KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Nightmare on Elm Street" Das Kennedy-Attentat als literarisches Ereignis Autor/in : Sven Ahnert Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 10.11.2013 Besetzung : Sprecher 1 (Kommentar) Sprecher 2 (Zitate bzw. OV Kennedy u. Kennedyvertrauter, Ansagen, Zwischentexte) Sprecher 3 (literarische Zitate) Regie : Klaus-Michael Klingsporn Produktion : O-Töne, Musik Deutschlandradio Kultur - Literatur 10. November 2013 Redaktion: Dorothea Westphal "Nightmare on Elm Street" Das Kennedy-Attentat als literarisches Ereignis Autor: Sven Ahnert Spr. 1 - (Autorentext, Erzähler) Spr. 2 - (Zitate, männlich, Zwischentexte, Überschriften) Spr. 3 - (Zitate aus Literatur) O-Töne Bernd Greiner, Heinz Ickstadt, John Kornblum, Klaus Uellenberg Historische O-Töne John F. Kennedy, Robert Frost, Nachrichten, Abraham Zapruder Musik Bob Dylan, Rage against the machine, Lou Reed Musikeinspiel Lou Reed I remember where I was that day, I was upstate in a bar The team from the university was playing football on TV Then the screen went dead and the announcer said, "There's been a tragedy Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum (Übers. Stephen Tree) Eine Frau ging vorbei -schluchz-schluchz - sie hatte eine knallrote Nase. "Was ist denn los?" fragte Wayne. Moore lächelte. "Ein Spinner hat den Präsidenten erschossen." Sprecher 2 Ein amerikanischer Alptraum von James Ellroy Musikeinspiel Lou Reed There are unconfirmed reports the president's been shot and he may be dead or dying. 1.O-Ton John F. Kennedy And so, my fellow Americans: ask not what your country can do for you-ask what you can do for your country. Pause, Atmo von historischem O-Ton Walter Cronkite beginnt, dann frei 2.O-Ton Walter Cronkite ...it is confirmed that President Kennedy is dead... Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum Die meisten Läden machten vorzeitig dicht. Die Staatsflagge hing auf Halbmast. Einige Leute hatten die Südstaatenflagge gehisst. Musikeinspiel Lou Reed He said, The president's dead, he was shot twice in the head in Dallas, and they don't know by whom. Sprecher 1 Am 22.November 1963 fielen in Dallas um 12.30 Uhr drei Schüsse, die die Welt verändern sollten. Sie trafen John Fitzgerald Kennedy, den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, der um 13.00 Uhr Ortszeit für tot erklärt wurde. Kennedy war der Hoffnungsträger einer Nation, die den Aufbruch spürte in eine bessere Welt ohne Rassentrennung, Wettrüsten und soziale Ungleichheit. Das Attentat von Dallas beendete diesen amerikanischen Traum und ließ eine schwelende Wunde zurück. Aus einem Traum war ein Alptraum geworden. Sprecher 2 "Zahllose Menschen haben gesagt, dass der Tod des Präsidenten sie noch stärker berührt habe als der Tod ihrer eigenen Eltern. Ich nehme an, der Grund dafür dürfte darin zu finden sein, dass letzteres zumeist einen Verlust an Vergangenheit darstellt - doch die Ermordung Präsident Kennedys stellte einen unschätzbaren Verlust an Zukunft dar." Ted Sorensen, einer der engsten Vertrauten von Präsident Kennedy. Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum Der Fernseher dröhnte - "Eine Nation trauert" / "einziger Killer". Guy verschränkte die Arme. "Da ist noch was." "Ich höre." "Also gut. Ich hab mit dem Scharfschützen gesprochen. Er meint, dass Jack Ruby eventuell ahnt, was gespielt wird." Sprecher 1 Bernd Greiner beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Politik des Kalten Krieges und besonders mit dem Mythos Kennedy. 3.O-Ton Bernd Greiner Es ist in erster Linie die unverwechselbare Physiognomie. Zweitens seine unverwechselbare Sprache, jedenfalls in seinen öffentlichen Reden, die in einem ganz eigenen Duktus gehalten waren, sehr knapp, sehr präzise, teilweise kantig, teilweise sehr elegant wie übrigens auch seine Kleidung. 4.O-Ton John F- Kennedy (Teil davon unter O-Ton Greiner) The world is very different now. For man holds in his mortal hands the power to abolish all forms of human poverty and all forms of human life. And yet the same revolutionary beliefs for which our forebears fought are still at issue around the globe-the belief that the rights of man come not from the generosity of the state, but from the hand of God. 5.O-Ton Bernd Greiner Diesbezüglich war der Mann ein selbstinszenatorisches Gesamtkunstwerk. Er hat als Erster oder zum ersten Mal begriffen, jedenfalls unter amerikanischen Präsidenten, welch hohen Wert die Vermarktung der eigenen Person, des eigenen Amtes hat. Er hat das von A bis Z nicht nur als Präsident durchbuchstabiert, sondern auch in Jackie Kennedy eine kongeniale Partnerin gehabt, die das ebenfalls verinnerlicht hatte und die in ihrem eigenen Auftreten bis hin zur Renovierung des Weißes Hauses dieses Impression Management, diese Pflege des eigenen Images, perfektioniert hat. Sprecher 1 Zur Amtseinführung von John F. Kennedy am 20. Januar 1961 trug der 88jährige Dichter Robert Frost sein Gedicht Dedication vor. Geblendet von der gleißenden Sonne rezitierte er auswendig. 