COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschland- radio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 23. Juni 2008, 19.30 Uhr Arbeiten ohne Ende Zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung Von Conrad Lay Sprecher vom Dienst Arbeiten ohne Ende Zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung Von Conrad Lay TAKE 1 Dietze Man feiert sich auch selbst ein bisschen, wenn man behaupten kann, wir hatten eine doppelt so hohe Marge wie eine Abteilung mit genauso viel Leuten oder mit weniger Leuten, ganz klar. Was natürlich auch immer marktabhängig ist, das hat nicht nur mit der Abteilung zu tun. Aber man versucht den Leuten immer zu signalisieren, ihr ar- beitet sehr viel, aber das ist auch herausragend. Das ist auch so eine gewisse Moti- vation bei der Sache. Sprecher Rainer Dietze ist Immobilienberater. Nach dem Studium an der European Business School im Rheingau stieg er vor einem knappen Jahr bei einer amerikanischen Im- mobilienfirma ein. Unter den 300 Mitarbeitern der Deutschland-Zentrale in der Frank- furter City herrscht ein lockeres Betriebsklima, erzählt Dietze, alle reden sich auf gut amerikanisch mit Vornamen an und duzen sich. Der lockere Stil verträgt sich gut mit den harten Arbeitsvorgaben: TAKE 2 Dietze Die Arbeitszeiten - das war mir auch schon vorher klar, ich hatte ja schon ein Prakti- kum dort gemacht - sind definitiv nicht im Rahmen der im Vertrag festgelegten 40 Stunden. Da gibt es so eine schöne Klausel im Vertrag: Die Überstunden sind mit dem Gehalt abgegolten. Es war auch gleich zu Anfang, in den ersten Tagen war es noch etwas ruhiger, da konnte man sich einfinden und hat an verschiedenen Stellen ausgeholfen, aber ich hab dann schon gesehen, dass die Kollegen meistens bis nachts da waren, und teilweise auch am Wochenende und feiertags. Nach wenigen Tagen ging's dann auch bei mir richtig los, war ich bei den ersten Projekten dabei, die ich mitgemacht habe, da waren auch einige extreme dabei. 2007 war ein extre- mes Jahr, einfach weil der Markt sehr, sehr gut gelaufen ist, und die Auftragsbücher waren so voll, dass Sachen abgelehnt werden mussten, und da haben wir durchaus auch Tag und Nacht geschafft. Sprecher Wenn ein Investmentfonds oder eine Wohnungsgesellschaft ein Bürogebäude oder auch eine ganze Wohnsiedlung kaufen will, dann sind Immobilienberater wie Rainer Dietze gefragt, um die Gebäude zu bewerten. Bekanntlich ist die Immobilienbranche extrem konjunkturabhängig; im vergangenen Jahr, als die Geschäfte brummten, wur- de es für die Berater abends, genauer gesagt: nachts sehr spät: TAKE 3 Dietze Also in der Zeit war es üblich, dass ich so bis Mitternacht oder halb eins, eins da war. Es gab auch Tage, wo es durchaus auch länger ging. Nach drei, vier Monaten hat man es schon gut in den Knochen gespürt. Sprecher Die meisten Immobilienberater sind zwischen 28 und 35 Jahre jung, über 40 sind nur einige höhere Manager. Während Gleichaltrige den späten Abend womöglich in der Disco verbringen, sind Rainer Dietze und seine Kollegen noch bei der Arbeit: TAKE 4 Dietze Durch den Stress am Arbeitsplatz, die viele Zeit, die man dort verbringt, hat man a- bends gar keine große Lust wegzugehen. Also ich bin dann ganz froh, wenn ich a- bends irgendwann zuhause bin und dann ruhig den Tag beenden kann. Sprecher Da Rainer Dietze wie viele seiner jungen Kollegen keine Familie und keine Kinder hat, stellt sich für ihn das Problem der Balance zwischen Arbeit und Privatleben nur abgeschwächt: TAKE 5 Dietze Also ich hab einige Kollegen dabei, die langsam heiraten und wo auch mal Kinder anstehen. Bei einigen, die schon länger dabei sind, die auch in