COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel am 27.01.2013 Tod und Spiele Sport in den Konzentrationslagern der Nazis Autor: Ronny Blaschke Auschwitz Gedenkfeier Autor Hermann Höllenreiner lässt seinen Blick ins Weite schweifen, vor ihm öffnet sich ein riesiges Feld. Ruinen, Baracken, Stacheldraht. Meter hohes Unkraut und Schornsteine, die einsam in den Himmel ragen. Der Sinto Hermann Höllenreiner ist für eine Gedenkfeier noch einmal nach Auschwitz zurückgekehrt. 1943 war er im Alter von neun Jahren deportiert worden, zusammen mit 36 Mitgliedern seiner Familie. Höllenreiner hat als einer von wenigen überlebt. Dialog Höllenreiner: "Ich bin aber 80 Prozent mit den Nerven fertig..." Jugendlicher: "Ich glaube, wir haben alle den größten Respekt vor Ihnen, dass Sie überhaupt noch mal an diesen Ort kommen. Wie das für Sie ist." Höllenreiner: "Das ist für mich schlimm. Es sind ja jeden Tag 700 bis 800 Menschen vergast worden, alte Leute, Kinder." Autor Es ist der 2. August, der internationale Gedenktag der Sinti und Roma. Am 2. August 1944 hatte die SS, die Schutzstaffel der Nazis, die letzten verbliebenen 2900 Auschwitz-Gefangenen dieser Minderheit in die Gaskammern getrieben. Jahr für Jahr gedenken nun Überlebende der Opfer, Höllenreiner gehört zu einer deutschen Delegation von siebzig Personen, darunter sind dreißig Jugendliche. Jugendbegegnungsstätte Autor Am Abend treffen sich alle in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Hermann Höllenreiner ist von groß gewachsener, schlanker Statur, mit schmalem Gesicht und weißem Haar. Er sitzt an der Kopfseite eines Tisches, vor ihm hat sich ein Halbkreis gebildet. Plötzlich kommt er auf das Thema Fußball zu sprechen. Während seiner Zeit in Auschwitz hatte er Spiele zwischen Gefangenen verfolgt. Hermann Höllenreiner "Das waren Fußballer, die die SS beobachtet hat, dass sie gute Sportler sind. Und dann haben sie durch den Fußball ein paar Steckrüben mehr gekriegt, auf deutsch gesagt. Nichts zu essen, kein Brot, sondern Steckrüben, verfaulte Steckrüben." Autor Höllenreiner war zu jung, um selbst mitzuspielen. Er deutet auf seine Sitznachbarin: Ella Braun ist zum dritten Mal nach Auschwitz gereist, es gibt keinen Friedhof, wo sie sonst um ihre Vorfahren trauern könnte. Die 63-Jährige hat ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden, sie erzählt den Jugendlichen von ihrem Vater. Der war 1942 nach Auschwitz verschleppt worden. Tag für Tag musste er in den Steinbaracken arbeiten oder die Wohnungen von SS-Offizieren reinigen. Seine Kräfte schwanden, seine Zuversicht auch. Bis die Nazis von seinem Talent erfuhren. Ella Braun "Mein Vater Otto Alexander Schopper war in Auschwitz einer der besten Fußballspieler." Autor Viele der Jugendlichen, die im August nach Auschwitz gereist sind, spielen selbst Fußball. Sie scheinen nicht glauben zu können, was sie da hören. Doch Ella Braun wirkt mitgenommen, sie stockt. Sie möchte noch einmal in sich gehen, bevor sie ausführlich über ihren Vater spricht. Foto-Blättern Autor Einige Monate später. Ella Braun blättert in ihrer heimischen Küche in einem Familienalbum, sie lebt mit ihrer Familie in Grünstadt, Rheinland-Pfalz. Sie starrt auf die vergilbten Fotos, sie zögert, als würden nach und nach Erinnerungen ans Licht kommen. Ella Braun "Mein Vater war mit Hingabe Fußballspieler, schon als Kind. Und in der Liga, wo er spielte, wollten sie ihn natürlich ein Stückchen