COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Nachspiel 20. November 2011, 17.30 Uhr Helden sind keine Götter - der schwierige Umgang des deutschen Sports mit seinen Idolen Von Wolf-Sören Treusch ATMO 4 (Fanfare 1984) TAKE 01 (histor. O-Ton: Reporter, Olympia Allg. Prinzip des höha_...) Dem Menschen wohnt ein Leistungsstreben inne. Er möchte der Schnellere sein als der andere, er möchte höher springen, er möchte weiter werfen, er möchte größere Gewichte in die Höhe bringen als der andere. TAKE 02 (Reporter Rückenschwimmen 1968, 7 Matthes 03, ab 2:35) Jetzt kommt Roland Matthes. Roland, komm, Du musst schwimmen, Roland, Du musst schneller ziehen, Roland Matthes komm, Roland zieh, leg noch zu, schneller, schneller, schneller, Anschlag. Gold für Roland Matthes. Hurra! ATMO 4 (Fanfare 1984 ) TAKE 03 (Täve Schur) Sportler, ob sie wollen oder nicht, sind Vorbilder. TAKE 07 (Manfred Merkel) Der Gedanke einer Hall of Fame ... TAKE 10 (Michael Ilgner) Das heißt, dass Sportler, die wir aufnehmen wollen, ... TAKE 07 (Manfred Merkel) ... ist natürlich super. TAKE 10 (Michael Ilgner) ... anderen dadurch Mut gemacht haben, dass sie in besonderer Form sportlichen Erfolg gehabt haben. TAKE 11 (Michael Krüger) Wird da nicht der Sportler selbst auch überfordert mit diesem Anspruch, ... ATMO 4 (Fanfare 1984) TAKE 11 (Michael Krüger) ... Vorbild zu sein und Mut zu machen? AUTOR Die Helden des Sports: Götter der Neuzeit werden sie genannt, Heilige ohne Himmel. Ob Olympiasieger oder Weltmeister, ihr Ruhm, heißt es, sei für die Ewigkeit. Der Spitzensport ist zum zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft aufgestiegen, sportliche Erfolge sind tief im Gedächtnis einer Nation verwurzelt und dienen der Legendenbildung. Um den Sportgrößen einen angemessenen Ort der Verehrung zu bieten, gibt es überall in der Welt sogenannte Halls of Fame. Seit 2006 erinnert auch der deutsche Sport in einer solchen Ruhmeshalle an seine Vorbilder. In einer Wanderausstellung und im Internet. Roland Matthes, Franz Beckenbauer, Max Schmeling, Steffi Graf, Katarina Witt - das sind fünf von insgesamt 66 Sportlerinnen und Sportlern, Trainern, Funktionären und Betreuern, die inzwischen aufgenommen wurden. Sie alle haben Geschichte geschrieben: durch ihren Erfolg im Wettkampf oder durch ihren Einsatz für Sport und Gesellschaft. Weitere Helden werden folgen. Michael Ilgner, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Sporthilfe. TAKE 13 (Michael Ilgner) Wir, die wir als Institution dafür versuchen, Mittel zu bewegen, um junge Sportler und aktuelle Spitzensportler zu fördern im internationalen Vergleich, sind fest davon überzeugt, dass sportliche Vorbilder einen ganz entscheidenden Beitrag leisten für Nachwuchs, für neue Sportler. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, Sportler auszuzeichnen, die in besonderer Form für die Gesellschaft stehen. Aber: gerade in der speziellen deutschen Geschichte haben wir große Herausforderungen, weil wir Sportler im jeweiligen Kontext der Historie beurteilen müssen. Wir haben die Verpflichtung, die Sportler, auch wenn wir den sportlichen Erfolg in den Vordergrund stellen, trotz alledem im gesellschaftlichen Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Rolle zu bewerten. TAKE 14 (Walther Tröger) Aber die Frage, die weiterhin bleibt, ist natürlich die nach den Maßstäben und nach den Kriterien für die Auswahl. AUTOR Walther