Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 16. Januar 2016, 11.05 - 12.00 Uhr Wir waren Papst - Die katholische Kirche in Polen fürchtet um ihren Einfluss Mit Reportagen von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster Am Mikrofon: Johanna Herzing (DLF 2015) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Ein alter Priester über die neue Zeit: Alles demokratisiert sich heute. Jetzt hören die Priester sogar manchmal auch auf die Gläubigen. Nicht andersherum. Ich höre nicht immer auf die Leute. Weil die Macht ist doch eins in der Kirche Und die geht vom Papst, dem Bischof und den Priestern aus. Und eine Rentnerin über ewig gestrige Botschaften... Warum predigen sie den Menschen so einen Blödsinn? Vielleicht sind wir ungebildet. Aber wenn ich etwas zu meinen Enkelinnen sage, dann antworten sie: Oma, in was für einer Welt lebst du? Ich kann sie nicht überzeugen, in die Kirche zu gehen. Wir gehen noch manchmal. Aber das können wir ihnen nicht erklären. Sie sagen nur: Oma, in was für einer Welt lebst du? "Wir waren Papst - Die katholische Kirche in Polen fürchtet um ihren Einfluss". Gesichter Europas mit Reportagen von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster. Am Mikrofon begrüßt Sie Johanna Herzing. Pole gleich Katholik - das ist das Klischee, das viele im Ausland mit Polen verbinden. Aber auch im Land selbst besteht dieses Bild schon seit Jahrhunderten. Für manche ist es ein Stereotyp, für manche Realität und für manche auch Provokation. Besonders stark wurde die Idee, also die Verknüpfung von Glauben und nationaler Zugehörigkeit, im 18. Jahrhundert, der Zeit der Teilungen. Damals hatten sich Preußen, Russland und Österreich das bis dahin souveräne Polen untereinander aufgeteilt. Die katholische Kirche wurde zur Bastion der nationalen Identität, zur Beschützerin der polnischen Nation vor äußeren, aber auch inneren Feinden. In Zeiten der Fremdherrschaft, des Nazi-Terrors, des Kommunismus, aber auch des Marktliberalismus. Wichtigste Integrationsfigur der vergangenen Jahrzehnte: selbstverständlich, Karol Wojtyla, der polnische Papst. Und obwohl sein Tod zehn Jahre zurückliegt, ist die Zahl der Polen, die sich zum Katholizismus bekennen, mit mehr als 90 Prozent beeindruckend hoch. Doch trotz alle dem: auch in Polen muss die katholische Kirche um ihre Autorität und Bedeutung mehr denn je kämpfen. Die Kirchenbänke sind an den Sonntagen längst nicht mehr so gut gefüllt wie einst und das junge, moderne und urbane Polen hält Glauben immer öfter für entbehrlich. Was die Kirche dem entgegen setzen kann? Zum Beispiel Beton, dafür jedenfalls entschied sich der Priester Sylwester Zawadzki aus dem Städtchen Swiebodzin: er ließ eine gigantische Christus-Statue errichten, ca. 70 Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze, auf der Strecke zwischen Berlin und Poznan: ein Riesen-Jesus, weltweit der größte seiner Art. Reportage 1 Gebückt geht ein alter Mann auf die Kirche zu. Die Schuhe abgetragen, die Winterjacke eingerissen. Aus drei Metern Höhe blicken die Apostel ungerührt auf ihn herab. Zu ihren Füßen mahnen Info-Kästen die Gläubigen von Swiebodzin. "Wilde Ehe ist Sünde" warnen Buchstaben in knalligem Rot. Auf einem Bild berühren sich zwei Hände über einer schwarzen Satinbettdecke. Um die kleinen Finger windet sich eine Schlange. Der alte Mann stellt sich neben das Kirchenportal, holt einen Plastikbecher aus der Jackentasche. Aus dem Innern der Kirche dringt das Gemurmel der Gläubigen. Wie jeden Sonntag ist die Kirche voll. Drei Ministranten kommen heraus, nicken dem Bettler kurz zu. Jeder hält eine Sammeldose in der Hand. Abschließbar, mit Leder ummantelt. Jahrelang sammelten wir für Jesus, erzählt einer. Eine der größten Jesus-Statuen der Welt, versprach Priester Zawadzki damals seiner Gemeinde. Ein weithin sichtbares Glaubensbekenntnis. Innerhalb von fünf Jahren wuchs vor der Stadt ein Gottessohn in XXL: Es bedeutet schon etwas für die Stadt. Sie ist jetzt besser erkennbar. Ursprünglich war dort auch noch ein Teich geplant und ein Park. Aber seit es den Priester nicht mehr gibt, interessiert das eigentlich keinen mehr so richtig... Seine Statue aber steht weiter vor der Stadt. Die Gläubigen kommen aus der Messe. Niemand beachtet den Bettler. Fast alle spenden bei den Messdienern. Knapp 300 Meter, die Hauptstraße entlang, sind es bis zur Jesus-Statue. Eine junge Frau schiebt ihren Kinderwagen in die entgegengesetzte Richtung. Nein, sie war noch nie beim Riesen-Jesus. Sie sieht ihn jeden Tag vom Balkon aus. Das reicht ihr. Auf den Anblick würde sie gerne verzichten: Es gab hier eine große Debatte unter den Nicht-Katholiken. Der verstorbene Priester hat viel Geld reingesteckt. Und auch die Stadt hat etwas dazugegeben. Die anderen nicht katholischen Gemeinden haben nichts bekommen. Die Stadt stellte ein Grundstück. Der Pfarrer besorgte die Spenden. So wuchs der Jesus von Swiebodzin. Eine priesterliche Privatinitiative, zu Beginn noch ohne den Segen der Amtskirche. Ursprünglich genehmigt als Gartenstatue, als sogenannte "kleine Architektur". Doch Jesus wurde immer größer. Immer höher. Niemand traute sich einzuschreiten. Ein kalter Wind fegt über das Plateau. Am Fuße der Statue