weiterbringen, weil er so gut war. Und dann haben sie ihn ein Jahr älter gemogelt: statt 17 war er 18, damit er in dieser Liga spielen konnte. Das hat er mir auch immer erzählt nach dem Krieg." Autor Otto Alexander Schopper hätte in seiner Heimatstadt Elbing, heute im nördlichen Polen gelegen, ein erfolgreicher Fußballer werden können. Doch Fußball war für ihn bald nicht mehr Sport und Spaß. 1943 hatte ein SS-Mann in Auschwitz die Idee, im so genannten "Zigeunerlager" eine Fußballmannschaft zu gründen. Er suchte unter den Häftlingen talentierte Spieler wie Schopper und versorgte sie mit Lebensmitteln. In der ersten Partie traf seine Mannschaft auf das Stammlager, zu dem sechs polnische Nationalspieler gehörten. Der Sinto Walter Winter, damals Kicker des "Zigeunerlagers", erinnert sich in seiner Biografie. Rezitator Walter Winther "Fast die gesamte SS stand um den Sportplatz herum, an den unser Lager grenzte. An der Seite wurde sogar der Strom im Zaun ausgeschaltet, damit alle gefahrlos bis an den Draht laufen konnten. Es war eine Stimmung wie bei einem großen internationalen Fußballspiel. Die SS-Männer vom Stammlager und die aus Birkenau waren sich nicht grün. Es war ihr Wettkampf, und wir waren ihre Schachfiguren. Nach zehn Minuten schossen wir das erste Tor. Die Birkenauer SS fing vor Freude an, mit ihren Pistolen in die Luft zu schießen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Die gegnerischen SS-Leute beschimpften sich und fingen an, sich zu schubsen. Doch sie beruhigten sich. 2:1 haben wir am Ende gewonnen." Ella Braun "Meine Mutter hat mir immer erzählt, ganz Birkenau hat auf den Baracken gesessen und hat dieses Spiel verfolgt. Das war keine Freude in dem Sinn. Die da Fußball gespielt haben, die haben das zur Belustigung der SS-Männer tun müssen. Genau wie die Musiker, die vor den Krematorien Musik machen mussten, und daneben sind die Leute in die Gaskammern gegangen. Ich hörte dann nur von ihm, dass es für dieses Fußballspiel ein Stück Brot mehr gab." Autor Als Gelegenheitsarbeiter hatte sich Otto Alexander Schopper nach dem Krieg durchgeschlagen. Der Hass gegen Sinti und Roma sollte nicht schwinden, im Gegenteil. Schopper erzählte seinen Kindern wenig über Auschwitz, Fußball spielte er nur zu Hause. Im Hinterhof, im Garten, mit Freunden. Für einen deutschen Verein kicken? Unvorstellbar. Und auch seine Tochter Ella Braun zögert, die Geschichten an ihre Kinder weiterzugeben, und an ihre Enkelkinder. Selbst heute noch. Sie ist eine herzliche Frau, neugierig und hilfsbereit, die Nachwirkungen des Dritten Reichs haben ihr Leben geprägt. Ella Braun "Im Stammlager gab es einen SS-Mann, der hat die Häftlinge auf der Straße robben und Frühsport machen lassen er hat da geschlagen hat mit aller Wucht. Und ich hatte zwei Onkel, die da mitgemacht haben. Und er hat dann so lange geschlagen, weil der Onkel von meinem Vater nicht aufgegeben hat - und hat ihn auf dieser Straße totgeschlagen. Mein Vater hat mir erzählt, es gab in Auschwitz zwei kleinwüchsige Juden, und jedes Mal, wenn die SS die gesehen hat, dann mussten die beiden kämpfen. Wenn zwei Brüder zur Belustigung von anderen kämpfen müssen, aber wissen, wenn sie jetzt vielleicht verlieren, dann kriege ich noch mal Haue von der SS. Was muss in diesen armen Menschen vorgegangen sein?" Fußballgeräusche Autor Der Sport gilt als Symbol für Stärke, Gesundheit, Zusammenhalt. Auch deshalb haben sich Historiker lange nicht