Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 28. April 2014,19 Uhr 30 Arbeitskämpfe sind in bestimmten Grenzen erlaubt 60 Jahre Bundesarbeitsgericht Von Blanka Weber O - Ton Fischer Das BAG kann es keinem der beiden arbeitsrechtlichen Lager recht machen. Die Entscheidungen sind entweder zu arbeitnehmer- oder arbeitgeberfreundlich. Angemessen finden sie die Lobbyisten in diesem Bereich ganz selten. Sprecherin vom Dienst "Arbeitskämpfe sind in bestimmten Grenzen erlaubt" O - Ton Ingrid Schmidt Es geht immer darum, wie diese Position von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die sich relativ starr gegenüber stehen, angemessen ausgeglichen werden können. Das ist die Aufgabe des Arbeitsrechts. Sprecherin vom Dienst 60 Jahre Bundesarbeitsgericht Ein Feature von Blanka Weber Sprecher Bundesarbeitsgericht Erfurt. Aktenkoffer werden durch einen langen Flur gerollt. Anwälte stehen mit ihren Klienten in den Gängen. Die Türen zu den Verhandlungsräumen sind noch offen und geben den Blick auf blaue Sitzmöbel und bodenlange Fenster frei. Das Bundesgericht, seit 1999 in Erfurt, ist eine moderner Bau: Glas, Beton, edle Hölzer, Schrift und Kunst vor dem Gebäude und an den Wänden. Eine schlichte, kühle Optik mit hohen Verhandlungsräumen im Erdgeschoss und moderner Büroarchitektur darüber. Ganz oben, in der 3.Etage, sitzt die Chefin: O-Ton Schmidt Die Position, die ich jetzt habe als Arbeitsrichterin, das ist das, was ich mir in meinem späteren Berufsleben so vorgestellt habe. Ich bin hier, wenn ich jetzt `mal unbescheiden sein darf, die richtige Person am rechten Ort. (Lachen) Sprecherin Ingrid Schmidt, 58 Jahre alt, ist die erste Präsidentin des Bundesarbeitsgerichtes. Seit 2005 hat sie dieses Amt. Sie leitet den ersten Senat und steht einem Verwaltungsapparat von insgesamt 10 Senaten und 38 Richtern vor. 13 davon sind Frauen. O - Ton Ingrid Schmidt Bei uns im Bundesarbeitsgericht ist es jetzt gelungen, diese 30%-Quote bei den Frauen zu erreichen. Aber das war ein langer Weg gewesen. Als ich 1994 anfing, ich war die einzige Frau und vorher in den 40 Jahren vor mir als ich gekommen bin, gab es ja auch nur insgesamt drei, also nicht besonders berauschend was das betrifft. Sprecherin sagt die Präsidentin und spricht damit eines der Themen an, die sich in 60 Jahren Bundesarbeitsgericht gründlich geändert haben: Ton - Archiv (Eröffnung 1954 /Kassel) - Reporter-Ton: Im großen Stadtverordnetensitzungssaal im Rathaus zu Kassel, findet ein Festakt anlässlich der Eröffnung des Bundesarbeitsgerichtes statt. Sprecher Kassel am 10. Mai 1954. Politiker, Juristen und Prominenz feiern den Start des neuen Bundesarbeitsgerichtes mit Sitz in Hessen. Ein Reporter berichtet: Reporter - O - Ton (Archiv) Das BAG ist zum ersten Mal wieder eingerichtet worden seit dem Zusammenbruch 1945 und es knüpft an an die bedeutende Tradition des Reichsarbeitsgerichtes, das früher mit dem Reichsgericht zu Leipzig vereinigt war. Die Richter des Reichsarbeitsgerichtes waren hochqualifiziert und diese Tradition soll auch jetzt wieder gehalten werden. Das drückt sich aus mit der Berufung von Prof. Dr. Nipperdey, einem Arbeitsrechtler von internationalem Ruf, der zum Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes gewählt wurde. Sprecher Selbstverständlich bedeute die Unterwerfung unter das Gesetz, ließ Hans Carl Nipperdey in seiner