drängen sich einige Besucher zum Gruppenbild. Der Fotograf geht zurück, ein Stück, noch ein Stück. Sonst passt Jesus nicht mit aufs Bild. 20 Meter hoch ist das Fundament, 33 Meter die Statue, die vergoldete Krone allein drei Meter, die ausgebreiteten Arme in einer Spannweite von 26 Metern. Drumherum warten Parkplätze auf hunderte von Autos. Aber nur ein Bus steht da. Und drei PKW. "Jesus siegt" verkünden Lettern auf einem steinernen Torbogen ganz in der Nähe der Statue. Dahinter lockt ein Cafe, das Dach notdürftig geflickt. Im Container-Bau daneben stapeln sich Souvenirs in den Regalen. Eine Kundin begutachtet das Angebot. Den Riesen-Jesus gibt's in drei Miniatur-Größen. Für umgerechnet 3-12 Euro. Ich habe hier einige Postkarten gekauft. Die schenke mich meinem Sohn, der heiratet demnächst. Auf den Karten stehen Gebete und der große Jesus ist auch drauf. Ich finde ihn sehr schön... Doch mehr erzählen kann sie nicht. Die Verkäuferin mischt sich ein: "Sie brauchen eine Genehmigung, um hier Aufnahmen zu machen", stellt sie klar. Und setzt uns vor die Tür. Die Kundin schüttelt den Kopf, sagt nur ein Wort: Zensur... Auf dem Parkplatz verfrachtet ein Mittdreißiger seine beiden Kinder in einen VW-Bus. Schüttelt genervt den Kopf. Nichts als Stress beim Wochenendausflug. Es ist kalt, die beiden neun- und elfjährigen Kinder maulen, und Jesus hat er sich auch anders vorgestellt: Im Fernsehen sah das alles viel beeindruckender aus, sagt er. Groß ist er ja, aber an den Füßen der Statue bröckelt es rund um die Metallarmierungen. Und über das Gewand zieht sich auf der Wetterseite ein grünlicher Algenstreifen. Nein, er glaubt nicht, dass dies hier jemals eine Touristenattraktion wird. Vielleicht hält ab und zu mal jemand an, der in der Nähe ist. Jetzt will er aber weiter. Erst einmal nur auf die andere Straßenseite. Da wartet ein riesiger 24-Stunden-Supermarkt, da gibt es Schokoriegel für die Kinder. Natürlich auch am Sonntag. Dutzende PKW der Sonntags-Shopper parken vor dem Supermarkt. Ein ganz anderes Bild als auf der anderen Straßenseite, am Fuße der Jesus-Statue. "Am siebten Tage sollst Du ruhen", so steht es im Alten Testament. Aber: "Die Zeiten haben sich geändert", sagt ein Handwerker um die 30 und schiebt seinen vollen Einkaufswagen Richtung Kombi. "Ich arbeite in Polen und Deutschland, auch am Samstag. Da bleibt nur der Sonntag für den Einkauf". Zeit für die Kirche hat er da nur selten. Seine Frau nickt. Sie haben beide einfach keine Zeit. Aber ihre 7-jährige Tochter ist ein großer Fan der Jesus-Statue. Sie schleppt uns ab und zu dorthin, sagt ihre Mutter, das ist doch eine tolle Attraktion. Und es bringt bestimmt auch ein bisschen was für die Stadtkasse, glaubt sie. Eine Mittfünfzigerin, gerade auf dem Weg zum Einkauf, hört es, bleibt stehen. Meiner Meinung nach hätte das Geld besser an die Armen gehen sollen. Das Geld der Gemeinde und der Sponsoren, das hätten die Armen gut brauchen können. Hier leben doch sehr viele Menschen, die nichts haben. Die Statue - das ist für mich nur Show. Okay, es ist Jesus, aber eigentlich ist der doch im Himmel. In ihrem Roman "Sandberg" erzählt Joanna Bator eine Familiengeschichte aus Westpolen. In einer heruntergekommen Plattenbausiedlung am Rande einer Kleinstadt leben Jadzia und ihre Tochter Dominika. Saufende Männer, tratschende Nachbarinnen - für ihre Tochter erträumt sich Mutter Jadzia eine bessere Zukunft. Eine, die frei ist von Sünden: Literatur 1 Jadzia verstand es, ihrem Kind religiöse Wahrheiten vielleicht nicht besser, in jedem Fall aber farbiger zu vermitteln, als die ewig erkältete Nonne, die im Raum hinter der Kirche Religionsunterricht gab und nur verlangte, dass die Kinder den Katechismus paukten. Dominika lernte, dass der liebe Gott unartige Kinder bestraft und mit speziellen unterirdischen Zügen in die Hölle schickt, wo die Teufel sie in Kesseln voll Pech sieden. Und wie kochen sie sie? Fragte Dominika weiter. Erzähl es mir doch noch mal. Ich habe dir das schon so oft erzählt, dass sie sie an den Beinen packen und mit dem Kopf zuerst in den Kessel stecken. Und das böse Mädchen, erstickt es dann nicht? Nein, es erstickt nicht, es spürt alles, so heiß wie in kochendem Wasser, dunkel und schrecklich. Ist es sehr dunkel? Ja, sehr. Und die Beine? Nur die Füße gucken heraus, und die sind weiß wie Schnee, und der Teufel macht krrraps mit seiner knotigen Pfote und rührt alles mit dem Bein um wie mit einem Löffel. Mit der Zeit brachte Dominikas Neugier Jadzia allerdings aus dem Gleichgewicht, woher hatte das Kind bloß solche Sachen im Kopf? Eine "Festungsmentalität", das ist es, was der katholischen Kirche in Polen regelmäßig bescheinigt und vorgehalten wird. Die Kirche bietet Schutz, bewahrt christliche Werte - gleichzeitig aber verbarrikadiert sie sich, sagen viele Kritiker. Und damit schade sie sich auch selbst. Heikle Themen gibt es für die katholische Kirche in Polen genug: Da wären zum Beispiel die Missbrauchsfälle, die es auch hier gab und noch immer gibt. Da sind aber auch die Entwicklungen und Auswirkungen des modernen globalisierten Lebens. Zwar gibt es in Polen noch keine nennenswerte Welle von Kirchenaustritten, immerhin gehen landesweit noch rund 39 Prozent