Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 22. Juli 2013, 19.30 Uhr Stärkt die Abwehr, schützt die Knochen - Gesundheitsversprechen bei Lebensmitteln und die Verbraucherpolitik Von Andrea und Justin Westhoff Musik-Effekt O-Ton 01 EFSA-Spot Lebensmittelprodukte tragen oft Angaben über vermeintliche gesundheitliche Vorteile. Doch können Verbraucher den Etiketten wirklich vertrauen? O-Ton 02 Aigner PK Was drauf steht, muss auch drin sein. Darauf wollen sich die Kunden beim Einkauf auch verlassen können. O-Ton 03 Billen Wenn man in den Supermarkt geht muss man den Eindruck kriegen, die häufigste Todesursache in Deutschland ist Vitamin-C-Mangel. Überall wird Vitamin C zugesetzt, das ist ein billiger Rohstoff. Ich glaube, dass hinter der Werbung letztlich ein Geschäft mit Angst steht. Sprecher vom Dienst Stärkt die Abwehr, schützt die Knochen - Gesundheitsversprechen bei Lebensmitteln und die Verbraucherpolitik Ein Feature von Andrea und Justin Westhoff Atmo Supermarkt O-Ton 04 Spot Stiftung Verbraucherschutz Hunderte Produkte stapeln sich in den Regalreihen, und alle sind so gesund. Zitator Calcium und Vitamin D für gesundes Wachstum und eine gesunde Entwicklung der Knochen von Kindern. Sprecherin Ein kleiner süßer Pudding für die Zwerge. Zitator Am liebsten würdest Du den ganzen Tag naschen - Gut, dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden hab'. Nimm Bonbons mit Fruchtsaft und Vitaminen. O-Ton 06 Przyrembel Bonbons mit Vitaminen, das halte ich für sehr problematisch. Zitator Bringt Ihre Verdauung in Schwung. Ihr Bauch entscheidet. Sprecherin ... verspricht der aktivierende Joghurt. Zitator Dunkle Schokolade, reich an Antioxidantien, schützt den Körper! Sprecherin Und die Margarine ABCL Zitator Hilft messbar und wirksam den Cholesterinspiegel zu senken. Sprecherin Einige der typischen "Health Claims" - so die internationale Bezeichnung für Packungsaufdrucke oder Werbespots - die Gesundheitsförderung durch bestimmte Lebensmittel versprechen. Effekt/Musik O-Ton 08 Markwardt Die Lebensmittelindustrie stößt gerade in Europa und Nordamerika an Wachstumsgrenzen, und muss deswegen Auswege finden, zum Beispiel teure, hochpreisige Produkte zu verkaufen. Das gelingt besonders gut mit Gesundheitsversprechen, weil die Verbraucher eben auch bereit sind, dafür mehr zu bezahlen. Sprecherin ... erklärt Anne Markwardt von der kritischen Lebensmittelorganisation "foodwatch". Naturgemäß sieht das der Vertreter der Industrie, Peter Loosen vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, anders. O-Ton 09 Loosen Die Verbraucher interessiert im Zusammenhang mit der Ernährung die Gesundheit fast mehr als alles andere. Neben allen anderen Wegen ist aber die Werbung ein gutes Transportmittel für Gesundheitsbotschaften, und vieles, was die Verbraucher heute wissen, haben sie auch über die Werbung gelernt. O-Ton 10 Markwardt Einerseits sagt die Lebensmittelindustrie: Es gibt ja keine gesunden und ungesunden Produkte, wenn es um Kritik an ihren Zuckerbomben geht. Andererseits versucht sie eben, massiv mit Gesundheitsaussagen zu werben, wenn sie sich davon Profite verspricht. Sprecherin Zwar weiß so ziemlich jede und jeder, dass eine ausgewogene Ernährung am besten für den Körper ist. Aber heutzutage greifen immer mehr Verbraucher zu Fertigprodukten - frische Zutaten landen weitaus seltener im Warenkorb. Umso größer ist - mehr oder minder unterschwellig - die Sorge um die Gesundheit. Dafür bietet die Industrie aufgepeppte Lebensmittel an, durch Zufügen verschiedener Substanzen. Manches wird als "functional food" bezeichnet, als Produkte, die einen