6.O-Ton Robert Frost Come fresh from an election like the last, The greatest vote a people ever cast, So close yet sure to be abided by, It is no miracle our mood is high. Courage is in the air in bracing whiffs Better than all the stalemate an's and ifs. - Kreuzblende Musikeinspiel Lou Reed I dreamed I was the president of these United States I dreamed I was young and smart and it was not a waste I dreamed that there was a point to life and to the human race I dreamed that I could somehow comprehend that someone shot him in the face Sprecher 1 Tausende Bücher und Aufsätze füllen die Regale mit Verschwörungstheorien und akribischen Analysen des Attentates von Dallas. Doch nicht nur Forensiker, Mathematiker, Politologen und selbsternannte Aufklärer haben die Ermordung Kennedys zum Anlass genommen, um darüber zu schreiben. Norman Mailer verfasste "Oswald's Tale", eine Biographie des Attentäters Lee Harvey Oswald, James Ellroy machte aus dem Stoff einen finsteren Mafia-Thriller, der in Dallas spielt. Don DeLillo und Horror-Spezialist Stephen King verarbeiteten die Ereignisse in eigenwillig komponierten Romanen. Für Lyriker und Songtexter wie Allen Ginsberg und Lou Reed war der Tod des Präsidenten Anlass, um ihrer Kritik am amerikanischen Lebensstil Ausdruck zu verleihen. Sie alle haben den Horror vom 22. November 1963 verdichtet und damit diesem historischen Datum ein literarisches Denkmal gesetzt. Ein Tag, den keiner, der ihn erlebt hat, vergessen kann. Die Erinnerung daran ist auch 50 Jahre danach noch frisch in den Köpfen der Zeitzeugen. Musikeinspiel Lou Reed I dreamed that I could somehow comprehend that someone shot him in the face 7.O-Ton Bernd Greiner Die erste Erinnerung ist der Tag selbst. Sprecher 2 Bernd Greiner, Politologe, USA-Kenner und Spezialist für US-amerikanische Politik während des Kalten Krieges, war an jenem historischen Tag im November neun Jahre alt. 8.O-Ton Bernd Greiner Es war ein Freitag. In dem Fall kam mein Stiefvater blass in die Küche, wo ich etwas gespielt habe und sagte: Man hat den Kennedy erschossen. Er war buchstäblich erschüttert. Das war das erste Bild. Das zweite Bild, was mir noch sehr lebendig ist, es muss ein früher Winter gewesen sein, jedenfalls am Tag seiner Beerdigung fiel der erste Schnee und ich wurde zum Milchholen geschickt. Die Kirchenglocken haben den ganzen Tag geläutet in der Stadt anlässlich des Begräbnisses. Das hat sich tief eingeprägt und einen tiefen Eindruck hinterlassen. 9.O-Ton Einblendung News 22.11. 1963, (ca. 15 Sek. frei, dann unter O-Ton weiter) 10.O-Ton Klaus Uellenberg Ich weiß noch, dass eine ganz eigentümliche Atmosphäre herrschte als ich aus der Schule kam und sich eine Atmosphäre verbreitet hatte, die ich vorher noch nicht kennengelernt hatte, die war sehr fremd, voll von unausgesprochenen Dingen, von Spannungen, von Fragen, von Unsicherheit und von großer Betroffenheit. Das verbreitete sich auf den Rest des Tages auf eine Art und Weise, die sehr merkwürdig war, weil viel wenig Greifbares im Raum stand. Sprecher 2 Klaus Uellenberg, Literaturwissenschaftler und Verfasser eines Buches über John F. Kennedy im Spiegel amerikanischer Gedichte und Romane. 11.O-Ton Heinz Ickstadt Ich war mit meiner Frau im Kino, aber vorher weiß ich noch genau, dass, als wir in die U-Bahn am Breitenbach-Platz einstiegen, es ein Wintergewitter gab, mit Blitz, Donner und Schnee. Das ist hinterher immer ein Omen. Sprecher 2 Heinz Ickstadt, emeritierter Professor für amerikanische Literatur, lehrte am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin. 12.O-Ton Heinz Ickstadt Der Film hieß Sturm über Peking mit Charlton Heston und Ava Gardner, ein überlanger Film mit drei Stunden. Nach dem ersten Teil ging das Licht an, und der Manager erschien auf der Bühne und sagte: Kennedy ist erschossen worden. Musikeinspiel Lou Reed Talking stopped, someone shouted, "What!?" I ran out to the street 13.O-Ton Heinz Ickstadt Darauf sprang das Publikum auf, starrte sich an, lief raus. Ich werde diese traumatisierte Atmosphäre nie vergessen. Musikeinspiel Lou Reed Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum Wayne zuckte mit den Schultern. Sie fuhren an einer Bushaltestelle vorbei. Eine junge Schwarze weinte. Sprecher 1 Noch im Sommer 1963 war Heinz Ickstadt Zeuge von Kennedys berühmter Berliner- Rede gewesen. 14.O-Ton Heinz Ickstadt Leute auf dem Kurfürstendamm, die sich ansprachen und um den Hals fielen und weinten. Weil nun gerade auch Kennedy diesen triumphalen Empfang in Berlin hatte und als Berliner, sozusagen, Teil von Berlin geworden war, war diese Betroffenheit besonders tief. Am gleichen Abend, ein paar Stunden später, formierte sich ein Trauerzug, der ging vom Kurfürstendamm die Strecke, die Kennedy gefahren war, bis zum Schöneberger Rathaus. Überall standen Kerzen in den Fenstern. Wir selber hatten Kerzen organisiert. Es war ein Marsch von an die 60.000, die sich nachts vor dem Schöneberger Rathaus versammelten. Es war eine spontane Trauer, wie ich sie bis dahin nie erlebt hatte. Musikeinblendung Lou Reed Talking stopped, someone shouted, "What!?" I ran out to the street People were gathered everywhere saying, did you hear what they said on TV And then a guy in a Porsche with his radio hit his horn and told us the news He said, "The president's dead, he was shot twice in the head in Dallas, and they don't know by whom." 15.O-Ton John C. Kornblum Ich kann mich erinnern, wie ich die Nachricht gehört habe. Sprecher 2 John Kornblum studierte im November 1963 in Michigan. 16.O-Ton John Kornblum Ich war Student zu dem Zeitpunkt und hatte einen Studentenjob im Wohnheim als Empfangsdame sozusagen. Habe Telefonate beantwortet, Post ausgegeben. Sprecher 2 John Kornblum war von 1997 bis 2001 Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland und ist heute Vorsitzender des John F. Kennedy Atlantic Forums, das Idee und Geist von Kennedys Politik für das 21. Jahrhundert bewahren möchte. 