KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Titel : Außer Rand und Band. Ein Klassiker der Moderne: Bora ?osi?s Die Tutoren AutorIn : Brigitte Döbert Redakteurin : Dr. Jörg Plath Sendetermin : 27.11.2015 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Bettina Hoppe, Robert Frank, Sebastian Schwarz und Brigitte Döbert Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Zitator Wie eine Köchin ausrechnet, was sich ausrechnen lässt und was nicht. Unfeine Geschichten und schlechte Vorbilder aus Schenken. Reiseführer durch Leben und Todt. Liedchen nur für Erwachsene und ver- ständige Menschen, die sich durch sie nicht verderben lassen. Romane für Frauen und Fräulein. Wie man wem schreibt und warum. Das Buch aller anderen Bücher, Lebensbeichte eines Literaten. Die wichtigsten Vorschriften und Erlasse zur Eingliederung. Sprecherin Bora ?osi?s Roman Die Tutoren ist ein Monster, weil der Roman sich seinem Thema anpasst, und dieses Thema ist die Sprache. Sprache ist ein grandioses Mittel der Verständigung und Selbstverständigung, sie ist aber auch ein Monster, denn sie ist stärker als der Einzelne, stärker als die Gesellschaft, stärker sogar als die an der Spitze der Gesellschaft, die sie als Herrschaftsinstrument nutzen wollen. Wer eine Sprache spricht, hat sie von anderen Sprechern gelernt, von Tutoren, die sie ihm vorsprechen. Der Titel des Romans könnte passender nicht sein. Zitator Insgesamt 18 Hefte aus fünf verschiedenen Epochen, nacheinander zu lesen. Unterweisungen in Religion, Erziehung, Heilkunde, Handel und Schriftstellerei. Anleitung für das Leben auf Erden, zu Hause, in der Welt, unter Leuten verschiedenen Schlages und zwischen Gebildeten. Wer alles und wie dem Mann beibringt, so aufzutreten, wie der es sagt. Was alles eine Familie beeinflusst. Sprecherin Die 18 Hefte in fünf Großkapiteln sind fünf Personen aus fünf Generationen der Familie Uskokovi? zwischen 1828 und 1977 zugeordnet. Die fünf Personen sind eher Kristallisationspunkte und nicht so sehr handelnde Romanfiguren. Denn bei ?osi? handelt vor allem die Sprache. Zitator Der dornige Weg einer Familie durch Zeit und Ge- schichte ohne Rücksicht auf alles, etwa das schuldlose Erlöschen des Familiennamens. Metropolit, harmloser Schüler, reisender Erzähler, gelehrter Handwerker, Makler und Krämer, Rechte- inhaber und kluger Schriftsteller, und was Verwandte aus dem- selben Geschlecht von ihnen quer durch die Zeit lernen können. Wird es einer überhaupt und wenn ja wie mit all diesen Tutoren aushalten und warum sollte er? (173) Sprecherin Weil Bora ?osi? auf fast 800 Seiten einen monströsen, abstrusen, absurden Befreiungsschlag verfasst hat. Weil er die Sprache, die unser Denken in konventionelle, stereotype Bahnen lenkt, beim Schlafittchen packt, weil er die Groteske in ihr hervorkitzelt, seinen Schabernack mit ihr treibt, dem gutgläubigen Sprachnutzer die Illusionen nimmt. Mit Hohn, Spott, Parodie und Satire, mit verballhornten Ausdrücken, falsch benutzten Fremdworten, Sprachspielen, verqueren Anspielungen, ungrammatischer Diktion, schiefen Bildern, aberwitzigen Ratschlägen, schlüpfrigen Ausrutschern, kolossalen Übertreibungen und der teilweise anmaßenden Pseudo-Gelehrsamkeit seiner Figuren. ?osi? unterläuft die Bevormundung durch die Sprache, indem er die Ereignisse im Leben der Familie Uskokovi? nicht erzählt, sondern einen Haufen von Bemerkungen über sie und von ihnen vor uns ausbreitet, und wir können ihre Lebenswege daraus erschließen, müssen es aber nicht. Wir dürfen mitdenken. Wir werden nicht bevormundet. Musik O-Ton 1 Sprecher (Übersetzung O-Ton) ?Faktisch ist