gesundheitlichen Zusatznutzen versprechen. Und es gibt Nahrungsergänzungsmittel wie etwa Multi-Vitamin-Pillen oder Mineralstoff-Dragees, die topfit machen sollen. Musik Zitator: Schärfere Auflagen - Die Health-Claims-Verordnung der EU O-Ton 11 EFSA Können Verbraucher den Etiketten wirklich vertrauen? Sprecherin Es ist ein schmaler Grat zwischen der in der Werbung ja üblichen Übertreibung und klarer Verbraucher-Täuschung. Gut, jeder weiß, dass man nicht auf einer Südseeinsel landet, umgeben von hippen, fröhlichen jungen Menschen, nur wenn man mal am weißen Rum nippt. Doch bei Werbung mit Gesundheitsversprechen muss schon etwas genauer hingesehen werden. Dafür hat die Europäische Union ziemlich lange gebraucht, findet Gerd Billen, Chef des Verbraucherzentralen- Bundesverbandes. O-Ton 12 Billen Da die Industrie natürlich in ihrem Bestreben, immer neue Lebensmittel zu kreieren, gemerkt hat, über das Thema Gesundheit kann man die Verbraucherinnen und Verbraucher packen, haben sie eben tausende von Health Claims benutzt; und da die EU-Kommission sich nicht dazu entschieden hat, sie zu verbieten, sondern sie zu regulieren, ist nun ein großer Aufwand betrieben worden, die vielen einzelnen Claims unter die Lupe zu nehmen und zu sagen, ist in Ordnung oder nicht in Ordnung. Sprecherin Zuständig für solche Fragen ist eine Institution der EU, die sich selbst im Internet so vorstellt: O-Ton 13 EFSA Mann (Musik) Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, kurz EFSA, trägt zum Schutz der Verbraucher vor lebensmittelbedingten Risiken bei, drei wichtige Beispiele für die zahlreichen Tätigkeitsfelder der EFSA sind lebensmittelbedingte Erkrankungen, Pestizide und gesundheitsbezogene Angaben. Sprecherin Die Behörde sammelt wissenschaftliche Aussagen und berät die Entscheider in der Gemeinschaft und in den Mitgliedsstaaten. Diese halten sich bei der Gesetzgebung praktisch immer an die Empfehlungen, auch im Hinblick auf Health Claims. O-Ton 14 EFSA Frau (Musik) Die unabhängigen Sachverständigen der EFSA haben die wissenschaftlichen Grundlagen von gesundheitsbezogenen Angaben bewertet. Sprecherin An der Unabhängigkeit dieser Sachverständigen sind jedoch vor einiger Zeit erhebliche Zweifel geäußert worden. Anne Markwardt von foodwatch. O-Ton 15 Markwardt Die Verbraucher erwarten natürlich zu Recht, dass diese Behörden unabhängig und mit unabhängigen Wissenschaftlern besetzt sind, das ist aber leider in vielen Fällen nicht der Fall. Also die EFSA beispielsweise, die hat eben Wissenschaftler in diesen Komitees sitzen, die unter anderem auch Forschungsgelder von Industrie, Lebensmittelindustrie-Unternehmen bekommen oder die für die Forschungsinstitute der Industrie gearbeitet haben. Sprecherin Der Vorwurf ist - für die Vergangenheit - nicht von der Hand zu weisen. Wegen zu großer Industrienähe einiger führender Mitarbeiter hatte das EU-Parlament im Mai 2012 drei seiner Behörden vorläufig die Haushaltsentlastung verweigert, darunter eben auch der EFSA mit Sitz in Italien, passenderweise im schönen Parma. Inzwischen gibt es klarere Regeln. Nun werden die Verbindungen zur Industrie stärker kontrolliert und öffentlich gemacht, gegebenenfalls wird der betreffende Wissenschaftler von einem Tagesordnungspunkt ausgeschlossen. Deshalb ist es Hildegard Przyrembel leid, auch heute noch mit solchen Vorwürfen konfrontiert zu werden. Die Kinderärztin und Ernährungsfachfrau gehört zu den Beratern der EFSA. O-Ton 16 Przyrembel Inzwischen macht es mich langsam böse. Wenn wir für die EFSA arbeiten, werden wir inzwischen wirklich drangsaliert. Für jeden einzelnen Tagesordnungspunkt