17.O-Ton John Kornblum Es war ein Nachmittag. An dem Nachmittag hatte ich gearbeitet, kein Fernsehen in der Nähe. Dann kam eine Dame, die im Büro in diesem Studentenwohnheim war. Sie sagte: Oh, etwas Schlimmes ist passiert in Dallas mit dem Präsidenten. Alles, was wir hatten, war ein Radio, und das haben wir angemacht. Dann hörten wir eine Stimme: Der Präsident ist für tot erklärt worden. Da war alles stumm, da wussten wir nicht, was wir tun sollten. Da waren wir sprachlos. Musikeinblendung Lou Reed Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Sprecher 1 Den Song The Day John Kennedy Died textete Lou Reed, der am 27. Oktober 2013 im Alter von 71 Jahren verstorben ist, für sein 1982 veröffentlichtes Album The blue Mask. Es gehört zu den Meilensteinen seiner Karriere. Es waren sehr intime und persönliche Songs über den Zustand der USA nach dem Mord an Kennedy, nach Vietnam und Watergate. Eine Abrechnung mit der zerrütteten Nation. Sprecher 2 Wer hat John F. Kennedy erschossen? 18.O-Ton Heinz Ickstadt Ich weiß noch ganz genau, wie ich auf dem Kudamm nach dieser Nachricht sagte: Das war einer von der John Birch-Society. Einblendung Musik Bob Dylan John Birch Paranoid Blues (kurz frei, dann unter O-Ton Heinz Ickstadt laufen lassen) So I ran down most hurriedly And joined the John Birch Society I got me a secret membership card Went back to my backyard And started looking on the sidewalk 'Neath the rose bush 19.O-Ton Heinz Ickstadt Da bin ich ganz sicher. Das war sicher mein Wunsch. Wenn schon, dann ein ganz Rechter. Dann sind die Schuldigen klar, die Guten und die Bösen. Danach sehnt man sich ja, dass solche Kontraste deutlich sind. Und Oswald war so einer...Mal war er links, mal wieder rechts. Er macht einen Attentatsversuch auf General Walker, der ganz rechts war. Dann macht er sich zum Instrument von Anti-Kommunisten, obwohl er gleichzeitig auch für die Kommunisten gearbeitet hat; eine völlig undurchsichtige Figur. Der anscheinend nur ein Ziel hatte: aus seinem unbedeutenden Leben irgendetwas zu machen. Sprecher 2 Die John Birch Society war eine ultrarechte Gruppierung, die 1958 gegründet wurde, um der möglichen Gefährdung der amerikanischen Verfassung durch kommunistisches Gedankengut und Sabotage entgegenzuwirken. Sprecher 3 James Ellroy, Ein amerikanischer Alptraum Das Radio heulte. Ein Prediger legte los: John F-für- f-errückt Kennedy war dem Roten Platz hörig. Er hat seine Seele an die verjudeten Nationen verpfändet. Gott segne Lee H-wie-Held Oswald. James Ellroy. Ein amerikanischer Alptraum 20.O-Ton John F. Kennedy And so, my fellow Americans: ask not what your country can do for you-ask what you can do for your country. Sprecher 2 Hier geht's ins Land der Spinner Sprecher 1 Hatte Kennedy, gemäß des Warren-Reports, zu seiner Frau Jackie noch am Morgen des 22.November 1963 gesagt. Und zu seinem engsten Berater Kenneth O'Donnell: Sprecher 2 Wenn jemand wirklich den Präsidenten der Vereinigten Staaten erschießen wollte, wäre es keine schwierige Arbeit - man müsste nur eines Tages mit einem Gewehr mit Zielfernrohr auf ein hohes Gebäude hinauf, niemand könnte etwas gegen einen solchen Anschlag unternehmen. Sprecher 1 Bis heute ist ungeklärt, ob der ehemalige Marinesoldat und Hilfsarbeiter Lee Harvey Oswald als Einzeltäter gehandelt hat oder ob er Teil einer Verschwörung von militanten Kennedy-Gegnern war. Immer wieder wurden die Akteure im militärisch- industriellen Komplex vermutet, allen voran General Curtis LeMay. Es gibt keine eindeutigen Beweise dafür, dass Oswald nicht der Täter war, aber dafür wilde Spekulationen. Drahtzieher der gescheiterten Kubainvasion vom April 1961 kamen ebenfalls als Täter infrage. Auch die Mafia hatte gute Gründe, Kennedy, der dem organisierten Verbrechen den Kampf angesagt hatte, aus dem Weg zu räumen. Die Warren-Kommission, die unmittelbar nach dem Mord an Kennedy unter Vorsitz des Obersten Bundesrichters Earl Warren gebildet wurde, um die Umstände der Tat zu klären, kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Später hieß es: Die Warren- Kommission habe schlampig gearbeitet und Fehler gemacht. Sprecher 2 Fiktion und Wahrheit Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden (Übers. Hans Herrmann) Er schoss durch eine Lücke im Laubwerk. Als der Wagen wieder auftauchte, setzte beim Präsidenten die Reaktion ein. Lee stieß den Griff nach oben, schob das Schloss zurück. Sprecher 2 Don DeLillo, Sieben Sekunden Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Der Präsident reagierte, die Arme gingen nach oben, die Ellenbogen hoch und weit auseinander. Plötzlich waren Tauben da, überall; sie stoben von den Dachrinnen und flogen nach Westen. Der Knall hallte über der Plaza, dumpf und deutlich. Der Präsident hatte die Fäuste am Hals geballt, die Arme waren abgewinkelt. Lee schob das Schloss vor, riss den Griff nach unten. Der Lincoln fuhr jetzt langsamer. Er kam praktisch zum Stehen, stand schutzlos auf der Straße, keine achtzig Meter von der Unterführung entfernt. Genau in der Schusslinie. Sprecher 1 DeLillo erzählt in seinem 1988 veröffentlichten Roman Sieben Sekunden - der Originaltitel ist Libra - seine Version der Kennedy-Ermordung. Fiktion und Realität verschmelzen hier ineinander; man weiß nie, ob die Geschehnisse "echt" sind oder nur erfunden wurden. Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Hargis wandte sich nach rechts, nachdem er gerade noch gesehen hatte, wie ein Mädchen in einem hübschen Mantel über den Rasen auf den Präsidentenwagen zulief. 