am Sonntag zur Messe - kein allzu schlechter Schnitt verglichen mit Deutschland, wo das nur für rund 11 Prozent der Katholiken stimmt. Aber Grund zu Jubeln hat die katholische Kirche auch in Polen nicht. Die Zahl der Nicht-Gläubigen, der Atheisten und Agnostiker nimmt deutlich zu. Und viele, die sich bislang nicht vom Glauben abgewendet haben, spüren doch eine immer größere Distanz zur Institution Kirche. Das macht sich auch in den eigenen Reihen bemerkbar. Tadeusz Bartos war einst Mönch, heute aber lebt er nicht mehr im Kloster, sondern im Warschauer Viertel Saska Kepa. Dort fühlt er sich freier: Reportage 2 "Manchmal gehe ich noch in die Kirche", erzählt Tadeusz Bartos und schlendert die Ulica Francuska entlang. Der 47-Jährige geht vorbei an einer Bio-Bäckerei und einigen hippen Cafes. In dunkelblauer Matrosenjacke, mit Nickelbrille und wilden Locken passt er zur künstlerisch-intellektuellen Szene hier im Viertel. Bartos wohnt gleich um die Ecke. "Es ist schön hier", sagt der ehemalige Dominikaner-Mönch und deutet auf die renovierten Stadtvillen aus den 30er Jahren, die vielen kleinen Geschäfte. Rund zwanzig Jahre hat Bartos in verschiedenen Klöstern gelebt, immer in Gemeinschaft. Dann der Austritt aus dem Orden: Das Gefühl von Freiheit kann man sich kaum vorstellen, nach Jahren unter ständigem Druck, nach jedem Artikel, den ich geschrieben habe, ging ich in den Gemeinschaftsraum und meine Brüder saßen da und sagten kein Wort. Sie haben vielleicht hinter meinem Rücken geredet, ganz Polen las diese Artikel, aber sie haben kein Wort dazu gesagt. Schon als Dominikaner veröffentlichte Bartos Kirchen-kritische Artikel u.a. in der links-liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Beiträge, die sich mit dem Verhältnis von Individuum und Kirche beschäftigten oder sich kritisch mit der Lehre des polnischen Papstes auseinandersetzten. Dinge, die damals in vielen Ländern Europas diskutierten wurden, nicht aber im katholischen Polen. Tadeusz Bartos überquert eine Fußgänger-Ampel, steuert ein grün-gestrichenes Kiosk-Häuschen an. In der Auslage hängen Frauen- und Anglerzeitschriften, Kindercomics. Neben dem winzigen Kassenfenster prangt das Bild von Johannes Paul II. auf einer Lieder-CD. Im Regal darüber stapeln sich blaue Schächtelchen mit der Aufschrift "Durex Classic". Neun Zloty 99 kostet das Päckchen Kondome. Bartos lächelt: Wir sind hier in Warschau, das dürfen wir nicht vergessen, hier gehen nur 15 bis 20 Prozent der Menschen in die Kirche. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Kondome in einem Kiosk finden würde, der 20 Meter von einer Gemeindekirche entfernt liegt, wo der Priester auf dem Weg zur Schule vorbeikommt. Das wäre dem Kiosk-Besitzer wahrscheinlich zu peinlich. Der Philosoph Bartos aber interessiert sich weder für die CD noch die Kondome. Er deutet auf ein paar Zeitungen, auf die "Gazeta Wyborcza". Und auf "Nasz Dziennik". Die Verkäuferin schiebt beides durch die Luke. Nasz Dziennik gehört zum katholischen Medienkonzern des erzkonservativen Paters Tadeusz Rydzyk. Er ist der wohl einflussreichste Kirchenmann Polens. Bartos überfliegt den Aufmacher von Nasz Dziennik. Radio Maryja und Nasz Dziennik organisieren sehr erfolgreich das Leben der Gläubigen. Und das macht ihren Einfluss aus. Also der erste Artikel auf der Seite betrifft den "Marsch der Unabhängigkeit", der sich seit einigen Jahren zu einer Art Krawall-Veranstaltung entwickelt hat, zu einer Art Banditen-Treff der radikalen Rechten. Trotzdem akzeptieren Nasz Dziennik und Radio Maryja den Marsch. Während Bartos erzählt, wartet ein Mittfünfziger in schwarzer Lederjacke vor dem Kiosk. Lauscht. Und beäugt Bartos finster. Sagt aber nichts. Viele kennen den streitbaren Kirchen-Kritiker aus dem Fernsehen. "Meistens bedanken sich die Leute bei mir für meine offenen Worte, selten werde ich attackiert", erzählt Bartos im Weitergehen. Dann stoppt er vor einer lebensgroßen Skulptur: Sie zeigt die Dichterin Agnieszka Osiecka an einem Bistrotisch. Rund um die Skulptur gruppieren sich die wetterfesten Lounge-Sessel des kleinen Cafes "Rue de Paris". Dick eingemummelt in bunte Decken sitzen hier die Gäste und ziehen an ihren Zigaretten. Auch Bartos lässt sich nieder, wirft sich eine lila Decke über die Schultern und bestellt einen entkoffeinierten Cappuccino mit Sojamilch. Bartos, der heute an der Humanistischen Akademie in Pultusk Philosophie lehrt, erinnert sich noch gut an seine letzten Jahre im Orden. Auch damals unterrichtete er. Doch in seinen Seminaren saßen nicht nur Priesteranwärter: Es gab ein System der Überwachung. Es gab Leute, die sich meine Lehrstunden angehört haben, um zu sehen, ob ich etwas gegen die Kirche sage. Sie waren aber ungebildet und haben überhaupt nicht verstanden, was ich gesagt habe. Bartos lächelt, dreht mit Daumen und Zeigefinger an einer seiner wilden Locken. Ruhig und sachlich erzählt er von seinem Ordensaustritt vor rund sieben Jahren. Nur unter seinem linken Auge zuckt es ohne Unterlass. Der 47-Jährige hat zwar den Dominikaner-Orden verlassen, weil er - wie er sagt - die Hierarchie, die Intoleranz und die Kälte hinter den Klostermauern nicht mehr ertrug. Aus der Kirche ausgetreten ist er aber nicht. Es