Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 19.07. 2010, 19.30 Uhr "Unterm Strich zähl' ich" - Narzissmus als gesellschaftliches Virus Von Andrea und Justin Westhoff O-Ton 1 Collage Psychologin: Narzissten kümmern sich im Wesentlichen um sich und haben das Ganze wenig im Blick. Psychoanalytiker: Eine Berufskrankheit der Politiker ist die ganz gemeine Eitelkeit. Politiker: Hier steht die Freiheitsstatue dieser Republik! Politikwissenschaftler: Man erlebt heute die Radikalisierung des Narzissmus, dass sich der noch spielerische Narzissmus der Jahrtausendwende mittlerweile radikalisiert zu einem Sozialdarwinismus. Sprecher vom Dienst: "Unterm Strich zähl' ich" - Narzissmus als gesellschaftliches Virus Eine Sendung von Andrea und Justin Westhoff Regie: Musik, darüber Sprecherin: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? O-Ton 2: Na ja, natürlich mag ich mich. Ich denke, man muss mit sich selbst zufrieden sein, ansonsten geht man hier total kaputt. Sprecher: Jede Zeit hat ihre Symbolfigur: In Deutschland war es lange der "Untertan", dann in den 60er und 70er-Jahren der "Rebell" und heute scheint es der "Selbstverliebte" zu sein. In der griechischen Mythologie war Narziss ein schöner Jüngling, in den sich die Nymphe Echo verliebt hatte. Er aber erwiderte weder ihre noch die Zuneigung anderer und wurde dafür mit unstillbarer Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild bestraft. Ein bisschen narzisstisch allerdings sollte jeder Mensch sein, meint die Kasseler Psychologieprofessorin Heidi Möller: O-Ton 3: Es gibt so etwas wie einen gesunden Narzissmus, das heißt, dass ich zunächst mal von mir und meiner Existenzberechtigung auch beglückt sein soll und was von mir halte. Sprecher: Dieses Selbstbewusstsein des Einzelnen hat auf gesellschaftlicher Ebene zu mehr Individualismus geführt: mehr Freiheit, Wegfall von Zwängen, Demokratisierung, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung der Bürger. O-Ton 4: Die Entwicklung von Individualität, das ist ja per se nichts schlechtes, sondern im Gegenteil; wir müssen bloß aufpassen, dass das Bewusstsein darüber nicht völlig verloren geht, dass eben der Sozialstaat auch zu dieser wachsenden Individualität mit beigetragen hat. Sprecher: Aber genau das ist passiert, glaubt der Ökonom und Sozialpolitiker Hartmut Reiners. Aus gestärktem Selbstbewusstsein ist inzwischen Egoismus geworden, die Selbstverwirklichungskräfte haben eine "ungesunde", kaum mehr kontrollierbare Eigendynamik entwickelt. O-Ton 5: Wir reden in der Psychologie von einem sogenannten narzisstischen Persönlichkeitsstil und das heißt eben, dass da ein vordergründig übersteigertes Selbstwertgefühl eine Rolle spielt, wohinter eine Minderwertigkeit steht, die jemand empfindet über sich, die dann kompensiert wird mit einem übersteigerten Selbstdarstellungsdrang, mit dem Mechanismus, dass die anderen Menschen eigentlich im Wesentlichen zu Bewunderern degradiert werden. Sprecher: Ein solcher "Persönlichkeitsstil" ist häufig geworden. Nicht nur Psychotherapeuten haben jede Menge zu tun mit narzisstischen Störungen, auch gravierende gesellschaftliche Folgen werden nach Ansicht von Sozialwissenschaftlern sichtbar. Als Anzeichen dafür nennen sie die Zunahme der Single-Haushalte, den Rückgang der Geburtenraten, Rücksichtslosigkeit und fehlende Zivilcourage im täglichen Miteinander, ebenso skrupelloses Macht- und Gewinnstreben in Politik und Wirtschaft, gepaart mit sozialer Entsolidarisierung. Zwar sprachen Sozialpsychologen schon in den 80er-Jahren vom "Zeitalter des Narzissmus" und warnten vor einer "Ellenbogen-Gesellschaft". Nun aber konstatieren sie eine "Wiederkehr des Narzissmus" in gesteigerter Form, eine neue Ego-Gesellschaft, die "Generation Ich". Heidi Möller, die an der Universität Kassel das Institut für Soziale Therapie und Organisationsberatung leitet, sieht hier ein Zusammenwirken individual- psychologischer und gesellschaftlich-politischer Kräfte: O-Ton 6: Ich würde es so formulieren, dass wir in einer Zeit leben, wo Menschen sehr viel stärker als früher bedroht sind: von Armut, selbst der Mittelstand, der früher sich relativ sicher fühlen konnte in seiner sozialen Stellung, ist ja in großen Teilen auch von Armut bedroht. Wir haben kurzfristige Arbeitsverträge, wir haben wirtschaftliche Krisen, auch Liebesbeziehungen sind keine Garanten mehr als Fels in der Brandung, sodass es ein deutliches Mehr an Versagensangst gibt, ein deutliches Mehr an sich - bewähren -müssen, und das heißt natürlich, dass, wenn ich zu den Gewinnern gehören will, und das wollen die meisten Menschen natürlich ganz gerne, diese negativen Gefühle wie Angst, wie Schwäche, wie Verzweiflung verdrängt werden. Und nur das Schillernde, Strahlende, Erfolgreiche, Sportliche, Durchtrainierte, Leistungsstarke in den Vordergrund gestellt wird. Und da kann man sicherlich davon reden, dass wir in einer Zeit leben, wo diese - ich sag mal - nur Schokoladenseiten der Menschen ganz besonders gefragt sind. Sprecher: ... in einer Imagegesellschaft, wo der Narzissmus des einzelnen ebenso gedeihen kann wie er umgekehrt die Gemeinschaft prägt. Sprecher: Einen sinnfälligen Ausdruck findet diese Entwicklung in den Medien. Regie: mit Effekt / Gekreische/Buhs Sprecherin: "Das Supertalent", "Popstars", "You can dance!", "The Biggest Loser", Germanys Next Topmodel, "Deutschland sucht den Superstar" Sprecher: Narzissmus sucht den Vergleich. In einem Klima verschärfter Konkurrenz wird die Schlacht um die besten Plätze oft in den Medien ausgetragen: Es geht um Beachtung, letztlich um Attraktivität. Schönheit ist inzwischen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor geworden, ein Milliardengeschäft. Und die Werbung verkauft jeden Tag aufs Neue die Idee von der Möglichkeit, sich zu "verbessern". Und wenn es nicht zur Schönsten im Land reicht, dann muss man es mit spektakulärem Auftreten versuchen. Zahlreiche Casting-Shows machen sich das zu nutze. Es geht längst um mehr als um die von Andy Warhol einst prophezeiten "15 Minuten Ruhm für jeden". Fernsehshows und Internet-Plattformen wie Youtube oder Facebook sind vor allem "Selbstvermarktungsformate", in denen um die vorderen Plätze in der Gesellschaft gerungen wird. Heidi Möller: O-Ton 7: Die vielen Shows im Sinne von Top-Model und Superstar und so weiter, da geht's natürlich vor allen Dingen um eine Botschaft, nämlich: "Wenn du willst, kannst du es schaffen, streng sich an, dann kannst du auch berühmt werden", was natürlich vollkommener Unsinn ist, denn es gibt von 80 Millionen immer nur ein Top-Model, aber was damit transportiert werden soll, ist eben: "Du bist selbst Schuld dran, wenn du nichts aus dir machst!" Sprecher: Medien bedienen nicht nur die Lust an der Selbstbespiegelung. Es gelten auch hier längst die harten Regeln des Marktes: Selbstvermarktung vielfach bis hin zur Selbstaufgabe - alles begleitet vom Hohn der Macher und der Millionen Zuschauer. Ganz wie im Mythos: Narzissmus ist letztlich ein selbstzerstörerischer Prozess. Regie: Musik, darüber Sprecherin: "Spieglein, Spieglein an der Wand" O-Ton 8: Wenn mich jemand in der Personalauswahl für Führungskräfte fragen würde, würde ich in jedem Fall