Antrittsrede wissen, nicht eine Bindung an den Wortlaut, sondern eine Bindung an den Sinn und Zweck des Gesetzes. Darauf komme es entscheidend an, auch wenn man im Text einen nur unvollkommenen oder gelegentlich verfehlten Ausdruck finden würde, formulierte der erste oberste Arbeitsrichter. Sprecherin Damals wurde die Basis für das `Richterrecht` geschaffen. Jene Form der Auslegung, wenn vorhandene Gesetze zu viel Spielraum lassen und Richter klarstellen müssen, was in einem konkreten Fall Recht ist und was nicht. Eng damit verbunden die Rechtsfortbildung, wenn also Richter Entscheidungen fällen müssen, die keine unmittelbare Grundlage in bestehenden Gesetzen finden. Ein Thema begleitete dabei die Bundesrichter von Beginn an: Das Arbeitskampfrecht und die Frage, ob Streiks erlaubt sind oder nicht: O-Ton Wißmann Man hatte damals in der Mitte der 50er Jahre noch große Schwierigkeiten damit, dieses Streikrecht irgendwie mit dem übrigen Arbeitsrecht in Verbindung zu bekommen, es richtig einzusortieren. Sprecherin Hellmut Wißmann, von 1999 bis 2005 Präsident des Bundesarbeitsgerichtes: O-Ton Wißmann Man muss sich vorstellen, der Arbeitnehmer war nach dem BGB verpflichtet, zu arbeiten und sein Arbeitgeber hat ihm dafür Lohn gezahlt. Das stand im Gesetz. Jetzt wollte der Arbeitnehmer streiken und da gab es viele Leute, die sagten: Moment, da verstößt er ja gegen seine vertraglichen Pflichten. Das kann er nicht so tun. Er muss vorher sein Arbeitsverhältnis kündigen. Oder andere meinten, naja, wenn er streikt, ohne vorher zu kündigen, dann kann der Arbeitgeber sagen: Das war jetzt eine Vertragsverletzung, deswegen kündige ich dir, Arbeitnehmer, fristlos. Sprecherin: Das Bundesarbeitsgericht urteilte 1955, der Arbeitnehmer habe die Befugnis, um bestimmte Tarifverträge zu erreichen und zu erkämpfen, eben auch die Arbeit niederlegen zu können ohne vorher zu kündigen. Sprecher: "Arbeitskämpfe -Streik und Aussperrung- sind im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen; aber sie sind in bestimmten Grenzen erlaubt, sie sind in der freiheitlichen, sozialen Grundordnung der Deutschen Bundesrepublik zugelassen." Sprecherin: Doch nicht nur der Arbeitskampf beschäftigte die Bundesrichter in den frühen Jahren, auch die Frage des Diskriminierungsverbotes. Zum Beispiel jenes von Frauen im Arbeitsleben. Hier musste das Recht gründlich erneuert werden, und zwar nicht nur was den Verlust des Arbeitsplatzes beim Eintritt einer Frau in die Ehe anbelangte. Auch die Bezahlung bei Voll- und Teilzeit, so Hellmut Wißmann, musste die Rechtsprechung der 50er und 60er Jahre neu regeln: O - Ton Wißmann Sie bekam eine neue Wucht durch das europäische Recht. Im EWG-Vertrag von 1957 steht schon das Verbot der Diskriminierung von Frauen beim Arbeitsentgelt drin. Und es hat ziemlich lange gedauert, bis man auch in Deutschland wahrgenommen hat, das dieses europäische Recht unmittelbar hier anzuwenden ist und wie weit es reicht. Sprecherin Heute ist in der Rechtsprechung - dank der Antwort des Europäischen Gerichtshofes in den 80er Jahren - klar, dass die Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten als `verbotene mittelbare Diskriminierung von Frauen` gesehen wird. Sprecher Immer wieder, so stellen es die Richter über all' die Jahrzehnte fest, führen fehlende Gesetze dazu, dass die Richter mit ihrer Rechtsprechung die