ist eine demütigende Prozedur, sagt Bartos: In Polen muss man zum Pfarrer der Kirchengemeinde gehen, in der man getauft wurde, wo man also im Taufregister steht. Manchmal ist das am anderen Ende des Landes. Man braucht zwei Zeugen, Gläubige, wenn ich mich nicht irre, und man muss eine spezielle Erklärung abgeben. Es ist verrückt. Es ist eine komplizierte Angelegenheit. Der Philosoph schüttelt den Kopf. Etwas entfernt wirbt ein Schild für ein Yoga-Studio. Frauen aus der gut verdienenden Mittelschicht praktizieren hier den Sonnengruß. Und ignorieren einen Hirtenbrief aus dem Jahr 2013. Darin warnten die polnischen Bischöfe vor Yoga, alternativen Heilmethoden oder Horoskopen. Solche Praktiken seien keine harmlose Spielerei hieß es, sondern sie könnten "zur Unfreiheit" verleiten. Überall - so scheint es - wittert die Amtskirche Bedrohungen, auf die sie wiederum mit Härte reagiert. Für mich ist das eine schwachsinnige Strategie, hart an der Grenze zum Sektierertum. Die Kirche verspielt gerade ihre wichtigsten Trümpfe, nämlich Glaubwürdigkeit und Autorität, die sie in den 80er und frühen 90er Jahren entwickelt hat. Es ist eine Selbstmord-Strategie. Die katholische Kirche als Stützpfeiler des politischen Widerstands gegen das kommunistische Regime, der Papst als Wegbereiter der friedlichen Revolution - dieser Platz scheint der katholischen Kirche in den polnischen Geschichtsbüchern auf ewig gesichert. Karol Wojtyla, besser bekannt als Johannes Paul II., spielt in der kollektiven Erinnerung an die politische Wende 1989 eine herausragende Rolle. Er hat die Solidarnosc unverhohlen unterstützt und das kommunistische Regime während seiner drei Pilgerreisen in seine Heimat immer wieder in Verlegenheit gebracht. Katholik gleich Oppositioneller, Atheist gleich Kommunist - so in etwa sah das Schema aus, das bis 1989 galt. Viele Kirchenmänner sehen sich noch immer in diesem Licht, doch für viele Polen ist das inzwischen Vergangenheit. Besonders deutlich wird das in Nowa Huta, einst das sozialistische Vorzeigeviertel von Krakau. Dort ruft die Arka Pana, die Arche des Herrn, ihre Gläubigen zum Gottesdienst: Reportage 3 Das Läuten der acht Glocken hallt erst über einen breiten Bürgersteig, dann über zwei Fahrbahnen, bricht sich schließlich an fünfstöckigen Wohnblöcken, die sich schnurgerade an der Straße entlang ziehen. Ein Rentner im blauen Wollmantel blickt versonnen an der Fassade der Kirche empor. Millionen von Kieselsteinen, zusammengetragen aus ganz Polen, bilden die Außenhaut des Gebäudes. 30 Jahre lang haben die Menschen hier für ihre Kirche gekämpft. Sie haben gerufen: "Gott rette unsere Seelen", manchmal bei 30 Grad Minus. Die Kälte war ihnen egal, sie wollten alle eine Kirche. Und es gab keine Hoffnung, dass diese Kirche gebaut wird. Weil die Kommunisten sagten: es wird nie eine Kirche in Nowa Huta geben. Und dass die Kirche hier heute steht ist ein Wunder, ein großes Wunder. Die Arche des Herrn - das Wunder von Nowa Huta. Der Rentner nickt feierlich. Faltet die Hände. Er kommt jeden Tag hierher, sagt er. Geht in den Gottesdienst. Und wenn Besucher von außerhalb kommen, erzählt er ihnen die Geschichte der Arche. Eigentlich sollte die Stadt Nowa Huta für den sozialistischen Aufbruch in Polen stehen. Stahlwerk und auch der Ort - alles neu, alles vom Reißbrett. Tausende Arbeiter kamen aus dem ganzen Land, bauten Nowa Huta. Und errichteten im Freien ein Kreuz, um zu beten.. Die Stadtverwaltung schickte einen Abriss-Trupp: Als die Frauen sahen, dass die Arbeiter das Kreuz abbauen wollten, fielen sie über sie hier. Mehr und mehr Leute kamen, so dass am Ende 70.000 Menschen das Kreuz verteidigten. Sie riefen immer wieder: "Lasst das Kreuz in Ruhe". Auch er kämpfte damals für das Kreuz, erzählte der ältere Herr mit dem schütteren grauen Haar stolz. Jahrelang dauerten die Auseinandersetzungen, unermüdlich forderten die Arbeiter eine Kirche. Am Ende setzten sich die Gläubigen durch. 1977 schließlich, wird die "Arche des Herrn" eingeweiht. Heute heißt die Straße unweit der Kirche: "Allee der Verteidiger des Kreuzes". Der Rentner bekreuzigt sich und eilt in den Gottesdienst. Ein Stückchen weiter, am Verwaltungsgebäude, sitzt eine 14-Jährige auf dem kalten Boden, einen grünen, mit Filzstift bemalten Leinenrucksack neben sich. Die blonden kurzen Haare sind mit Gel strubbelig in Form gebracht, unter der offenen Winterjacke trägt sie ein T-Shirt mit Skelett-Aufdruck. "Ich warte gerade auf den Kommunionsunterricht", sagt sie schulterzuckend. Und sieht nicht gerade begeistert aus. Na klar, weiß sie über die Geschichte der Kirche Bescheid. Trotzdem geht sie nicht jedes Wochenende zum Gottesdienst. Ehrlich gesagt, nur, wenn sie muss. Sie blickt nach links, da kommt gerade der Priester um die Ecke. Die 14-Jährige grinst. Bei der Beichte, sagt sie, werde ich denen doch nie alles erzählen. Dann greift sie ihren Rucksack und schlendert zum Unterricht. Edward Baniak geht mit kleinen Schritten auf seine Kirche zu. Öffnet die schwere Tür, beugt das Knie, bekreuzigt sich. Steigt eine lange Steintreppe nach oben. Ein großes Kirchenschiff, eine riesige Orgel, moderne Glasmalereien, große Gemälde an der Seite. Wer in der Schule früher erzählte, er wolle Priester werden, der machte garantiert kein Abitur erinnert sich der der 67-Jährige. Baniak durfte nichts ins Ausland reisen, wurde permanent überwacht. Damals waren wir die einzige Opposition, da gab es sonst niemanden. Diese Rolle müssen wir jetzt nicht mehr spielen. Und das ist auch gut so. Jetzt können wir uns um unsere Sache kümmern, die Verkündung des Glaubens. Wir können den Leuten zum Beispiel erzählen, ab wann sexuelle Verlockungen zur Sünde werden. Da geht es um die Moral. Doch mit der neuen Glaubensfreiheit kommt die Glaubenskrise. 