müssen wir bestätigen, dass wir keine Interessen haben, auch unsere Familienangehörigen keine Interessen haben, dass wir keine Aktien der Gesellschaft besitzen und dergleichen Dinge. Und ich denke auch, dass die EFSA uns besser verteidigen müsste. Man sollte froh sein, dass es Leute gibt, die diese Arbeit machen, die Arbeit die sie machen, die ist wirklich sehr zeitraubend. Sprecherin Die externen Experten machen diese Arbeit neben ihrem Hauptberuf. Sie erhalten von der Europäischen Behörde einen Berg an Literatur zu einem bestimmten Stoff, darunter auch Dossiers der Industrie. Einer oder mehrere dieser Wissenschaftler erarbeiten einen Entwurf, der dann in der Gruppe aufwändig abgestimmt und an die EFSA als Gutachten geleitet wird. Inzwischen hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit einen großen Teil aller Gesundheitsversprechen bei Lebensmitteln darauf überprüfen lassen, ob sie wissenschaftlich haltbar sind. Was dabei heraus kam, sieht zunächst durchaus streng aus. Bis Ende 2008 mussten die Hersteller alle Health Claims melden. Es waren unglaubliche 44.000. Diese wurden zusammengefasst, so dass schließlich 4.600 Werbeaussagen den "Wahrheitstest" durchlaufen mussten. Davon ist bisher rund die Hälfte erledigt - ganze 222 haben die Zulassung geschafft. Die EU übernahm die Empfehlungen der EFSA, seit Ende 2012 gilt die Health-Claims- Verordnung für alle Mitgliedsstaaten. Hildegard Przyrembel, einst Professorin im deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung, sieht allerdings nicht alle Fragen gelöst. O-Ton 17 Przyrembel Das Problem ist das Verbraucherverständnis. Wenn der Verbraucher ein Lebensmittel vor sich sieht und eine Aussage - welche Schlüsse zieht er daraus? Er könnte zum Beispiel von einer direkten Aufnahme-Wirkungsbeziehung ausgehen Also ich esse das, und dann passiert das. Meiner persönlichen Meinung nach kann man gesundheitsbezogene Aussagen eigentlich nur sinnvoll verwerten, wenn ein gewisses Basiswissen über Ernährung da ist. Sprecherin Tatsächlich ist es für Verbraucher schwierig, die von der EFSA in fachchinesischem Englisch verfasste Liste zu verstehen, auch wenn sie im Internet öffentlich zugänglich ist. Hier sind nicht etwa die Werbeaussagen für bestimmte Fertigprodukte aufgeführt, sondern einzelne chemische oder auch natürliche Stoffe, mit deren Wirkung nunmehr geworben werden darf oder eben nicht. Die Verordnung unterscheidet zwischen "nährwertbezogenen" und "gesundheits-bezogenen" Aussagen. Atmo Supermarkt Zitator Reich an Vitamin C / Zuckerfrei / Salzarm ... Sprecherin Nährwertbezogen, weiterhin erlaubt. Gesundheitsbezogen darf etwa geworben werden: Zitator Calcium wird für die Erhaltung normaler Knochen benötigt und kann zur Verringerung des Osteoporose-Risikos beitragen. Sprecherin Nicht zulässig hingegen ist nach wie vor die Behauptung, der zugesetzte Mineralstoff sei zur Behandlung von Knochenbrüchigkeit geeignet. Solche Aussagen unterliegen dem strengeren Arzneimittelgesetz, und Lebensmittel sind eben keine Medikamente. Effekt Zitator Aktiviert die Abwehrkräfte / schützt vor Erkältung / Schokoriegel für Kinder helfen beim Wachstum / Eistee fördert die Konzentration ... Sprecherin ... alles nicht mehr erlaubt. Effekt Zitator Bekömmlicher Wein / hilft bei erektiler Dysfunktion ... Effekt Sprecherin ... verboten. Sprecherin Mit dem Begriff "gesundheitsbezogene" Angaben sind auch bildliche Darstellungen gemeint, die Gesundheit versprechen. So darf zum Beispiel Milchpulver nicht mehr mit niedlichen Babyfotos beworben werden, weil dies Mütter nämlich vom Stillen abhalten könnte. O-Ton 18 