jedes Buch ein Befreiungsschlag, mit dem sich ein Schriftsteller von Bedrängnissen freischreibt, die ihn überhaupt erst zum Schreiben bringen. Denn keiner schreibt einfach so ein Buch, nur bleibt der eigentliche Grund unterschwellig, und der Grund, das sind Albträume, Dinge, die dem Autor auf der Seele liegen. Im Fall der Tutoren waren das übermächtige, sperrige, gewaltige Albträume, denn das Buch hat 800 Seiten, was beweist, dass sich damals sehr viel in mir angehäuft hatte und ich eine Menge loswerden musste.? Sprecherin Über die äußeren Bedrängnisse verliert Bora ?osi? kein Wort. Dabei wurde er ab 1972 von der Partei bevormundet. Der vierzigjährige Schriftsteller hatte einen ersten Erfolg gelandet: Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution. Eine Dramatisierung des schmalen Romans lief rund hundert Mal in einem Belgrader Theater, eine Kinofassung wurde auf dem Filmfestival von Venedig gezeigt, erste Übersetzungen erschienen im Ausland. ?osi? war auf dem Sprung zu internationaler Bekanntheit, vielleicht war das "denen da oben" zu viel. Seine Bücher verschwanden über Nacht aus den Buchhandlungen. Es gab keine Verhaftung, keinen Prozess, er wurde einfach nur kaltgestellt. Dass er nach fünf Jahren wieder publizieren durfte, konnte er nicht wissen. Unvermittelt fiel er aus dem öffentlichen Leben. Sein Bekanntenkreis reduzierte sich drastisch, er hatte plötzlich viel Zeit. Musik Sprecherin Zeit, um herumzulaufen und Gesprächsfetzen aufzuschnappen, Zeit, um in alten Unterlagen der Familie zu stöbern, etwa im Kochbuch seiner Großmutter mit Vermerken zu Geburtstagen und Schuhgrößen einzelner Familienmitglieder und der Teuerung nach dem Ersten Weltkrieg, Zeit, um in Antiquariaten nach zeitgenössischen Berichten über die österreichische Militärgrenze, Baedekern, Gartenbaubüchern aus dem 19. Jahrhundert und derlei Kuriositäten zu stöbern, Zeit zum Nachdenken und zum Schreiben ohne Gedanken an potenzielle Leser, weil seine Frau ihm finanziell den Rücken freihielt. Fünf Jahre in einer Art innerem Exil: Das war die Zeit, in der Die Tutoren geschrieben wurden. Zitator Den jetzt lebenden folgen in der Familie Uskokovi? noch zwei Generationen mit diesem Namen und danach keine mehr, lauter fremde Adressen und fremde Menschen, Schwie- gersöhne. In der letzten Generation nur noch Frauen, außer einem, aber auch der wird nur eine Tochter haben. Zu den Tätig- keiten, die ihnen den meisten Ruhm eintragen, gehört die Pflege des Weinbergs, die Heilung von Menschen, das Schreiben von Büchern. Zum Wichtigsten, was in den Büchern geschrieben steht, gehört die Heilung einiger unheilbarer Krankheiten, die Geschichte vom Tausendkünstler, der alles Mögliche in seinen Bildern malte, von seinen Reisen und was er auf denen erlebte, seinen Zechtouren und in Wirtshäusern gelallten Erzählungen, Obszönitäten und Streichen eines derartigen Lebens, von gro- ßen Männern durch die ganze Geschichte, von Menschen, mit denen sie bekannt waren oder auch nicht, von Briefen, die nach allen Seiten verschickt wurden, von schönen und hässlichen Zeiten, solange das alles währte. Aus all diesen Heften wird ein Buch gedruckt, wer wann was warum gemacht hat. Die wich- tigsten Vorfälle 1828, 1871, 1902, 1938, 1977. Von fünf Generatio- nen und über die. Hauptpersonen 1 Pope, 1 Hausfrau und Haus- herrin, 1 Arztgattin, 1 Handelsgehilfe, 1 Schriftsteller. (172) Sprecherin Bora ?osi? nutzte für Die Tutoren die Geschichte seiner eigenen Familie, er war Anfang 40, als er den Roman in Angriff nahm. 1932 in Zagreb geboren, zog der Fünfjährige mit den Eltern nach Belgrad, wo er bis Anfang der