24.000 Mitglieder zählt die Gemeinde von Edward Baniak heute. Nur noch 120 Kinder kommen pro Jahr zum Religionsunterricht, klagt der alte Priester. Wir müssen die Jungen in der Kirche halten. Im Augenblick ist das schnelle Geld der neue Gott, darum sind so viele unserer jungen Leute in Deutschland.... Auch zwei seiner Neffen arbeiten mittlerweile im Ausland, sagt er bekümmert. Baniak blickt hinauf zur Balustrade, runzelt die Stirn. Eine Nonne ist von der Galerie auf die Balustrade gestiegen, balanciert auf dem Geländer wie auf einem Schwebebalken. In einer Hand den Wischmop, die andere hält eine Mitschwester. Mit Trippelschritten nähert sie sich einer drei Meter großen Jesus-Statue, die ins Foyer hineinragt. "Schwester, lassen Sie den Jesus mit dem Wischmop in Ruhe", ruft Baniak. Oben auf der Balustrade zuckt die Nonne zusammen, beendet den Balanceakt. "Nachher kommt doch jemand mit der Leiter", sagt Baniak und schüttelt den Kopf. Die Augen hinter der großen Brille sehen müde aus. Alles demokratisiert sich heute. Jetzt hören die Priester sogar manchmal auch auf die Gläubigen. Nicht andersherum. Ich höre nicht immer auf die Leute. Weil, die Macht ist doch eins in der Kirche und die geht vom Papst, dem Bischof und den Priestern aus. Literatur 2 Am 16. Oktober war ein Pole Papst geworden... Von da an gehörte der polnische Papst zu den Gestalten, denen Jadzia besondere Achtung und Begeisterung zu Teil werden ließ. Wie schön er sprach! Wie schön er mit der Hand winkte! Und immer lächelnd, das Gesicht so freundlich, so menschenfreundlich. Und wenn er Ostern eine Taube entließ, dann flog sie bis in den Himmel! Und immer in Weiß, in Gold. Was er auch sagte, es war schön, klug. Die Tränen flossen wie von selbst, wenn man diese Menschenmengen sah. Und was er für Reisen machte! Keiner ist so viel herumgereist wie er. Zu den Schwarzen, zu den Gelben, kein wilder Stamm, zu dem er nicht gefahren wäre. Jedem hat er die Hand gegeben. Und er liebte Süßes, Kremschnitten, und wenn er Urlaub machte, lief er Ski. Fern, hell und rein, hätte Papst Johannes Paul, der Zweite, Jadzias Vater sein können, der aus der Ferne über sie wachte und sie mit seiner Hand, durchsichtig wie eine Hostie, segnete. Nie belästigte sie ihn mit ihren Alltagsproblemen, damit ging sie zur Schwarzen Madonna, denn welches Kind geht schon mit jedem Scheiß zu seinem Vater, wo es doch weiß, dass der wichtigere Dinge am Hals hat, die ein Kind mit seinem Verstand ohnehin nicht begreifen kann. Die katholische Kirche Polens - oberflächlich betrachtet mag sie aussehen wie ein monolithischer Block. Bei genauerem Hinsehen aber stellt man fest: es gibt viele unterschiedliche Strömungen. Da ist die immer noch einflussreiche erzkonservative und nationalistische Ausrichtung wie sie etwa der berühmt-berüchtigte Pfarrer Tadeusz Rydzyk vertritt, ein Kirchenmann und zugleich Medienzar. Weltweit bekannt durch sein Programm Radio Maryja, das selbst vor antisemitischen Tendenzen nicht zurückschreckt. Da ist aber auch eine Reihe von katholischen Priestern, die sich für eine Öffnung und Modernisierung der Kirche stark macht. Die darauf dringt, schwierige Themen wie etwa Zölibat, Sexualmoral, Scheidung oder Missbrauch durch Priester anzugehen. Von einer wirklichen Trendwende, einer Öffnung aber scheint die Kirche noch weit entfernt. Und so wächst die Kluft zwischen Institution und Gläubigen, von denen sich viele weniger Autorität und mehr Toleranz wünschen. Eine Einstellung, die mittlerweile sogar auf dem Land anzutreffen ist, etwa im 3000-Einwohner-Dorf Jasienica, in der Nähe von Warschau: Reportage 4 Der gelbe Ursus holpert über die Dorfstraße. Der Traktor zieht einen schweren Hänger mit weißen Birkenstämmen, passiert die Kirche mit dem futuristischen Beton-Turm und biegt an der Schule links ab. Drei Jungs schlendern heran. Die Schul-Rucksäcke lässig über die Schulter gehängt, stecken sie ihre Köpfe über einem Smartphone zusammen, flachsen. Natürlich kennen sie Wojciech Lemanski. Der Priester hat an ihrer Schule Religion unterrichtet. "Ich bin für ihn", sagt Lukasz, der kleinste von ihnen. "Ich war bei ihm Ministrant." Und der sommersprossige Tomek fügt hinzu: "Keine Ahnung, warum er gehen musste." "Eines Tages war die Kirche einfach zu", erinnert sich Tomek. Auch der Gemeinschaftsraum, wo wir immer Tischtennis gespielt haben. Lemanski war einfach ein cooler, entspannter Priester. Seit er weg ist, war ich nicht mehr in der Kirche... Ein alter dunkelroter Opel fährt langsam vorbei. Blitzschnell ziehen die drei Jungs die Kapuzen ihrer Jacken tief ins Gesicht und drehen sich weg von der Straße ... "Wir schwänzen die Schule und das im