Lücken füllen müssen. Sprecherin Woran liegt das? Rudolf Kissel bemerkte 1983, nach 15 Monaten im Amt als Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, es fehle den Politikern möglicherweise an Mut, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. O - Ton (Archiv) Kissel (1.Antwort) Am Fehlen vieler notwendiger gesetzlicher Regelungen und Grundsatzentscheidungen zu arbeitsrechtlichen Fragen hat sich nichts geändert, die Frage ist, ob man vom fehlenden Mut des Gesetzgebers sprechen kann oder vom fehlenden Können angesichts der verschiedensten Mehrheitsverhältnisse. Aber es ist vielleicht auch ein Stück fehlenden Mutes dabei, Dinge in Gesetzesform vorzulegen, die gesellschaftspolitisch außerordentlich brisant und recht umstritten sind. Sprecherin Richter, vor allem Bundesarbeitsrichter, würden immer mehr zum Ersatzgesetzgeber und das Recht zum Richterrecht, bedauerte damals schon Rudolf Kissel. Atmo Gericht/ Musik Sprecher 32 Jahre später. Knapp 40 Millionen Menschen sind in der Bundesrepublik abhängig beschäftigt und damit unmittelbar vom Arbeitsrecht betroffen. Das Bundesarbeitsgericht sitzt nun in Erfurt und die Präsidentin lässt wissen: Die Zahl der Fälle habe sich auf hohem Niveau stabilisiert. 2.700 Eingänge wurden im vergangenen Jahr registriert. An der Spitze der Klagen stehen jene zur Beendigung der Arbeitsverhältnisse mit und ohne Kündigungen oder Befristung. Auf Platz zwei stehen die Fragen zum Tarifvertragsrecht und der Auslegung. Auf Platz drei die Klagen zum Arbeitsentgelt, zum Ruhegeld und zur Teilzeit. Sprecherin Ob Diskriminierung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Kündigungsschutz und Arbeitnehmerüberlassung - das rechtliche Austarieren der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird immer komplizierter, sagt Ingrid Schmidt und sieht ihre Aufgabe darin, in erster Linie zu fragen, was die Politik vorgegeben hat durch Gesetze und Verordnungen: O - Ton Ingrid Schmidt Und die müssen wir auslegen und anwenden und die Politik hat hinterher die Aufgabe zu sagen, ja das Auslegungsergebnis entspricht unseren Vorstellungen und wenn es nicht den Vorstellungen der Politik entspricht, muss die Politik eben das Gesetz ändern. So einfach ist das. Sprecherin Oder auch nicht. Bis heute hält sich die Politik zum Beispiel beim Arbeitskampfrecht mit einem Gesetz zurück. Gefragt sind deshalb die Richter mit Einzelurteilen in Einzelfällen. Für Schmidt sind es: `intellektuelle Herausforderungen, die sich daraus ergeben`. Eine freundliche Formulierung. Schon ihr unmittelbarer Amtsvorgänger Helmut Wißmann mahnte, dass ein richterliches Arbeitskampfrecht ohne Gesetz, immer nur eine `zweitbeste Lösung` sein kann. O - Ton Wißmann Der Gesetzgeber könnte dagegen ein umfassendes Arbeitskampfrecht schaffen, das alle möglichen Fallkonstellationen berücksichtigt. Sprecherin Ob es jemals kommt, das Gesetz zum Arbeitskampf? Der Wissenschaftler Achim Seifert von der Universität Jena ist skeptisch bei der Frage, ob sich die jetzige Regierungskoalition an ein Arbeitskampfrecht wagen würde? O - Ton Achim Seifert Ich würde mit keiner Regelung rechnen. Ich würde allenfalls in bestimmten Fragen mit einer Regelung rechnen. Sprecherin Beim Blick in europäische Nachbarländer würden sich ähnliche Situationen ergeben, sagt Achim Seifert. Ob Frankreich, Spanien oder Großbritannien, es gebe auch