Tröger, einer der einflussreichsten Sportfunktionäre in Deutschland. Er ist Ehrenmitglied des Aufsichtsrats der Stiftung Deutsche Sporthilfe und unter anderem dafür verantwortlich, wer für die Aufnahme in die Hall of Fame nominiert wird. Das Vorschlagsrecht haben die Stiftung Deutsche Sporthilfe, der Deutsche Olympische Sportbund und der Verband Deutscher Sportjournalisten. Tröger und die anderen Aufsichtsratsmitglieder erstellen daraus eine Liste, die einer unabhängigen Jury vorgelegt wird, und die entscheidet dann, wer den Zuschlag bekommt und wer nicht. TAKE 15 (Walther Tröger) Die Probleme des Systems sind die, dass man in der Beurteilung der einzelnen Aspiranten auf diese Hall of Fame für ihre Herkunft, ihre Leistungen im Sport und ihre Mängel im Sport eben durchaus unterschiedliche Ansätze machen kann. Die Probleme sind die, dass man durchaus der Meinung sein kann, was vor 40 Jahren war, kann man auch einmal verzeihen und kann es vergessen, wenn dagegen in der Gesamtbeurteilung der Bonus höher ist als der Malus, über all das muss man nachdenken, über all das ist auch nachgedacht worden. AUTOR Eine der zentralen Fragestellungen ist die nach der politischen Vergangenheit eines Sportlers. Nazi-Diktatur, SED-Herrschaft, die deutsche Geschichte bot manche Gefahren der Verstrickung in ein politisches Unrechtssystem. Aber: kann man Athleten, die in völlig unterschiedlichen politischen Verhältnissen ihre Erfolge erreicht haben, überhaupt miteinander vergleichen? Michael Ilgner vom Vorstand der Stiftung Deutsche Sporthilfe. TAKE 16 (Michael Ilgner) Wir haben auch im Prozess der Hall of Fame dazu gelernt, dass wir diese Vorbildfunktion vielleicht auch ein Stück zu relativieren haben. Denn auch Sportler begehen Fehler, und auch Sportler lassen sich Dinge zu Schulden kommen, die man dann bewerten muss. Die Tragik ist, wenn beide Dinge: sportlicher Erfolg und gleichzeitig Fehler von so großer Wirkung sind, dass man in einen Konflikt kommt, ob man den Sportler eben auch noch als Vorbild herausstellen kann oder nicht. AUTOR Im Fall der Sportpersönlichkeiten mit NS-Vergangenheit hat die Auswahlkommission den Konflikt zugunsten dieser Personen gelöst. Josef Neckermann, Rudolf Harbig, Sepp Herberger, Gustav Kilian, Willi Daume: sie alle waren Mitglied in der NSDAP, Neckermann, der Gründer der Deutschen Sporthilfe, machte zudem Profit mit dem Eigentum von Juden, dass diese zu Ramschpreisen an ihn verkaufen mussten. Nun sind die fünf Mitglieder in der Hall of Fame des deutschen Sports. TAKE 17 (Michael Ilgner) Die Allermeisten von ihnen haben nach dieser Zeit, wenn wir jetzt über die NS- Vergangenheit sprechen, wiederum Herausragendes für den deutschen Sport und die deutsche Sportgeschichte geleistet. Sodass auch andere Institutionen wie beispielsweise das Bundespräsidialamt mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes die gesamte Lebensleistung als positiv anerkannt haben. AUTOR Im Fall der ehemaligen NS-Parteigänger ist der Bonus also höher als der Malus, um die Worte von Walther Tröger aufzugreifen, warum nicht auch im Fall des ehemaligen DDR-Volkskammerabgeordneten und Radsportidols Gustaf Adolf, genannt 'Täve' Schur? TAKE 18 (Walther Tröger) Ja, ja, das ist eine gute Frage, an der baut es sich ja gegenwärtig auf. ATMO 2 (Reporter Start Friedensfahrt) AUTOR Schur, Sieger der Friedensfahrt, Straßenrad-Weltmeister, Medaillengewinner bei Olympia, aber