neunziger Jahre lebte. Dann floh er vor Milo?evi? nach Berlin. In Belgrad hatte er Philosophie studiert, in Surrealisten-Kreisen verkehrt, russische Lyrik übersetzt und als Redakteur von Literaturzeitschriften gearbeitet. Mit Mitte 20 legte er sein Debüt vor, das Haus der Diebe, das bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde, er fand eine Frau, bekam eine Tochter, dies und vieles andere aus seinem Leben floss direkt oder indirekt in Die Tutoren ein. Man kann den Roman biografisch und autobiografisch lesen. Dem Autor wäre das allerdings zu langweilig. Er bekennt sich offen zu einem Grundsatz, der so alt ist, wie es Bibliotheken gibt: Nimm zehn Bücher und schreib daraus das elfte. O-Ton 2 Sprecher (Übersetzung O-Ton) ?Das Leben, das wir leben, ist nicht das, was in Büchern über dieses Leben steht. Die Bücher über dieses Leben sind etwas anderes, etwas Erfundenes und etwas, das an die Wirklichkeit bzw. das, was ein Mensch erlebt hat, nur assoziativ erinnert und ansonsten eine eigene Welt bildet, und von daher kann ich mit der Vorstellung, Literatur würde das Leben der Menschen widerspiegeln, überhaupt nichts anfangen, im Gegenteil, Bücher spiegeln Bücher wider, sie schaffen sich ihre eigene besondere Atmosphäre, eigentlich sind sie ein eigenes Universum, und das und nur das interessiert mich am Schreiben, alles andere finde ich sinnlos, warum sollte man beschreiben, was man tagtäglich auf der Straße, zu Hause und so weiter sieht.? Sprecherin Das Spiel mit allem je Geschriebenen zieht sich als roter Faden durch das Buch. Es ist beileibe nicht nur ein Spiel mit Hochliteratur. Vom Ratgeber fürs Briefeschreiben über den Comic, das Haushaltsbuch und den Porno bis hin zu Gedichten ist alles dabei. Die 18 ins Buch aufgenommenen Hefte repräsentieren je ein Genre. Ein Wörterbuch macht den Anfang ? und sind Wörterbücher nicht die Bevormundung par excellence, die den Wildwuchs der Sprache mit Standards bändigen? Das erste Wörterbuch des Serbischen, das die tatsächlich gesprochene Sprache festhielt, erschien 1818, natürlich nicht in Belgrad, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte, sondern in Wien. Sein Autor, Vuk Stefanovi? Karad?i?, setzte sich damit gegen die Befürworter des Kirchenslawischen durch. Mit dem ersten Kapitel der Tutoren, formal ein Wörterbuch aus der Feder des Popen Theodor Uskokovi?, setzt ?osi? dem Sprachpionier ein Denkmal und stellt seinen Vorfahren als Parteigänger Karad?i?s dar. Zitator Schrift: die Buchstaben sind, wenn in Haufen, zunächst einmal Wörter, aus denen sind Sätze, und wenn man die begreift, hat man das, was einer von etwas hält oder über jemanden denkt. Die einen schreiben so, die andren so, jeder wie er mag, ich bin eher für Vuk K[Punkt], von dem ich die Danica beziehe, als für die anderen, die kirchenslawische mit eigenen Schriftzeichen mischen, und das kann dann kaum einer auseinanderhalten. [...] Feder: die kommt nicht immer von der Gans, es gibt auch künstliche, welche zum Schreiben bestimmt, so man was zu schreiben hat. Papier: darauf schreibt man, wer?s liest, kann man nicht wissen. Kyrillisch: das sind die Buchstaben, mit denen wir Serben schreiben, es gibt auch das lateinische Alphabet, mit dem schreiben alle andren. [...] Wörterbuch: wo alle Wörter sind, welche man sagt oder schreibt, selbst die schlimmsten, die kann man halt auch hören und lesen, denn das alles ist von Menschen. Sprecherin Von Karad?i?s systematischer Vorgehensweise und der alphabetischen Ordnung der Stichwörter bleiben dank ?osi?s Transformation nichts übrig. Er lässt seinen Theodor munter assoziieren, die Einträge