höheren Positionen sind, sind auch schon Kinder da - und da ist es mit Sicherheit eine Frage, also wenn man ein kleines Kind zuhause hat und das Kind vielleicht mal am Wochenende sieht, ist es nicht schön. Ich denke, dass das ein Grund für viele ist, später oder auch immer noch im jungen Alter, sprich mit Anfang 30, dann vielleicht Berufe zu suchen, die nicht mehr ganz so anstrengend sind. Sprecher Viele der Jungmanager sehen die extrem langen Arbeitszeiten als typisch für die Einstiegsphase an; einige, die schon Mitte dreißig sind und Familie haben, haben das Problem anders gelöst: sie sind nur bis Freitag Nachmittag in Frankfurt und fah- ren dann am Wochenende zu ihrer Familie in eine andere Stadt. Wenn für die Fami- lie schon keine Zeit ist, kann man Arbeit und Familie auch räumlich trennen. Rainer Dietze: TAKE 6 Dietze Wie ein Kollege zu mir mal meinte, er möchte das auch so halten, er sagte, er ist zwar nicht so schön, wenn man seine Frau nur so selten sieht, auf der anderen Seite, wenn die Frau zuhause ist, vor Ort ist und vielleicht abends ein schönes Abendessen kocht und man plant, man isst gemeinsam um acht und ruft dann an und sagt, tut mir leid, ich kann doch erst um 12 kommen, dann ist der Ehefrieden auch bald in den Brüchen. Und von daher ist das wohl gar nicht so unbeliebt, dass man sagt, o.k. Partnerin und Kinder sind vielleicht sogar in einer anderen Heimatstadt. Sprecher Rainer Dietze kann der Immobilienkrise in den USA viel Gutes abgewinnen: denn seitdem kommt er häufiger bei Tageslicht aus dem Büro. TAKE 7 Dietze Die 40 Stunden sind's immer noch nicht, aber vielleicht sind's dann 50 statt 70. Das ist auch ein gewaltiger Unterschied, und das ist für die meisten sehr angenehm. Gra- de nach einem sehr anstrengenden Jahr ist es ein sehr positiver Zustand, aber die Konjunktur spielt da ganz extrem rein. Wenn es momentan boomen würde wie im letzten Jahr - man will ja möglichst keine lukrativen Angebote ablehnen, man will auch keine Kunden verprellen, die ja auch später wieder wichtig werden können, von daher versucht man so viele Sachen anzunehmen wie möglich, und dementspre- chend, wenn die Konjunktur boomt, dann brennt die Hütte, auf deutsch gesagt. (lacht) Sprecher Rainer Dietze rechnet sich gute Aufstiegschancen aus und hofft, dass die Arbeitsbe- lastung nachlassen wird, wenn er in der Hierarchie etwas weiter nach oben geklettert ist. Auch gefällt ihm, dass es bei seiner Arbeit nicht auf die Stunden im Büro ankommt, nicht auf die Anwesenheit, sondern auf das Ergebnis. Aber die Freiheit, sich seine Zeit einteilen zu können, hat ihre Grenzen: TAKE 8 Dietze Die Sache ist klar, Zeiten müssen wir einhalten, was unsere deadlines angeht. Wenn ein Kunde die Ergebnisse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt haben will, müssen sie bis dahin fertig sein, egal wie. Sprecher Der Druck ist indirekt: er kommt nicht direkt von oben, vom Arbeitgeber, sondern von außen, vom Kunden. Der organisatorisch gewährte Spielraum der Selbstverantwor- tung wird zum Motor eines Leistungsdrucks, dessen Fremdbestimmtheit viele nicht mehr erkennen. Denn hinter Wettbewerbsdruck und Kundenorientierung können sich alle verstecken. Trotz des hohen Arbeitseinsatzes macht dem Immobilienberater Dietze seine Arbeit Spaß: TAKE 9 Dietze Ich denk auch, wenn man den Job, den man macht, nicht mag, kann man diese Zei- ten nicht auf Dauer leisten. Das ist gar nicht möglich. Wenn man jeden Tag hingeht und denkt, eigentlich Mist, ich möchte nicht, dann führt das auch zu nichts. Sprecher Die größere Freiheit führt zu mehr Effizienz. Bei einer traditionellen Büroarbeit, davon ist Rainer Dietze überzeugt, könnte