DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay & Diskurs Nerven behalten! Das Trauma Erster Weltkrieg Von Bernd Ulrich Sprecherin: Marietta Bürger Sprecher: Matthias Ponnier Zitator: Walter Gontermann Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Mittwoch, 1. Januar 2014, 09:30 - 10:00 Uhr Sprecher: Der Erste Weltkrieg begann und endete in Deutschland mit einem Nervenzusammen-bruch. Und zwar nicht etwa bei Irgendjemandem. Vielmehr waren sowohl im August und September 1914 als auch ungefähr im gleichen Zeitraum des Jahres 1918 die jeweiligen militärischen Führer betroffen - nämlich zum einen der Chef des Generalstabes und der 1. Obersten Heeresleitung, Generaloberst Helmuth von Moltke (der Jüngere), zum anderen General Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister und seit Sommer 1916 in der 3. Obersten Heeresleitung als zweiter Mann hinter General-Feldmarschall Paul von Hindenburg der eigentliche strategische und taktische Kopf der deutschen Kriegführung. Sprecherin: Dabei hat die Rede von den starken oder schwachen Nerven, vom "Versagen der Nerven" oder gar "Nervenzusammenbrüchen" nicht - und nicht allein in Deutschland - mit dem Ersten Weltkrieg begonnen und endete auch nicht mit ihm. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts tauchten Patienten aus der Oberschicht und namentlich in Badekurorten "in den Ordinationsräumen der Ärzte" mit der Klage auf, "sie hätten so ein Gefühl, als seien ihre Nerven ganz angespannt". Bis heute und bis in unsere Alltagssprache hinein ist das Wort von den Nerven, die zu reißen drohen oder gestärkt werden müssen, allgegenwärtig. Sprecher: Nicht zuletzt werden auch in der einschlägigen Forschungsliteratur die Vorgänge um Moltke und Ludendorff zu Beginn und am Ende des Ersten Weltkriegs mit der Nerven-Begrifflichkeit charakterisiert. Das ist auch kein Wunder und hat seinen Grund darin, dass vor allem Helmuth von Moltke schwache Nerven attestiert wurden. In dem daraus abgeleiteten Wankelmut und der Entschlusslosigkeit sahen seine Kritiker eine wesentliche Ursache für die frühe Niederlage an der Marne im September 1914. Sprecherin: Tatsächlich zeigte der als "nervös" und "sensibel" bekannte Moltke Nerven, das heißt, er offenbarte Gefühle, wo doch deren Kontrolle und ein ausgeglichenes Gemüt erste Offizierspflicht war: im Generalstab, dem Zentrum aller strategischen Pläne und aller operativen und taktischen Entscheidungen. Harry Graf Kessler, Kunstmäzen und Chronist der wilhelminischen Gesellschaft, bewegte sich eine Zeit lang als reaktivierter Garde-Ulanen-Offizier in den Generalstabsbüros an der deutschen Ostfront. In einem Feldpostbrief an den Freund Hugo von Hofmannsthal schrieb er: Zitator: "Die Leichen, das Blut, selbst der Schlachtendonner sind weit, man merkt in diesen ordentlichen Büros, in denen so viele Beamte ein und ausgehen, Aktenmappen aufgestapelt liegen und Telefone immerfort gehen, nichts vom Krieg. Während der Schlacht von Warschau war ich im Generalkommando, und es musste auf Fußspitzen gegangen werden, weil der Kommandeur sein Mittagsschläfchen hielt." Sprecher: Moltke hingegen galt als Zerrissener; noch während der Julikrise 1914 drängte er die Reichsregierung zum Losschlagen, dabei wie viele seiner Kollegen der vermeintlich vernünftigen Logik folgend, dass der Krieg geführt werden müsse, so lange er noch führbar und