auch 31 Jahre lang SED-Mitglied und in der DDR-Volkskammer, nach der Wiedervereinigung vier Jahre für die PDS im Bundestag: das Sport-Idol der DDR. Wenn ein Sportler die Herzen der Fans erreicht hat, dann er. 1989 wurde 'Täve' Schur von den Ostdeutschen zum beliebtesten DDR-Sportler aller Zeiten gewählt. Entsprechend groß war der Sturm der Entrüstung zwischen Rostock und Chemnitz, als ihm die Jury 2011 den Eintritt in die Ruhmeshalle des deutschen Sports verweigerte. Eine unbegreifliche Entscheidung, findet auch Volker Kluge, in den 80er-Jahren Pressechef des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, dazu lange Jahre Sportchef des FDJ-Organs 'Junge Welt', der meistgelesenen Tageszeitung in der DDR. TAKE 19 (Volker Kluge) Alles in allem ist dieser Mann für mich über alle Zweifel erhaben, er ist bis heute im Sport engagiert, und bis heute mit seinen über 80 Jahren strampelt er für behinderte Kinder, und wenn ich den heute anrufen würde, weiß ich, dass Täve sagen würde, 'wenn es für eine gute Sache ist, kannst du auf mich rechnen'. Das ist überhaupt keine Frage, dass er in diese Hall of Fame hinein gehört, dass er auch noch politische Überzeugungen hat, die sich durch die für mich alles in allem nicht so gelungene Sport-Einheit sogar verstärkt haben, das würde ich ihm nachsehen. ATMO 3 (Auftritt Schur bei Lesung: großer Applaus, einzelne Täve-Rufe) AUTOR Welche Popularität "Täve" Schur bei seinen Anhängern genießt, erfährt man, wenn man ihn auf der Bühne erlebt. Eine Buchhandlung in Leipzig. Knapp einhundert Menschen sind gekommen: ihr Idol wird aus seiner Autobiografie lesen. Aus der Lesestunde wird eine One-Man-Show. Täve Schur denkt gar nicht daran, sich brav an den Tisch zu setzen und Passagen aus seinem Buch zum Besten zu geben. Er steht, das Mikro locker in der Hand, und plaudert aus seinem Leben. Eine Anekdote reiht sich an die nächste. Schur ein Spitzenverdiener in der DDR? Selbstverständlich, sagt er, für jeden Sieg gab es 10.000 Mark - Ostmark natürlich. TAKE 20 (Täve Schur) Zwei Mal Friedensfahrt-Erfolg, zwei Mal Weltmeister, sind 40.000 Ost, nach der Wende umgerubelt in West, sind 20 West, umgerubelt in Euro verbleiben 10.000 Euro, (Lachen) na sagen Sie mal, da kann ich mir nur ein kleines Auto für kaufen. (Lachen) AUTOR Das Publikum, Durchschnittsalter 50 plus, hängt an seinen Lippen. Am Ende wagt einer, seinen "Täve" zu fragen, ob er die Wahlen in der DDR heute immer noch als "angeblich unfrei" bezeichnen würde. "Täve" versteht die Frage nicht - der Mann aus dem Publikum scheint über sich selbst erschrocken und macht einen Rückzieher. TAKE 21 (Mann aus Publikum) Ansonsten bleibst Du bei mir die Lichtgestalt der DDR. (Applaus) AUTOR Zwei Stunden trägt Schur vor, dann schreibt er Autogramme. Die Schlange der Wartenden ist lang. TAKE 22 (Frau 2) Er erinnert mich an meine Kindheit. Wir waren immer als Kinder an der Strecke, wenn die Friedensfahrt war oder in Hohenstein-Ernsttal zum Weltmeisterlauf und haben immer Täve zugejubelt. Das war unser Idol. TAKE 23 (Frau 1) Lieber Täve, 1956, ich wohnte in Gera, da habe ich Ihnen die Waschschüssel gegeben im Stadion, als Sie gewonnen hatten, wollte ich nur sagen, da war ich gerade mal 15 Jahre. Bei mir bitte noch Mal unterschreiben ... , und bleiben Sie bitte so wie Sie sind, ganz große Klasse. AUTOR Natürlich sind seine Fans sauer darüber, dass ihr Held nicht