für eine Aufarbeitung in Konzentrationslagern interessiert. Überlebende hielten sich ebenfalls mit Schilderungen zurück. Wollten sie den Eindruck vermeiden, es könnte auch gute Seiten in der Vernichtungsindustrie gegeben haben? In den vergangenen Jahren haben junge Wissenschaftler Forschungen angestoßen. Veronika Springmann zum Beispiel, von der Humboldt-Universität in Berlin. Die Historikerin und Sportwissenschaftlerin hat dutzende Erinnerungsberichte von Häftlingen gelesen. Zurzeit verfasst sie ihre Doktorarbeit. Darin beschreibt sie Sport als Instrument für Folter und Züchtigung. Der Titel ihrer Promotion: Gunst und Gewalt. Veronika Springmann "Also Gewalt ist es dann, wenn es wirklich eingesetzt wird, um den Körper von Häftlingen tatsächlich zu schädigen. Das war beim Boxen der Fall, klar. Auch dieses Laufen bis zur Erschöpfung, auch das Liegestützen machen bis zur Erschöpfung. Und manchmal, so die Häftlingsberichte, war es auch beim Fußball der Fall: Indem man einfach schwächere Häftlinge mit aufs Feld gestellt hat, wissend, dass es eigentlich eine zu große Beanspruchung für sie ist." Autor Aus Polen waren viele Fußballer aus der ersten Liga deportiert worden, auch aus Ungarn und Tschechien. Marian Einbacher, 1921 Mitglied der polnischen Auswahl, kam in Auschwitz ums Leben, schreibt der Berliner Journalist Martin Krauß in der taz. Anders erging es dem österreichischen Profi Ignaz Feldmann: Im KZ Westerbork traf der jüdische Häftling auf einen SS-Mann, der für Austria Wien gespielt hatte. Aus den Feinden wurden Partner, und so blieb Feldmann am Leben. Ob auch der deutsche Nationalspieler Julius Hirsch im KZ gegen den Ball getreten hat, ist nicht bekannt? Hirsch war mit Karlsruhe und Fürth Deutscher Meister geworden. 1943 wurde er in Auschwitz ermordet, im Alter von 51 Jahren. Der Norweger Odd Nansen, Sohn des Polarforschers Fridtjof Nansen und einst Häftling in Sachsenhausen, notierte folgende Episode in sein Tagebuch: Rezitator Odd Nansen "Während der Fußballkampf tobte, kamen zwei Gefangene, die eine Leiche auf einer Bahre trugen. Den ganzen Platz entlang, an den brüllenden Zuschauern vorbei. Sie setzten die Leiche hin, zündeten ihre Stummel an und begannen, dem Kampf zu folgen. Als der spannende Augenblick vorbei war, gingen sie zur Leiche zurück und setzten den Transport zum Leichenhaus fort. Während aus Lautsprechern lustige Operettenmusik ertönte." Autor Eine Minderheit hatte in Konzentrationslagern spielen dürfen: Im KZ Neuengamme bei Hamburg erhielten sechzig Gefangene die Erlaubnis. Von insgesamt 14000. Hin und wieder spielten auch Häftlinge mit so genannten Kapos in einem Team, also mit Funktionshäftlingen, die der SS zugearbeitet haben. Marschgeräusche der Nazis Autor Im Verlauf des Krieges gingen der Rüstungsindustrie immer mehr Arbeiter verloren, sie mussten an die Front. Und so wurden in den Fabriken Gefangene als Zwangsarbeiter eingesetzt. SS-Reichsführer Heinrich Himmler wollte ihre Arbeitsmoral steigern, 1942 führte er ein Prämiensystem ein. Veronika Springmann "Ein Anreiz war das Fußballspiel, ein anderer Anreiz waren Bordelle, die eingerichtet wurden. Und natürlich bessere Häftlingsrationen." Autor Fußball, Boxen, Turnen. Einen organisierten Sportbetrieb gab es in mehreren Konzentrationslagern, das belegen Dokumente und Berichte von Zeitzeugen, von denen heute nur noch wenige leben. Ob dieses Netzwerk für Häftlinge tatsächlich Ablenkung bot? Veronika