dort bestenfalls Vorschriften, aber kein Gesetz zum Arbeitskampf. O - Ton Seifert Woran liegt das? Das ist natürlich eine Frage. Erstens, die wegen ihrer hohen Komplexität schwer von einem Gesetzgeber einzufangen ist. Sie müssen sich einfach vor Augen führen, dass sich Kampfformen, Kampfinstrumente, Strategien sehr schnell ändern und jeweils aufs Neue dann ein rechtliches Eingreifen erforderlich machen. Das heißt, der Gesetzgeber würde hier der Entwicklung geradezu hinterher rennen. Und zum anderen ist natürlich die Regelung eines solchen Bereichs in hohem Maße konfliktbeladen, so dass der Gesetzgeber bisher ganz gut damit gefahren ist, sich zurückzuziehen und die Ausformung, die Konkretisierung des Arbeitskampfrechtes weitgehend den Gerichten zu überlassen. Sprecher Sein Fazit: Die Richter des Bundesarbeitsgerichtes verfügen in bestimmten Bereichen über große Gestaltungsmacht und werden - wie in diesem Fall - geradezu Ersatzgesetzgeber. O - Ton Seifert Das heißt, was wir an Arbeitskampfrechtsordnung heutzutage haben, ist zu weit mehr als 90% Resultat richterrechtlicher Rechtsfortbildung. Sprecherin Eine Gestaltungsmacht, die von der Politik durchaus gewollt ist. O - Ton Ingrid Schmidt Die Politik hat dann, anders als beim Bundesverfassungsgericht, bei uns natürlich viel mehr Reaktionsmöglichkeiten, die sie aber nicht sehr häufig nutzt und wenn sie sie nutzt, dann meist in dem Sinne, dass die Ergebnisse unserer Rechtsprechung dann in Gesetzesform gegossen werden. Atmo Streik / Pfiffe oder Regie: Musik Sprecher Doch mit welchem persönlichen und politischen Hintergrund entscheiden die Richter? Und: Wer darf überhaupt Richter am Bundesarbeitsgericht werden? Es gilt dafür eine Proporzregelung. Ein Richterwahlausschuss hat das Sagen, und damit 16 Vertreter der Länder und 16 Mitglieder - je nach Fraktionsstärke - des Bundestages. Der Wahl muss das Ministerium für Arbeit und Soziales zustimmen. Neben den Berufsrichtern, arbeiten pro Senat jeweils zwei ehrenamtliche Richter an den Urteilsentscheidungen mit. Zum einen benannt von der Arbeitnehmerseite und zum anderen, vorgeschlagen von Institutionen, Verbänden und Interessengruppen, die den Arbeitgebern nahe stehen, so wie Sylvana Donath: O - Ton Sylvana Donath Wir haben als Verband im Blick, dass man die Auswirkungen sehen muss, wenn man heute eine Entscheidung trifft. Wie wirkt sich das morgen aus? Sprecherin Sylvana Donath ist Geschäftsführerin des Kommunalen Arbeitgeberverbandes Thüringen e.V. und ehrenamtliche Richterin am 7. Senat des Bundesarbeitsgerichtes. Wenn sie auf Urteile blicke, hinterfrage sie immer die Folgewirkungen der richterlichen Entscheidung. Beispiel: Urlaubsrecht. O - Ton Sylvana Donath Hinsichtlich der Rechtsprechung der letzten Jahre muss man sagen, dass da durchaus die Entscheidungen, die auch europäisch gesteuert waren hinsichtlich des Urlaubsrechts zu sehr großen Problemen in der Praxis geführt haben für die Arbeitgeber und wo man sich die Frage stellt, wie soll man das noch als Arbeitgeber wuppen können, sag ich jetzt mal. Sprecher Wenn Arbeitgeber nach neuen Urteilen anders planen müssten, weil sich plötzlich Kosten änderten, sei dies keine Basis und bedeute möglicherweise neue Konflikte, so die Juristin. Auch Arbeitgeber bräuchten verlässliche Grundlagen für ihre Planung, eben weil sie für finanzielles Risiko haften. Sprecherin