ein schneller Sieg zu erwarten war. Zugleich fürchtete er, festgehalten in Aufzeichnungen und Briefen, der kommende Krieg könne in einen Volkskrieg ausarten, Zitator: "der nicht mit einer entscheidenden Schlacht abzumachen sein wird, und der auch unser Volk, selbst wenn wir Sieger sein sollten, bis aufs äußerste erschöpfen wird." Sprecherin: Der Generalstabschef hatte mutmaßlich zu diesem Zeitpunkt schon die feste Überzeugung eines schnellen Sieges auf der Grundlage des von ihm modifizierten Schlieffen-Plans verloren, der von seinem Vorgänger als Chef des Generalstabs, Alfred von Schlieffen, entwickelt worden war. Doch er hielt an ihm eisern fest. Für die Umsetzung des Plans waren der reibungslose, genau geplante, präzise getaktete und zumeist über die Eisenbahnen erfolgende Aufmarsch und die Bereitstellung der Truppen ebenso unverzichtbar wie der unmittelbare Einmarsch in Luxemburg und Belgien. Sprecher: Man kann sich daher vorstellen, wie es auf Moltke wirkte, als er am Nachmittag des 1. August 1914, da das fein abgestimmte Räderwerk der Mobilmachung eben in Bewegung gesetzt worden war, vom Kaiser aufgefordert wurde, die bereits über die luxemburgische Grenze gegangenen Patrouillen zurückzurufen und den für den nächsten Morgen angeordneten Einmarsch der in Trier stehenden 16. Infanteriedivision zu widerrufen. Als Begründung musste ein Telegramm des deutschen Botschafters in London herhalten, nach dem Großbritannien unter Umständen nicht eingreifen wollte, wenn vor allem die belgische Neutralität gewahrt bliebe; zugleich wurde sogar die Neutralität Frankreichs in Aussicht gestellt. Bereits am Abend hatte sich all das als diplomatisches Gerücht entpuppt. Sprecherin: Für Moltke aber war eine Welt zusammengebrochen. Er saß in den Stunden, da der Kaiser den Stopp des Aufmarsches verlangt und ihn kurz darauf widerrufen hatte, "blau und rot angelaufen", wie seine Frau Eliza von Moltke es beschrieb, in seinem Generalstabsbüro, bis sich die "Spannung in einem Weinkrampf gelöst" habe. In seinen unmittelbar nach diesen Ereignissen abgefassten Betrachtungen und Erinnerungen vom November 1914 charakterisierte Moltke seine damaligen Stimmung als "eine fast verzweifelte", er wäre "wie gebrochen" und hätte "Tränen der Verzweiflung" vergossen. Eine Stimmung, die auch die kommenden Wochen prägen sollte. In Briefen an seine Frau beschrieb er die "schreckliche Spannung dieser Tage" und zeigte sich bei seinen wenigen Frontbesuchen tief getroffen: Zitator: "Ich bin erschüttert über die Ströme von Blut und den namenlosen Jammer, der "über die ungezählten Unschuldigen gekommen ist. Mich überkommt oft ein Grauen, wenn ich daran denke." Sprecher: Nach dem "Wunder an der Marne" zwischen dem 5. und 11. September 1914, dem Rückzug der deutschen Truppen bis zur Aisne und dem allmählich offenbar werdenden Scheitern des Schlieffen-Plans ist Moltke in den Augen seiner Offizierskameraden nicht mehr zu halten. Sein Agieren in der Krise des französisch-britischen Gegenangriffs, vor allem seine Rückzugsbefehle verdeutlichten etwa für Erich von Falkenhayn, der kurz darauf Moltkes Nachfolger wurde, Zitator: "dass unser Generalstab den Kopf gänzlich verloren hat". Sprecher: Und auch Moltke selbst, nach eigenen Angaben geschwächt durch eine Entzündung der Gallenblase und Leber, räumte nun ein, Zitator: "dass meine Nerven durch alles, was ich erlebt