Springmann. Veronika Springmann "Es ist ein kurzzeitiges Ausblenden des sonstigen Häftlingsalltags. Es ist zumindest eine Simulation: als würde man sich für eine halbe oder eine ganze Stunde woanders befinden. Und es ist natürlich auch eine Selbstvergewisserung. Also gerade in einer Situation, wo es wirklich immer darum geht, den Körper zu schwächen, den Körper zu zerstören, ist das, glaube ich, enorm hilfreich, für eine kurze Zeit zu spüren, das der eigene Körper noch funktioniert. Und es ist natürlich auch eine Form von Kooperation mit den anderen Häftlingen. Also gerade weil Fußball eben ein Teamsport ist, hat es ja auch viel mit Absprachen zu tun: Eine Mannschaft muss ja auch erst zusammengestellt werden. Also es hat ja auch etwas sehr Kommunikatives, so ein Fußballspiel, das ist anders als ein Boxkampf." Propaganda-Film Autor Für Häftlinge war Sport Bedrohung und Ablenkung zugleich, für die Machthaber auch ein Instrument der Propaganda? Die Nazis haben 1944 einen Film über das KZ Theresienstadt gedreht, bekannt geworden unter dem Titel: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Darin ist im Innenhof einer Kaserne ein Fußballspiel zu sehen. Hunderte Zuschauer stehen und sitzen dicht gedrängt am Rand, auf Balkonen oder zwischen Fensterrahmen. Sie fiebern mit, jubeln. Im Gegensatz zu anderen Szenen des Films war diese nicht gestellt. Propaganda-Film Autor Der Israeli Oded Breda hat sich diesen Film ganz genau angeschaut, immer wieder. Oded Breda "When I was a boy..." "Als ich ein Junge war, hat mir ein Verwandter ein altes Zeigungsfoto gezeigt. Auf diesem Foto läuft ein junger Mann auf den Fußballplatz in Theresienstadt, auf seinem weißen Trikot trug er einen Judenstern. Mein Vater sagte mir, dass sei sein Bruder Pavel, also mein Onkel. Jahre später habe ich Peter Erben kennengelernt, er war auch in Theresienstadt und hat dort Fußball gespielt. Heute ist er 91 Jahre alt. Wir haben uns den Propagandafilm von 1944 zusammen angeschaut, und tatsächlich: Peter Erben kannte meinen Onkel. Sie haben zusammengespielt." Autor Pavel Breda starb später in Auschwitz an Typhus, im Alter von zwanzig Jahren. Sein Neffe Oded hält die Erinnerung an ihn wach. Er hat Theresienstadt, nordwestlich von Prag gelegen, mehrfach besucht. Er hat Bücher gelesen, Zeitzeugen getroffen und, was ihm besonders geholfen hat: er hat Zeitungen ausgewertet, die jüdische Waisenkinder im KZ geschrieben hatten. Auf Schreibmaschinen und in kleiner Stückzahl. Heute weiß er mit hoher Wahrscheinlichkeit: ein so geregeltes Spielssystem wie in Theresienstadt gab es nirgendwo. Eine "Fachgruppe Fußball" hatte dort Spiele für Division A und B geplant, eine Schiedsrichterkommission kümmerte sich um die Unparteieischen. Die Mannschaften wurden nach Arbeitsstellen benannt, sie hießen "Kleiderkammer" oder "Ghettowache". Andere Teams huldigten ihren Vorbildern, nannten sich "Sparta Prag", "Arsenal oder "Fortuna Köln". Der Onkel von Oded Breda spielte für die Mannschaft der Jugendfürsorge. Oded Breda "And actually running the place as a city..." "Sie haben das Ghetto zum Teil wie eine Stadt organisiert. Theresienstadt war eher ein Sammel- und Durchgangslager, kein Vernichtungslager. Das heißt, dass Juden ihre kulturellen Wurzeln ausleben konnten. Es gab Musik, es gab Theater und es gab Sport. Einer, der sich für das Wohl der Kinder und Jugendlichen eingesetzt hat, war der deutsche Häftling Fredy Hirsch. Es gab