Przyrembel Ursprünglich war ja geplant, bestimmte Lebensmittel davon auszunehmen grundsätzlich, wenn sie eine bestimmte - sagen wir mal - nicht gesundheitsförderliche Zusammensetzung haben, dass sie überhaupt eine gesundheitsbezogene Aussage tragen dürfen. Sprecherin Damit spricht Hildegard Przyrembel eine erhebliche Lücke in der Health-Claims- Verordnung an. O-Ton 19 Przyrembel Da weigern sich natürlich die Hersteller mit Händen, Füßen und mit allem, was sie haben (lacht). Und das Problem ist derzeit, dass wir diese Nährstoffprofile noch nicht haben. Sprecherin Solche Nährstoffprofile sollten festlegen, wie viel Zucker, Fett und Salz ein Lebensmittel höchstens enthalten darf, um mit dem Label "gesund" werben zu dürfen. Eine "Lebensmittelampel" sollte Probleme für die Gesundheit deutlich machen. Darauf können sich die Politiker in der EU aber offensichtlich nicht einigen. Und so darf weiter fleißig behauptet werden, ein Produkt, dem einfach Vitamine oder Mineralstoffe zugesetzt wurden, sei ganz wunderbar für den menschlichen Körper - auch wenn das Zeug vor Fett trieft oder 100 Würfel Zucker enthält. Professor Rolf Großklaus, Ernährungsmediziner und bis vor kurzem Wissenschaftler am Bundesinstitut für Risikobewertung. O-Ton 20 Großklaus Eine Pizza als Beispiel kann ich nicht zu einem "gesunden Lebensmittel" machen, indem ich ein paar Vitamine zusetze, sondern die Pizza ist erst dann positiv zu bewerten, wenn sie insgesamt weniger Fett enthält, ein Mehl verwendet, das mehr Ballaststoffe enthält, auch weniger Salz - erst wenn die Nährstoffprofile erfüllt sind, sollte eigentlich sinnvoll sein, dass dann mit einer gesundheitsbezogenen Werbung auch geworben werden darf. Sprecherin Ein weiteres Problem: Wissenschaftlich wurden nur positive Gesundheitswirkungen geprüft, nicht aber eventuell schädliche Folgen durch ein zu viel des Guten. Anne Markwardt von foodwatch. O-Ton 21 Markwardt Im Gegenteil ist vorgeschrieben, dass eine bestimmte Mindestmenge an Vitaminen zugesetzt wird, damit überhaupt ein Effekt erzielt werden kann, aber das kann eben dazu führen, dass zum Beispiel gerade Kinder, die ja noch einen geringeren Bedarf an Nährstoffen haben dann teilweise völlig zu viel von diesen Vitaminen konsumieren, die tatsächlich negative Folgen haben können. Sprecherin Ein anderes Beispiel: Die EU hat erlaubt, in der Werbung zu sagen, dass solche Margarinen den Cholesterinspiegel senken, denen "Pflanzensterine" zugesetzt wurden. O-Ton 22 Markwardt Auch das ist für sich genommen korrekt, allerdings gibt es da auch Hinweise darauf, dass sich diese Stoffe auch in den Gefäßen ablagern können und damit eben möglicherweise dann zu Herzerkrankungen führen können. O-Ton 23 Großklaus Entscheidend ist, dass Höchstmengen vorgesehen sind; dazu haben wir Vorschläge unterbreitet, aber offensichtlich ist in der Kommission ein Stillstand, und wer drunter leidet, ist eigentlich der Verbraucherschutz, dass wir heute eben noch Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt haben, die eben wesentlich zu hohe Mengen für den Verbraucher beinhalten, ich kann nur wünschen und hoffen, dass man das irgendwann noch tun wird. Sprecherin Mit jenen Gesundheitsversprechen, die bislang noch nicht überprüft wurden, darf erst einmal weiter geworben werden. Das sind noch rund 2.000, die noch durch den Test müssen, darunter vor allem Angaben zu pflanzlichen Stoffen, etwa aus Soja oder Algen, aus Obst und Gemüse wie der Artischocke. Musik Zitator: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Erfolge und Lücken der europäischen Health-Claims-Verordnung O-Ton 24 Aigner Um die Erwartung