liefern mitnichten erschöpfende Definitionen, sie spiegeln Ansichten, Gefühle und Befindlichkeiten, und wie sein großes Vorbild scheut der Pope auch vor den schlimmen Wörtern nicht zurück. Zitator Mundgeruch: hat einer, der zu viel Wein getrunken hat oder dem sich der Magen umdreht, das riecht so übel heraus wie ein Fass voll Treber. Furzen: tut selbst der feine Mensch, so er besoffen ist, und er furzt los, wenn du was Ernstes sagst und er dich veräppeln will. [...] Sabbern: tut, wem Flüssigkeit aus dem Munde läuft, weil er betrunken, hinterwäldlerisch oder närrisch ist. Müssen: tut er groß, in beiderlei Bedeutung, Atanasij Ran?i?. Bepisst: hat sich, wer nicht pinkelt, wo es sich gehört, sondern ins Bett oder in die Hose, wenn er ein Kind ist oder krank. Davor: nicht drinnen, sondern hier, in der Nähe. Abtritt: Privet, wo du alles Schlechte, Unbrauchbare aus dir herauswirfst und dich reinigst. Sprecherin Mit dem furchtlosen Theodor steht die Familie 1828 auf dem Gipfel ihres Wohlstands und Ansehens, von da an geht es bergab, auch mit ihm selbst. Katharina, seine Schwiegertochter, die Hauptperson des nächsten Großkapitels, hält fest, wie der Alte völlig durchdreht. Zitator Der Fuchs sagt gute Nacht, Theodor verschweigt die Pracht von seinem Traum entlang der Röcke Saum der längst verstorbenen, mit vieler Müh umworbenen Frau, die ihn ob der Bücherliebe schalt und über sein Leben hatte gar große Gewalt, der Müller mahlt das Mehl und dem köstlichen Schwein geht?s an die Kehl?, die Mühle klappert, der Pope plappert und in des Weinbergs Ruh summt?s immerzu. Im Traum gab er ihr Rosen, sie wollten sich liebkosen, er unter Gottes heller Sonne, sie im fahlen Mondenschein. Sie verpassten die Wonne, sie ließen es sein, und der Schatten wuchs und mit ihm die Krux. So rotwangig wie dumm, Frau, bleib lieber stumm, murmelt der Greis, knipst ein zartes Reis vom dürren Stamm und rennt über?n Damm zum Fluss hinunter. Dort spricht er munter Zauberformeln und predigt wirr, im wilden Taumel und Wortgeklirr, so glaubt er, der ertaubt, schaue er weit zurück und in die Sterne, und das macht er gerne, ein Seher will er sein, kein Weiser, nicht länger Bücherwurm, drum steigt er auf den Turm und redet etwas leiser. (223f) Sprecherin So erfahren wir aus Bemerkungen der nächsten Generation vom Schicksal der vorherigen, und auch von dem der nächsten Generation, über die sich Katharina in einer prophetischen Anwandlung äußert. Wir bekommen die Informationen häppchenweise. Chaotisch verteilt, manchmal irreführend. Die Familiensaga als Puzzle, das man nie vollständig zusammenbringt. Was Theodor ? ein Kind der Aufklärung ? niemals zugegeben hätte. Er ist der intellektuelle Stammvater und letzte bedeutende Pope der Uskokovi?s. Zitator Pope: bin ich wie alle meine Vorfahren, damit ich dem Volke etwas sage; ob einer drauf hört oder nicht, liegt nicht bei mir. Popen dürfen unter der Fremdherrschaft mehr als andre, solange sie die Kirche stehen lassen und nicht töten, aber sie sind gebunden. Sieben Vorväter zurück, vielleicht noch weiter, bloß schrieb damals vor 1600 in Serbien keiner auf, woher einer kam, vielleicht aus Spring, i.e. Uskok; oder unsere Ahnen sind Springer, i.e. Uskoken, oder weil wir aus Serbien hierher gesprungen sind. Mancher Pope pflügt, so es sein muss, ich beaufsichtige die Arbeiten nur und erteile Anwei- sungen und führe Buch und schreibe auf, so viel ich vermag. Manchmal hört sogar einer auf mich. Ein Pope muss kein Eunuch sein, sondern darf was essen und trinken und ein Liedchen trällern, er ist weder Büste noch Bild. Sprecherin Als studierter Theologe