einen riesigen Kasernenhof, wo Fußball gespielt wurde, der war siebzig Meter lang. An Sonntagen wurde die Liga ausgespielt, mit zwölf Mannschaften. Sechs Spiele hintereinander, jeweils siebzig Minuten. Manchmal kamen mehr als 3000 Zuschauer zu den Spielen. Sie wollten ihre Würde aufrechterhalten, so gut es eben ging." Autor Fast 160.000 Menschen wurden nach Theresienstadt verschleppt, am Ende des Krieges lebten von ihnen noch 4100. Oded Breda hat seine Karriere als IT-Manager aufgegeben, um eine Gedenkkultur zu schaffen. Der 59-Jährige hat Deportationslisten, Fotos und Wimpel gesammelt, die an Theresienstadt erinnern. In einem Kibbuz nördlich von Tel Aviv hat er eine Gedenkstätte eröffnet. Hier organisiert er Zeitzeugengesprächen und Erinnerungsturniere. Oded Breda "We did it with adults and we did it also with kids..." "Wir laden Erwachsene und Kinder ein. Sie schauen sich erst unser Museum an und gehen dann auf den Fußballplatz. Dort tragen sie Trikots, die mit den Teamnamen aus dem Ghetto bedruckt sind. Unsere Ausstellung geht auch auf Reisen, zum Beispiel zum israelischen Fußballklub Petach Tikva. Dort können sich Schüler und Studenten in der VIP-Loge des Stadions ein Bild machen. Wir sagen ihnen, dass es Fußball während des Holocausts gab. Doch was auch wichtig ist: Die Holocaust- Rhetorik ist nicht verschwunden. Antisemitismus und Rassismus sind noch immer da. Aber durch Fußball finden wir Kontakt zu vielen Leute, die sich sonst nicht damit beschäftigen würden." DFB-Besuch Autor Jahr für Jahr reist eine Delegation des Deutschen Fußball-Bundes nach Israel, im vergangenen Dezember hat die Gruppe auch die Ausstellung von Oded Breda besucht. Ein Film auf der Internetseite des DFB lässt die Überlebenden Peter Erben und Zvi Cohen zu Wort kommen. Peter Erben "Für Theresienstadt war das wirklich ein Lebenselixier, dass man Fußball gespielt hat, dass man sich zeigen konnte, und dass alle anderen Menschen sich gefreut haben." Zvi Cohen "Der schlimmste Faktor an Theresienstadt war eigentlich der Hunger. Und wenn man nicht anders beschäftigt war, dann hat man immer nur gedacht, was man isst und wie man isst." Peter Erben "Wir haben geglaubt, wir kommen in ein Lager, wo wir die Zeit des Krieges überleben müssen und dann wieder zurück nach Hause kommen. Wir haben nicht gewusst, dass wir ein Teil dieser Vernichtungsmaschine waren. Und das haben wir alles erst zum Schluss erfahren." Boxen Autor Für den Boxer Hertzko Haft erhielt der Begriff Kampf eine ganz neue Bedeutung. Der polnische Jude war über verschiedene Arbeitslager ins KZ Jaworzno verschleppt worden. Ein SS-Mann hörte von seinem Talent, versorgte ihn mit Lebensmitteln und formte ihn zu einer zentralen Figur für Schaukämpfe. Richard Kleist "Bei diesen Boxkämpfen war es dann einfach so, dass die Verlierer abtransportiert wurden und dann höchstwahrscheinlich in die Gaskammern gewandert sind. Also mindestens 75 Leute hat er in diesen Kämpfen besiegt und er ist höchstwahrscheinlich für deren Tod verantwortlich." Zeichnen Autor Die abenteuerliche Geschichte von Hertzko Haft hat der Berliner Comic-Zeichner Richard Kleist in einer graphischen Erzählung verarbeitet, ihr Titel: Der Boxer. Als Vorlage diente Kleist die Biografie von Haft, verfasst von dessen Sohn Alan Scott Haft. Richard Kleist hat in abstrakten Schwarz-Weiß Zeichnungen die sadistischen Spektakel der SS abgebildet: Die Wachmänner hatten Hertzko Haft als "Das jüdische