Als Beispiel nennt Sylvana Donath den langjährigen Streit um die Frage der `sachgrundlosen Befristung von Arbeitnehmern`. Konkret: Wie viel Zeit darf verstreichen, um einen Arbeitnehmer erneut befristet einzustellen? Eine Frage, die das Bundesarbeitsgericht eigentlich schon beantwortet hatte. Doch das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg sieht dies anders und nun geht die Rechtsprechung vermutlich in eine neue Runde. O - Ton Sylvana Donath Dieses Urteil des BAG aus 2011 wird aktuell wieder angegriffen und da stellt sich schon die Frage, jemand, der sich auf dieses Urteil verlassen hat in der Vergangenheit, könnte, wenn man diese Entscheidung aus anderen Gesichtspunkten heraus vor dem Bundesverfassungsgericht zum Beispiel angreift, wieder in dieses Problem hineinrutschen, dass bisherige Handlungen, die im Vertrauen auf das Urteil gemacht wurden, eventuell nicht mehr so zu dem Ergebnis führen, dass ich rechtssicher bin. Sprecher: Im Kern geht es dabei um die Frage: Wann ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wiederholt befristet einstellen darf. Das damalige Urteil des 7. Senats gehört zu den umstrittensten und am meisten diskutierten Entscheidungen in den vergangenen Jahren, sagt der Arbeitsrechtler Christian Fischer von der Universität Jena. Denn auch der Gesetzgeber hatte sich bereits damit beschäftigt und untersagt im Teilzeit- Befristungsgesetz .... O - Ton Christian Fischer eine nochmalige Beschäftigung, eine nochmalige zweijährige ohne Sachgrund, wenn jemand schon zuvor bei diesem Arbeitgeber beschäftigt war. Und jetzt geht's um die Frage, wie dieses Merkmal "zuvor" auszulegen ist? Sprecherin Hier beginnt nun die richterliche Kleinarbeit und das - aus Richtersicht - korrekte Auslegen der Worte. Geht es um `jemals zuvor` oder `kurz zuvor`? Wie darf der Abstand definiert sein? O - Ton Christian Fischer Mein Eindruck ist, dass anhand der Frage der "zuvor-Beschäftigung" die Grundsatz- Diskussion über die Kompetenzen und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung geführt wird und deshalb ist das auch so emotional besetzt das Thema. Sprecherin Denn letzten Endes führte der konkrete Fall dazu, dass Richter des Bundesarbeitsgerichtes einen Schritt weitergingen als der Gesetzgeber und dem Wort "zuvor" eine konkrete Zeitspanne gaben. Sprecher Sie kamen zu dem Ergebnis: Wenn 3 Jahre dazwischen liegen, dann darf der Arbeitgeber den Arbeitnehmer wiederholt - ohne Sachgrund - befristet für 2 Jahre beschäftigen. Sprecherin Eine Entscheidung, die nicht nur von Gewerkschaftsseite heftig kritisiert worden war, so der Wissenschaftler Christian Fischer: O - Ton Christian Fischer Die "zuvor-Beschäftigung" ist schon im Vorfeld sehr unterschiedlich gesehen worden, dann ist hinzugekommen, dass ein Richter am Landesarbeitsgericht von `verfassungswidrigem Richterrecht` gesprochen hat. Auch das ist ein Vorfall, der zumindest ungewöhnlich ist und der schon dazu geführt hat, dass man das beim BAG sehr sorgfältig registriert hat. Atmo: Flur Sprecher Bundesarbeitsgericht am 10.Dezember 2013. Der erste Senat tagt in einem der vier holzgetäfelten Verhandlungssäle. Es ist der Senat, dem Ingrid Schmidt vorsitzt. Die blauen Besucherstuhlreihen sind fast leer. Nur drei Interessenten nehmen Platz. Es geht unter anderem um die Frage ob ein Arbeitgeber mit Hilfe eines Internet- Routenplaners