ist Theodor ein gebildeter Mensch, deswegen fließt ihm wie selbstverständlich das lateinische ?id est? statt des volkstümlicheren ?to jest?, also ?das heißt? in die Feder, natürlich als Abkürzung, i Punkt e Punkt, wie er sie aus seinen Büchern kennt. Ansonsten feiert Theodor gern in geselliger Runde, er liebt das große Palavern an einem Tisch, der sich unter leckeren Speisen und stets gut gefüllten Weinkrügen biegt, und schimpft über seine angetraute Ana, die sich dann jedes Mal ein Handtuch um den Kopf wickelt und mit Migräne in ihr Boudoir einschließt. Musik Sprecherin Pope Theodor ist nicht der Einzige in der Familiensaga der Uskokovi?s, der öfter mal über die Stränge schlägt. Im vierten Buch tritt ein Herr Lazar ?osi? auf, über den wir viel erzählt bekommen, aber immer nur von anderen. Er selbst ist einfach zu sehr mit sich beschäftigt, wird von Schüttelreimen und der schlingernden Straßenbahn der Linie 2 und dem großen Erbrechen durchgerüttelt, wobei das Erbrechen nebst Arbeitsunfähigkeit die Folge eines hemmungslosen Bier-, Wein- und Schnapskonsums ist. Ein trinkfesterer Kollege, Handlungsgehilfe auch er, berichtet vom Ende einer Zechtour durch Belgrad. Zitator Ha, ich und nicht wissen, was in welchem Buch steht, was zwischen dem und dem geschah und wo das war! Du kannst mich mitten in der Nacht wecken, und ich erzähle dir haarklein, wie die Gräfin ins Zimmer trat, erst das und dann das auszog, sich kratzte und dann den Schrank aufmachte, und dass aus dem Schrank ein splitterfasernackter, stark behaarter Schornsteinfeger sprang, was am Schornstein- feger besonders auffiel, wo ihn die Gräfin anfasste, was er ihr da- raufhin sagte, was sie erwiderte, wo der Schornsteinfeger zuerst hinschaute, was dieser Teufel ableckte, wo er seine Füße hatte und wo die Hände und alles andere, was die Gräfin sagte, wäh- rend ... (658f) Sprecherin Pornographie ist das einzige Genre, das die Saufkumpane um den Vater eines künftigen Schriftstellers als Literatur gelten lassen. Auch in anderen Heften, also Genres des Großkapitels klingt die Pornographie an. ?Lazar, 1938? besteht aus insgesamt acht Unterkapiteln ? so viele besitzt kein anderer Teil des Romans. O-Ton 3 Sprecher (Übersetzung O-Ton) ?Die Zeit gehört bereits zu meiner Lebenszeit. Es ist etwas anderes, über einen Theodor zu schreiben, der hundertfünfzig Jahre vor mir gelebt hat und den ich aus Material herauslösen musste, das gilt auch für Katharina und den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, das liegt alles jenseits meiner eigenen Erfahrung. Lazar, das ist meine Kindheit in Belgrad Ende der dreißiger Jahre, nachdem wir aus Zagreb hingezogen waren, die habe ich bereits zuvor in Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution und den Geschichten über alle möglichen Gewerbe beschrieben, also das ist meine eigene Welt, Kindheit und Jugend, ich habe mitgekriegt, wie sich mein Vater benimmt, wie sich die Menschen in meiner Umgebung benehmen, wie sich meine Mama benimmt, was sie liest, was sie sich wünscht, mein ganzes Umfeld, gewöhnliche Handwerker mit ihrer Art zu reden, mit ihren Fantasien, und dann habe ich natürlich zu der Zeit Comics gelesen, also diese Welt ist mir sehr nah, und dann wusste ich nicht, wie ich die ganze Materialfülle gebändigt bekomme ... Deswegen ist das Buch viel reicher als andere Teile, die nicht so vielgestaltig sind.? Musik Sprecherin Der Roman ist 38 Jahre nach der Erstveröffentlichung auf Deutsch erschienen, obwohl oder vielmehr weil sich seine Qualität, seine zentrale Rolle nicht nur in ?osi?s ?uvre, sondern auch in der serbischen Gegenwartsliteratur