hatte, sehr herunter waren und dass ich wohl den Eindruck eines kranken Mannes gemacht habe." Sprecherin: Erich Ludendorff war von ganz anderem Schlage als der sensible und emotionell berührbare Moltke. Auf ihn konzentrierten sich alle noch verbliebenen Siegeshoffnungen, vor allem nach dem Ausscheiden des zaristischen Russlands und der Besiegelung des deutschen Sieges durch den "Diktatfrieden von Brest-Litowsk", vorangetrieben nicht zuletzt durch den auf ein deutsches "Ostimperium" hoffenden Ludendorff. Sprecher: Vor diesem Hintergrund plante und organisierte er seit Herbst 1917 die alles auf eine Karte setzende Offensive im Westen. Sie sollte den Sieg bringen, bevor größere Truppenkontingente der seit April 1917 mit Deutschland im Krieg befindlichen USA eingreifen konnten. Am 21. März 1918 begannen die massiven Angriffe, die zunächst auch zu überraschend tiefen Frontdurchbrüchen führten. Sprecherin: Doch die erzielten Erfolge konnten nicht entscheidend genutzt werden. Fehlender Treibstoff, abgekämpfte und unterernährte Pferde, terrainbedingte Nachschubprobleme, - der Vormarsch erfolgte teils durch das völlig zerstörte Gelände der Somme-Schlacht von 1916 - zunehmende Verluste, ab Juli 1918 die grassierende Grippe-Epidemie, die eine sowieso schon erschöpfte und ausgehungerte Truppe belastete, und die immer stärker spürbare Überlegenheit der allmählich durch amerikanische Verbände gestärkten Alliierten besiegelten bis zum Juli 1918 die bereits absehbare Niederlage. Sprecher: Ludendorff indessen blieb trotz aller Rückschläge fest auf einen "Siegfrieden" fixiert oder wenigstens darauf, wie er selbst es formulierte, "den Feind friedensmürbe zu machen" - freilich zunehmend selbst zermürbt durch eine vielfach belegte "innere Zerrissenheit" und Nervosität. Indessen - mehr als alles andere, so weiß Ludendorffs Biograf Manfred Nebelin zu berichten, Zitator: "fürchtete Ludendorff, dass man ihm - wie Mitte September 1914 seinem Mentor Moltke - den Vorwurf machen könnte, er habe die Nerven verloren." Sprecherin: Doch akzeptierte der General, dass ihn - vermittelt durch enge Vertraute - schließlich Anfang September 1918 der einstige Oberstabsarzt und mittlerweile in Berlin praktizierende Nervenarzt Dr. Hochheimer aufsuchte. Der verschrieb ihm einen "Heilplan", den Ludendorff offensichtlich auch "mit Kraft und Gehorsam" erfüllte, wie Hochheimer in einem Brief an seine Frau vermerkte. Der Plan umfasste einen Zitator: "ganz andere[n] Tageslauf mit Ruhepausen, Spaziergängen, mehr Schlaf (jetzt nur von 1- 5 Uhr nachts), mehr Freude, Atmen, Sinne üben und -ablenken, Massage zur Entspannung des Körpers, mit anderer Stimme sprechen lernen (jetzt angespannte hohe Kommandostimme)." Sprecher: Offiziell kaschiert als Behandlung einer Ischiaserkrankung traten Hochheimer wie auch enge Mitarbeiter Ludendorffs gegen die Behauptung auf, der General sei "gegen Kriegsende mit den Nerven zusammengebrochen". Vielmehr "blieb auch in den schweren Tagen des Augusts, Septembers, Oktobers 1918 seine straffe Haltung, Arbeitskraft und Energie" erhalten. Derlei Erklärungen sollte jene Vorwürfe entkräften, nach denen die von Ludendorff am 29. September 1918 erhobene Forderung an die Reichsregierung, einen sofortigen Waffenstillstand herbeizuführen, sich allein einem "Nervenzusammenbruch" verdankte. Sprecherin: Jenseits der Kuriosität der beiden