in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen wurde. TAKE 24 (Mann 1) Ich bin da eigentlich sehr empört drüber, er gehört da absolut mit rein als Weltklassesportler. Mit dem Doping, da würde ich sagen: es wird heute mehr gedopt und besser gedopt als zu DDR-Zeiten. AUTOR An der Frage, ob Gustav Adolf Schur eine Sportlerpersönlichkeit mit Vorbildwirkung ist, scheiden sich die Geister. Seine Kritiker sagen, er sei ein Geschichtsklitterer, weil er bis heute den Ungarn-Aufstand 1956 als Konterrevolution bezeichnet. Zudem verhöhne er immer wieder die Opfer des Dopingsystems in der DDR. Die waren es dann auch, die im Frühjahr 2011 einen offenen Brief an die Stiftung Deutsche Sporthilfe schrieben. Darin kritisierten sie die mögliche Aufnahme von Schur und Renate Stecher in die Hall of Fame. Beide hätten eine "vergiftete Vergangenheit". Der Verein der Dopingopfer erzielte einen Teilerfolg: die Jury akzeptierte Renate Stecher, aber Täve Schur lehnte sie ab. Er selbst hatte damit gerechnet. TAKE 25 (Täve Schur) Da steht diese Dopingtruppe dahinter. Nun frage ich mich, was die bekommen haben, weil: ich habe es erlebt, als ich dieses Buch vorgestellt habe hier im ND, der Saal war voll, da standen zwei Personen auf, der eine hieß, glaube ich, Trömer. Und der Trömer stellt sich dahin, 'ja, er hätte ganz schlimme Sachen durch die Anabolika und durch die Gifte bekommen, die ihm eingeflößt wurden, er hätte Blut gespuckt, so ne Klumpen', hat er gezeigt in der Hand, 'so einen dicken Klumpen Blut', ich denke: hat der eine Meise? Kann doch gar nicht sein, und da habe ich gesagt, 'das ist ja ganz schlimm, mein Beileid', so ungefähr, ich kenne meine Worte nicht, man ist ja dann so aufgeregt, aber das war nicht der DDR-Sport. AUTOR Der Fall "Täve" Schur ist ein Paradebeispiel dafür, dass es auf die Frage, wie man den Lebensweg einer Persönlichkeit des Sports bewerten soll, nicht immer eindeutige Antworten gibt. Vor allem nicht in Deutschland. TAKE 26 (Volker Kluge) Ja, nun kennen wir nicht die Überzeugungen der anderen, die in die Hall of Fame aufgenommen worden sind, so wie wir überhaupt über manche eigentlich gar nichts wissen oder ganz herzlich wenig. AUTOR Volker Kluge: viele nehmen an seiner Biografie Anstoß, weil sie in ihm vor allem den Stasi-Zuträger 'IM Frank' sehen, zugleich ist er seit Langem bekannt wegen seiner Publikationen über den Sport in der NS-Zeit. TAKE 27 (Volker Kluge) Was weiß jemand über Alfred Schwarzmann? Dass der ein erfolgreicher Turner war, ist allgemein bekannt, aber was weiß man über seine Rolle als Propagandaheld, als Ritterkreuzträger und Fallschirmjäger? Was weiß man über die dunklen Seiten von Josef Neckermann? Natürlich stößt man sehr schnell darauf, dass er sich jüdischen Besitz angeeignet hat, aber dass er für kurze Zeit Adjutant von SA-Stabschef Röhm war, das ist relativ wenig bekannt. Wenn man diesen Maßstab an Täve Schur anlegt, dass er heute noch der Ansicht ist, dass der ungarische Aufstand eine Konterrevolution war, dann muss man diesen Maßstab auch an alle anderen anlegen, soweit das überhaupt möglich ist. Es geht um den deutschen Sport und nicht um Gesinnungsschnüffelei: welche politischen Ansichten einer verfolgt oder welcher Partei er sein Kreuz gibt bei der nächsten Bundestagswahl. TAKE 28 (Michael Krüger) Es gibt wohl kaum einen berühmten Sportler in der Vergangenheit, der sich nicht auch durch die Wirren der deutschen "Diktaturen" und