Biest" bezeichnet. Richard Kleist "Er hat das so beschrieben, dass die kleineren Boxkämpfe vor den SS-Unterkünften stattgefunden haben. Da haben die einfach Stöcke in den Boden gesteckt, ein Seil gespannt, und dann standen die drum herum und haben sich besoffen und haben dann die Kämpfer angefeuert. Bis zu dem Punkt, an dem ein Kämpfer dann zusammengebrochen ist, was streckenweise sehr schnell passiert ist. Er hat beschrieben, dass auch ein Orchester da gewesen wäre, von Häftlingen, die dazu Musik gemacht hätten. Da war dann eine Volksfeststimmung wahrscheinlich." Autor Die Generäle verfolgten den Überlebenskampf mit ihren Frauen, sie grölten, rauchten Zigarren, tranken Whiskey. Die Regeln waren einfach: Gekämpft wurde ohne Handschuhe, ohne Rundenlimit. Während Hertzko Haft jubelnd die Arme hoch riss, hörte er den Todesschuss für seinen Gegner. Doch Haft überlebte. Auf seiner Flucht auf einem der Todesmärsche erschoss er Zivilisten, für Amerikaner leitete er nach Kriegsende ein illegales Bordell. In den USA versuchte er sich als Profiboxer, nach einer Niederlage gegen den späteren Weltmeister Rocky Marciano beendete er seine Karriere. Hertzko Haft starb 2007, im Alter von 82 Jahren. Sein Sohn Alan beschreibt ihn als jähzornigen, einfältigen Mann, der mit Selbstmord drohte und um sich schlug. Richard Kleist "Und das ist auch ein Buch, was eigentlich ein Tabu bricht: Er ist ein Opfer, er ist per se ein guter Mensch? Hertzko Haft war kein guter Mensch, auch später nicht. Er hat ja auch seine Familie ziemlich drangsaliert, und alle Kinder hatten sich irgendwann von ihm losgesagt. Wie gehe ich jetzt in so einer Geschichte damit um? Das ist ein ganz schwieriger Punkt dabei, und das ist eigentlich die Herausforderung für mich gewesen, dem Leser immer wieder einen Schlag in die Magengrube zu verpassen, und zu sagen: Na, wie sieht's jetzt aus? Findest du den noch gut oder nicht?" Autor Kleist schließt nicht aus, dass Hertzko Haft seine Geschichte dramatisiert hat. Hier zeigt sich wie bei vielen Häftlingen, dass die Quellenlage ein detailgetreues Bild kaum zulässt. Es sind überlieferte Einzelschicksale, die nach und nach an die Öffentlichkeit kommen. Eine vertiefende Literatur bietet der 2012 erschienene Sammelband "Sport im Jahrhundert der Lager", herausgegeben von den Sportwissenschaftlern Diethelm Blecking und Lorenz Peiffer. Begrüßung Andrea Sailer Autor Mitte November des vergangenen Jahres. Andrea Sailer steht am Eingangstor der Gedenkstätte Dachau, die Temperatur liegt unter null Grad. Im einstigen Konzentrationslager - nordwestlich von München gelegen - waren 200000 Menschen inhaftiert, mehr als 41000 starben. Andrea Sailer leitet das Fanprojekt München, eine Einrichtung für soziale Jugendarbeit. An jenem Samstagmorgen im November führt sie Fans des 1. FC Köln durch die Gedenkstätte, die 1965 errichtet worden war. Die Jugendlichen hatten am Vorabend das Auswärtsspiel ihres Vereins beim TSV 1860 München im Stadion verfolgt. Köln gewann 2:0. Einige Jugendliche haben bis in die Nacht gefeiert, doch nun hören sie aufmerksam den Worten von Andrea Sailer zu. Führung Dachau Autor Andreas Sailer ist in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, sozialdemokratisch orientiert. Sie hat Lehramt für Berufschulen studiert. In der Versöhnungskirche Dachau fand sie Partner und lernte Holocaust-Überlebende kennen. Seit vier Jahren führt sie Fußballfans vor oder nach ihren Auswärtsspielen