Fälle und der an Sarkasmen nicht armen deutschen Geschichte - in der nervöse Militärs zunächst in der Julikrise 1914 jede Stunde zählen, bis der herbeigesehnte Krieg beginnt und es gut vier Jahre später kaum erwarten können, möglichst schnell damit aufzuhören - dürfen die beiden Nervenzusammenbrüche Aufmerksamkeit beanspruchen. Sprecher: Moltkes und Ludendorffs wie auch immer definierte psychische Labilität und deren Folgen illustrieren nämlich vor allem eins: In kaum einem anderen als dem Großen Krieg zwischen 1914 und 1918 machte man sich intensiver über die mentalen Befindlichkeiten der Front und Heimatfront Gedanken. Und vor allem in Deutschland wurde diese Entwicklung noch durch die Staatsnähe der Ärzteschaft im Allgemeinen und der aufstrebenden Psychiatrie und Psychologie im Besonderen gefördert. Sprecherin: Insbesondere in den ersten Monaten des Krieges und zumeist im Kontext eines herbeigesehnten, die Nation einenden "Geistes von 1914", wurde die Kraft der Nerven, ja, endlich gar die nervenstärkende Kraft des Krieges selbst beschworen. Jedenfalls solange, bis in der deutschen Kriegsgesellschaft des zunehmend spürbaren Mangels und der knappen Ressourcen schließlich auch die nervenstarke Kampfbereitschaft der Soldaten zu den raren Gütern gehörte. Und in gewisser Weise boten psychiatrische Diagnose- und Therapiekonzepte eine Art psychische Mangelbewirtschaftung an, die Ersatz oder Kompensation dort offerierte, wo der personellen und materiellen Überlegenheit der Gegner eigentlich nichts mehr entgegenzusetzen war. Sprecher: Allerdings zeigten sich bei Beginn des Krieges die Beobachter zunächst überrascht, dass der Krieg eine vermeintlich nervenstärkende Kraft zu entfalten vermochte. Denn der sozialmedizinische und politische Nervendiskurs unmittelbar vor 1914 war beherrscht von der Überzeugung, dass gute Nerven eine unabdingbare Voraussetzung für den Krieg wären und nicht etwa, dass der Krieg in der Lage sei, starke Nerven erst herzustellen. Sprecherin: Ein Nexus, der auch die Folie abgab für die seit der Jahrhundertwende nicht nachlassende Kritik an den vorgeblich zu "schwachen Nerven" der politisch Verantwortlichen und insbesondere des Kaisers, den Herausforderungen des immer wieder drohenden Krieges zu begegnen, während umgekehrt die "nervöse Reizbarkeit" jenes Führungspersonals in Militär und Politik herausgestellt wurde, das den Krieg je eher, desto lieber "herbeireden" wollte. Sprecher: Mit Beginn des Weltkriegs schien es zunächst unübersehbar, dass sich der Kausalzusammenhang umgekehrt hatte. Unablässig in diesen ersten Kriegswochen und -monaten durchzog das Mantra von der nervenheilenden Kraft des Krieges die öffentliche Meinung - und geriet überraschend schnell zu einem Teil der Integrationsideologie der "Ideen von 1914". Der propagierte Kampf der "Kultur gegen die Zivilisation", der "Gemeinschaft gegen die Gesellschaft", der "Helden gegen die Krämer und Händler" wurde - mit den Nervenärzten als laut vernehmbarem Sprachrohr - durch den der "Gesunden gegen die Kranken" komplettiert. Sprecherin: Die Feind-Nationen, gleichsam ihre nationalen Körper und Seelen, wurden mit psychiatrischen Begriffen abqualifiziert: Russland sei nichts als ein "sadistischer Hypochonder", England von einer "Angstneurose" besessen und vor allem Frankreich sei zu sehen als das so weichlich-verweiblichte wie intrigante Land