man längst nicht ein so großes Pensum schaffen. Er genießt es, nicht so früh morgens beginnen zu müssen, umgekehrt stört es ihn nicht, abends vor einem leeren Kühlschrank zu stehen: TAKE 10 Dietze Die Wohnungen sind wahrscheinlich eher sporadisch eingerichtet, weil man sowieso wenig Zeit dort verbringt, der Kühlschrank ist kategorisch leer, das Problem kenne ich bei mir auch, da gibt es nicht unbedingt so den großen Anreiz, dass man sagt, man geht jetzt besonders früh nach Hause. MUSIKAKZENT Sprecher Ulf Kadritzke, Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin, beschäftigt sich seit Jahren mit den sich wandelnden Anforderungen an die Arbeitswelt. Als Ar- beitssoziologe berät er häufig die Gewerkschaften. Die Begeisterung, so richtig ran- zuklotzen und es den Wettbewerbern mal zu zeigen, kennt er aus vielen Gesprä- chen: TAKE 11 Kadritzke Natürlich ist das auch altersgemäß abgestuft, es ist natürlich so, dass Jüngere manchmal subjektiv sehr begeistert ihre Leistungsfähigkeit zeigen, da lässt man sich dann in der IT-Industrie, bei der Softwarebranche abends um 11 noch den Nacken massieren und findet das ganz toll, dass man dann durcharbeitet, aber das Phäno- men ist inzwischen so weit verbreitet, dass alle Altersstufen davon betroffen sind, und dann kann man nicht mehr von Mode reden. Sprecher In die ehemalige Spaßkultur der new economy sei in den vergangenen Jahren eine große Ernüchterung eingetreten, meint Ulf Kadritzke, und zwar auch bei denen, die sich zunächst sehr gute Zukunftsaussichten ausgerechnet hatten: TAKE 12 Kadritzke Aber in dem Maße, wie auch in der new economy ziemlich herkömmliche Arbeitsver- hältnisse eingetreten sind, wo Hierarchien zwar flacher geworden sind, aber der Leis- tungsdruck und die Zielvereinbarungen trotzdem stehen und erfüllt werden wollen, da hat sich praktisch jetzt ein Klima ausgebreitet, wo also - ich sag's mal ein bisschen ironisch - eine sehr fremdartige Mischung aus Spaß und Selbstausbeutung um sich gegriffen hat. Und das ist nicht mehr lustig. Sprecher Die Verbindung von Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung zeigt sich auch dar- an, dass man praktisch nicht trennen kann, ob die Arbeitszeiten von außen auferlegt werden oder selbst gewollt sind. Am besten zeigen sich die neuen Mischungsver- hältnisse an der Projektarbeit. TAKE 13 Kadritzke Projektarbeit ist eine sehr faszinierende Form der Arbeit, man sitzt nicht mehr im stil- len Kämmerlein, man arbeitet mit anderen zusammen, man arbeitet mit Menschen von verschiedenen Disziplinen, aus verschiedenen Sichtweisen, das ist sehr reizvoll, aber was oft vergessen wird bei der Arbeitsorganisation im Unternehmen: genau die- se Arbeit kostet Zeit. Sie kostet sehr viel Zeit, aber die Zielvorgaben werden immer enger bemessen und die Personalvorgaben auch. Und das macht dann die Mi- schung aus, dass die subjektive Begeisterung fast alltäglich auch Elemente hat von Fremdausbeutung, also es ist eine Mischung von Fremd- und Selbstausbeutung, und ich würde als Arbeitssoziologe eben sagen: die Elemente der fremdbestimmten Ar- beit nehmen deutlich zu. Sehen Sie das auch an der Dauer der Arbeitszeit, an der Lage der Arbeitszeit, man muss immer verfügbar sein, der Kunde will es, und nicht mehr der Vorgesetzte, aber dieser Druck ist subtil und dennoch sehr stark. Sprecher Die Bereitschaft, in bestimmten Berufen mehr zu arbeiten, mag auch mit dem Trend zur Wissensarbeit zusammenhängen. Jungmanager Rainer Dietze ist denn auch überzeugt, kein körperlich arbeitender Mensch könne soviel wie er als Immobilienbe- rater ranklotzen. Geistige Arbeit lasse sich eben zeitlich sehr weit ausdehnen. Ulf