Regime schlängeln musste, der eine eleganter, der andere weniger elegant, ... AUTOR Michael Krüger, Professor am Institut für Sportwissenschaft in Münster. Er ist unverdächtig, ein Bündnisgenosse von Täve Schur zu sein. TAKE 29 (Michael Krüger) ... das letzte Beispiel war Katarina Witt, die ohne Zweifel eine herausragende Athletin war und eine glanzvolle Ästhetin in ihrem Eiskunstlauf, aber jeder, der ein bisschen älter ist und zurückdenken kann, sieht eben auch das Bild von Katarina Witt, wie sie ergeben Erich Honecker die Hand schüttelt. Und da muss man sich fragen: ist das eine Vorbildhafte Sportlerin? Das ist ja das Besondere eigentlich an Täve Schur, dass er im Unterschied zu anderen Wendehälsen seine politische Haltung nie geleugnet hat, beibehalten hat, jetzt kann man zu dieser politischen Haltung sagen, ich gehöre auch dazu, das ist eine wenig reflektierte und aus meiner Sicht unbegründete Haltung, und er leugnet ja auch viele Dinge, die in der DDR tatsächlich schief gelaufen sind, aber das steht auf einem anderen Blatt. AUTOR Nach dem Streit um Täve Schur ist der Internetauftritt der Hall of Fame des deutschen Sports überarbeitet worden. Unter der Überschrift 'Leitgedanke und Kriterien' ist jetzt unter anderem folgender Satz zu lesen: SPRECHER Mit der Hall of Fame des deutschen Sports ist ein Erinnerungs- und Aufklärungsprozess in Gang gekommen, der auch unangenehme Wahrheiten nicht verschweigen soll. TAKE 30 (Volker Kluge) Das finde ich auch in Ordnung, ... AUTOR Volker Kluge. TAKE 31 (Volker Kluge) ... denn wenn man schon das Wort 'Vorbild' strapaziert, ja, dann muss man sich auch damit auseinandersetzen: was hat ihn überhaupt dazu gemacht? Und jeder weiß, dass es eben nicht solche makellosen Vorbilder gibt wie sich das vielleicht Tante Anna vorstellt, sondern dass das Leben doch etwas komplizierter ist. TAKE 34 (Michael Krüger) Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat dazu mal was Schönes gesagt: ... AUTOR Michael Krüger. TAKE 35 (Michael Krüger) ... Sportler sind gewissermaßen Heilige ohne Himmel. Und Sportler werden nicht deshalb verehrt, weil sie jetzt Vorbilder in Moral und Lebensführung sind. Sondern sie werden wegen ihrer ästhetischen Leistung, deshalb bewundert man sie. Das ist das, was ich an der Hall of Fame am meisten kritisiere, dass eigentlich kein realistisches und durchdachtes Konzept dahinter steht: der Versuch, ehrliche Sportlerbiografien zu schreiben. Erfolg, Schatten und Licht im Leben von deutschen Sportlern darzustellen, das, denke ich, wäre der Situation des deutschen Sports angemessener als diese Überhöhung in einer Hall of Fame, die letztlich nur mediale und kommerzielle Interessen bedient. ATMO 1 B (Paukenschläge aus Fanfare 1968) AUTOR Rückblick: im Mai 2008 wird die Hall of Fame des deutschen Sports feierlich eingeweiht. Bei einem Festakt im Deutschen Historischen Museum in Berlin, und im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. 