Auto war grad eine Lehrerin..." erklären die Drei und sehen zu, dass sie wegkommen... Pani Teresa schiebt ihr altes Damenrad über die Dorfstraße. Warm eingepackt in einer etwas zu großen, dunkelblauen Fleece-Jacke, die dünnen Haare zum Knoten gebunden, kommt sie vom Markt im benachbarten Tluszcz. Jetzt liegen vier Zitronen, ein paar Äpfel und eine Eierpappe in ihrem Korb auf dem Gepäckträger. Neben der 67-Jährigen geht Gosia, eine blondierte Mittfünfzigerin mit derbem Gesicht und einigen kräftigen Haaren am Kinn. Die beiden Frauen schwatzen ein wenig. "Wir denken oft an Wojciech Lemanski", sagt Pani Teresa. Zunächst durfte der Priester noch die Frühmesse halten. Die Kirche war voll. Doch dann verbot der Warschauer Bischof Hernryk Hoser selbst das: Ich bin fast 70 Jahre alt. Und ich habe noch nie einen solchen Zwist und so eine Verletzung erlebt. Ich lebe hier schon ewig, mein Mann ist seit 20 Jahren tot. Wir haben hier alles aufgebaut, und der Bischof hat uns beleidigt. Hoser hat uns verletzt. Er hat unsere Würde mit Füßen getreten. "Bischof Hoser sollte seine Soutane abgeben und zurücktreten", pflichtet Pani Gosia bei. "Er ist eine Laus und kein Mann!" Lemanski dagegen - Pani Teresa dreht sich nach links, deutet auf den Kirchturm aus Beton-Streben. Tränen füllen ihre braunen Augen. Er war ein so guter Mensch. Sieben Jahr lang war er hier. Schauen sie, der Kirchturm: Als die Männer dort hochklettern wollten, um ihn zu streichen, sagte Vater Lemanski: Ihr habt Kinder! Er zog seine Soutane aus und kletterte selbst hinauf, um ihn zu streichen. Ihr habt Kinder, sagte er, für die ihr leben müsst, ich aber habe niemanden - falls also etwas passieren sollte... Pani Teresa kann sich kaum beruhigen, sie greift nach dem Arm der Journalistin, drückt ihn fest, fast beschwörend. Unbequem für die Amtskirche, aber offen für die Sorgen und Nöte der Gemeindemitglieder, so beschreiben die beiden Frauen den ehemaligen Dorf-Pfarrer. Pani Gosia wiegt den Kopf. Vielleicht gibt es doch noch einmal so einen Mann, aber die Leute würden ihn nicht akzeptieren, weil sich die Menschen hier erinnern. An die Taten des Bischofs Hoser. Es gab keine Gnade, keine Vergebung. Lemanski musste weg. Gegen den Willen der Gemeinde. Immer wieder hatte der 54-Jährige die Kirchenoberen kritisiert. Ihre nachsichtige Haltung gegenüber antisemitischen Tendenzen oder das Vertuschen sexuellen Missbrauchs durch Priester. Wir haben gekämpft, um ihn zu behalten, wir kamen hierher. Es war in der Karwoche. Es hat mich krank gemacht. Gosia: Obwohl der Bischof kam, bin ich mit meinem Osterkorb nicht hingegangen, um ihn segnen zu lassen. Aus Protest bin zu einer anderen Kirche gegangen... Über Monate zog sich der Streit hin. Die Gemeinde sammelte Unterschriften, schrieb Bitt-Briefe, betete - alles ohne Erfolg. "Ich habe kein Vertrauen mehr in die Kirche", sagt Pani Teresa resigniert. "Sie haben Lemanski fertig gemacht und uns zu Idioten". Pani Gosia nickt: Für mich ist das eine große Mafia, für die zählt nur das Geld. Die Gläubigen zählen nicht, nur das Geld. Teresa: Warum predigen sie den Menschen so einen Blödsinn? Vielleicht sind wir ungebildet. Aber wenn ich etwas zu meinen Enkelinnen sage, dann antworten sie: Oma, in was für einer Welt lebst du? Ich kann sie nicht überzeugen, in die Kirche zu gehen. Wir gehen noch manchmal. Aber das können wir ihnen nicht erklären. Sie sagen nur: Oma, in was für einer Welt lebst du? Offiziell gemacht wurde es erst im April 2014. Doch schon lange vor diesem Termin stand für viele Polen fest: Johannes Paul II. ist ein Heiliger. Die große Verehrung für den Papst manifestiert sich in vielerlei Hinsicht: in den landesweit rund 2000 Johannes-Paul-Denkmälern, die sich im ganzen Land finden, in Buchtiteln, Gedenkbriefmarken, Kühlschrankmagneten. Sogar eine ganze Generation wurde nach ihm benannt: "Generation JP II" tauften Soziologen diejenigen jungen Menschen, die während der Amtszeit des polnischen Papstes aufwuchsen. Auszeichnen sollte diese Generation den Wissenschaftlern zufolge eine langanhaltende emotionale Bindung an die Kirche. Reportage 5 Mit seinem klapprigen Fahrrad rollt Piotr Zylka über die Kopernikus-Straße, immer an einem mannshohen, schwarzen Zaun entlang. Das schmiedeeiserne Metallgitter trennt den weltlichen Straßenraum vom Glaubensgebiet. Hinter dem Zaun erhebt sich machtvoll eine große Basilika. Zwei Türme, Backstein, an einigen Stellen wirkt die Außenfassade wie eine Festungsmauer. Die Heiligstes-Herz-Jesu- Basilika ist die Stammkirche der Jesuiten in Krakau. Piotr biegt links ab. Parkt sein Fahrrad im Innenhof. "Die ganzen Gebäude hier bilden einen Komplex", erklärt er. Es gibt einen Verlag, eine Druckerei, die Basilika. Und eine Hochschule ist auch noch angegliedert. "Das hier ist so etwas wie eine große Jesuiten-Firma", sagt Piotr grinsend. Glaubens-Bildungs- und Medienarbeit - alles aus einer Hand. Schwarze Kapuzenjacke, weite Jeans, bunte Turnschuhe - der 25-Jährige wirkt nicht gerade wie ein katholischer Glaubens-Arbeiter. Wir werden schon kritisiert. Aber in den ersten Jahrhunderten nach Christus gab es doch auch Diskussionen. Wir arbeiten hier halt etwas anders. Und das gefällt nicht allen Leuten... Piotr