Kadritzke bestätigt diese Erfahrung: TAKE 14 Kadritzke Man sagt, Wissensarbeit macht zeitvergessen. Also man vergisst über die Wissens- arbeit die Zeit. Man hat übrigens auch im Unterbewusstsein, ich habe mit vielen Wis- sensarbeitern darüber geredet, man hat ein schlechtes Gewissen, denn Sie sitzen irgendwo in einem Team, an einem Schreibtisch, vor einem Computer, vor einem Bildschirm, und man sieht Ihnen von außen nicht an, was Sie tun, ob Sie etwas tun. Ob Sie nur gucken, ob Sie in sich hineindenken oder ob Sie etwas Produktives für die Firma tun. Und das schafft eine innere Bereitschaft, die Arbeitszeit nicht mehr als Maß der eigenen Leistungsverausgabung zu bewerten, und das schafft dann den Trend zu Entgrenzung der Arbeit oder zum Einverständnis darin, dass die Arbeit ent- grenzt wird. Sprecher Intellektuell anspruchsvolle Arbeit zieht andere Kollegen an, die eine ähnlich gute Ausbildung haben und geistig ebenbürtig sind. Der Arbeitsplatz wird so zum Ort an- regender Begegnungen, zum Zentrum des sozialen Lebens. Damit vertauschen sich die Rollen von Zuhause und Arbeitsplatz. Während man sich am Arbeitsplatz wohl- fühlt, sorgt das Zuhause für Stress und Schuldgefühlen gegenüber den Angehörigen. Manchmal nimmt das schlechte Gewissen sogar groteske Züge an, wie Ulf Kadritzke berichtet: TAKE 15 Kadritzke Ich habe mal einen leitenden Angestellten in der Informatikbranche getroffen, der hat mir freiweg gestanden, er könnte eigentlich in aller Regel um halb acht abends zu- hause sein, er wisse aber ganz genau, um halb acht ist er, weil er ausgepowert ist von der Arbeit, nicht mehr in der Lage, mit seinen Kindern noch ein vernünftiges Wort zu reden. Was ist der Ausweg aus dem Dilemma? Er geht, ohne das seiner Frau üb- rigens zu sagen, erst um halb zehn aus der Firma, kommt um zehn nach Hause, kann natürlich relativ reinen Gewissens sagen, er hat keine Zeit mehr, sich mit den Kindern zu befassen, die Kinder schlafen auch schon. MUSIKAKZENT TAKE 16 Stock-Homburg Wir haben zum einen festgestellt, dass alleine zehn Prozent der Befragten eine hohe Burn out-Gefährdung aufweisen. Burn out bedeutet in diesem Fall, dass sie hoch- gradig innerlich erschöpft sind und sehr krank sind. Sprecher Ruth Stock-Homburg ist Deutschlands jüngste Professorin der Betriebswirtschafts- lehre. Die Darmstädter Spezialistin für "marktorientierte Unternehmensführung" be- fragte zusammen mit der Psychologin Eva-Maria Bauer 300 Topmanager und ihre Partner danach, wie sie Arbeit und Leben miteinander vereinbaren können. Die Er- gebnisse waren erschreckend: TAKE 17 Stock-Homburg Wir haben darüber hinaus festgestellt, dass etwa 30 Prozent der Befragten eine star- ke Workoholismus-Gefährdung aufweisen. Workoholismus ist in Deutschland unter medizinischen Gesichtspunkten eine anerkannte Sucht. Sprecher Überlange Arbeitszeiten, sagt Ruth Stock-Homburg, das sei kein Modethema, das habe mit der Spaßkultur der new economy nichts zu tun: TAKE 18 Stock-Homburg D.h. auch die Frage, ob es sich Unternehmen leisten können, sich mit dem Thema work-life-balance beschäftigen zu können, kann man nur dahingehend beantworten, dass das Gegenstück davon lautet, dass man die Personen im Grunde verheizt. Das ist aus ökonomischen Gründen nicht sinnvoll, zu teuer, ist sozial nicht wirklich ver- tretbar und ich denke, in so einer Welt wollen wir auch nicht leben. Sprecher Als besonders gravierend stellten die Darmstädter Wissenschaftlerinnen fest, dass gerade jene hoch angesiedelten Manager, die Führungskultur vorleben sollten und von der Spitze her die Unternehmenskultur bestimmen, von Burn out-Syndromen betroffen sind. Wie sich im weiteren Verlauf