40 Mitglieder werden aufgenommen: die neun Gewinner der 'Goldenen Sportpyramide', mit der seit dem Jahr 2000 das Lebenswerk einzelner Athletinnen und Athleten geehrt wird - unter anderem der Springreiter Hans Günter Winkler und die Skirennfahrerin Rosi Mittermaier-Neureuther -, und 31 bereits verstorbene Aktive und Funktionäre. Postum werden unter anderem geehrt die Tennisspielerin Cilly Aussem, der Turner Helmut Bantz, der Eishockeyspieler Gustav Jaenecke, der Radsportler Albert Richter. Aber auch Sportfunktionäre wie Josef Neckermann, Willi Weyer und Willi Daume. Aus der DDR findet genau einer Zutritt in die Hall of Fame: der Schwimmer Roland Matthes. Ortswechsel: eine Drei-Raum-Wohnung in Leipzig. Manfred Merkel, in den 60er- Jahren für die DDR achtfacher Weltmeister im Wildwasserkanu, holt einen Zettel heraus. Darauf hat er sich zwei Zahlen notiert: 519 und 243. Von 1968 bis 88, das ist der Zeitraum, in dem die DDR eine eigenständige Olympiamannschaft stellte, gewann sie bei Olympischen Spielen 519 Medaillen, die Mannschaft der Bundesrepublik 243. TAKE 36 (Manfred Merkel) Das heißt also circa das Doppelte an Medaillen wurde dort geholt. Und diese unterschiedliche Medaillenbilanz hätte sich natürlich auch widerspiegeln müssen in der Ehrung der Sportler in der Hall of Fame des deutschen Sports. AUTOR Tat es aber nicht. Auch nicht, nachdem das Thema 2008 öffentlich debattiert worden war. Zwar wurden danach die Kanutin Birgit Fischer und Eiskunstlaufstar Katarina Witt in die Hall of Fame aufgenommen, aber es blieb bei der bekannten Schieflage: 17 Athletinnen und Athleten aus dem Westen, nur vier aus dem Osten kamen 2011 hinzu. Immerhin ging es um Sportler, die bis 1972 ihre Erfolge feierten, da war die DDR bereits eine anerkannte Sportnation. Eine Schieflage, die sich auch in der 28- köpfigen Jury für die Hall of Fame fortsetzt. In diese wurde Manfred Merkel 2009 berufen. TAKE 37 (Manfred Merkel) Ich habe erst zwei, drei, vier Monate danach gesehen, 'oih, du bist ja der einzige aus den neuen Bundesländern da drin'. Es ist an der Zeit, dort die Proportionen zu verändern. - Also Sie meinen damit: mehr Ossis in die Jury? - Ja, natürlich. Sachkundige Sportwissenschaftler, Sporttheoretiker, damit man dort das Ganze tragfähig macht, nicht durch Menschen, die in Aufsichtsräten sitzen von unterschiedlichen Gremien, die bis auf die Spendenzuführung mit dem Sport nicht so viel am Hut haben, zumindest nicht von der Sachkenntnis. AUTOR Funktionäre aus Politik, Wirtschaft und Sport, dazu die zwölf Vertreter des Stiftungsrates der Stiftung Deutsche Sporthilfe - alles Banker und Manager, von A wie Ackermann bis Z wie Zetsche: da ist klar, dass es ein Mann wie Täve Schur schwer haben würde, in die Hall of Fame zu kommen. Die Zusammensetzung der Jury ist für viele ein Stein des Anstoßes, auch für den Sportwissenschaftler Michael Krüger. TAKE 38 (Michael Krüger) Jetzt weiß man ja, dass die Leute aus dem Bankenwesen nicht immer nur Vorbilder sind, das sind dann aber Leute, die in dieser Jury sitzen, die wiederum über die vorbildliche Lebenshaltung von Sportlern entscheiden sollen. Da muss man sich schon wundern. Wenn man so hohe Maßstäbe an andere anlegt, können dann auch die gleichen Maßstäbe für die Jurymitglieder gelten? AUTOR Michael Ilgner, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Sporthilfe. TAKE 39 (Michael Ilgner) Herrn Ackermann sowie andere Mitglieder des Stiftungsrats qualifiziert zunächst einmal die Tatsache, dass sie im Stiftungsrat der Sporthilfe sind, damit unsere Siftungsbelange in herausragender Form fördern, unter anderem den Ursprung unserer Hall of Fame, nämlich die 'Goldene Sportpyramide' in der Vergangenheit auch finanziert haben, es ist grundsätzlich auch legitim, dass diejenigen, die sich finanziell und materiell für die Förderung von bestimmten Belangen einsetzen, dass man sie dann auch darin