der "Hysterie". Die in der "psychiatrischen Diffamierungsliteratur" dieser Tage auftauchenden Stereotypen, wie es der österreichische Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer treffend charakterisierte, sollten bald darauf - und zum Entsetzen der Psychiater und Neurologen - in den Diagnosen der Nervenkranken, der psychisch Kollabierenden an den Fronten, wieder auftauchen: Der psychiatrisch definierte äußere war quasi zum inneren Feind geworden. Sprecher: Die Krankenberichte der zwar unverwundet, aber "nervlich erschöpft" aus den ersten Gefechten zurückkehrenden Kriegsfreiwilligen sprachen noch eine zugewandte, humane Sprache. Viele litten unter Zitator: "nervösen Angstzuständen" und unter "Schreckträumen". Manche fühlten sich nach der "Nervenprobe" eines viermaligen Durchquerens der Feuerzone "zeitweise ganz weg" oder hatten erfahren müssen, wie in rasendem Artillerie- oder Maschinengewehrfeuer die "ganze Kompagnie aufgerieben" worden war. Sprecherin: Insgesamt scheinen in den ersten Monaten des Krieges eher neurasthenisch inspirierte Diagnosen an der Tagesordnung gewesen zu sein, ja, die Neurasthenie als Lehre von den schwachen Nerven erlebte eine erneute Konjunktur, insbesondere bei nervös zusammengebrochenen Offizieren, die bereits vor 1914 neben Unternehmern und Ärzten zur favorisierten Patientengruppe gehört hatten, sowie bei Kriegsfreiwilligen der ersten Monate. Zitator: "[Sie waren] mit dem Strohfeuer der Begeisterung im Herbst 1914 ins Feld gerückt und mussten nach wenigen Wochen ‚erschöpft' als ‚schwere Neurastheniker' wieder heimgesandt werden." Sprecher: So erinnerte sich der Psychiater und Neurologe an der Tübinger Universität und damalige Generaloberarzt Robert Gaupp. Sprecherin: Aber der Ton in den psychiatrischen und neurologischen Periodika und im Bereich des kriegspsychologisch animierten Schrifttums verschärfte sich bald merklich. Das zeigte sich nicht zuletzt am neuerlichen Aufkommen eines Willensdiskurses. Dem wahrgenommenen "Trieb nach Leben, der Furcht vor dem Tode" war nicht mehr nur durch solche Militärärzte zu begegnen, die sich in vordersten Stellungen oder in der Heimat als "moralische Hoffmannstropfen" versuchten, wie der Nerven- und Truppenarzt Max Rhode Anfang 1915 anmerkte. Sprecher: Und der Philosoph und Psychologe Max Dessoir, der zwischen August und Oktober 1915 auf Einladung von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff die Ostfront bereist hatte, empfahl den "Primat des Willens" als wirksames Gegenmittel gegen alle aufkommende Verzagtheit. Auch die "härteste Prüfung, die des Trommelfeuers", glaubte Dessoir und mit ihm viele andere, sei auf diese Weise zu bestehen. Solange nur der "Willen unversehrt ist, winkt der Sieg." Sprecherin: Indessen war der Krieg in dem Bemühen, die erstarrten Fronten wieder in Bewegung zu bringen, längst zum Materialkrieg mutiert. Der periodisch auftretende, mitunter nahezu ununterbrochene Einsatz und die sich temporär immer wieder auf einen Frontabschnitt verdichtenden Großoperationen führten dazu, wie es der Militärhistoriker Herbert Rosinski formuliert hat, dass "der Soldat für keinen Augenblick aus dem Teufelskreis von Tod und Vernichtung entlassen" werden konnte. Sprecher: Ein solcher Krieg aber gebot eine neue Einstellung der Kämpfenden. Der moderne Krieg, so Hans-Georg Hofer, verlangte geradezu nach einem "Idealtypus