der Verbraucher auf einen Nenner zu bringen: Was drauf steht, muss auch drin sein. (leicht oben) Sprecherin Ilse Aigner bei der Vorstellung des Internetportals "Lebensmittelklarheit.de". O-Ton 25 Großklaus Werbung mit Gesundheitsversprechen steht ja auf einer neuen rechtlichen Basis. Das ist gut so, denn dabei hat sich gezeigt, dass viele Werbung eigentlich Unsinn ist, insofern besteht zwar Hoffnung für den Verbraucher, dass das, was draufsteht, auch drin sein sollte, aber ob es wirklich das bringen kann, sollte man näher beleuchten. (leicht oben) O-Ton 26 Przyrembel Ich denke, dass das wirklich ein Jahrhundertwerk ist, was die sich im Grunde genommen vorgenommen haben. Aber es hängt ein bisschen davon ab, was hinterher damit gemacht wird. Und wir konnten nur mit "Ja" oder "Nein" antworten. Das eigentliche Problem ist hinterher die Praxis: Was macht der Verbraucher daraus? Regie Musik Ende Sprecherin Selbstverständlich sind die Einschätzungen unterschiedlich. Peter Loosen vom Interessenverband "Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde". O-Ton 27 Loosen Das Hauptproblem ist, dass der Gesetzgeber sich die Aufgabe gestellt hat, das gesamte Ernährungswissen der Menschen im Gesetzeswege zu prüfen und zuzulassen. Und daran scheitert er im Moment, weil viele ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse vielleicht nicht ausreichend durch Humanstudien gesichert sind. Das sind alles Angaben, die verboten werden, nicht, weil sie nicht stimmen, sondern weil nicht ausreichend wissenschaftliche Daten da waren. Aus unserer Sicht wäre es halt besser gewesen, etabliertes Ernährungswissen weiterhin anzuerkennen und nur ganz neue Erkenntnisse unter diesen Zulassungsvorbehalt zu stellen. Sprecherin Dagegen kritisieren Verbraucherschützer grundsätzlich, dass die Health-Claims- Verordnung leicht umgangen werden kann. Die Lebensmittel-Hersteller mischten zum Beispiel der Fertignahrung einfach reichlich Vitamine und Mineralstoffe bei. Probiotischer Joghurt etwa darf eigentlich nicht mehr mit dem Slogan beworben werden "Stärkt das Immunsystem". Mit den zugesetzten Stoffen ist das wieder erlaubt. Und der Verbraucher denkt wohl weiterhin, er gönnt sich wegen der viel teureren Joghurt-Kulturen etwas Gutes. Gerd Billen, Chef der Verbraucherzentralen O-Ton 28 Billen Sie versuchen, mit bestimmten Tricks zu arbeiten, wir haben auch schon Hersteller abgemahnt, es gab einen Hersteller eines Kindersaftes, da hieß es, der ist "lernstark", was völliger Unsinn ist. Das heißt, man sucht sich dann andere Begriffe, um Lebensmittel gesünder erscheinen zu lassen, jeder Hersteller versucht herauszufinden, wie kann ich die Verbraucher zu meinen Produkten locken, und deswegen gibt es viele Versuche, Verbrauchern unter dem Stichwort "Gesundheit" Lebensmittel zu verkaufen. Sprecherin Der Lobbyverband der Lebensmittelindustrie sieht das anders. O-Ton 29 Loosen Das ist natürlich keine Umgehung, sondern eine andere Art und Weise der Information nach dem Motto: Ich weise auf Gehalte an Vitaminen und Mineralstoffen hin, und das kann ich tun, wenn denn ordentlich was drin ist, aber ich sage nicht, wofür die im Einzelnen gut sind. Sprecherin Die Lebensmittelkritiker von foodwatch hingegen sagen schlicht und einfach: O-Ton 30 Markwardt Ausgewogene Ernährung heißt viel Obst und Gemüse und nicht zuckriger Joghurt mit Vitaminen. Sprecherin Anne Markwardt befürchtet deshalb grundsätzlich negative Folgen der EU- Verordnung. O-Ton 31 Markwardt Und zwar, weil das den Anreiz setzt, dass einfach noch mehr völlig unsinnig und überflüssig angereicherte Produkte den Markt überschwemmen