herumgesprochen hatte. Denn begleitet wurden die Hinweise auf das kapitale Werk stets von dem Satz: ?Das kann man nicht übersetzen.? Wegen der Wortspiele, wegen der Anspielungen, wegen der Persiflierung von Sachverhalten, die außerhalb Jugoslawiens unbekannt waren, wegen der verdrehten Zitate aus dortiger Schullektüre und der Verballhornung von Namen, die hier kein Mensch kennt, wegen regionaler Besonderheiten und geografischer Bezüge, die nur auf dem Balkan ein Begriff sind, und als ob das nicht genug wäre, kommen noch Reime und historische Sprache und Referenzen und Umgangssprache und Dialekte und bewusst eingebaute Fehler obendrauf. O-Ton 4 (Brigitte Döbert) ?In dieser Aufzählung ist das, was mir beim Übersetzen die größte Schwierigkeit bereitet hat, nicht enthalten: das Rhapsodisch-Zerrissene des Romans. ?osi? ist teilweise buchstäblich mit der Schere hergegangen, um seinen Text möglichst gründlich zu atomisieren. Die Fetzen musste ich erst einmal in Beziehung zueinander setzen und deuten. Ich habe mich Satzteil für Satzteil vorangekämpft und unglaublich viel recherchiert, dabei kamen auf so manchen Treffer zehn oder zwanzig Überlegungen, die auf eine falsche Fährte führten. ?osi? hält oft Aussagen in der Schwebe, beispielsweise schreibt Theodor unter dem Stichwort Pope, Popen dürften unter der Fremdherrschaft mehr als andre, aber sie sind gebunden. Was soll das heißen, sie sind gebunden? Etwas auch in der Übersetzung im Ungefähren zu belassen, gehört mit zum Schwersten, und dabei hat mir oft zu schaffen gemacht, dass der Kontext, von dem jede übersetzerische Entscheidung abhängt, im Extremfall über das ganze Buch verstreut ist.? Musik O-Ton 5 (Brigitte Döbert) ?Das Reimen war im Vergleich dazu fast ein Klacks. Auch hier war der inhaltliche Nachvollzug die größere Schwierigkeit, die Umsetzung hingegen hat Spaß gemacht. Klar, bei mir steht im Wortlaut meistens etwas anderes als bei ?osi?, ich habe, nicht zuletzt auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, einiges dazuerfunden, beispielsweise 'Nietzsche in Sülz Maria', aber es ist trotzdem dasselbe Buch, wenn man, um den Autor zu zitieren, von den ?unvermeidlichen Abweichungen? absieht.? Sprecherin In dem Kapitel "Lazar, 1938" findet sich ein ganzes Heft voller Gedichte mit Metrum und Endreim. ?osi? hatte Bänkelsänger vor Augen, die in Belgrader Kneipen ihre Liedtexte feilboten oder gegen Bezahlung für Familien reimten. ?osi?s Vater blätterte so manchen Dinar für derlei Machwerke hin, und sein Sohn schlachtete sie für die eigenen Zwecke aus. In seinen Versen kriegt alles und jeder sein Fett weg: ein Gesundheitssandalenproduzent, eine Modekönigin, zahlreiche zeitgenössische Filmstars und Heldentenöre, ein Stahlbaron. Zitator Doktor Scholl entwickelte Sandalen Coco Chanel Düfte für die Vandalen Und Friedrich Krupp die dicke Bertha Damit beschießt der Deutsche ganz Europa (672) Sprecherin Statt Dantes Göttlicher Komödie wird dem Struwwelpeter gehuldigt ... Zitator Dürr wie?n Streichholz mag Kaspar die Suppe nicht essen Der Urheber dieser Geschichten kommt aus Hessen Er lässt Paulinchen mit dem Feuer spielen und Lichterloh verbrennen, der Hund (676) Sprecherin ... und im ?LIED VON DER VERMALEDEITEN GELDVERMEHRUNG NAMENS INFLATION? heißt es: Zitator Nur Bankiers freut die Vermehrung der Nullen Alle anderen kauen ratlos an ihren Stullen (677) Sprecherin In den Tutoren drischt selbst das lyrische Ich nur Phrasen. Aber in dieser Leere und Sinnlosigkeit hallt um so lauter nach, was zur Sprache erst geführt hat: menschliche Bedürftigkeit. Ohne die Sehnsucht nach dem richtigen Leben