abraten, Menschen mit einem ausgeprägten narzisstischen Anteil einzustellen, weil die nicht das große Ganze im Auge haben. Das Problem ist, dass die Leute, die einstellen, in der Regel ähnlich sind, und wir wissen aus der Sozialpsychologie sicher, dass wir Menschen sympathisch finden, die genauso sind, wie wir selber, und das heißt, dass in einer sehr narzisstischen Kultur in einem Unternehmen auch natürlich entsprechend immer wieder die Menschen ausgewählt werden. Sprecher: Auch die Wirtschaft ist heute ein idealer Tummelplatz für Narzissten: Sie zeigen hohe Motivation, Ehrgeiz, Machtbewusstsein und Gewinnstreben, sie können sehr charmant und überzeugend auftreten. Eine gewisse Härte und Gefühllosigkeit, die man Managern oft vorwirft, kann im Geschäftsleben gelegentlich sogar von Nöten sein. Dennoch: Narzissten sind eigentlich keine guten Führungskräfte, sagt die Psychologin Heidi Möller, die an der Uni Kassel Organisationsberatung lehrt und in Seminaren selbst praktiziert. O-Ton 9: Dazu gibt's auch Forschung: Nach dem Zusammenbruch der DDR, da gab es ja zahllose Unternehmensgründungen, die hat man Langzeit untersucht, und diejenigen, die eher so diese eigene Mehrung von Einfluss und Wohlstand verfolgten, waren zunächst mal erfolgreicher, aber was den längeren Geschäftserfolg angeht, waren sie eben weniger erfolgreich. Narzissten müssen ja ihren Selbstwert stabilisieren, und das tun sie zumeist auf Kosten anderer. Das heißt, der andere wird nicht respektiert, Narzissten können nicht anerkennen ihr Gegenüber, und das sind alles Aspekte, die Mitarbeiter eben überhaupt nicht motivieren und insofern auch langfristig nicht zu guten Leistungen bringen. Also, es geht ja bei einer guten Führungskraft darum, dass sie quasi ein Treibhausmilieu bereitstellen kann, wo andere Menschen groß werden können, innovativ sein können. Sprecher: Tatsächlich zeigen sich beim modernen Managertypus zunehmend die negativen narzisstischen Anteile: Größenwahn, Realitätsverlust, unsoziale Einstellung, deutlich gemacht durch völlig überhöhte Gehälter und Abfindungsforderungen selbst dann, wenn der Chef die Firma in den Ruin getrieben hat. Es zeigt sich die Unfähigkeit, Kritik anzunehmen und Fehler einzusehen. In der narzisstischen Weltsicht gibt es - wie beim Glücksspiel - immer nur Gewinner und Verlierer. Macht dies aber solche Manager zu alleinigen Verursachern der weltweiten Finanzkrise? O-Ton 11: Ich möchte auf keinen Fall ein pauschales Urteil abgeben über Führungskräfte; dass narzisstische Führer mit ihrem Hype auf Maximierung ihres Gewinns Schuld sind sozusagen an dieser Finanzkrise, finde ich eine unzulässige Psychologisierung dessen, was dort geschehen ist. Dass natürlich die Selbstreflektion nicht gerade eine Stärke der letzten Jahre war, und es manchmal etwas mehr Demut gebraucht hatte, manchmal ein bisschen mehr Rechts- und Linksgucken, oder auch mahnende Stimmen, die es gegeben hat, ruhig mal hören, das ist sicher richtig. Aber es ist ja kein psychologisches Problem allein. Regie: Musik, darüber Sprecherin: Spieglein, Spieglein an der Wand O-Ton 12: Ihr kauft mir den Schneid nicht ab! O-Ton 13: Wir sind fraglos meines Erachtens eine Ego-Gesellschaft, und das spiegelt sich sicherlich auch im Politischen. Sprecher: Wenn sich Narzissmus vom psychopathologischen zum gesamt-gesellschaftlichen Phänomen entwickelt, liegt es nahe, dass er sich auch bei anderen Führungskräften äußert: Erfolgreiche Politiker sind heute ehrgeizig und machtbewusst, gewandt verkörpern sie ihre Sieger-Mentalität. Der Giessener Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth hat