des modernen Kriegers", nach einem Soldaten mithin, der nicht allein über körperliche Kräfte verfügte, vielmehr auch "hinsichtlich seiner mentalen Eigenschaften Stabilität zu beweisen" hatte: Zitator: "Eine ängstliche, zitternde Hand am Abzug, ein von Kopfsausen, Lähmungen und Schüttelkrämpfen geplagtes Nervenbündel - mit solchen Männern konnte kein Krieg gewonnen werden." Sprecherin: Eben solche "Krieger" aber produzierte der Krieg im sprichwörtlichen Sinne in wachsender Zahl. Bereits im Verlaufe des Jahres 1915 nahmen sie Zitator: "einen erschreckenden Umfang an; die ‚Schüttler' und ‚Zitterer' wurden zu einem grausigen Straßenschauspiel, das die Bevölkerung fast mehr noch als die Amputierten, die Blinden und die im Antlitz Entstellten erregte; man suchte fieberhaft nach kundigen Nervenärzten, um dieser psychische Seuche Herr zu werden." Sprecher: So der Arzt und spätere Politiker Willy Hellpach in seinen Lebenserinnerungen. Sprecherin: Die 8. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie und der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte am 21. und 22. September 1916 in München sollte Abhilfe schaffen. Insgesamt war die Versammlung eine Art Wiederholung einer Tagung von 1890, die unter dem Titel Simulationsstreit in die wissenschaftsgeschichtlichen Annalen einging. Und wie damals richtete sie sich auch jetzt wieder gegen den Arzt und Neurologen Hermann Oppenheim persönlich. Sprecher: Oppenheim hatte in seinen Untersuchungen zur traumatischen Neurose herausgefunden, dass es einen kausalen Zusammenhang etwa zwischen seelisch belastenden Arbeitsunfällen und den daraus folgenden nervösen Symptomen gab, Symptome, die auf kaum sicht- und behandelbare Verletzungen des Gehirns oder des zentralen Nervensystems zurückgingen. Seine Erkenntnisse fanden seit 1889 Eingang in die in Deutschland besonders gut ausgebaute Gesetzgebung der Unfallversicherungen. Danach war es nun den Betroffenen möglich, einen Anspruch auf Rente dann geltend zu machen, wenn ein Unfall sie "nervlich" arbeitsunfähig gemacht hatte. Für die Kritiker Oppenheims war klar, dass sein Diagnosekonzept der Simulation Tür und Tor öffnete, der "Gesundungswille" geschwächt und geradezu die Ausbildung einer "Rentenbegehrlichkeit", ja einer "Rentenneurose" gefördert wurde. Sprecherin: Oppenheim blieb auch zu Beginn des Weltkriegs bei seiner These und konstatierte einen direkten Zusammenhang zwischen den Anforderungen des Krieges an Leib und Seele, insbesondere den schreckensreichen Erlebnissen etwa im Zusammenhang mit Granatexplosionen und der von ihm beobachteten neurotischen Symptomatik. Dabei konzedierte er, dass es "rein psychisch bedingte Neurosen" durchaus gebe und psychische Faktoren die Ausbildung der neurotischen Symptome beeinflussen, ja sie gar zur Simulation ermuntern könnten, aber der eigentliche Auslöser sei doch das an der Front erfahrene "physikalische Trauma". Sprecher: Genau darum ging es in der nun losbrechenden Diskussion in München, die freilich dank guter Vorbereitung von vornherein für die Anhänger des rein psychogenen Neurosenmodells als entschieden gelten konnte. Für sie war die psychische, nur allzu oft pathologisch vorbelastete Genese der Neurose und Hysterie erbracht. Sprecherin: Der amerikanische Historiker Paul Lerner fasste zusammen, eine Mehrheit in München zeigte sich davon überzeugt, Zitator: "dass