einbindet. AUTOR Besonders spannend wird sein, wie die Stiftung Deutsche Sporthilfe zukünftig mit der Doping-Problematik umgeht. In den kommenden Jahren stehen Sportler aus den 70er und 80er-Jahren zur Aufnahme in die Hall of Fame an. In der DDR war das die Zeit des staatlich verordneten und finanzierten Dopings. Auch in der Bundesrepublik wurde gedopt, wenn auch nicht so systematisch und flächendeckend wie in der DDR. Zurzeit untersuchen Sporthistoriker im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbundes, ob das Hall-of-Fame-Mitglied Willi Daume, langjähriger NOK-Präsident in der Bundesrepublik, von den Doping-Praktiken gewusst hat. Michael Ilgner räumt ein: sollten konkrete Namen bekannt werden, die gedopt oder von Doping gewusst hätten, kämen sie noch einmal auf den Prüfstand. TAKE 40 (Michael Ilgner) Sollte es im Nachgang dazu neue Erkenntnisse geben, dann werden diese neuen Erkenntnisse natürlich berücksichtigt. Unter dieser Kenntnis haben im Übrigen auch in der letzten Aufnahmerunde einige Sportler erklärt, dass sie sich nicht weiter zur Wahl stellen wollen, ... AUTOR Manfred Merkel, das einzige Jurymitglied aus dem Ostteil Deutschlands, kennt wenigstens zwei Sportler. TAKE 42 (Manfred Merkel) ... wer das war, wird nicht gesprochen, einen kenne ich persönlich, ... - Aufgrund von Dopingvergangenheit haben die sich dann zurückgehalten? - Das möchte ich in dem Fall, wo ich es weiß, nicht eindeutig negieren, er hat aber dieses Theater satt, weil er in der internationalen Sportwelt einen hohen Namen noch hat und es deshalb abgelehnt hat, dieses Theater noch einmal mitzumachen, sich zum zigsten Mal überprüfen zu lassen, das ist eine ganz schwer zu beantwortende Frage. ATMO 4 (Fanfare 1984) TAKE 43 (Reporter 1984 Delfinschwimmen) Komm Michael, komm. Er kann es noch schaffen. Groß atmet nach jedem Zug, Morales nach jedem zweiten, ein Riesen Finish, Groß kommt noch einmal, Groß kommt, er packts! Er packts! Michael Groß ist zum zweiten Mal Olympiasieger in Los Angeles geworden. ATMO 4 (Fanfare 1984) TAKE 44 (Michael Groß) Das perfekte Rennen habe ich vielleicht einmal im Leben geschafft, 100 Meter Delfin Olympiasieg zwar, aber wäre der Gegner neben mir, der Pablo Morales, der übrigens auch schneller geschwommen ist in diesem Rennen als der Weltrekord zuvor, wäre der noch mal schneller gewesen, wäre ich nicht Olympiasieger gewesen, aber es wäre nach wie vor immer noch mein perfektes Rennen. Und dieses Gefühl, dieses: 'ich habe es einmal auf den Punkt gebracht für 53 Sekunden', ist übrigens wesentlich nachhaltiger, wesentlich ergiebiger als jetzt so eine Medaille um den Hals gehängt zu bekommen. AUTOR Michael Groß. Seine Erfolgsbilanz im Schwimmbecken ist überwältigend: drei Mal Olympiasieger, fünf Mal Weltmeister, 13 Mal Europameister, 26 Mal deutscher Meister, dazu 12 Weltrekorde, 24 Europarekorde, viel mehr geht nicht in einem Sportlerleben. TAKE 45 (Michael Groß) Zehn Minuten in meinem Leben waren olympische Finals. Das war es auch. Also wenn ich mein Leben auf 10 Minuten olympische Finalläufe reduzieren würde, wäre das ziemlich arm, der Sport, aber auch Kunst, Kultur, Show-Biz generell, neigt ja dazu, relativ zu vereinfachen, deswegen wird man sehr schnell nicht nur zum Vorbild, sondern sogar Idol hochstilisiert, und ich habe immer versucht zu sagen, nur weil ich jetzt ein bisschen schneller schwimme als andere, bin ich nicht gleich ein