21.O-Ton Heinz Ickstadt Libra ist natürlich das Sternbild der Waage. DeLillo glaubt an astrologische Bilder. Das Sternbild der Waage ist auch das Sternbild von Oswald. Er hat am 18. Oktober Geburtstag. Er ist die Waage, die sich immer hin und her senkt, in die eine oder andere Richtung. Das ist das eine. Auf der anderen Seite könnte man auch die Libra, die Waage, als Metapher für die Balance des Romans sehen, das Gleichgewicht über die Struktur, die DeLillo so wirklich meisterhaft schafft, so dass der Charakter von Oswald die Waage in die eine und die andere Richtung ausschlagen lässt: Einmal ist er Kommunist, dann wieder Antikommunist, das ist das Eine. Total unentschlossen. Gleichzeitig gibt es dann das Ausbalancieren von historischen Gewichten und Gegengewichten wie das in der Struktur des Romans geschieht. 22.O-Ton Bernd Greiner Meines Erachtens hat Don de Lillo mit Libra den mit Abstand besten literarischen Text über das Attentat in Dallas, über die Kennedy-Administration, über Kennedy als Person und insbesondere über die Kultur der Zeit und die nachgängigen Interpretationen verfasst. Sprecher 1 Für Bernd Greiner ist es ein Roman, der mit verschiedenen Wirklichkeiten und Fiktionen spielt und so dem Phantasma der weiterhin offenen historischen Wunde ein literarisches Denkmal gesetzt hat. 23.O-Ton Bernd Greiner Es ist eine großartige Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien. Es ist eine Rekonstruktion all dessen, wie die amerikanische Gesellschaft nicht nur ihre Helden sozusagen bauen, sondern auch konservieren will. Es ist eine Frage, woher dieses Bedürfnis rührt und das alles in einer facettenreichen und literarisch sehr nuancierten Sprache. Es fällt mir schwer, dem etwas zur Seite zu stellen, was den Vergleich aushalten würde. Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Er drehte den Oberkörper nach rechts, behielt dabei aber die Fahrtrichtung bei und dann flog ihm die blutige Masse, das unvergessliche Zeug, ins Gesicht, ein Graupelschauer aus Knochen und Blut und Gewebe. Er glaubte, man habe auf ihn geschossen. Das Zeug traf ihn wie eine Ladung Schrot, und er hörte es gegen seinen Helm prasseln und klatschen. Menschen lagen im Gras. Er kniff die Lippen zusammen, um das Zeug nicht in den Mund zu bekommen. Sprecher 1 Auch Klaus Uellenberg sieht in DeLillos Werk die bisher gelungenste literarische Verarbeitung des Attentates von Dallas. 24.O-Ton Klaus Uellenberg Es ist einerseits das kunstvollste, anderseits das paradoxeste. Denn es sind drei Erzählstränge, die miteinander verknüpft werden, die im Fluchtpunkt des Attentates aufeinander zulaufen - und die widersprechen sich wechselseitig. Da hat DeLillo etwas nicht auflösen können oder die Unauflösbarkeit mancher Dinge versucht, darzustellen. Sprecher 1 Alle Erzählstränge laufen auf den 22. November 1963, auf die Ermordung Kennedys in der Elm Street, zu, aufgenommen von zahlreichen Amateurkameras. De Lillos Roman schildert die Fahrt der Präsidentenlimousine Bild für Bild, wie eine Nacherzählung jedes der Super 8-Bilder. Auch der texanische Gouverneur John Connally wird von einer Kugel getroffen. Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Auf dem Klappsitz war John in sich zusammengesunken. Nellie Connally zog ihn herüber und hielt ihn in den Armen. Sie ließ ihren Kopf auf seinen Kopf sinken. Sie tat so, als wäre Sie an seiner Stelle. Sie waren beide am Leben oder beide tot. Einer so und einer so ging nicht. Dann verspritzte der dritte Schuss das blutige Zeug in alle Richtungen. Gewebe, Knochensplitter, Fetzen bleicher Haut, wässriger Schleim, Gewebe, Blut, Hirnmasse überall auf ihnen. Sie hörte Jackie sagen: "Sie haben meinen Mann umgebracht." 25. O-Ton Einblendung News-Report, kurz, endet abrupt Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Sie hörte Jackie sagen: "Ich habe sein Gehirn in der Hand." 26.O-Ton Heinz Ickstadt Er hat eine Figur in dem Roman, der ein von der Regierung beauftragter Rechercheur ist, der die Dokumente sichten soll, sozusagen noch jenseits des Warren-Reports, mit seinen 44 Bänden und der mit der Flut der Dokumente nicht zurechtkommt, nicht nur, weil sie alle ambivalent sind, sondern weil es nie aufhört, es gibt immer neue Fakten, die einzukalkulieren wären, die wiederum das Gesamtresultat der Fakten verändern, so dass Nicholas Branch, so heißt er, in die Rolle des Schriftstellers gerät. Sprecher 3, Don DeLillo: Sieben Sekunden Nicholas Branch sitzt in dem mit Büchern gefüllten Raum, dem Raum der Dokumente, dem Raum der Theorien und Träume. Im fünfzehnten Jahr müht er sich jetzt damit ab und fragt sich manchmal, ob er nicht wesenlos wird. 27.O-Ton Heinz Ickstadt Der Sinn aus dem Ganzen nur machen kann, wenn er einen Zusammenhang erfindet. In diesem Buch ist es wohl so, dass die Rätselhaftigkeit der Geschichte, die Tatsache, dass wir Geschichte nicht als Ordnung erleben, sondern chaotisch als Gemenge aus Fakten und Zufällen, brutalen Ereignissen, traumatischen, wie die von Kennedy eben eine war und 9/11 dann eben auch, aber dass die Kausalitäten, mit denen wir uns immer wieder beschäftigen, um einem sinnlosen Ereignis dann doch einen Sinn zu geben; dieser Drang, durch Fiktion der Geschichte Zusammenhang zu geben, lässt einen Historiker in die Nähe eines Romanciers rücken, bzw. umgekehrt den Romancier in die Nähe des Historikers. Sprecher 3, Don DeLillo: Sieben Sekunden Nicholas Branch in seinem mit feinem Leder bezogenem Lehnsessel ist ein pensionierter leitender Analytiker der CIA, der sich vertraglich dazu verpflichtet hat, die geheime Geschichte der Ermordung von Präsident Kennedy zu schreiben. Sechskommaneun Sekunden Hitze und Licht. 