wäre die Satire bloße Gemeinheit und die Parodie reiner Klamauk. Zitator VORFALL IN DER EISENWARENHANDLUNG Der Pavlovi? ihr Mann ist ein hohes Tier Und sie wegen Neuheiten vom Alexanderwerk hier Ihrem höchst modernen Haushalt zur Zier Ein Eisschrank, und der Gatte hätte kühles Bier Der Schnellkochtopf gart ratzfatz Essen für vier Das und viel mehr hat die Dame im Kino gesehen Jetzt will sie noch am Fleischwolf drehen Diensteifrig holt Herr Lazar die Maschine Hält den Finger hinein, erklärt, wie man sie bediene Und die Pavlovi? kurbelt eifrig wie eine Biene Bis der Finger faschiert, Herr Lazar blamiert Sein Schrei das Mark erschüttert Der Lehrling amüsiert, der Chef alarmiert Und selbst die Kundin zittert (672) Sprecherin Ein Fleischwolf, der Eisenwarenverkäufer reißt ? was für ein Schenkelklopfer. An der Oberfläche sind Die Tutoren oft markerschütternder Blödsinn, aber eigentlich sind sie zum Heulen, weil man nur verzweifeln kann in einer Welt, die an vorgestanzten Formulierungen erstickt. Die Szene mit dem Fleischwolf zieht sich durch den vierten Teil, wird von mehreren Seiten beleuchtet, und so entstehen Zusammenhänge, die an die Stelle einer Story treten. Auf diese Weise lesen wir auch von einem Fehltritt der Großmutter, der Hauptfigur von "Laura, 1902". Zitator Aus dem Liebesleben der Frau vom Doktor. / Erlebt sie eine Begegnung in der Eisenbahn oder nicht? / Mit dem Gatten, einem Chirurgen, auf Dienstreise. / Apothekergehilfe unterwegs in beruflichen Angelegenheiten nach Zagreb. / Herzen im Galopp. / Gleise als Notenzeilen eines Liebesgedichts. / Gelegenheiten und Ungelegenheiten aus dem Zugabteil. / Der bescheidene Gehilfe und die weltläufige Diva. / Unsere Ausländerin. / Wie man eine Dame behandelt. / Wie man mit der Eisenbahn fährt. / Ausrüstung und Abfahrt. / Der letzte Tag am alten Orte. / Weichen. / Schicksal ? gibt es das? / Verhängnisvoller Einstieg. / Als wäre nichts gewesen. / Das Leben geht weiter. / Alles zerfließt, Wasser, Erinnerungen und so weiter. / Sünderin ohne Schuld. / Harmlose Plauderei. / Warum geht der Arzt so weit weg, wo er doch Graz und Wien vor der Nase hat. / Wie im Alltag einer slawonischen Familie ankommen? / Unsere Charaktere. / Unsere Geschäfte. / Alte und neue. / Der Sohn eines Geistlichen und die Tochter eines steirischen Pferdezüchters. / Pferderassen und Menschenschicksale kreuzen. / Wie ahnen, dass es den Apothekergehilfen gibt? / Geheimnis des anbrechenden Jahrhunderts. / Wer hat noch nie Schwielen gehabt? / Zum Entschwielen, Dehydrieren, Exkrementieren und Exhumieren nur Präparate von Mona Lisa. (481) Sprecherin Für Laura stand die Großmutter mütterlicherseits Modell, eine in ?osi?s ?uvre fast omnipräsente Figur. Sie ist das Vorbild der Erzählerin im Bel Tempo, zwanzig Jahre nach den Tutoren geschrieben, und in Eine kurze Kindheit in Agram erzählt ?osi?, wie er von ihr Lesen und Schreiben lernte. In den Tutoren ist sie die eifrigste, ergiebigste Stimme, so ergiebig, dass ihr nicht nur ein eigenes Kapitel gewidmet ist, sondern dass sie auch im Kapitel "Lazar, 1938" einfach weiterredet ? inzwischen 36 Jahre älter, Witwe, vierfache Mutter, tüchtige Geschäftsfrau und Winzerin. Sie führt ein Haushaltsbuch, in dem der Haushalt zur Nebensache gerät. Einmal zählt sie Verehrer auf, erst die ihrer Töchter, dann die eigenen, und erinnert sich mit einer gewissen Wehmut an den Apothekergehilfen namens Hinkovi?. Zitator Im Zug, ich war allein unterwegs, kam dieser Flegel herein, welcher wie ein Wasserfall redete, der hieß Hinkovi?, ist nicht mit dem Rechtsanwalt Hinkovi? verwandt, das habe ich mir aufgeschrieben. Ob