den Arbeitsweg eines Angestellten kontrollieren darf oder nicht, um unmittelbare Wegstrecken einzuschätzen und letzten Endes Fahrtkosten zu berechnen. Das mediale Interesse gehört allerdings an jenem Tag dem Raum nebenan, dem 9.Senat. Kamerastative werden im Flur aufgebaut. Kläger und Beklagter geben ein Interview nach dem anderen. O - Ton H. Teichmannis/Rechtsanwalt Die Medienbegleitung ist in diesem Fall schon auffällig hoch. Das ist aber auch nachvollziehbar, weil es um wichtige Fragen der Arbeitnehmerüberlassung geht, möglicherweise dürfen wir heute ein Grundsatzurteil mit nach Hause nehmen. Sprecherin Horst Teichmannis vertritt die Interessen der kommunalen Kliniken in Lörrach. Das strittige Thema: "Arbeitnehmerüberlassung". Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich der Fall von Harald Hotop. Der Mann steht an diesem Tag in Erfurt etwas schüchtern im Mittelpunkt des Blitzlichtgewitters. O - Ton Kläger Ich habe den großen Wunsch, dass die Leiharbeiter Gerechtigkeit erfahren, dass die Methode, die hier ja angewandt wurde, die unternehmerische Methode, verändert wird und in Frage gestellt wird. Deswegen ist ja auch die Klage hier. Aber da gebe ich dann nachher gerne an meinen Anwalt weiter, der den juristischen Hintergrund besser erläutern kann als ich. Sprecherin Harald Hotop ist IT-Sachbearbeiter und Leiharbeiter in einem Tochterunternehmen der Lörracher Kliniken. Ihm missfiel, dass er als Leiharbeiter in den Kliniken seit 2008 arbeitete, aber eben nicht als Festangestellter. Das wollte er nun juristisch geklärt wissen, engagierte sich in der Gewerkschaft und wurde 2011 Betriebsrat. Es gehe nicht nur um ihn, betonte der IT-Mann, sondern um hunderttausende Leiharbeiter in prekären Situationen ohne sicheren Arbeitsplatz. Sprecher Das Bundesarbeitsgericht hatte sich also damit zu befassen, was es konkret bedeutet, wenn ein Arbeitnehmer `vorübergehend` überlassen, sprich: entliehen, wird. Der deutsche Gesetzgeber hatte bereits die Vorgaben einer EU Richtlinie umgesetzt und darin die Arbeitnehmerüberlassung `vorübergehend` für möglich erklärt. O - Ton H.Teichmannis/RA Und darüber streiten wir, was darunter zu verstehen ist. Sprecherin Horst Teichmannis ist Anwalt der Gegenseite, in dem Fall der Lörracher Kliniken. Auch er wünscht eine klare Begriffsklärung des Wortes `vorübergehend` und des Wortpaares: `auf Dauer`. O - Ton Horst Teichmannis Und das BAG wird sich heute positionieren müssen und uns sagen müssen, ob es diesen Begriff arbeitnehmerbezogen oder arbeitsplatzbezogen verstehen will und dann kommen wir auch zum zweiten großen Themenkreis, nämlich, was ist denn die Rechtsfolge, wenn davon auszugehen ist, dass das konkrete Leiharbeitsverhältnis mit den gesetzlichen Regelungen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Das fehlt bislang ebenfalls im Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz. Sprecherin Das Bundesarbeitsgericht wies die Klage von Harald Hotop ab und gab den Ball zurück an die Politik. Der Gesetzgeber sei hier gefragt, Sanktionen festzulegen, wenn Leiharbeit ausgedehnt werde in Unternehmen. In der Begründung heißt es: Sprecher Angesichts der Vielzahl möglicher Verstöße gegen Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes durch Verleiher und Entleiher sowie mögliche Sanktionen ist die Auswahl wirksamer, angemessener und abschreckender Sanktionen