28.O-Ton Heinz Ickstadt Im Grunde ist dieser ganze Roman zusammengesetzt aus Figuren, die Zusammenhänge projizieren, Fiktionen schaffen aus einem Bewusstsein der Leere und des Nicht-Verstehens. Natürlich gibt es solche, die solche Fiktionen manipulieren, das sind dann die Konspiratoren; insofern erfindet DeLillo ähnlich und dann doch wieder ganz anders als Oliver Stone, eine Verschwörung eher als eine Art Hypothese - das könnte so gewesen sein. Die Ordnung ist eine künstliche, und das merkt man auch an der Art, wie der Roman konstruiert ist. Sprecher 3 Don DeLillo: Sieben Sekunden Ein Schuss. Das war ein Schuss. Oswald ist getroffen. Oswald ist getroffen. Ein Schuss war zu hören. Das totale Chaos hier. Sprecher 2 Der Zapruder-Film Sprecher 1 Die sieben tödlichen Sekunden des Attentats auf Präsident Kennedy wurden von Abraham Zapruder, einem Kaufmann, mit seiner Super 8-Kamera aufgenommen. Er ist neben den Amateurbildern von Orville Nix das berühmteste Filmdokument des Kennedy-Mordes. Der insgesamt zwanzig Sekunden lange Film ist Eigentum des amerikanischen Staates und lagert im Nationalarchiv der USA. 29.O-Ton Klaus Uellenberg Es ist ja lange Zeit die Hoffnung in den Zapruder-Film gesetzt worden, dass er Licht in das Dunkel bringen könnte. Es sind Schallanalysen, alle möglichen Auflösungsanalysen und Computerprogramme darüber gelegt worden. Aber auch er kann das Rätsel letztendlich nicht lösen. 30.O-Ton Abraham Zapruder My name is Abraham Zapruder 31.O-Ton Klaus Uellenberg Er trägt nicht zu einem historiografischen Text bei - was nun wirklich passiert ist. Damit wird der Zapruder-Film zu einer Enttäuschung. Sprecher 1 Die vielen hundert Bilder des Zapruder-Films zerlegen die Ermordung Kennedys in winzige Augenblicke, in Fotomomente. Kennedy, getroffen vom ersten Schuss, sank in die Arme seine Frau Jackie. Der zweite Schuss riss ihm Teile des Schädels weg. In diesem Moment war der Präsident schon so gut wie tot. Zapruders Film zeigt in körnigen, stummen und verwischten Bildern die Sekunden des Attentats, erklärt aber nichts, beweist nichts. Politiker, Gerichtsmediziner, Mathematiker, Chirurgen und Medienanalytiker haben diese Bilder immer wieder befragt, gedeutet und zum Ausgangspunkt immer wieder neuer Verschwörungstheorien genommen. Bernd Greiner:_ 32.O-Ton Bernd Greiner Der Zapruder-Film zeigt aus meiner Perspektive, dass es plausibel ist, von mehreren Schützen auszugehen. Jenseits dessen zeigt der Film überhaupt nichts. Man kann auf Grundlage der Filmsequenz vermuten, dass es nicht nur ein einzelner Schütze war. Aber jenseits dessen ist es eine Momentaufnahme, die über diesen einzelnen Punkt hinaus keinen Aussagewert besitzt. Wir sehen diesen zweiten oder dritten Schützen nicht und wissen auch nicht, aus welchem Winkel, aus welcher Position möglicherweise diese anderen Schüsse abgegeben wurden. Er wirft Fragen auf und kann diese Fragen nicht beantworten, und er gibt auf der anderen Seite allen möglichen Verschwörungstheoretikern oder anderen Zeitgenossen, die immer versucht sind, das Unerklärliche mit allen Mitteln erklärbar zu machen, die Reduktion der Komplexität auf Teufel komm raus zu betreiben, gibt er Anschauungsmaterial. Scheinbar plausibles Anschauungsmaterial. Er ist in gewisser Weise ein verführerischer Film, aber kein erklärender Film. Sprecher 1 Abraham Zapruders historischer Super 8-Streifen wird in gleich zwei Romanen Don DeLillos in den Mittelpunkt gerückt. In Libra wird er zum narrativen Element im Kapitel über den Tathergang des Attentats. In dem 1997 veröffentlichten Roman Unterwelt wird der Film dagegen als Kunst-Objekt in einer New Yorker Galerie aufgeführt. In Libra wird der Zapruder-Film mehr oder weniger Bild für Bild nacherzählt. In Unterwelt dagegen erstarrt der Amateurfilm zum bloßen Objekt und wird jeder juristischen Beweiskraft beraubt. Er steht für sich selbst. 33.O-Ton Einblendung Atmo Attentat Sprecher 2 Stephen King und die Zeitmaschine nach Dallas. Sein Roman Der Anschlag ist erst 2011 erschienen. Sprecher 3 Stephen King: Der Anschlag John F. Kennedy schützt seine Frau mit seinem Körper, während die Präsidentenlimousine der möglichen nationalen Katastrophe davonrast, lautete die Bildunterschrift. Darüber prangte eine 36 Punkt große Schlagzeile. Platz dafür war reichlich, denn sie bestand nur aus einem einzigen Wort: Gerettet! Sprecher 1 Fast 40 Jahre hatte Stephen King Zeit, seine Geschichte reifen zu lassen; bereits 1972, als er gerade anfing, Bücher zu schreiben, geisterte das Kennedy-Buch durch seinen Kopf. Er habe es damals nicht gepackt, wie er einmal formulierte. Knapp vierzig Jahre später fühlte er sich als Schriftsteller gereift. Der eigentliche Auslöser war aber Barack Obamas Präsidentschaft, womit Optimismus, Hoffnung und Begeisterung verbunden waren. "Und dann war da gleichzeitig dieser Hass". Das habe Stephen King an Kennedy erinnert - und an die Auseinandersetzungen in seiner eigenen, streng republikanisch-konservativen Familie als er noch ein Kind war. Sprecher 3 Stephen King: Der Anschlag (Übers. Wulf Bergner) Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit John Kennedy in Dallas ermordet wurde, aber zwei Fragen bleiben unbeantwortet: War Lee Oswald wirklich der Todesschütze - und hat er allein gehandelt, falls er es war? Nichts, was ich in Der Anschlag geschrieben habe, wird Antworten auf diese Fragen liefern, weil Zeitreisen nur