der Studie zeigte, sind die Befunde im mittleren Management nicht weniger problematisch; das Gefühl, ausgepowert zu sein und sich nicht mehr erholen zu können, zieht sich durch verschiedene Führungsebe- nen hindurch. Nicht zuletzt macht sich hier der Druck der neuen Kommunikationstechnologien be- merkbar: Handy, e-mail und Blackberry verwischen die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Etwa beim Typus des "immer erreichbaren" Managers: TAKE 19 Stock-Homburg Das sind zumeist jüngere Manager, die sehr technologieaffin sind, also quasi auf ei- ne Arbeitszeit von etwas über 60 Stunden, reine Arbeitszeit, kommen. Wenn Sie aber fragen, 'wie viel Zeit verbringen Sie abends, um mal schnell Ihre E-Mails abzufragen usw.', merkt man dass das natürlich horrende Arbeitszeiten sind. Gerade diese Ver- mischung, sprich: diese Personen sind während der beruflichen Arbeitszeit perma- nent für die Familie erreichbar, aber auch im privaten Bereich permanent für das Un- ternehmen erreichbar. Diese Vermischung ist schwierig für die work-life-balance. Sprecher Die Darmstädter Langzeitstudie ergab, dass es eine ziemlich eindeutige Relation zwi- schen Arbeitszeiten und Einkommen gibt: je höher das Einkommen, desto länger die Arbeitszeiten. Doch lange Arbeitszeiten allein sagen noch nichts über Stress aus, es kommt auf die Umstände an: TAKE 20 Stock-Homburg Was auch interessant war, dass aber auch die Arbeitsfreude dieser Menschen durchschnittlich höher war, d.h. dass es sich nicht nur monetär widergespiegelt hat, sondern dass diese Menschen einfach mit einem anderen Engagement rangegangen sind. Wir erklären uns das damit, dass diese Menschen irgendwo spüren, wie viel sie bewegen können. Sprecher Unterschiede zwischen den Branchen konnten Ruth Stock-Homburg und ihr Team von der Universität Darmstadt durchaus feststellen: an der Spitze liegen - wie zu er- warten - die Beraterbranche, aber auch die Bau- und Automobilindustrie: TAKE 21 Stock-Homburg Was wir uns aber vor Augen halten müssen: Wir sprechen in allen Fällen von Perso- nen, die im Durchschnitt deutlich mehr als 60 Stunden pro Woche arbeiten. Sprecher Die Unterschiede zwischen den Branchen beziehen sich also darauf, wie viele Stun- den darüber hinaus noch im Topmanagement bestimmter Branchen gearbeitet wird, etwa in der Bau- und Automobilindustrie: TAKE 22 Stock-Homburg Von den Arbeitszeiten her kommen wir auf 90 Stunden pro Woche. MUSIKAKZENT Sprecher Lange Arbeitszeiten gab es immer schon. Man denke an das kleine Familienunter- nehmen, den Gemüsehändler oder den Gastwirt. TAKE 23 Kretschun Stoika Keiner fragt dich, wie viel Stunden hast du, wie viel Arbeit hast du gemacht, jeder sieht nur die Fassade, ah, du hast dieses Jahr schon was gebaut, schon was ge- macht, aber wie viel ich mir hab Mühe gegeben, und wie viele Stunden Arbeit ge- macht, das fragt keiner. (Lacht) Sprecher Genau dort, wo das Frankfurter Bankenviertel auf die Rotlicht-Szene stößt, befindet sich die Gaststätte "Diplomat". Es kämen viele Diplomaten und Banker zu ihnen, er- zählt Gabriela Stoika, die mit ihrem Mann Kretschùn Stoika das Restaurant seit 15 Jahren betreibt. Auf wie viel Wochenstunden die beiden kommen, hat die gebürtige Rumänin noch nie nachgerechnet: TAKE 24 Gabriela Stoika (lacht) Viel, sehr viel. Jeden Tag außer Samstag und Sonntag. Morgens um 10 Uhr bis abends, wissen wir noch nicht, dauert ab und zu eins, zwei, drei, vier, fünf (lacht), jede Nacht eben, wie wir Gäste haben. Sprecher Ihre Wohnung, meint die Wirtin, sehe sie nur zum Schlafen und - naja - auch mal zum Fernsehgucken. Die beiden Kinder sind längst erwachsen, keiner der beiden wollte etwas mit