in München durch die Gedenkstätte, drei bis fünfmal im Jahr. Sie erklärt Dokumente, zeigt Fotos, führt durch Einzelzellen. Mit den Kölner Jugendlichen steht sie nun in einer nach gebauten Schlafbaracke, mit dem rechten Zeigefinger deutet sie hinaus auf den ehemaligen Appellplatz, wo auch Fußball gespielt wurde. Diskussion über Fußball Andrea Sailer: "Es gab auch, hat mir ein Häftling hier erzählt: sie mussten spielen gegen SS-Wachleute. Könnt Ihr euch vorstellen, was das für ein Problem war für die Häftlinge? Gibt's hier ein paar Leute, die Fußball spielen, aktiv oder im Verein? Wie hättest du dich denn verhalten, bei so einem Spiel gegen die Nazis? Große Unsicherheit?" Jugendlicher: "Umdribbeln, ganz locker." Sailer: "Ganz locker umdribbeln, wie das früher Franz Beckenbauer gemacht hat?" Jugendlicher: "Oder umgrätschen?!" Sailer: "Oder umgrätschen, das ist die zweite Möglichkeit." Jugendlicher: "Was wäre denn, wenn ich ihm den Ball voll ins Gesicht kicken würde?" Sailer: "Also versteht Ihr wieder? Hier ist genau das gleiche Prinzip, wie überall im KZ. Diese Verhaltenssicherheit ist nicht da. Spiel ich gut, gewinn ich? Oder spiele ich eben zurückhaltend, dann konnte die Strafe ausgesprochen werden, weil ich unter Umständen nicht aktive genug war." Jugendlicher: "Aber es muss doch eigentlich sein, so ausgehungert wie die waren, dass sie gar nicht die Chance dazu hatten, zu gewinnen. Wenn man so ausgehungert ist, hat man doch keine Kraft mehr." Autor Die Gäste aus Köln sind in der Mehrheit nicht volljährig, viele haben einen Migrationshintergrund, sie stammen aus sozial benachteiligten Familien. Die meisten waren noch nie in einer KZ-Gedenkstätte. Die Betreuer hatten auf der Busfahrt nach München Fragebögen ausgeteilt, um das Vorwissen zu testen: Wann kam Hitler an die Macht? Wann war der Krieg zu Ende? Jörg Stenzel, einer der Betreuer, engagiert sich seit Jahren gegen Diskriminierung. Jörg Stenzel "Es ist erschreckend wenig geschichtlicher Hintergrund da, und da hilft jede Veranstaltung in der Richtung auf jeden Fall, verbunden tatsächlich mit einem ursprünglich sportlichen Freizeitvergnügen, sind sie offener. Ich glaube, sie sind offener, sich auch solche Sachen anzuhören. Und nicht durch Druck in der Schule, wo sie vielleicht gar keine Lust haben, überhaupt zuzuhören." Autor Inzwischen ist der fußballorientierte Geschichtsunterricht ein fester Bestandteil der Fanprojekte. In den mehr als 50 Jugendeinrichtungen in Deutschland reisen Sozialarbeiter mit ihren Gruppen nach Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald. Anhänger, die sich wegen ihrer Vereinsliebe vernetzen, werden auf diesem Weg gegen Rassismus und Antisemitismus sensibilisiert. So wächst das Engagement für den so genannten Erinnerungstag. Seit 2005 organisieren Fangruppen um den Holocaust-Gedenktag herum Plakataktionen, Lesungen, Filmabende. Andrea Sailer "Ich wehre mich immer dagegen, nur antirassistische Arbeit zu machen, sondern es geht ja um Diskriminierung: dass man gegen Diskriminierung arbeitet. Und ich denke, da kann man auch hier ganz viele Dinge im KZ darstellen. Das hat zum Beispiel auch damit was zu tun, wie hier mit Homosexuellen umgegangen ist. Oder wie teilweise auch die Strukturen untereinander waren, dass teilweise auch Ausgrenzung unter den Häftlingen stattgefunden hat. Und man kann den Jugendlichen heute nicht mehr mit dem Zeigefinger kommen, man muss ganz viel in ihre