eine interessante Fiktion sind. Sprecher 1 Die Handlung beginnt in einem Kaff irgendwo im Bundesstaat Maine. Jake Epping lebt ein durchschnittliches Lehrerleben bis zu dem Tag, an dem sein Freund Al ihm ein magisches Geheimnis enthüllt. Es gebe in den Lagerräumen seines Imbisses ein Portal, das in die Vergangenheit führe, in das Jahr 1958. Epping soll durch dieses Zeittor steigen und das Attentat auf Präsident Kennedy vereiteln. Diese Science- Fiction-Story entwickelt King auf über tausend Seiten. Im Nachwort seines Romans erläutert Stephen King seine Überlegungen zum Kennedy-Attentat. Sprecher 3 Stephen King: Der Anschlag Zu Anfang dieses Romans beziffert Jake Eppings Freund Al die Wahrscheinlichkeit, dass Oswald ein Einzeltäter war, mit fünfundneunzig Prozent. Nach der Lektüre eines Stapels von Büchern und Artikeln zum Thema, der fast so groß war wie ich, sehe ich die Wahrscheinlichkeit eher bei achtundneunzig, vielleicht sogar bei neunundneunzig Prozent. 34.O-Ton Bernd Greiner Ich fand es ein sehr verplaudertes Buch, das um seinen Gegenstand herumredet, herummäandriert. Man wartet immer auf eine rote Linie, findet sie nicht. Man wird auch nicht in den Text reingesogen, und er rauscht so vorbei. Man muss schon ein Stephen King-Fan sein, um dabei zu bleiben. Ich möchte mich nicht durch zweihundert Seiten quälen, um irgendwann einmal zu begreifen, was der Autor eigentlich will. Sprecher 1 Er soll einen Eingriff in die Geschichte vornehmen. Epping willigt in das paradoxe Experiment ein und beginnt ein neues Leben in der Vergangenheit. King lässt Elvis, flotte Tanzpartys und die verknöcherte, konservative, rassistisch durchsetzte Zeit der Nachkriegsära aufblühen. Es kommt zum Attentat und wiederum nicht. Kings Spiel mit dem historischen Trauma wird zur Doku-Science-Fiction der besonderen Art, gespickt mit einer triefenden Lovestory. Sprecher 3 Stephen King: Der Anschlag Für einen vernünftigen Menschen ist es sehr, sehr schwierig, etwas anderes zu glauben. Auch hier galt das Ökonomieprinzip - die einfachste Erklärung ist meist die richtige. Sprecher 1 Den abertausenden Verschwörungstheorien und Erklärungen, die zum Attentat vorgelegt worden sind, hat King nichts hinzuzufügen. "Der Anschlag" liest sich eher wie eine Drehbuchvorlage für einen Blockbuster, der sicher bald gedreht werden wird. Nicht mehr und nicht weniger. 35.O-Ton Klaus Uellenberg Im Prinzip benutzt er es als Vehikel für ein intellektuelles Mind game. Damit wird das Attentat ein Stück weit instrumentalisiert für eine literarische Konstruktion, die nicht versucht und auch nicht den Anspruch erhebt, ihm gerecht zu werden. Sprecher 2 Oliver Stone, der Verschwörungstheoretiker 36.O-Ton John C. Kornblum Ich fand, das war ein schlechter Film. Oliver Stone ist ein Polemiker. Das ist sein Metier. Aber ich hab es dann in der Presse gelesen. Es gibt einige Sachen in dem Film, die nachweislich nicht stimmen. Was stimmte aber, war der Staatsanwalt, der versucht hat zu beweisen, dass es keine Verschwörung gab. Oliver Stone sagt, es gibt zwei Verschwörungen: eine den Mord betreffend und gegen den Staatsanwalt. Ich fand das nicht gut. Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum Der Tunichtgut hieß Lee Harvey Oswald. Der Tunichtgut hatte JFK und Tippit erschossen. Sprecher 1 28 Jahre nach dem Attentat auf Präsident John F. Kennedy verfilmt Regisseur Oliver Stone die Erinnerungen des Staatsanwaltes Jim Garrison aus New Orleans, der 1965 den Kennedy-Mord neu aufrollte und in letzter Konsequenz einen Staatstreich aufzudecken vermeinte. Jim Garrison, der im Film von Kevin Kostner dargestellt wird, war fest davon überzeugt, dass Lee Harvey Oswald kein Einzeltäter, sondern Mitwisser und Strohmann einer Verschwörung von Militär, CIA und Verbrechersyndikaten war. Garrison hatte am Ende seiner eigenmächtigen Ermittlungen sechzehn Tatverdächtige im Visier und scheute auch nicht vor abstrusen Thesen zurück. So könnte zum Beispiel ein zweiter Schütze aus einem Gully heraus geschossen haben, überlegte er damals. Garrisons Darlegung seiner Arbeit in diesem Fall wird in Stones Film JFK, der in Deutschland unter dem Titel JFK - Tatort Dallas lief, nur teilweise verarbeitet. Filmeinblendung Trailer, 15 Sekunden (kurze Atmo-Akzente, Geäusche 37.O-Ton Bernd Greiner Der Film von Oliver Stone über JFK ist wie so viele andere Filme von Oliver Stone auch in erster Linie ein zeithistorisches Dokument eigener Qualität. Warum? Oliver Stone trauert aus seiner Perspektive einem untergegangenen Amerika nach. Einer Welt, die die Welt seiner Jugend ist und eine Welt, die er für unwiderruflich vergangen hält. Der Tod dieser Welt hat für Oliver Stone ein klares Datum: Das ist der 22.November 1963. Sprecher 3 James Ellroy: Ein amerikanischer Alptraum Oswald kaute an den Fingernägeln. Littell hatte ihm die Handschellen abgenommen. Oswald hatte sich die Handgelenke gerieben. Ich bin Marxist, Ich bin ein Strohmann. Mehr sag ich nicht. Ich bin Fidel-Anhänger. Ich klage die USA an. 38.O-Ton Bernd Greiner Hätte es dieses Attentat nicht gegeben, dass ist seine Unterstellung, wäre es nicht zum Vietnamkrieg gekommen. Wäre es nicht zum Vietnamkrieg gekommen, hätte es keine Aufstände in den Ghettos gegeben und so weiter und so weiter. Es war der Sündenfall der amerikanischen Moderne aus seiner Perspektive. Deshalb tut er alles, um dieses Fatum des Sündenfalles ornamentenreich auszuschmücken, um den Bruch möglichst deutlich zu machen, um das Unwiederholbare zu feiern, nämlich die unwiederholbare