werden, die teilweise hochgradig verarbeitet sein werden. Sprecherin Die Stiftung Verbraucherschutz hat einen Videoclip zum Thema Health Claims im Internet veröffentlicht, in dem ein junges Paar einkaufen geht. O-Ton 32 Clip Hunderte Produkte stapeln sich in den Regalreihen, und alle sind so gesund. Auch wenn einige Gesundheitsversprechen jetzt erlaubt sind, heißt das nicht, dass die Produkte sinnvoll und notwendig sind. Denn jeder Joghurt enthält reichlich Kalzium, und warum sollte Bernd diese Margarine essen, obwohl sein Cholesterinspiegel o.k. ist? Und das Getränk mit Vitamin C und Zink konnte die letzte Erkältung auch nicht verhindern. Die Extraportion Eisen aus Saft und Frühstücksflocken kann schnell zu viel des Guten werden, denn zu viel Eisen tut dem Herz nicht gut. Normale Lebensmittel liefern alles, was Bernd und seine Freundin zum Frühstück brauchen. Musik Zitator "Wer weiß, wie Gesetze und Würste zustande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen" - Otto von Bismarck. Sprecherin Ein zentrales Problem der Verbraucherpolitik in Sachen Lebensmittel: sie bekommt immer nur wellenartig Aufmerksamkeit, meist im Zusammenhang mit Skandalen. O-Ton 33 Aigner Unsere Vorgehensweise war immer absolut klar und nach einem richtigen Muster. Sprecherin Ilse Aigner im Februar 2013 in der Bundestagsdebatte zur Bilanz ihrer Arbeit als Verbraucherministerin. O-Ton 33 Aigner weiter Erst mal Aufklärung, zweitens Verbraucherinformation und drittens Konsequenzen ziehen; Was wir angekündigt haben, haben wir auch umgesetzt, und zwar Punkt für Punkt. Sprecherin Und so zählt die Ministerin auf: O-Ton 34 Aigner (Töne sind einzeln im TB - das Ausgeschriebene sollte hörbar sein) Verbraucherpolitik von A bis Z. A wie ... / I wie Information - unsere Initiative für gesunde Ernährung und ... / K wie Klarheit und Wahrheit - die neue Lebensmittelinformationsverordnung schafft mehr Transparenz bei Kalorien, Nährstoffen und ... / V wie Verbraucherinformationsgesetz - bessere, schnellere und kostengünstigere Auskünfte für alle Bürger / Wir machen den Menschen und den Verbrauchern kein X für ein U vor, ein alter, aber guter Leitsatz für Verbraucherpolitik. Beifall ausgeblendet O-Ton 35 Kelber Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ein ehrliches Alphabet hätte angefangen mit A wie ankündigen, B wie brechen und hätte geendet mit Z wie zaudern. Beifall Sprecherin Buchstabiert der SPD-Abgeordnete Ulrich Kelber in der Debatte. Und Renate Künast von den Grünen, einst selbst Verbraucherministerin: O-Ton 36 Künast Frau Aigner. Sie haben hier von A bis Z ein paar Dinger - ich sage mal - richtige Windeier und warme Luft losgelassen, Sie haben nicht dafür gesorgt, dass die Verbraucher wirklich Täuschung erkennen können. Sprecherin Die Bilanz der Verbraucherschützer fällt nüchtern aus: O-Ton 35 Billen Was sich über die letzten Jahre in der EU erhöht hat, ist die Lebensmittelsicherheit, es ist auch kein Widerspruch, dass es immer wieder Skandale gibt, die gibt es halt, entscheidend ist ja, ob daraus gelernt wird, ob die Kontrolle, die Überwachung verbessert wird; was wir aber sehen, was zunimmt, ist die Irreführung von Verbrauchern durch Etiketten. O-Ton 38 Markwardt In sehr vielen Fällen sehen wir leider, dass in der europäischen Verbraucherpolitik eher die Interessen der Lebensmittelindustrie bedient werden als die Interessen der Verbraucher, und es werden dann ja immer sehr wohlklingende Versprechen gemacht, Aktionspläne aufgestellt, vielfach wird das ausgehöhlt, es bleiben dann oft nicht viel mehr als so ein bisschen - ja - Alibimaßnahmen. Musik Zitator: Hauptsache gesund - Die Ambivalenz beim Essen O-Ton 39 Billen Also ich glaube, das ist schon etwas besonders Deutsches, dass man auf das Thema Sicherheit setzt, was ist drin, und weniger auf das Thema Genuss und schmeckt es einfach. Sprecherin Man kann tatsächlich den Eindruck bekommen, dass fast nirgendwo auf der Welt Essen so sehr mit Gesundheit und so wenig mit Freude verbunden ist wie bei uns. Fallen wir deswegen so gerne auf Werbeversprechen herein, wonach viele Nahrungsprodukte besonders gut für den Körper seien? O-Ton 40 Przyrembel Auf der einen Seite denke ich, dass viele Leute glauben, wenn sie ein bestimmtes Lebensmittel, auf dem jetzt was Positives steht, kaufen, dass sie damit, was sie sonst tun, kompensieren können; das ist sicher, glaube ich, ein Fehlschluss. Und auf der anderen Seite denke ich Spaß am Essen ist irgendwie verpönt bei vielen Leuten, das darf man nicht haben. Sprecherin Die Ambivalenz der Deutschen beim Thema Essen zeigt sich schon alleine darin, dass kaum ein Bürger anderer Industriestaaten so wenig für Lebensmittel ausgibt, wie wir, während wir jährlich deutlich über 1,3 Milliarden Euro für Vitamin- und Mineralpillen in Drogerien und Apotheken tragen. Deutsche unterliegen auch deshalb einer systematischen Täuschung durch die Hersteller, weil es zu wenige Institutionen gibt, die über gesundes Essen aufklären, beklagt der Ernährungsmediziner Professor Rolf Großklaus. O-Ton 41 Großklaus In einem einheitlichen Europa ist es notwendig, dass dies zentralistisch von Brüssel erfolgt, aber es bedeutet auch, dass man seinen eigenen Beitrag leisten muss, und das kann man in Deutschland zunehmend beobachten, dass da wenig aktiv Arbeit gerade im Bereich der Ernährungsmedizin geleistet wird, dass man immer mehr denkt, ja lass' die mal in Brüssel machen, wir in Deutschland lehnen uns zurück. Und Das ist ein großes Manko, dass der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland personell so heruntergefahren worden ist, dass er eigentlich seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann. Sprecherin Auch Gerd Billen fragt sich: O-Ton 42 Billen Was ist notwendig, um Fehlernährung, Überernährung zu bekämpfen? Von dieser Seite her ist es wichtig, dass man über Verbraucherbildung, aber auch teilweise über Kennzeichnungsvorschriften hier dafür sorgt, dass Menschen es einfacher haben, die relativ gesünderen Lebensmittel jedenfalls für sich zu finden. Sprecherin Das grundsätzliche Problem beschreibt Professorin Hildegard Przyrembel O-Ton 43 Przyrembel Mein Eindruck ist, dass dieses Basiswissen über Ernährung bei den meisten Leuten nicht vorhanden ist. Also auch alle Empfehlungen zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, die sind seit Jahren praktisch die gleichen, aber wenn man die Leute fragt, sie kennen sie nicht. Die sind zu simpel, da sind keine Wunderversprechungen dahinter. Möglicherweise liegt es daran, dass man sich nicht ernsthaft damit beschäftigt. Und das sollte im Kindergarten anfangen, dieses Wissen zu vermitteln. Sprecherin Allerdings ändert sich der Stand dieses Wissens immer mal wieder. Es ist durchaus ein Zeichen guter Wissenschaft, keine Erkenntnis für ewig gültig zu halten. Aber Verbraucher können das nicht immer nachvollziehen und wurden oft genug verwirrt Mal heißt es, Margarine sei gesünder als Butter, dann wieder nicht. Erst hieß es, salzarme Kost schütze vor Kreislaufkrankheiten und Herzinfarkt, dann, dies treffe nur auf eine bestimmte Gruppe von Menschen zu. Rotwein sollte gut gegen alles Mögliche sein - später wurde gesagt, solche Studien seien von der Weinlobby lanciert worden. Und