in seinem Buch: "Narzissmus und Macht" die "seelischen Störungen in der Politik" untersucht. O-Ton 14: Der berühmte Soziologe Max Weber hat Macht definiert als die Möglichkeit, den eigenen Willen auch gegen den Widerstand von Anderen durchzusetzen. Das psychologische Pendant zum sozialen Phänomen der Macht ist im individuellen Seelenleben der Narzissmus, das Selbstwertgefühl, das Gefühl, ich kann etwas bewirken - das ist, glaube ich, in jedem Menschen angelegt, insofern versucht jeder, seine Mitmenschen und seine Umwelt zu beeinflussen. Sprecher: Wirth unterscheidet zwischen "gesundem" und "krankhaftem" Narzissmus in der Gesellschaft und gerade auch in der Politik. So sei auch Macht zunächst einmal kein "Teufelszeug" ... O-Ton 15: ... sondern es gibt gute, verantwortungsvolle Machtausübung, beispielsweise, wenn Eltern ihre Kinder davon abhalten, Dinge zu tun, bei denen sie zu Schaden kommen würden, oder die Polizei, die auf Einhaltung von Verkehrsregeln achtet. Also das Problem ist nicht die Machtausübung an sich, sondern der Machtmissbrauch - wenn der Mächtige seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die primär oder auch ganz ausschließlich seiner persönlichen Selbstberauschung, seiner Eitelkeit, seinem pathologischen Narzissmus dient. Sprecher: Die heutige Politikergeneration betreibe ihren Beruf nicht mehr aus einem gesellschaftlichen Antrieb heraus, sondern sehe ihn als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Große Entwürfe und Visionen gebe es nicht mehr. Das sagt der FAZ-Redakteur Majid Sattar, der eine Biografie über Guido Westerwelle geschrieben hat. Der FDP-Vorsitzende ist für ihn - wörtlich - die "Ikone der Generation Ich" in der Politik. Zweifellos zieht Westerwelle besonders viel Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch, so Sattar, sei der nur der Prototyp eines Politikers der neuen narzisstischen Art, als weiteres Beispiel nennt er SPD-Chef Sigmar Gabriel. Viele dieser Politiker wiesen keine Brüche in der eigenen Biografie auf, ihr Handeln sei nicht "historisch aufgeladen". Für den Berliner Politologen Albrecht von Lucke ist dieser Typus des narzisstischen Politikers jedoch kein ganz neues Phänomen: O-Ton 16: Wenn man daran denkt, dass Helmut Schmidt sich noch im Jahre 74 bis 82, der Zeit seines Regierens, als der leitende Angestellte der Republik verstand, dann war ganz deutlich, dass das Ich hinter das Amt zurücktritt. Betrachtet man hingegen Gerhard Schröder in seiner Definition "Ich will da rein", dann steht das Ich, das Ego, ganz klar vor dem Amt. Und das ist ein Phänomen, das ich dann schon als ein narzisstisches begreifen würde und gewissermaßen auch als eine neue Form der Übersteigerung des Individualismus. Sprecher: Allerdings treten Politiker dieses neuen Typs jetzt besonders häufig auf, meint der Redakteur der "Blätter für Deutsche und Internationale Politik": O-Ton 17: Das Beispiel, das mir am interessantesten zu sein scheint, ist Karl Theodor zu Guttenberg. Wenn man sich bewusst macht, wie er im Privaten Inbegriff einer narzisstisch geprägten Generation ist, aber in seinem neuen Amt gewissermaßen die Inkarnation von etwas wie Haltung versucht zu verkörpern, dann sieht man den ganzen Widerspruch in sich. Guckt man sich beispielsweise an, wie er noch damals als Wirtschaftsminister einerseits in die USA reiste, um damals Opel zu retten, auf der anderen Seite dann aber in New York auf dem Boulevard posierte, um die besten Fotos zu erzielen, da merkt man exemplarisch, dass die alte Position von Demut, Achtung und der Bedeutung des Amtes in Konflikt gerät mit der