eilt über den grau gepflasterten Hof, im Schatten der alten Backsteinkirche liegen neue Bürogebäude, rechteckig praktisch, viel Glas und Beton. Nach seinem Politik- und Journalistik-Studium machte Piotr hier ein Praktikum. Da gingen die Jesuiten gerade online, mit einem Portal "Deon.pl". Ich selbst bin kein Jesuit, aber ich arbeite für sie. Für die Jesuiten ist das so, wie Ignacius von Loyola den Orden konzipierte. Sie sollen an die Grenzen gehen, dort dienen, wo kein anderer hin will, schwierige Frage stellen, was andere sich gar nicht trauen, und das immer wieder. Eine glatte Steintreppe führt ins Medienzentrum, im ersten Stock das Hörfunkstudio, der Audioverlag, die Internetredaktion. Dazwischen die Teeküche. Piotr setzt Wasser auf. Also ich wurde schon traditionell katholisch erzogen. Aber das schützte mich auch nicht davor, nach der Kommunion der Kirche den Rücken zu kehren, so wie viele andere in meinem Alter. Der Priester war einfach nervig. Die Kirche zu verlassen, war der Beginn meines Abenteuers mit Gott... Piotr geht es wie vielen jungen Polen. Auch wenn er zur Generation JP 2 gehört. So nennen Soziologen diejenigen, die während des Pontifikats von Johannes Paul II. aufgewachsen sind. Was die Kirche und ihre Medien die Generation JP 2 nennen, ist nicht so ein Massen-Phänomen, wie sie es gerne darstellen. Viele Menschen haben aufgehört, in die Kirche zu gehen. Und diese Entwicklung setzt sich fort. Piotr traf während des Studiums auf Priester, die weniger predigten, sondern mehr zuhörten. In einer Zeit, in der viele Polen vom "Ratten-Rennen" sprachen - und damit den gnadenlosen Wettbewerb um die besten Startpositionen im neoliberalen Zeitalter meinten. Hier bot sich die Kirche als Ruhe- und Reflexionsraum an. Ich habe Tausende von jungen Menschen zurück in die Kirche kommen sehen, weil die Priester mit ihnen in einer Sprache sprechen, die sie verstehen. Die nicht aggressiv ist, nicht kritisierend, die nicht die Gebote und Verbote vermittelt. Und die sich auch nicht in politische Diskussionen einmischt, so wie es die polnische katholische Kirche leider oft tut. Mehr anbieten als anklagen, mehr zuhören als zurechtweisen. Zwei Räume weiter verwandeln Piotr und seine Kollegen diese neue Botschaft in Bits und Bytes. Sechs junge Männer sitzen vor den Monitoren, zwischen einem Papierstapel lugt ein Portrait des polnischen Papstes hervor. Von der Wand blickt lächelnd sein argentinischer Kollege. Piotr öffnet das Portal deon pl. Oben rechts die Börsenkurse und Wetter, Nachrichten aus Polen und der Welt in einem Kästchen in der Mitte, Glaubensnachrichten daneben. Darunter Videoclips. Das Evangelium in 90 Sekunden. Am rechten Rand die Blog- und Kommentarspalte. "Wir wollen die Kirche der Welt annähern, und die Welt der Kirche", sagt Piotr. Konservative Kirchenkreise kritisieren uns scharf für unsere Arbeit. Wir befassen uns mit den Geschiedenen, fragen nach der Lage von Homosexuellen. Ohne fertige Antworten zu geben, wir haben nämlich keine. Aber wir fragen weiter. Wir wollen dafür ein Bewusstsein wecken. Piotr lächelt. Fragen heißt nicht immer hinterfragen. Und doch bleibt der Zweifel an den alten Antworten. Die aber kommen immer noch aus dem Vatikan. Da bleibt nur Abwarten. Und Zuhören. Literatur 3 Was wissen die denn schon vom Leben einer Frau, diese Priester! Sie meinen es gut, aber wissen tuen sie einen Scheißdreck. Sie haben keine Frauen, keine Familien, sie reden, was sie aus Büchern wissen. Jadzia, genauso wie ihre Mutter Zofia und ihre Großmutter Jadwiga, betete über die Köpfe der Priester hinweg zu etwas, das viel stärker und älter war als sie, und in der Kirche in Szczawienko herrschte eine Atmosphäre, die dem zuträglich war. Jeder brauchte ein bisschen Weihrauch, ein bisschen Romantik, in Walbrzych ganz besonders. Jadzias Kirche hätte die Welt ins Wanken bringen, die Fundamente des Vatikans unterspülen und die mit Blut geschriebenen Archive zerfetzen können, sie hätte halb Afrika vor dem AIDS-Tod retten und Kriegen ein Ende setzen können. Hätte man die Fenster in dieser Kirche aufgerissen und ein bisschen frische Luft hereingelassen, hätte man sie geschüttelt wie eine Dose mit verklebten Bonbons, dann hätte sich diese Kirche auf Krampfadern durchzogenen Beinen, auf rissigen Fersen, die schon genug gestanden hatten, in Gang gesetzt. Die Idee, das Geschlecht von Menschen nicht biologisch, sondern sozial und psychologisch zu definieren, hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr durchgesetzt. Im Englischen ist dann nicht mehr die Rede von sex, sondern von Gender. Das sogenannte "Gendermainstreaming", das die Gleichstellung der Geschlechter durchsetzen will, ist mittlerweile erklärtes Ziel der Europäischen Union. Und auch in Polen gibt es entsprechende Ansätze. Den katholischen Bischöfen macht das Sorge. In ihrem Hirtenbrief vom Dezember 2013 kritisieren sie die sogenannte "Gender-Ideologie" als Effekt eines - Zitat - "stark im Marxismus und Neomarxismus verwurzelten Kulturwandels". Die polnische Transsexuelle Anna Grodzka ist deshalb für viele Katholiken eine Provokation - ins Parlament hatte sie es trotzdem geschafft. Für eine Legislaturperiode war sie Mitglied des Sejm. Reportage 6 