jetzige Lebenswelt transferieren. Wir hatten beim letzen Mal, als das Aachener Fanprojekt hier war mit einer Gesamtschule ganz schnell die Diskussion über Mobbing in der Schule. Das hat mir auch eine Kollegin bestätigt, die mit zwei Hauptschulklassen hier war. Die hat gesagt, die Schüler gehen anders miteinander um, wenn man diese Thematik aus dem KZ-Bereich in ihre jetzige Lebenswelt hineinbringt. Dann verändert sich bei diesen Jugendlichen tatsächlich was." Boxen Autor Eine Boxhalle in Kreuzberg, Oktober 2012. Neben dem Ring sind Klappstühle aufgebaut, dahinter baumeln Sandsäcke von der Decke, in den Umkleidekabinen riecht es nach Schweiß. Das Boxcamp ist nach Johann Trollmann benannt, Spitzname: Rukeli. Der deutsche Sinto Trollmann gewann 1933 die Deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Die Nazis bezeichneten seinen Kampfstil als undeutsch, sie verhinderten seine Karriere, verschleppten ihn 1942 ins KZ Neuengamme. Dort wurde er von SS-Leuten zu Kämpfen herausgefordert. 1944 schlug Trollmann einen Kapo nieder. Der rappelte sich auf, griff einen Knüppel und schlug Trollmann zu Tode. Inzwischen wird Rukelis Leidensweg auch im Geschichtsunterricht genutzt, auch in Kreuzberg. Oswald Marschall "Ich glaube, wir können stolz sein, dass wir hier sind. Wenn man überlegt, dass hier unser Vorbild Rukeli Trollmann trainiert hat in dieser Halle. Und wir haben jetzt mal die Chance hier auch zu trainieren. Das ist eine ganz tolle Sache." Autor Oswald Marschall steigt in den Ring, lehnt sich in die Seile, beobachtet seine Schüler bei der Sparringsrunde. Marschall war ein erfolgreicher Boxer. In den siebziger Jahren eilte er von Sieg zu Sieg, obwohl er es schwerer gehabt hatte als seine Konkurrenz. Er ist Sinto, Mitglied einer vernachlässigten Minderheit. Im Oktober in Kreuzberg ist die Boxschule aus Minden für einen Schaukampf zusammen gekommen. In Kreuzberg folgte dem Schaukampf der jungen Boxer eine Lesung von Roger Repplinger. Der Hamburger Journalist hat die Geschichte Trollmanns in einem Buch beschrieben, Titel: "Leg dich, Zigeuner". Repplinger ist seit dem Erscheinen 2008 immer wieder für Lesungen unterwegs. Roger Repplinger "Ich habe auch schon Veranstaltungen in Schulklassen gemacht, wo sie dann feststellen, dass die Schüler relativ wenig über das Thema wissen. Die müssen ja auch immer irgendwie cool sein. Die können dann nicht zeigen, dass sie das in irgendeiner Weise mitnimmt oder traurig macht. Sondern das ist schwer bei Schülern in einem bestimmten Alter. Ich weiß, dass in Neuengamme, wo ich sehr lange recherchiert habe, dass da bei den Führungen der Effekt auftritt, dass sich Jugendliche, vor allem Jungs in einem bestimmt Alter, mit den SS-Leuten identifizieren und nicht mit den Häftlingen. Weil die SS-Leute cool sind und die Sieger sind, und die anderen sind verlumpte, verhungerte, verdreckte Gestalten." Autor Der Journalist Roger Repplinger, die Wissenschaftlerin Veronika Springmann, der Zeichner Richard Kleist, die Sozialarbeiterin Andrea Sailer oder der Museumsleiter Oded Breda. Sie alle haben sich mit dem Sport in Konzentrationslagern beschäftigt, mit Folter, Angst, Entwürdigung, und ja, vielleicht auch mit Ablenkung vor dem Grauen. Sie geben ihr Wissen weiter, vor allem an Jugendliche. Und sie zeigen, dass Sport und Geschichtsunterricht gar nicht so weit auseinander liegen. Musik: Musica Callada, Herbert Henck, EMC Records, LC 2516, Erscheinungjahr 1995 1