narzisstischen Haltung. Sprecher: Und noch etwas hat sich verändert: Mehr als je zuvor wird Politik von Medien bestimmt. Der Journalist Jürgen Leinemann spricht in seinem Buch "Höhenrausch" von einer "Mediokratie", die mit der Nominierung Gerhard Schröders zum Spitzenkandidaten 1998 begann. Politik sei vor allem Darstellung, nicht die Vermittlung von Inhalten. Die mediale Präsenz wird für Politiker nach und nach zur wahrgenommenen Wirklichkeit: "Ich trete im Fernsehen auf, also bin ich". Folglich seien Abgehobenheit und Realitätsverlust wesentliche Kennzeichen ihrer Politik. O-Ton 19: Wir wollen die geistig politische Wende, weil wir nicht mehr wollen, dass die Mittelschicht belastet wird, abkassiert wird, sondern dass es eine Wende auch im Denken der deutschen Politik und der Gesellschaft gibt. Sprecher: In Zeiten von Wirtschaftskrise und Steuerausfällen, Überalterung der Bevölkerung sowie Unsicherheit über die Zukunft wird der Ruf nach Einschränkung staatlicher Leistungen wieder lauter. Denn tatsächlich ist es schwieriger geworden, die Sozialsysteme wie bisher zu finanzieren. In der Krise des Sozialstaates wächst der Eindruck, es reiche nicht mehr für alle. Das fördert Egoismen, die dazu führen, dass aus einem "harmlosen" ein radikaler gesellschaftlicher und politischer Narzissmus wird, sagt der Politologe Albrecht von Lucke: O-Ton 20: Diese Form wird in dem Augenblick radikal, wenn der zu verteilende Sozialtopf immer kleiner wird. Dann wird der spielerische Narzissmus sehr schnell zu einem harten Sozialdarwinismus, der eigentlich guckt, wie kann ich den Abstand von oben nach unten halten, wie kann ich dafür sorgen, dass mein engeres Umfeld noch das ihm zustehende bekommt. Wie kann ich also dafür sorgen, dass primär Ich aus dem immer engeren Topf das für mich zuträgliche heraus ziehe. Sprecher: Das scheint ein Grund dafür, warum bei Wahlen "Klientelparteien" wie einerseits die FDP, andererseits die Linken, größeren Zulauf verzeichnen. Die von Guido Westerwelle angestoßene Hartz-IV-Debatte etwa hat den latenten Konflikt zwischen Steuerzahlern und Leistungsempfängern in der Gesellschaft weiter geschürt. Den Ökonomen und Sozialpolitiker Hartmut Reiners regt die ganze Debatte über die angeblich vom Sozialstaat abgezockten Leistungsträger ungemein auf: O-Ton 21: Das Ganze hat mit den Tatsachen überhaupt nichts zu tun. Fakt ist, dass gerade die sich selbst als Elite verstehenden Leute gar nicht zum Sozialstaat beitragen. Sie sind meistens weder in der sozialen Krankenversicherung oder in der sozialen Rentenversicherung, noch zahlen sie so viel Steuern, dass sie sagen können, sie seien der Leistungsträger und der Finanzier des Sozialstaates. Es gibt eine Feststellung der OECD, dass das Problem in Deutschland wäre, dass der Sozialstaat vor allem von den unteren und mittleren Einkommensgruppen finanziert wird und die oberen Einkommensgruppen weitgehend verschont bleiben. Also insofern ist der Sozialstaat nicht die Hängematte, das ist eine pure Ideologie von Leuten, die den Sozialstaat noch nie haben wollten und die im Prinzip auch ein sehr reaktionäres Menschenbild haben. Sprecher: Reiners war bis zu seinem Ruhestand 2009 Referatsleiter für "Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik" im Brandenburger Sozialministerium, und er hat beratend mehrere Gesundheitsreformen begleitet. Für ihn ist die derzeitige Gesundheitspolitik exemplarisch für die Aufkündigung sozialstaatlicher Prinzipien. Wann immer zum Beispiel den Versicherten höhere Beiträge aufgebürdet werden sollen bei gleichzeitig weniger Leistungen, sprechen Politiker gern von "Eigenverantwortung" der Bürger. O-Ton 22: Dieser Begriff der Eigenverantwortung, so wie er in dem politischen Alltag verwendet wird, ist in höchstem Maße verlogen. Weil: es geht nicht um Eigenverantwortung im Sinne davon, die Menschen zu qualifizieren mit ihrem eigenen Körper mit ihrer Psyche angemessen umzugehen, sondern es geht darum, dass immer mehr privat gezahlt werden soll. Wenn wirklich die Gestaltung der Gesundheit eine Sache wäre, die den einzelnen Personen obliegen, dann gäbe es überhaupt keine Krankenversicherung, weil: das Risiko krank zu werden, ist nach sozialen und genetischen Gründen sehr, sehr unterschiedlich. Wenn dem nicht so wäre, wäre es gar kein versicherbares Risiko. Sprecher: Hinter dem Begriff Eigenverantwortung steckt auch die Auffassung von konservativen Sozialpolitikern, die Menschen im Land würden eine Luxusversorgung verlangen, so lange sie die Kosten nicht stärker im eigenen Portemonnaie spürten. O-Ton 23: Angesprochen wird damit ja diese sogenannte Vollkaskomentalität. Das ist im Gesundheitswesen sowieso schon eine ziemlich schwachsinnige These, weil sie unterstellt, dass es ein Vergnügen ist, zum Zahnarzt zu gehen und krank zu sein und sich behandeln zu lassen. Und dann wird immer so getan, als wenn so der ganz normale Gang zum Hausarzt, auf dem man auch schon mal verzichten kann und den man auch schon mal verschieben kann, der Prototyp für das Gesundheitswesen wäre und für das Verhalten von Patienten. Dazu nur eine Zahl: 80 Prozent der Ausgaben werden von 20 Prozent der Patienten - ich will nicht sagen verursacht, aber auf die entfallen die. Und das sind alles Leute, bei denen es nicht darum geht, ob sie behandelt werden sollen, sondern wie sie behandelt werden sollen. Und das können nun Patienten beim besten Willen wirklich nicht mehr bestimmen. Sprecher: Tatsächlich sind die steigenden Gesundheitskosten im Wesentlichen durch demographischen Wandel, medizinischen Fortschritt sowie überhöhte Preise und Verschwendung verursacht. Die gesunkenen Einnahmen andererseits gehen ganz wesentlich auf die hohe Arbeitslosigkeit zurück. Vor allem aber hat die Politik eine Entwicklung begünstigt, in der sich gut Verdienende immer weiter aus dem Solidarsystem zurückziehen konnten. Der französische Philosoph Marcel Gauchet schrieb 2008: "Solidarität ist heute im Kern eine Aufforderung an die relativ Armen, die ganz Armen zu unterstützen." Und selbst das ist in Gefahr: Die Angst, selbst weiter finanziell und sozial "nach unten" abzusinken, bewirkt ein immer schlechteres Klima für Solidarität und Gemeinschaftssinn in der Gesellschaft. Ungeniert zählt nicht nur in der Postbankwerbung das Ich. Sprecherin: Unterm Strich zähl ich! Ich / ich / ich und ich! O-Ton 25: Das ist ein Phänomen, was wir zunehmend als einen würde ich sagen Klassenkampf von oben nach unten erleben, wo sich die Gutsituierten zunehmend versuchen abzuschotten und dort ihrem eigenen Egoismus frönen und sich entsolidarisieren von denen, die davor mitgezogen wurden. Sprecher: Individualismus ist kennzeichnend für die Moderne, doch aus den gestiegenen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung ist vielfach der "Ego-Trip" geworden, der eine Gesellschaft auf Dauer beschädigen muss. Gerade die Eliten, schrieb der Göttinger Politologe Franz Walter, hätten ihre "sozialen und karitativen Aktivitäten mehr und mehr storniert." Denn, so Walter, "die Sozialreformen der letzten Jahre haben die Kräfte der Bürgergesellschaft signifikant erlahmen lassen". Albrecht von Lucke stimmt zu: O-Ton 26: Die Menschen, die in der oberen Schicht es sich leisten