welche Risiken als besonders groß wahrgenommen werden, hat mit der Realität oft nichts zu tun. O-Ton 44 Billen Also vorherrschend ist ja das Bild, unsere Lebensmittel sind mit Pestiziden hoch belastet und das ist eine der schlimmsten Ursachen von Erkrankungen, das geben aber die Untersuchungen nicht her. Gesundheitlich gravierendere Auswirkungen haben mikrobielle Verunreinigungen, haben Salmonellen, die kann ich aber keiner Industrie irgendwie anhängen, sondern dafür bin ich mit meinem eigenen Wischlappen und mit meinem Küchenbrett verantwortlich. Sprecherin Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat 2013 eine Analyse veröffentlicht, wonach unsere Lebensmittel eindeutig qualitativ besser und sicherer geworden sind. Zugleich hat es eine repräsentative Umfrage gemacht, die zeigt, dass die Menschen das ganz anders wahrnehmen Zitator Frage: Was stellt Ihrer Ansicht nach eine potentielle Gefahr für die Gesundheit dar? Antwort: Sofort nach Umweltverschmutzungen und radioaktiver Strahlung kommen Lebensmittel - vor Zigaretten, Alkohol, und sonstigen Drogen. Sprecherin Es ist eine inzwischen alte Erkenntnis der Risikoforschung, dass Menschen Gefahren geringer einschätzen, wenn sie glauben, sie könnten diese selbst beeinflussen. Was von "Außen" kommt, wird als besonders schlimm empfunden. Etwa ein Flugzeugabsturz, obwohl solche Abstürze sehr viel weniger Opfer fordern als der Autoverkehr, an dem der Einzelne doch aktiv beteiligt ist. Und ähnlich ist es eben auch mit der Ernährung. Dioxin in Eiern, vor wenigen Jahren der große Skandal, war in so geringen Spuren gefunden worden, dass nie eine Gefahr für die menschliche Gesundheit bestanden hatte. Fehl- und Überernährung, für die man weitgehend selbst verantwortlich ist, kommen in den Gedanken vieler Verbraucher aber kaum vor. O-Ton 45 Billen Da, wo ich selbst gezwungen wäre, meine Gewohnheiten zu ändern, wird es vielleicht schmerzlicher, als wenn ich die Verantwortung an andere delegieren kann. Das Unheimliche und das nicht Sichtbare spielt da auch eine große Rolle, und es wäre wirklich wichtig, im Rahmen von Ernährung sich damit zu beschäftigen, wie kommen wir zu einer angemesseneren Risikowahrnehmung, und nicht eine, die bei uns sehr stark durch Medien hochgetrieben wird. Atmo Supermarkt Sprecherin Offenbar spielt aber auch eine Rolle, dass Verbraucher bei der Ernährung dann doch wieder auf andere Dinge als auf Gesundheit achten. O-Ton 46 Markwardt Das funktioniert eben nicht alleine über die Vernunft, also dazu ist Essen viel zu emotional und tief eingeschrieben, in unsere fast ja schon Triebe. (leicht oben) Sprecherin ... sagt Anne Markwardt und fügt als Vertreterin der Organisation foodwatch hinzu O-Ton 47 Markwardt Idealerweise ist es doch so, dass wir Kindern beibringen müssen, dass sich gesund zu ernähren unglaublich lecker und toll ist, und dass nicht allein die Bratwurst oder die Schokolade oder die Cola oder was auch immer das Ziel des Begehrens sein muss, aber das ist unglaublich schwer, da gegen die Industrie und gegen ihre Marketing-Maschen anzukommen. Und deswegen muss also die Politik Regeln schaffen, die auch die Lebensmittelindustrie dazu zwingen, ihr Angebot zu ändern, damit wir Menschen, Eltern, Kinder dabei unterstützen können, wenn sie das denn wollen, sich gesund zu ernähren. Musik Sprecher/in vom Dienst: Stärkt die Abwehr, schützt die Knochen - Gesundheitsversprechen bei Lebensmitteln und die Verbraucherpolitik Ein Feature von Andrea und Justin Westhoff Es sprachen: Eva Kryll und Christian Gaul Ton: Andreas Krause Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1