Gastronomie zu tun haben, der Sohn wurde Informatiker, die Toch- ter OP-Krankenschwester. Der Einsatz der Eheleute Stoika hat sich ausgezahlt, ihre Kinder konnten andere Berufe ergreifen und sozial aufsteigen. Gabriela Stoika: TAKE 25 Gabriela Stoika Normalerweise als wir haben die Gaststätte übernommen, haben wir gedacht, alle beide Kinder hilft uns, machen wir großen Familienbetrieb hier, aber die wollen nicht in Gaststätte arbeiten, o.k., da haben wir gesagt, machen wir beide. (lacht) Sprecher Kretschùn Stoika ist von Beruf Koch. Als er noch in Bukarest war, arbeitete er in ei- nem großen Hotel, dem Athenee Palace, das zur internationalen Hilton-Kette gehört. Seine jetzige Gaststätte in Frankfurt bot ihm die Chance, nach Deutschland überzu- siedeln und sich hier selbständig zu machen. Mit viel Energie und wenig Freizeit hat er es geschafft: TAKE 26 Kretschun Stoika Natürlich, das war nicht leicht, in erster Reihe die Sprache, ohne Sprache bist du halb behindert, egal welche Professionalität hast du, egal in welcher Branche arbei- test du. Das war das einzige Schwere für mich, Gastronomie wusste ich, 22 Jahre in Rumänien schon, wusste ich, wie schwer ist in Gastronomie, aber mit Sprache, naja, das war eine schwierige Punkt. Sprecher Kretschun Stoika weiß, warum er täglich weit über 12 Stunden arbeitet: Wenn seine Familie zufrieden sei, dann sei er es auch, meint er versöhnlich. Natürlich bringe man als Selbständiger in einem eigenen Betrieb einen völlig anderen Einsatz als in einer abhängigen Beschäftigung: TAKE 27 Kretschun Stoika Arbeitest du total anders, du bist voll dabei, immer, du kannst dir nicht leisten, sagst du, 'heute mache ich den Schweinebraten nicht so richtig, ich habe keine Lust', das gibt's nicht, muss immer dabei sein, muss immer mit viel Erfahrung und Mühe und Engagement, in dieser Branche, da gibt's keine schwache Punkt. Ich kann mir nicht leisten z.B., krank zu sein. Das kann ich mir nicht leisten. Sprecher Auch Gabriela Stoika freut sich, dass es ihnen gelungen ist, eine eigene Existenz aufzubauen. Die rumänische Küche komme bei ihren Gästen sehr gut an, ihr Lieb- lingsessen seien rumänische Kohlrouladen mit Sauerkraut und Polenta. TAKE 28 Gabriela Stoika Hier, Frankfurt, ist nur zum Arbeiten, Geld verdienen. (lacht) Und der Rest? Ist nicht leicht. Normalerweise, wenn wir haben keine Gäste, dann sind wir sauer. Wenn sind Gäste da, dann vergessen wir, 'wie spät haben wir jetzt?' Da guckt niemand auf die Uhr. (lacht) MUSIKAKZENT Sprecher Dass Selbständige viel arbeiten müssen, um ihre Existenz aufzubauen, dass in ei- nem Familienbetrieb, wenn irgend möglich, alle Hände mithelfen - das alles ist nicht neu. Seit Mitte der neunziger Jahre lässt sich jedoch bundesweit eine Trendumkehr erkennen: ging zuvor die durchschnittliche Arbeitszeit zurück, so nimmt sie seither wieder zu. In den achtziger Jahren hatten die Gewerkschaften - mindestens auf dem Papier - die 35-Stunden-Woche durchgesetzt. Seit gut zehn Jahren schlägt nun das Pendel nach der anderen Seite aus: jetzt ist nicht mehr von Verkürzung der tarifli- chen Arbeitszeit der Rede, sondern von ihrer Verlängerung. Branchenübergreifend wird als Begründung dafür die verschärfte, globalisierte Konkurrenz genannt. Profes- sor Ulf Kadritzke: TAKE 29 Kadritzke Wir haben eine Zunahme von Schichtarbeit, wir haben eine Zunahme von allen mög- lichen Phänomenen von Rund-um-die-Uhr-Arbeit, man muss übrigens noch mal be- tonen: auch ganz niedrig qualifizierte Berufe sind davon betroffen. Denken Sie an die Fernlastwagenfahrer, an das Personal in der Logistik an den Flughäfen, also es sind auch weniger Qualifizierte davon betroffen, aber: die brisanteste Mischung ist eben die subjektive Bereitschaft, flexibel zu arbeiten, der Spaß, den das macht, verbunden mit den organisatorischen Zwängen, es nun auch machen zu müssen. Insofern ist diese Schicht dieser Hochleister, die breitet sich immer mehr aus, und es betrifft jetzt auch Menschen, die sich vorher nicht davon etwas träumen lassen, dass sie etwa später einmal Samstagsarbeit, Sonntagsarbeit oder Schichtarbeit machen müssten. Sprecher Auch die Tarifverträge für Ärzte in städtischen Krankenhäusern sehen heute längere Arbeitszeiten vor als in den neunziger Jahren. Aber für den Frankfurter Unfallchirur- gen Christoph Brier sind nicht die 40 Stunden ein Problem, sondern das, was noch hinzukommt. TAKE 30 Brier Also offiziell sind's 40, aber inoffiziell sind's eigentlich doch immer 50. Und das ist auch nicht nur in der Chirurgie so, das ist in den meisten anderen Fächern so, ich würde sogar sagen, in der Allgemeinchirurgie, wo es um Bauchchirurgie geht, wo die Fälle doch häufig etwas komplizierter sind, die häufig kränker sind, geht's eher noch länger. Das ist auch in den letzten Jahren eher mehr geworden. Sprecher Zu der offiziellen und der inoffiziellen Arbeitszeit kommen noch die Bereitschafts- dienste: von vier Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen um Viertel nach acht. Christoph Brier hat ausgerechnet, dass das durchschnittlich in der Woche weitere 16 Stunden ausmacht, sodass die reale Wochenarbeitszeit auf 65 bis 70 Stunden an- steigt. Der Unfallchirurg weiß sehr wohl: die andere Seite der hohen Arbeitsbelastung sind die vielen praktischen Erfahrungen, die er in den langen Tagen und Nächten im Krankenhaus macht. Da die Bereitschaftsdienste auch gut bezahlt werden, kann er nur schwer sagen, zu welchen er verpflichtet ist und wie viele er freiwillig macht. Es ist auch nicht die reine Länge der Arbeitszeit, die ihm Unbehagen bereitet, sondern deren Organisation: TAKE 31 Brier Also wenn man sagen könnte, 'o.k., wir setzen uns zusammen, wir organisieren uns besser, dann klappt das besser', das wäre ja gut. Aber es sind Sachen, die einfach fehlen. Zum Beispiel: Blutabnahmen, es ist keiner da, der die ins Labor bringt. Dann muss man nachmittags noch mal im Labor abnehmen, da muss man es selber in die Hand nehmen, vom siebten in den ersten Stock laufen, weil der Aufzug nicht richtig funktioniert, dann wieder hochlaufen. Das ist natürlich, wenn man das in seiner Frei- zeit macht, das ist frustrierend, und das ist das, was einen ärgert, und was einen nach Hause kommen und sagen lässt, 'das war irgendwie blöd, ich hätte viel eher zu Hause sein können, mich um meine kleine Tochter kümmern können und mit meiner Frau was unternehmen können, das ist eine hohe Frustration, denke ich, das macht vielen zu schaffen. Sprecher Wenn seine Frau ihr Medizinstudium abgeschlossen habe, so meint der Chirurg, wer- de sie sich sicher keinen Job im Krankenhaus suchen, sondern irgendwo, wo sie halbtags arbeiten kann, z.B. beim Gesundheitsamt oder in der Arbeitsmedizin. TAKE 32 Brier Früher, so wie ich das kenne, wir waren alle ungebunden, wir kamen aus dem Studi- um, da haben wir gesagt, 'naja gut, da arbeiten wir viel, jetzt wollen wir mal ranklot- zen, wollen mal richtig da arbeiten, wo action ist, wo man richtig was erleben kann', das ist bei Frauen, die häufig einen anderen Lebensentwurf haben, doch ganz an- ders. Sprecher Längerfristig werde das Krankenhaus die Arbeitszeiten, insbesondere die Nacht- dienste, neu regeln müssen, ist Brier überzeugt, und zwar nicht nur, weil der Europä- ische Gerichtshof das gefordert habe, sondern auch, weil es den Krankenhausärzten sonst an