perfekter Mensch, sondern ich habe genauso meine Macken, meine Ängste, Sorgen, Nöte, die will ich jetzt aber auch nicht in der Öffentlichkeit breit getreten bekommen, sondern will einfach in Ruhe gelassen werden. AUTOR Sportlich erfolgreich ja, Liebling der Nation nein. Michael Groß war nie ein Idol zum Anfassen. Er galt Zeit seines Sportlerlebens als kritischer Querkopf, der regelmäßig aneckte. Zum Beispiel gleich zu Beginn seiner Karriere, als er 1982 zum Sportler des Jahres in der Bundesrepublik gewählt wurde, der feierlichen Ehrung aber fernblieb mit dem flapsigen Argument, 'warum der ganze Aufstand'. Die deutsche Sporthochschule in Köln hat unlängst erst eine Studie veröffentlicht. Darin heißt es: neun von zehn Deutschen betrachten Spitzensportler als Vorbilder. In der Ruhmeshalle des internationalen Schwimmsports ist er bereits, und auch für die deutsche 'Hall' dürfte Michael Groß auf der Kandidatenliste ganz oben stehen. Wichtig ist ihm das nicht. TAKE 46 (Michael Groß) Nee, überhaupt nicht. Wenn ich gefragt werden würde, würde ich mir überlegen, ob ich zustimme. Ich würde fragen: 'ja, für welche Institution, was ist damit verbunden, für was steht man dort? Und deswegen: so eine Hall of Fame sollte auch aus meiner Sicht, gerade wegen der Glaubwürdigkeit und gerade wegen der Bedeutung für Dritte, für Nachwuchssportler, für die Gesamtgesellschaft auf ein möglichst breites gesellschaftliches Fundament gestellt werden und vielleicht auch überraschende Zusammensetzungen beispielsweise im Kuratorium, wer dann über die Aufnahme neuer Mitglieder entscheidet, eine Bedeutung bekommen. Da ist noch Luft nach oben, sodass es auch gesamtgesellschaftlich eine höhere Relevanz hat, und nicht nur: wir zeichnen mal glorreiche Sportler aus. AUTOR Mit den Überprüfungen auf eine Doping- oder Stasi-Vergangenheit, die dann auf ihn zukämen, habe er kein Problem, sagt Michael Groß, er findet nur, die Jury für die Aufnahme in die Hall of Fame sollte anders zusammengesetzt sein: weniger Wirtschaftselite, mehr Normalbürger, die den Sport lediglich als interessierte Zuschauer verfolgen. Walther Tröger, Ehrenmitglied im Aufsichtsrat der Stiftung Deutsche Sporthilfe, ginge das viel zu weit. TAKE 47 (Walther Tröger) Lass uns erst einmal klar werden, wie diese Hall of Fame, die ja noch nicht ganz so alt ist, was das überhaupt soll, wie man damit das Publikum begeistern soll, kann, das ist ja auch in erster Linie der Zweck der Sache, dass man für die Sporthilfe begeistert, und dann kann man auch über weitere Verbesserungen, Details reden. AUTOR Die Stiftung Deutsche Sporthilfe sollte sich weiter von ideologischem Ballast befreien und die öffentliche Debatte über die Helden des Sports forcieren. Das ist ein Anspruch, den sie an sich selbst stellt. Auf der Internetseite der Hall of Fame heißt es, ein Erinnerungs- und Aufklärungsprozess sei in Gang gekommen, Zitat "ohne den die Geschichte des deutschen Sports möglicherweise aus Angst vor Diskussion und Kontroversen im Dunkeln verblieben wäre" - Zitat-Ende. Aber noch hat dieser Prozess nicht wirklich Fahrt aufgenommen. Die Stiftung hat sich vorgenommen, jedes Jahr drei bis fünf neue Mitglieder in die Hall of Fame aufzunehmen. Sie könnte es sich leisten, Sportler wie Täve Schur zu berücksichtigen. Wenn seine Geschichte vernünftig aufgearbeitet würde, bliebe es dem Fan überlassen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. 1