Anna Grodzka nickt kurz in Richtung der beiden blau-uniformierten Sicherheitsmänner am Eingang des Dom Poselski, dem Haus der Abgeordneten. Die Wachleute kontrollieren die Pässe der Besucher, schieben deren Taschen durchs Röntgengerät. Anna Grodzka wartet derweil geduldig. Ihre beige Umhängetasche - farblich abgestimmt auf das feine, beige Strickkleid - wird nicht kontrolliert. Jeder hier kennt die stattliche 61-Jährige mit dem braunen Pagenkopf und den dezent geschminkten Augen, die die Wachmänner um einen halben Kopf überragt. Im Dom Poselski wohnen die Parlamentarier während der Plenarsitzungen. Bis zu den Sejm-Wahlen im vergangenen Herbst ging Anna Grodzka hier regelmäßig ein und aus. Denn seit 2011 saß sie zunächst für die Partei "Twòj Ruch", zu Deutsch "Jetzt bist du am Zug", von Janusz Palikot im Sejm. Bevor ich 2011 ins Parlament kam, war ich in einer NGO, die für die Rechte von transsexuellen Menschen kämpfte und dann bekam ich das Angebot von Janusz Palikot, auf seiner Partei-Liste zu kandidieren. Ich glaube, er sah mich als eine Art Provokation, ein Symbol für den Wechsel, den seine Partei wollte. Gegen "Sodomisten und Transvestiten im Sejm" wetterte damals Pater Tadeusz Rydzyk, der Chef von Radio Marya. Anna Grodzka schaffte es trotzdem ins Parlament - als erste transsexuelle Abgeordnete. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Frühjahr wollte sie für die Grünen kandidieren, bekam aber nicht ganz die dafür nötigen 100.000 Unterschriften zusammen. Bei den Sejmwahlen im Herbst trat sie gar nicht erst an. Sie sei desillusioniert von der Parlaments-Politik, sagt sie. Trotzdem will sie politisch weiter mitmischen: Wir sind ganz klar gegen die Finanzierung der Kirche durch öffentliche Gelder und wir sind auch gegen religiöse Erziehung an Schulen. Wir wollen nicht nur verhindern, dass der Religionsunterricht vom Staat finanziert wird, wir wollen diesen Unterricht generell abschaffen. Denn der nennt sich zwar Religions-Unterricht, aber gelehrt wird ausschließlich der katholische Katechismus. Grodzka schüttelt verständnislos den Kopf. Sie könnte Dutzende solcher Fälle aufzählen: Das strenge Abtreibungsgesetz, der lange Weg bis zu einer Gesetzgebung in Sachen künstlicher Befruchtung - all das geht auf den Einfluss der Kirche zurück. Und das nicht etwa, weil die einzelnen Politiker besonders religiös seien, sagt Grodzka: Das Problem ist, dass die meisten Politiker um ihre Posten fürchten, wenn sie die Unterstützung der Kirche verlieren. Sie tun also mehr als die Kirche verlangt, um die Gunst der Institution zu gewinnen. Und das ist ein Problem. Festen Schrittes steuert Anna Grodzka das Restaurant im Dom Poselski an. Setzt sich an einen der weiß gedeckten Tische, zieht ihre E-Zigarette hervor und bestellt einen Cappuccino. Jahrzehntelang versuchte sie als "Krzysztof" ein gesellschaftskonformes Leben zu führen. Meine Mutter und mein Vater haben an Gott geglaubt. Aber sie waren nicht besonders religiös oder besonders regelmäßige Kirchgänger. Ich habe es versucht: Im Alter von 17,18 habe ich das Alte Testament gelesen, das Neue Testament, den Katechismus. Ich wollte herausfinden, ob ich nicht doch gläubig bin. Es hat allerdings nicht lange gedauert, bis klar war, dass ich nicht an Gott glaube. Ein Dichter sagte mal: Er sei zutiefst un-religiös und so würde auch ich mich beschreiben. Ich bin eine Atheistin. Als Atheist heiratete Krzysztof eine gläubige Katholikin, wurde Vater. Doch eine Krebserkrankung erschütterte das selbstgezimmerte Trugbild. 2009 wurde aus Krzysztof Anna. Und die weiß, dass es in Polen sehr viel mehr Menschen gibt, die an Gott glauben und nach ihren eigenen Maßstäben handeln, als solche, die sich an den extremen Positionen der katholischen Kirche orientieren. Das sind zwei verschiedene Sachen. In Polen haben wir diese "Rydzyk-Kirche", ein Phänomen, das eine sehr radikale und aggressive Richtung beinhaltet, wir nennen sie die "Katholiban". Sie möchten, dass die Menschen ihr Leben in Einklang mit den Lehren des Katechismus führen. Sie sind eine Minderheit, aber es ist eine sehr aufgebrachte und sehr laute Minderheit in der Kirche. Und die weiß ihren Einfluss in der Politik zu nutzen, während er in der Gesellschaft gleichzeitig immer mehr schwindet. Anna Grodzka hat zwar vorerst der Parteipolitik den Rücken gekehrt und Polen wird seit den Parlamentswahlen von der kirchen-nahen, nationalkonservativen PIS regiert - doch Grodzka will weiter kämpfen. Es sieht so aus, als ob die Gesellschaft sich schneller ändert als das Parlament. Es gibt neuere Studien, die untersucht haben, wie tief sich Menschen, die sich selbst als religiös bezeichnen, mit der Kirche verbunden fühlen. Und das Ergebnis sieht folgendermaßen aus: Nur 40 Prozent gehen regelmäßig in die Kirche und trotzdem beharrt die Kirche darauf, dass 90 Prozent der polnischen Bevölkerung gläubig sind. "Wir waren Papst - Die katholische Kirche in Polen fürchtet um ihren Einfluss". Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster. Eine Sendung aus dem Jahr 2015. Die Literaturauszüge stammten aus dem Roman "Sandberg" von Joanna Bator, erschienen im Suhrkamp Verlag. Gelesen hat sie Anna Dieterich. Am Mikrofon war Johanna Herzing. 1