Nachwuchs fehle: TAKE 33 Brier In der Chirurgie im Speziellen, da gehen nur noch ganz wenige rein, die machen bei uns ihr Praktisches Jahr als Studenten, die sehen die ganze Zeit, die kommen hier morgen nach dem Bereitschaftsdienst völlig fertig auf Station, müssen noch Visite machen, müssen noch ein paar Arztbriefe diktieren, müssen noch zwei, drei Verbän- de machen, haben offiziell um 8.15 Schluss, gehen aber erst um 10.30, da sagen die sich, das mache ich nicht mit, da mache ich lieber ein kleines Fach, wo ich mein ü- berschaubares Gebiet habe, wo ich von der Perspektive mehr Möglichkeiten habe, und da gibt es wenig Leute, die noch Chirurgie machen. Das wird auch die Chirurgie betreffen, da wird auch die Chirurgie sich darauf einstellen müssen, da an ihren Ar- beitsplätzen was zu ändern, um das für Frauen attraktiv zu machen, sonst wird es nicht genug geben, die das machen. MUSIKAKZENT Sprecher Während in den USA neuerdings von "Hurry Sickness" die Rede ist, spricht man in Deutschland vom pathologischen Befund der "Erholungsunfähigkeit". Ruth Stock- Homburg, die Darmstädter Professorin für marktorientierte Unternehmensführung, hat ausgerechnet, dass erschöpfte Manager die Unternehmen Millionen kosten. Inzwischen sind auch die Personalverantwortlichen hellhörig geworden. Doch so rich- tig wagen sie sich noch nicht an das Thema heran. Ruth Stock-Homburg: TAKE 34 Stock-Homburg Was wir andererseits auch festgestellt haben, ist, dass das Thema work-life-balance in vielen Unternehmen immer noch ein Tabuthema ist, also wenn Sie offene Veran- staltungen in Unternehmen initiieren möchten, wenn Sie ein offenes Programm auf Top-Level-Ebene initiieren möchten, also offen auch zu diesem Thema zu stehen, dann lassen die Teilnehmer doch zu wünschen übrig. Sprecher Man weiß im Grunde, wie brisant das Thema ist, scheut sich aber, sich offen zu be- kennen, so die Erfahrung der Wissenschaftlerin aufgrund ihrer zahlreichen Vorträge vor Top-Managern: TAKE 35 Stock-Homburg Man merkt es alleine daran, dass im Anschluss daran keiner Fragen stellt. Weil kei- ner im Grunde implizit den Eindruck erwecken möchte, er hätte dort ein Problem, weil er Interesse signalisiert. Wenn man dann beim Stehempfang ein bisschen dableibt, hat man gleich eine Menschentraube um sich herum, weil man bilateral doch noch einigen Diskussionsbedarf hat. Sprecher Auch wenn das Thema vielerorts in seiner ganzen Brisanz noch nicht richtig erkannt ist, beginnt sich doch die Nachdenklichkeit zu verbreiten. Mindestens im privaten Kreis höre man allenthalben, dass es so nicht weitergehen könne, meint Ulf Kadritzke: TAKE 36 Kadritzke Fahren Sie mal mit dem ICE von Berlin nach Hamburg Freitag abends und Sie wer- den sehen, wie die Führungskräfte hohläugig dasitzen und manchmal sich selber zuflüstern, 'ich wollte, es wäre mal drei Tage wieder Ruhe'. Also das Problembe- wusstsein ist sehr groß, es wagt sich meines Erachtens, nach meiner Beobachtung noch nicht zu artikulieren, und da wäre es sehr, sehr wichtig, wenn nicht nur die Ge- werkschaften, die das für die mittleren und die eher weniger qualifizierten Arbeitskräf- te tun, wenn in der Öffentlichkeit dieses Problem stärker ins Bewusstsein gehoben würde, sodass sich eigentlich auch der traditionelle männliche Leistungsträger dazu bekennen kann: 'jawoll ich bin ausgepowert, und so wie ich jetzt arbeite, will ich ei- gentlich langfristig gar nicht arbeiten.' Sprecher vom Dienst Arbeiten ohne Ende Zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung Von Conrad Lay Es sprach: Joachim Schönfeld Ton: Andreas Krause Regie: Gabriele Brennecke Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 8 1