der noch lebt? (508) Sprecherin Im der Pornographie gewidmeten Heft ?Lazar, 1938? wird dann zum letzten Mal auf die Affäre angespielt: Zitator Also, Lazar, hör mal zu, ich habe eine Frage an deinen Schwager, wo der doch alles weiß und so schlau ist, soll er doch hier vor allen Leuten sagen, was das mit seiner Mutter war damals im Zug vor dreißig Jahren, alle reden davon, aber keiner weiß was Genaues, ist dieser Rotzbengel aus der ersten Klasse nun sein Vater oder nicht? (643f) Sprecherin Aus solchen Bruchstücken muss sich der geneigte Leser Lebensläufe und Handlungsstränge erschließen. Mag sein, dass er sich manches Mal etwas mehr Bevormundung wünschte ? aber ?osi? kann und will nicht schreiben wie die Romanciers des 19. Jahrhunderts, sein Schreiben ist zerrissen und fragmentarisch und auf der Höhe des 20. Jahrhunderts. Am Ende nimmt er sich selbst auf die Schippe, aber auch das sollte man nicht allzu ernst nehmen. Zitator Ich plündere den Tempel des Vergackeierns. Tempel der Kühnste. In der Naktademie der Nissenschaften. [...] Was soll ich sagen. Es hat keinen Zweck, ist bloß Spaß. Santa Maria della Salata. Nichts heilig. Schwelgen im Verstümmeln. Immer destruktiv. Hauptsache ausgefallen. Tuctuc. Blabla Blam. [...] Kapiert ihr? Er setzt ein Wort an die Stelle eines anderen, das im Grunde dasselbe ist. Völlig sinnfrei. Santa Maria degli Spaghetti. Con Spermasan i Radischo. [...] Findet das Haar in der Suppe und toupiert es hoch. Aus der Mücke einen Elefanten. Santa Maria di Maccheroni. (761) Sprecherin ?osi? bietet keine objektive Weltsicht an. Er demontiert sie und zeigt, dass sie ein sprachliches Konstrukt ist. Ein unanfechtbare Wirklichkeit wird nur deshalb immer wieder angeboten, weil wir uns danach sehnen. Und weil sich Schriftsteller danach sehnen, das Buch der Bücher zu schreiben. Zitator Eine Art Betriebsanleitung für alle Lebenslagen. Sehr sehr gut. Privatausgabe eines pensionierten Juristen. Der hatte Zugang zu allen notwendigen Unterlagen. Integraler Ansatz. Meiner Meinung nach das Buch der Bücher. Das ist doch der Traum jedes Schriftstellers. Ein Buch über alles und dabei ein ganz schmaler Band. (764f) Sprecherin Der Traum des Schriftstellers mutiert rasch zum Albtraum. Das Handbuch fürs Leben entpuppt sich als Korsett von Vorschriften, als Bevormundung in Reinkultur mitsamt Gehirnwäsche, als Maßregelung, Gängelung, Disziplinierung jedes Abweichlers. Unüberbietbar die Verknappung, mit der ?osi? die Sprache der Zensur, der Bürokratie und der Gerichtsurteile ins Satirische verbiegt. Zitator Unter der Bedingung, dass der zuletzt Genannte verspricht, sich aus allem herauszuhalten. Amtl. Denkerlaubn. ist nachzureichen. Wird uns. Org. keine Schwierigkeiten bereiten. Weder auf öffentl. Plätzen noch andernorts. Darf keine Notizen, Exzerpte und dergl. anfertigen. Insofern diese Materialien. Unter gew. Umständen Montagen. Im Gegensatz zu dem, was der Autor sagen wollte. (780) Sprecherin Doch bevor aus seinen Äußerungen das Gegenteil von dem montiert wird, was er sagen wollte, bevor er sich bevormunden lässt, hält der Erzähler im letzten Kapitel der Tutoren, "Der Autor, 1977" lieber den Mund. Zitator Pst. Husch. Klappe. (781) Sprecherin Am Anfang war das Wort. Nicht nur in der Bibel, auch in den Tutoren. Der erste Eintrag in Ururgroßvater Theodors Wörterbuch lautet: Zitator Wort: jenes, was dem Munde entweicht Sprecherin Einmal entwichen entzieht sich das Wort der Kontrolle und kann gegen den Sprecher verwendet werden, und so steht am Ende der Tutoren das Schweigen, wer weiß, vielleicht ist es Gold ... Zitator Pst. Husch. Klappe. (781)