die ‚Kriegsneurosen' wenig mit Krieg zu tun haben; im wesentlichen identisch mit den Unfallneurosen in Friedenszeiten, konnten sie als psychologische oder ‚hysterische' Reaktionen bei verängstigten, willensschwachen oder faulen Männern erklärt werden." Sprecher: Auch der "Wille", und zwar der Wille zur Erkrankung und der Wille zu gesunden, rückten auf der Münchener Tagung neuerlich in den Mittelpunkt des kriegspsychiatrischen Interesses. Und erneut wurde das "Willensproblem" vor allem mit jenen "Nervenkranken des Krieges" in Zusammenhang gebracht, bei denen nun vermehrt auf "Hysterie" erkannt worden war. Die war seit jeher ein ganz auf das weibliche Geschlecht konzentriertes Erkrankungskonzept, das zugleich von der Aura des "weibischen", "unmännlichen" und - im Kontext des alle Ressourcen abfordernden Weltkriegs - auch des "unheldischen" Verhaltens geradezu durchtränkt war. Sprecherin: Krankheitsursachen ließen sich nun im "minderwertigen Erbgut" oder im Lebenswandel der Opfer finden. Damit konnten zugleich allen nur denkbaren rassistischen, klassen- oder landesspezifischen Vorurteile aufgerufen werden. So schienen nationale oder ethnische Minderheiten wie etwa Polen, Elsässer oder Juden leichter zu erkranken als Deutsche, aber auch Rheinländer häufiger als Pommern, Soldaten häufiger und auffälliger als Offiziere. Sprecher: Tatsächlich aber erwies sich in aller Drastik, dass trotz teils spektakulärer, aber oft eben auch nur temporärer Heilerfolge, etwa durch die "Suggestiv-Hypnose", der Zustrom der Nervenkranken unvermindert anhielt. Robert Gaupp und viele seiner Kollegen begannen nun damit, Vorträge zur "Mahnung und Aufklärung weiter Kreise in der Bevölkerung" zu halten, begleitet von einem anschwellenden Strom von Publikationen. Die Bevölkerung dürfe sich nicht im "Klagen und Bemitleiden" der nervlich Zerrütteten ergehen. Vielmehr seien alle Wege erlaubt, die "Nervenschwächlinge" zu kurieren, bevor sie zu "wertlosen Parasiten der menschlichen Gesellschaft" werden. Sprecherin: Dabei fand der Wille nicht allein als Diagnosesurrogat seine Rolle, sondern auch als therapeutisch eingesetzter "Willenskampf" zwischen Arzt und Patient. Für den Hamburger Neurologen Max Nonne etwa war es selbstverständlich, dass der Erkrankte vor der Hypnose gar nicht erst um Erlaubnis gebeten werden müsse, ihn "in einen willenlosen Zustand" zu versetzen. Überdies, so Nonne, habe er Zitator: "die Kranken sich stets ganz nackt ausziehen lassen, denn ich finde, dass dadurch das Gefühl der Abhängigkeit bzw. der Hilflosigkeit erhöht wird." Sprecher: Diffamierende Diagnostik und therapeutische Brutalität prägten zwar seit der Münchener Tagung den offiziellen Diskurs über den Umgang mit den "Nervenopfern" des Maschinenkrieges. Aber das hieß nicht, dass Kontrolle und Denunzierung unisono die alltägliche Praxis bestimmten oder dass etwa die der Wiederverwendungsfähigkeit dienenden "Arbeitstherapien" bei den Erkrankten und ihren Angehörigen nur Verdruss hervorriefen - schließlich und nicht zuletzt blieben sie ja dadurch der Front und damit dem dort drohenden Tod und den Risiken einer physischen und psychischen Verstümmelung entzogen. Sprecherin: Relativ unbekümmert durch die Münchener Vorgaben orientierten sich überdies viele Psychiater und Neurologen weiterhin an dem von Oppenheim entwickelten und im Krieg bestätigt gefundenen Konzept der