v.a. heiße Jungsporne, die meinen, jetzt dürfen wir ja richtig, und die fast überkritisch wurden. Ansonsten hat sich das nicht als so großes Problem erwiesen. Sprecher: Hochstein bringt die Zeitung auf einen neuen publizistischen Kurs: Weg vom Anspruch, ein überregionales Debattenblatt sein zu wollen - hin zur lokalen Berichterstattung. So will es die Verlagsgesellschaft Madsack (dt. Aussprache wie geschrieben) aus Hannover, die heute die kompletten Anteile an der Zeitung hält. 22. O-Ton Hartwig Hochstein Ich habe so scherzhaft gesagt: Man hat eher über einen Korrespondenten in Tokio als über einen zusätzlichen Redakteur in Torgau nachgedacht. Und da habe ich angesetzt und gesagt: Wir müssen erst die Heimspiele gewinnen, wir müssen das Lokale, wir müssen das Regionale stärken, das war ein ziemlicher Schock oder Umbruch, aber die Redaktion hat mitgezogen, und es hat sich dann auch als das richtige Konzept erwiesen. Trenner: Atmo II Klackern Förderkette Sprecher: In allen 14 ehemaligen DDR-Bezirken haben die früheren SED-Zeitungen - heute in den Händen westdeutscher Zeitungsverlage - die Wende gut überstanden. Kleinere Tageszeitungen, die von den DDR-Blockparteien herausgegeben wurden, sind bis auf wenige Ausnahmen vom Markt verschwunden - mit ihren vergleichsweise kleinen Redaktionen und einer schlechten Infrastruktur wurden sie von ihren großen Konkurrenten schnell vom Markt verdrängt. Dass die frühere SED-Presse auch nach der Wende so großen Erfolg hat, ist für den Leipziger Journalistikprofessor Michael Haller keine Überraschung. 23. O-Ton Michael Haller Also man kann das geradezu als eine Dialektik sehen, man kann sagen: In einem ganz radikalen politischen Systemwechsel ist der Bedarf nach Kontinuität in der Alltagskultur umso größer, weil man ja nicht alles verlieren möchte, also haben die Menschen mit ihrer Zeitung den Wandel durchlaufen, man kann sagen, die zu den Regionalzeitungen mutierten Bezirkszeitungen waren immer so ein bisschen in dem Prozess vorneweg, den auch die Bevölkerung durchlief, so dass sich die Bevölkerung eigentlich mit ihren Zeitungen gut aufgehoben fühlte. Die Fragen, die sie hatten, haben auch die Zeitungen gestellt. Und sie haben sie in einer Sprache gestellt, die wiederum die Menschen verstanden haben. Sprecher: So gab es offenbar auch für viele DDR-Journalisten keine Stunde Null und kein Tabula Rasa, sondern eher eine schrittweise Veränderung der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Nur: Wie geht das - vom parteilichen Beobachter im Auftrag der SED zum Anwalt der Öffentlichkeit zu werden? Birgit Schöppenthau, die heute wieder als LVZ-Redakteurin arbeitet, hat kein Problem mit dem Rollenwechsel. 24. O-Ton Birgit Schöppenthau Ich bin nun mal hier im Osten geboren und aufgewachsen, die Leipziger Journalistenschule war die einzige Möglichkeit, den Beruf zu ergreifen, ich stehe dazu, dass ich mich auch bei einer Parteizeitung mich beworben habe, weil ich mit den Idealen der Gesellschaft niemals gehadert habe, eher damit, wie sie umgesetzt worden sind, und ich habe mich weiterentwickelt. Sprecher: Auch ihr früherer Kollege Birger Zentner, der heute Lokalchef bei der Mitteldeutschen Zeitung in Weißenfels ist, hat oft über den eigenen Rollenwechsel nachgegrübelt. 26. O-Ton Birger Zentner Also eine restlos befriedigende Antwort habe ich da für mich auch nicht gefunden. Es war sicherlich ein Stück Pragmatismus, aber ich nehme für mich auch in Anspruch, dass ich einen Lernprozess durchgemacht habe und mich selbst auch verändert habe an der Sache. Ob man das so machen kann, ob man das so darf, das sollen dann andere beurteilen. Sprecher: Und Anja Riediger? Auch die frühere Redakteurin der DAZ ist in der bundesdeutschen Wirklichkeit angekommen. Und aus der anfänglichen Euphorie über ihre journalistische Arbeit ist längst Ernüchterung geworden. 27. O-Ton Anja Riediger Ich denke halt nicht mehr, dass man die Welt verändern kann mit Zeitung oder Veröffentlichungen an sich. Also ich kann's nicht. 1