Vergangenheit. Er ist in gewisser Weise ein politischer Romantiker, ein Romantiker des Kinos, weniger ein Zeithistoriker, dessen Ergebnisse belastbar sind. Filmeinblendung Trailer, 15 Sekunden 39.O-Ton Klaus Uellenberg Stone entwirft in einer sehr eigenen Mischung, die nicht immer nachvollziehbar ist, aus Fakten und Fiktionen, die Grenzen dazwischen verschwimmen auf eine etwas fragwürdige Art und Weise, eine Verschwörungstheorie und zwar, dass der industrielle-militärische Komplex Kennedy zu Fall gebracht hat. Er macht das sehr geschickt auf eine Art und Weise, die bildlich vieles insinuiert, aber eben auch, und das ist sehr schade für diesen Film, manipulativ ist. Filmeinblendung Trailer, 15 Sekunden Sprecher 1 Der Film spaltete die Kritik, da er den Gedanken der Verschwörung durchaus raffiniert weiterspinnt, aber in seiner Verschwörungslogik kaum einen andern Schluss zulässt, als dass das Kennedy-Attentat Teil eines Komplotts gewesen sein musste. 40.O-Ton Klaus Uellenberg Vieles, was er in seinem Film macht, ist höchst überlegenswert, auch sehr faktisch. Es ist ja der Roman des Staatsanwaltes aus New Orleans, Jim Garrison, der sich lange mit dem Kennedy-Fall beschäftigt hat, und auch viele Fakten, die bis dahin unberücksichtigt waren, hat er zusammengetragen. Insofern verdient manches in dem Film, gewürdigt zu werden, aber die Machart untergräbt das eigentliche Anliegen. Einblendung Musik Rage against the machine It had to be flashin' like the daily double It had to be playin' on TV Sprecher 2 Allen Ginsberg und die Ermordung John F. Kennedys Einblendung Musik Rage against the machine It had to be flashin' like the daily double It had to be playin' on TV It had to be loud mouthed on the comedy hour It had to be announced over loud speakers The CIA and the Mafia are in cahoots Sprecher 1 Auch Allen Ginsberg hat, wie Bob Dylan und Lou Reed in ihren Songtexten, die Ermordung John F. Kennedys in Gedichten verarbeitet. Berühmt ist sein 1975 veröffentlichtes Gedicht Hadda be playing on the jukebox. 41.O-Ton Klaus Uellenberg In Hadda be playing on the jukebox merkt man das Bestreben des Sprechers, einfach gewissermaßen erzürnt herauszuschreien, was in Amerika nicht stimmt, und dafür wird dieses Attentat als Symptom oder als Symbol, ja Paradigma angesehen. Ginsberg hat ja sehr häufig das, was er The Fall of America nennt, den Niedergang oder Sündenfall Amerikas angeprangert. Sprecher 3 Brute force and full of money Brute force, world-wide, and full of money Brute force, world-wide, and full of money Brute force, world-wide, and full of money Brute force, world-wide, and full of money 42.O-Ton Klaus Uellenberg Eine Entwicklung Amerikas, von der er glaubte, dass sie in die Sackgasse führen würde oder schon in einer solchen war und hat deshalb auch Amerika mit sehr pointierter Verachtung bestraft. Das kommt in diesem Gedicht sehr deutlich zum Ausdruck, in dem er über CIA und KGB, Kalten Krieg und FBI, über die Kennedy- Ermordung, die Landung in der Schweine-Bucht, über J. Edgar Hoover spricht. Musikeinspielung Rage against the machine (Hadda be playing on the jukebox) It had to be said in old ladies' language It had to be said in American headlines Kennedy stretched and smiled and got double crossed by lowlife goons and agents Rich bankers with criminal connections Dope pushers in CIA working with dope pushers from Cuba working with a Big time syndicate from Tampa, Florida And it had to be said with a big mouth 43.O-Ton Klaus Uellenberg Es wird eine gigantische Aufzählung von Negativa angehäuft, aber dieser umfassende Negativtrend ist der eine, der so herausgeschrien wird. Wenn man dazu weiß, dass in dieser Schaffensperiode - das Gedicht ist Mitte der 1970er Jahre entstanden - Ginsberg auch angefangen hatte zu meditieren und sich dem Buddhismus zuzuwenden. Sprecher 3 It had to be moaned over factory foghorns It had to be chattered on car radio news broadcasts It had to be screamed in the kitchen It had to be yelled in the basement where uncles were fighting 44.O-Ton Klaus Uellenberg Er hatte durch die Auseinandersetzung mit buddhistischer Lehre auch für sich festgestellt, was er Entwicklungsfehler nannte, persönliche oder nationale, dass die angenommen werden müssen, ohne Verachtung oder Schuldgefühle, um eine Grundlage zu schaffen, die eine Rekonstruktion einer neuen Identität, Sichtweise, Verhaltensweise oder eben auch neuen menschlichen Gesellschaft ermöglicht. Es ist kein Gedicht, das in seiner Struktur chaotisch ist, verzerrt ist, das geprägt ist von allen möglichen Konventionsbrüchen. Nein, es ist ein Gedicht, das eigentlich eine Form aufweist, die seit Mitte des 19.Jahrhunderts, also im Gefolge von Walt Whitman, in freien Versen sich manifestiert hat, aber in einer sehr regelmäßigen Form. Musikeinspielung Rage against the machine It had to be a large room full of murder It had to be a mounted ass- a solid mass of rage A red hot pen A scream in the back of the throat 45.O-Ton Klaus Uellenberg Wir haben viele Anaphern, Wiederholungen It had to be, it had to be, so dass dieses Gedicht in seiner textuellen Form eine große Regelhaftigkeit, Ordnung und auch Geordnetheit aufweist, so dass in der Form ein sehr positiver Akzent gesetzt wird gegenüber dem negativen Akzent, der inhaltlich zum Ausdruck kommt. Musikeinspielung Rage against the machine It had to be a kid that can breathe It had to be in Rockefellers' mouth It had to be central intelligence, the family, allofthis, the agency Mafia It had to be organized crime