traumatischen Neurose. Mit den daraus folgenden lang andauernden Therapien fern der Front und ohne kurzfristig zu erwartende "Heilerfolge" entsprachen sie mithin gar nicht den "Erfordernissen des Militärs". Sprecher: Mittlerweile aber hatte sich der psychiatrisch geprägte Willensdiskurs bereits endgültig in den Gefilden der Politik und Propaganda ausgebreitet. Ähnlich wie die Nerven als Inbegriff "geistiger Gesundheit" Teil der Integrationsideologie des "Geistes von 1914" geworden waren, gewann ab 1916 der Willensbegriff an Boden in den Deutungen des "Maschinenkrieges". Dies geschah umso leichter als die definitorische Unschärfe des Willensbegriffs schon innerhalb der Psychiatrie und Neurologie dazu geführt hatte, ihn nationalpolitisch und moralisch hoch aufzuladen. Sprecherin: Unter diesen Bedingungen mutierten endlich während des Krieges jene zu "Siegfriednaturen", die "der Krieg in vier Jahren nicht zerstört hatte" und die - als "Männer ohne Nerven" - dem Materialkrieg insbesondere in den sogenannten Sturmbataillonen und Stoßtrupps als "kleine Elite der Fronttruppen" getrotzt hatten. Um diesen nerven- und willensstarken Soldaten namentlich der deutschen Westfront rankten sich ab 1916/17 viele Legenden, und es entstanden bis weit in den Nachkrieg hinein Typologien der "Überwinder des Grauens und der Furcht, die in schmalen Gräben ausharren, wenn alle Höllen toben", wie es 1930 in dem Band Die Front im Spiegel der Seele hieß. Sprecher: In welchem Ausmaß das im Willensdiskurs verhandelte Deutungsangebot der Kriegspsychiatrie über Mut und Feigheit auf der Ebene der Selbstwahrnehmung der Soldaten angekommen war, zeigte schließlich ein prominentes Beispiel. Adolf Hitler in Mein Kampf über seine Weltkriegsjahre, Zitator: "Immer, wenn der Tod auf Jagd war, versuchte ein unbestimmtes Etwas zu revoltieren, bemühte dann sich als Vernunft dem schwachen Körper vorzustellen und war aber doch nur die Feigheit. Schon im Winter 1915/16 war bei mir dieser Kampf entschieden. Der Wille war restlos Herr geworden. Nun erst konnte das Schicksal zu den letzten Proben schreiten, ohne dass die Nerven rissen oder der Verstand versagte." Sprecherin: Die Nerven- und Willenssemantik und deren Bereitstellung eines Wahrnehmungsrasters für den feigen respektive mutigen, nerven- und willensstarken Soldaten wird Hitler in seiner nachträglichen Selbstinszenierung als tapfereren Soldaten durchaus vertraut gewesen sein - vermutlich sogar in ihrer kriegspsychiatrischen Ausprägung. In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 1918 war er als Meldegänger seines Regiments an der Westfront in einen Giftgasangriff geraten, erblindete kurzzeitig und wurde schließlich im Reservelazarett der pommerschen Kleinstadt Pasewalk auf der dortigen kriegspsychiatrischen Abteilung wegen "hysterischer Blindheit" behandelt. Sprecher: Solche willensreiche Visionen finden sich von nun an allenthalben im Schrifttum der nationalen Rechten. In ihnen verbarg sich, wie etwa Ernst Jünger 1926 in seinem Text Vom absolut Kühnen analysierte, "im Grunde nur ein Gefühl". Ein Gefühl, "dessen Reinheit und Schärfe" allein der "Nationalismus" zu definieren weiß: Zitator: "Es ist der Wille einer neuen Aristokratie, die der Krieg geschaffen hat, eine Auslese der Kühnsten, deren Geist kein Material der Welt zerbrechen konnte und die sich zur Herrschaft berufen fühlt." 1