können, sich aus den staatlichen Solidaritätsbezügen herauszulösen, indem sie sich privat machen - "Privat vor Staat" -, diese Leute kündigen gewissermaßen den Gesellschaftsvertrag auf. Sprecher: Der Trend vom Wir zum Ich, die "Entsolidarisierung" auf quasi allen Ebenen: Im Juni 2010 veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seine neueste Studie zur Einkommensverteilung in Deutschland. Studienleiter Dr. Jan Goebel fasste es so zusammen: O-Ton 27: In den Jahren ab 2000 sehen wir eine sogenannte absolute Polarisierung: Die Ärmeren wurden ärmer, und die Reicheren wurden reicher. In der Konsequenz sehen wir ein Schrumpfen der Mittelklasse. Sprecher: Dieser Trend werde durch das Sparpaket noch verschärft, hohe Einkommen verschont, niedrige belastet. Albrecht von Lucke: O-Ton 28: Die Sorge, die also auch weite Teile der Mitte betrifft, geht dahin, dass man auch nach unten fallen könnte. Das führt natürlich dazu, dass ständige Abgrenzungsprozesse nach unten stattfinden, wo man versucht, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Sprecher: "Deutsche Zustände" heißt eine Untersuchungsreihe, in der eine Forschergruppe um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer seit 2001 den Zusammenhang zwischen der sozialen und ökonomischen Situation in Deutschland darlegt. In dem Ende 2009 erschienenen Band konstatiert Heitmeyer eine "Ideologie der Ungleichwertigkeit" und befürchtet in der Folge einen Anstieg der "gruppenbezogenen Menschen- feindlichkeit". O-Ton 29: Ich teile genau die These von Wilhelm Heitmeyer, dass wir es mit einer, ich würde sogar zuspitzend sagen, Propaganda der Ungleichheit zu tun haben, die dazu führt, dass vorfindliche Rassismen sich auch sozialdarwinistisch ausprägen. Man sieht ja das daran, dass beispielsweise die Taten gegen Obdachlose, gegen sozial Schwache extrem zugenommen haben, dass also eine Form von aggressiver Ausgrenzung stattfindet, die man als ein großes gesellschaftliches Problem begreifen muss. Sprecher: In Heitmeyers Studie zeigen sich die Abstiegsängste gerade auch der Mittelschicht: Ein Drittel der Befragten meint, dass wir es uns in der Wirtschaftskrise nicht mehr leisten können, allen Menschen gleiche Rechte zuzugestehen. Und 61 Prozent sind der Ansicht, dass in Deutschland zu viele "schwache" Gruppen mitversorgt werden müssen. Ein Klima sozialer Kälte ist die eine Folge - eine andere: Abschied der Bürger von der klassischen Politik. Auch das politische Engagement außerhalb der Parteien und Parlamente nimmt ab, soweit es um gesamtgesellschaftliche Fragen geht. Dies nur als Zeichen der "Ego-Gesellschaft", als Folge des "Virus Narzissmus" zu sehen, hält die Psychologin Heidi Möller von der Uni Kassel jedoch für zu einfach. O-Ton 30: Das ist richtig, dass es weniger Einfühlung gibt, dass es weniger Solidarität, mehr Individualisierungstendenzen gibt in der Gesellschaft, auf der anderen Seite können wir aber genauso gut das Gegenteil beobachten, dass also nachbarschaftliche Gemeinschaften, auch Bürgerinitiativen von früher gar nicht besonders politischen Menschen auch zunehmend eine Rolle spielen, auch Menschen, die Ehrenämter übernehmen, die sich engagieren, das sind nicht wenige. Sprecher: Aber ist das nicht doch ein Zeichen für narzisstische Tendenzen? Ich engagiere mich, wenn vor meinem Haus eine Autobahn gebaut werden soll. Beispielsweise hat die jüngste Shell-Studie gezeigt, dass Jugendliche unter gesellschaftlichem Engagement vor allem den Einsatz für die Belange von Jugendlichen verstehen, kaum Interesse dagegen für Bürgerinitiativen, Parteien und Verbände oder auch