One big set of gangs working together in cahoots Hitmen Murderers everywhere 46.O-Ton Klaus Uellenberg Und damit scheint das Wiederaufbauen einer Identität oder Konstruieren einer besseren amerikanischen Gesellschaft nicht aus dem Blickfeld verschwunden zu sein. Insofern hat dieses Gedicht beides. Das macht es interessant, diese Gegenläufigkeit. Sprecher 3 (abweichend vom Musikeinspiel Rage against the machine...) It had to be rich and it had to be powerful They had to murder in Indonesia 500000 They had to murder in Indochina 2000000 They had to murder in Czechoslovakia They had to murder in Chile They had to murder in Russia And they had to murder in America. Yeah! Sprecher 2 Der Mord an Kennedy hatte die USA in einen Schockzustand versetzt. JFK ist über die Jahrzehnte unsterblich geworden. Doch was bleibt vom Nimbus des kraftvollen Demokraten und Weltverbesserers übrig, jenseits der literarischen und medialen Bilder und jenseits des Mythos? 47.O-Ton Bernd Greiner Diese Dekonstruktion ist ja im Grunde noch im Gange. Sie ist im Wesentlichen im Gange, weil über Jahre hinaus eine Art interpretativer Schutzraum um John F. Kennedy errichtet worden ist. Im Wesentlichen von seinen Hagiographen aus Massachusetts, genauer gesagt diverser Historiker aus Harvard. Die Kennedy vor dem Hintergrund des unbeliebten Lyndon B. Johnson geradezu verklärt haben. Sprecher 1 Anders sieht es John Kornblum. 48.O-Ton John C. Kornblum Nein. Das ist nicht richtig. Es ist sogar, dass sein Mythos immer größer wurde bis heute. Was interessant ist, das ist was anderes. Der Mythos blieb und wurde größer als der Vietnamkrieg immer schlimmer wurde; da sagte man: Oh, wenn Kennedy jetzt hier wäre, dann würde es anders sein. Historisch interessant, aber auch ironisch und fast traurig, dass Lyndon B. Johnson sein Programm fast ohne Abstriche durch den Kongress gekriegt hat. Viele Dinge, die heute selbstverständlich sind, hat es bis dahin nicht gegeben: Civil Rights Act, Medicare, Student loans, alles solche Sachen. Es ist nicht sehr sicher und vielleicht sogar sehr unsicher, ob Kennedy dieses Programm durch den Kongress gekriegt hätte. 49.O-Ton John F. Kennedy Let every nation know, whether it wishes us well or ill, that we shall pay any price, bear any burden, meet any hardship, support any friend, oppose any foe, in order to assure the survival and the success of liberty. Sprecher 2 (voiceover) Jede Nation, sei sie uns gut oder böse gesinnt, soll wissen, dass wir jeden Preis zahlen, jede Last und Not ertragen, jede Entbehrung auf uns nehmen, jeden Freund unterstützen und jedem Feind entgegentreten werden, um das Überleben und den Sieg der Freiheit zu sichern. Aus Kennedys Antrittsrede. 50.O-Ton Bernd Greiner Ohne alles in Abrede zu stellen, muss man doch sagen, dass er sehr stark ein Kind seiner Zeit gewesen ist. Dass er auch und nicht zuletzt ein kalter Krieger war. Der den Rüstungswettlauf angekurbelt hat, der im Rückblick kaum verständliche, schwer verzeihliche Risiken während der Kuba-Krise eingegangen ist. Nicht umsonst wird er von Historikern mittlerweile in seiner Gesamtbilanz eher als mittelmäßiger Präsident gewertet und rangiert längst nicht mehr, wie es lange Zeit der Fall war, unter den Top 10 US-amerikanischer Präsidenten. Sprecher 2 Epilog 51.O-Ton Heinz Ickstadt Der Trauerzug war bemerkenswert, dass letztlich alle politischen Gegner Kennedys vertreten waren. Chruschtschow war nicht da, aber Mikojan, damals Präsident der UdSSR, Gromyko der Außenminister. Es hieß, er hätte geweint als er vom Tod Kennedys gehört hätte. Kennedy hatte eine Aura, die auch seine Feinde erfasste. Nicht die im Süden, die hatten sich gefreut. Aber seine Gegner außerhalb Amerikas. Die waren alle zur Beerdigung gekommen. Es war ein riesen Trauerzug. Dann war der Rappen gesattelt, aber ohne Reiter, das war stellvertretend für den Präsidenten. Dann kam Jackie Kennedy mit ihren Kindern. Das war ein ungeheuer bewegendes Ereignis. Brandt war natürlich auch da. Der Zug ging vom Weißen Haus zum Arlington-Friedhof. Das hat stundenlang die Fantasie der deutschen Fernsehzuschauer beschäftigt. Sprecher 1 Mit dem Mord an Präsident John F. Kennedy verloren die USA ihre Unschuld, heißt es seitdem, und die Amerikaner verloren das Vertrauen in ihre Regierung und den Glauben an die Aufdeckung der vollständigen Wahrheit der Umstände des Attentates vom 23. November 1963. Was bleibt, sind die Filmbilder des Hobbyfilmers Abraham Zapruder und anderer Zeitzeugen jenes Tages auf der Elm Street, der umstrittene Spielfilm von Oliver Stone, eine Flut von Dokumentationen, Artikeln und bedeutenden literarischen Zeugnissen, sowie das seltsame Gefühl, dass Leben und Bedeutung des 35. Präsidenten der USA in der nie enden wollenden Analyse seines tragischen Todes jedenfalls teilweise verschwunden sind. Sprecher 2 Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge - absichtsvoll, künstlich, unehrlich - sondern der Mythos - fortdauernd, verführerisch und unrealistisch. John F. Kennedy Musikeinspiel Lou Reed, The day John Kennedy died He said, "The president's dead, he was shot twice in the head in Dallas, and they don't know by whom." I dreamed I was the president of these United States I dreamed I was young and smart and it was not a waste I dreamed that there was a point to life and to the human race I dreamed that I could somehow comprehend that someone shot him in the face Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died Oh, the day John Kennedy died (langsam verebbend) 2