nicht Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen, sondern Sache des Gesetzgebers. Sprecherin: Für Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichtes, ist das Thema Leiharbeit eines der beherrschenden in den kommenden Jahren: O - Ton Ingrid Schmidt Bei der Leiharbeit, da ist für uns in der Rechtsprechung das größte Problem momentan, was verbirgt sich hinter dem Prinzip equal pay - das sagt sich so einfach. Aber das ist genau wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, ganz schwer festzustellen. Da gibt es keine summenmäßige Gegenüberstellung, sondern da muss man erst mal ermitteln: was ist denn überhaupt `gleiche Arbeit`? Das ist schon schwer genug. Und dann muss ermitteln: welche Entgeltbestandteile zählen denn mit? Was ist mit Urlaub? Mit der Arbeitszeitverteilung? Wie ist es mit Sonderzahlungen? Aufwendungsersatz? Da ist eine Fülle von Fragen, die mit diesem Problem verbunden sind, die auch später sich, denk` ich mir, in gleicher Weise wiederholen, wenn es darum geht: Was gehört zum Mindestlohn dazu? Atmo Streik/ Musikzäsur Sprecher Blicke man auf das Arbeitsrecht zurück, so Ingrid Schmidt, stelle man fest, dass es hier meist Zyklen von etwa 20 Jahren gebe. Ende der 80er Jahre, mitten in einer Krisensituation wurde das Arbeitsrecht noch daran gemessen, wie es Anreize für die Arbeitgeber bringt, Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen. Dann wendete sich das Blatt hin zu den Arbeitnehmern: O- Ton Schmidt Und dann kam auch was in Mode, was man bis dahin nicht in dieser Ausführlichkeit kannte, dass der Gesetzgeber einen gesetzlichen Mindestschutz regelte, aber Tarifvertragsparteien erlaubte, durch Tarifverträge abzuweichen. Ein Konzept, das nicht auf den ersten Blick überzeugt und das war dann die Zeit als es zur Scheinblüte von Arbeitnehmerorganisationen kam, die sich hinterher nicht Gewerkschaft nennen konnten. Sprecherin Mit dem Ergebnis: Manch einer Gewerkschaft wurde die Tariffähigkeit aberkannt. So wie der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PersonalService-Agenturen, einem Zusammenschluss von ursprünglich sechs christlichen Gewerkschaften. Hunderte Verträge waren plötzlich nichtig. Collage Berichte Entscheidungen BAG Sprecherin Das Arbeitsrecht - es steht nicht nur für Kontinuität, sondern auch für Wandel: Ob der schleswig-holsteinische Metallarbeiterstreik in den 50er Jahren, als das Bundesarbeitsgericht entschied, die Gewerkschaft müsse für entstandenen Schaden aufkommen oder ein skurriler Fall Ende der 60er Jahre im rheinlandpfälzischen Ahrtal. Damals beteiligten sich Croupiers eines Spielkasinos am Tarifstreik der Gewerkschaft und wurden daraufhin ausgesperrt. Sprecher Was manchmal absurd wirkt, hat auch Einfluss auf neues Arbeitsrecht. So, wie die Flash-Mob - Entscheidung aus dem Jahr 2009: Gewerkschafter wollten in einem Supermarkt Streikbrechern eine Lektion erteilen und füllten ihre Einkaufswagen mit dutzenden Pfennigartikeln und verderblicher Ware, die sie dann einfach achtlos an der Kasse stehen ließen. Ein Skandal, so die Arbeitgeber. Sie wollten wissen: Ob ein Streik so weit gehen dürfe? Die Erfurter Richter urteilten: Ja, auch diese Form des Arbeitskampfes sei zulässig. Sprecherin Immer mal wieder führen Entscheidungen der obersten Richter zu Enttäuschung, Hohn und Spott, nicht selten gibt es im Vorfeld bereits erbitterte