Hilfsorganisationen haben. Wörtlich heißt es dort: "Es sind nicht ideologische Konzepte oder gesellschaftliche Utopien, die sie verfolgen. Weitaus wichtiger ist die persönliche Befriedigung - jenseits großer Entwürfe oder einer neuen Bewegung." O-Ton 31: Immer, wenn es um das Eigene geht, ist das ja nichts pathologisch-narzisstisches, sondern es ist doch sinnvoll, wenn Menschen sich Lebensumgebungen schaffen auch durch Engagement, dass man gegenseitig die Kinder hütet oder sich um die Blumen des Nachbarn kümmert - na klar, da denk ich immer dran, das macht der dann auch, wenn ich im Urlaub bin, da finde ich den Ausdruck Narzissmus falsch. Also wir haben diese groteske Situation, dass es auf der einen Seite mehr Nähe, Kooperation, Gemeinschaftssinn gibt, und auf der anderen Seite, im beruflichen Kontext, dass immer mehr verloren geht, aber das sich Organisieren in Gewerkschaften und Parteien und so weiter scheint nicht mehr das Mittel der Wahl zu sein für viele Menschen. Sprecher: Die viel zitierte "Politikverdrossenheit" ist so gesehen nicht nur dem Ärger über schlechte Politik und unvermögende Politiker geschuldet. Die Polis, das Gemeinwesen, bedeutet für den Einzelnen, sich für Andere oder für das Ganze einsetzen zu wollen. Dieser Gedanke und damit der Antrieb für Engagement - so scheint es - ist mehr oder minder verloren gegangen. Regie: Musik, darüber Sprecherin: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Sprecher: Es nimmt kein gutes Ende mit Narziss, dem schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie, der sich immer wieder nur seinem eigenen Spiegelbild zuwendet. Er vergeht daran - eine "Erlösung" ist in dieser Geschichte nicht vorgesehen. Und die narzisstische Gesellschaft? Kann die Ausbreitung des übersteigerten Individualismus gestoppt werden? Albrecht von Lucke, Herausgeber der Blätter für Deutsche und Internationale Politik: O-Ton 32: Es wird kaum möglich sein, wieder zu einem reinen Sozialverhalten zu kommen. Es muss aber genau darum gehen, diesen Individualismus wieder zu kultivieren, gewissermaßen vom Narzissmus und vom Sozialdarwinismus wegzukommen und so etwas wie eine gesellschaftliche Einbindung des Individualismus zu praktizieren. Wenn das gelingt, wenn also die Menschen wieder in der Lage sind, Gesellschaft als Notwendigkeit zu begreifen, dann ist das meine ich, der entscheidende Ansatz, um wieder ein besseres Verhältnis von Ich und Gesellschaft zu finden. Sprecher: Für den Gesundheitsökonomen und Sozialpolitiker Hartmut Reiners geht es nicht allgemein um das ausgewogene Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern um ein erneuertes Bewusstsein für den Sozialstaat: O-Ton 33: Es ist eines der wesentlichen Ziele des Sozialstaates, die Menschen von ihren gröbsten Existenznöten zu befreien und ihnen damit auch mehr eigenen freien Gestaltungsspielraum in der Gestaltung ihres Lebens zu geben, dass also immer mehr auch an Individualität gewonnen wird, das ist ja auch in Ordnung so und dazu hat ja auch der Sozialstaat beigetragen. Aber der Sozialstaat hat wirklich ein grundlegendes Problem: Nämlich das Paradoxon, dass das Bewusstsein dafür, dass dieser Sozialstaat eigentlich eine zivilisatorischer Errungenschaft ist und notwendiger sozialer Kitt für moderne Gesellschaften, weitgehend verloren gegangen ist. Sprecher vom Dienst: "Unterm Strich zähl' ich" - Narzissmus als gesellschaftliches Virus Eine Sendung von Andrea und Justin Westhoff Es sprachen: Thomas Holländer und Nadja-Schulz Berlinghoff Ton: Thomas Monnerjahn Regie: Roswitha Graf Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1