Diskussionen. So wie im Fall jener Berliner Kassiererin mit dem Kurznamen "Emmely". Zwar durfte die Angestellte, die für 1 Euro 30 fremde Pfand-Bons eingelöst hatte, nach Würdigung aller Umstände ihren Job behalten und die Kündigung war - so urteilten die Richter - nicht rechtmäßig. Aber, Bagatelldelikte seien auch weiterhin ein Kündigungsgrund, hieß es 2011 mitten in jener Zeit, als Banken mit öffentlichen Geldern gerettet werden mussten und vor allem Investmentbanker mit Millionen-hohen Boni- Zahlungen prahlten. Schon 1984 hatte ein ähnliches Bagatelldelikt das Bundesarbeitsgericht beschäftigt. Der sogenannte "Bienenstichfall" führte zu der Frage, ob ein von der Verkäuferin verzehrtes, unbezahltes Stück Kuchen gleich deren Entlassung rechtfertigt? Die Bundesarbeitsrichter urteilten: Ja, Diebstahl ist ein Kündigungsgrund, auch wenn der Schaden nur gering ausfällt - in dem Fall war es ein Stück Bienenstich. Sprecher Schaut man auf 60 Jahre Bundesarbeitsgericht zurück, so der Wissenschaftler Christian Fischer, sieht man eine Rechtsprechung, die sich am Arbeitsmarkt orientiert und vom Gesetzgebungswillen der Politik abhängig ist. O - Ton Fischer Arbeitsrecht ist zutiefst rechtspolitisches Recht. Hinzu kommt, dass Arbeitsrecht zu einem großen Teil Richterrecht ist. Franz Gamillscheg hat mal den arbeitsrechtlichen Stoßseufzer geäußert, das Richterrecht ist unser Schicksal, die Richter am BAG sind die wahren Herren des Arbeitsrechts. Das bietet allerdings auch Chancen. Wenn man die Richter eines Senats überzeugt, ist das unter Umständen leichter zu realisieren, als wenn man sich parlamentarische Mehrheiten suchen muss. Sprecherin Noch immer fehle ein Arbeitsgesetzbuch, kritisieren die Arbeitsrichter unisono seit Jahrzehnten. Es gab viele politische Anläufe und Bekenntnisse, doch daraus geworden - ist nichts, bemängelt Ingrid Schmidt. O- Ton Schmidt Das wird ein frommer Wunsch bleiben, weil die Fliehkräfte im Arbeitsrecht sind so groß, dass die Politiker sich dabei wahrscheinlich nur eine blutige Nase holen wird und das berechtigt mich nicht zur Hoffnung, dass irgendein Gesetzgeber dieses heiße Eisen in naher oder ferner Zukunft angreifen wird. Aber fürs Arbeitsrecht wäre es gut. Sprecherin Heute, sagt Ingrid Schmidt mit einem Ausblick auf die Rechtsprechung in ihrem Haus, gibt es ein zunehmendes Schutzbedürfnis auf Seiten der Arbeitnehmer. O - Ton Schmidt Und das wird auszutarieren sein gegenüber dem Flexibilitätsinteresse von Arbeitgebern, da werden, wenn dann die Gesetze, wie angekündigt kommen, sicherlich das Mindestlohngesetz oder die Reform der Arbeitnehmerüberlassung, die werden da sicherlich in den künftigen Jahren eine herausragende Rolle spielen. Wir werden es auch zunehmend zu tun haben mit der Veränderung der Arbeitsbedingungen durch neue Medien, Arbeitnehmerdatenschutz sei da als Stichwort genannt und wir werden unterstützt wohl durch gesetzliche Regelungen auch vermehrt uns dem Bedürfnis der besseren Vereinbarung von Familie und Beruf und der dazu notwendigen Regelungen zuwenden müssen. Also, lange Rede kurzer Sinn: Die Arbeit geht uns nicht aus. Sprecherin v. Dienst: Arbeitskämpfe sind in bestimmten Grenzen erlaubt 60 Jahre Bundesarbeitsgericht Ein Feature von Blanka Weber Es sprachen: Ilka Teichmüller und Robert Frank Ton: Ralf Perz Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014 17