DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 28.07.2015 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr "Sterbe ich in eurem Land" Über anonyme Bestattungen von Flüchtlingen in Griechenland Von Marianthi Milona URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo: Imam von Kos 27 Gebet arab. O-Ton Imam von Kos 27 Sprecher 1: Wir predigen zu Allah: Allah, verzeih den Männern, verzeih den Frauen, die großen und die kleinen, die Anwesenden und die Abwesenden. Du unser Gott, Allah, reinige und wasche diesen Menschen von allen Sünden, die er auf der Welt begangen haben mag. So wie wir uns gewaschen haben, bitten wir, dass du unseren Bruder reinigst. Nimm ihn auf ins Paradies, hebe das Gute in ihm hervor und vergebe ihm für alle bösen Taten. Autorin: Serif Damatoglu ist der Imam der Moschee auf der griechischen Insel Kos. Sein Gebet ist Teil einer Totenzeremonie. In diesen Tagen wird sie auf Griechenlands Inselgruppe der Dodekanes im Südosten der Ägäis oft gehalten. Atmo: Imam von Kos 27 Gebet Musik Zitator (Werbesprech): Jede einzelne Insel der Dodekanes verzaubert durch ihren eigenen, individuellen und unwiderstehlichen Charme. Das Herzstück Griechenlands, wie wir es empfinden, das den Charakter durch oft aufrechterhaltene Kulturen und Traditionen am Leben erhält. Atmo Autorin: 50.000 Flüchtlinge wurden allein im ersten Halbjahr 2015 auf den griechischen Inseln gezählt. Hunderte von ihnen haben seit Beginn dieses Jahres beim Imam auf der Ferieninsel Kos in seiner Gemeinde Platani um Schutz gebeten. Manche haben Hunger oder bitten darum in der Moschee übernachten zu dürfen. Sie sind dem Tod in ihrer Heimat entkommen und begegnen ihm auf ihrem langen Weg in die Freiheit doch immer wieder. Der kleine schlanke Mann in weißer Robe und der hier typischen Kappe, dem Kavuk, klingt betrübt, wenn er darüber spricht. In den vergangenen Monaten hat Imam Serif zu oft das Gebet für die unbekannten Toten sprechen müssen. Musik Ansage: "Sterbe ich in eurem Land" Über anonyme Bestattungen von Flüchtlingen in Griechenland Ein Feature von Marianthi Milona Musik Atmo: Stimmen im Wasser Autorin: Zwischen 2000 und 2010 sind nach offiziellen griechischen Polizeiberichten 9.788 Tote aus der Ägäis geborgen worden. Diese Zahl ist in den Jahren danach immer weiter angestiegen. Nur wenige Leichen können identifiziert werden. Die griechische Polizei sucht nach Erkennungsmerkmalen. Ohne die Mithilfe anderer Flüchtlinge ist sie hilflos. Doch viele schweigen lieber. Zu groß ist die Gefahr, dass sie dabei ihre eigene Identität preisgeben würden. Nicht alle wollen das. Manchmal erfährt die Polizei immerhin, ob es sich bei einem Toten um einen Muslim oder Christen handelt. Selten findet man Papiere, die dem Ertrunkenen einen Namen, ein Gesicht geben könnten. O-Ton Imam Serif Damatoglou Sprecher 1: Man kann mir nach der Autopsie manchmal sagen, aus welchem Land der Tote vermutlich stammt. Aber es ist eine Vermutung. Weil ein Pakistani eben schon anders aussieht als ein Syrer. Letztendlich sind es die Behörden, die in letzter Instanz entscheiden müssen, ob es sich um einen Muslim handelt oder nicht. Dann erst bin ich gefragt. Autorin: Wenn man das Herkunftsland des Toten tatsächlich ermitteln kann, wird die zuständige Botschaft informiert. Dann findet nur eine kurze Totenzeremonie vor Ort statt. Anschließend legt man den Toten in einen Sarg und überführt ihn in die Heimat. O-Ton Imam Autorin: Nur zwei oder dreimal sei das vorgekommen, in den 23 Jahren, in denen der Imam auf Kos lebt, erzählt er mir. Fast immer muss er den Toten selbst beisetzen. Und von Monat zu Monat werden es immer mehr. Vor allem, wenn das ruhige Wetter umschlägt, wenn es auf See stürmisch wird. Bis ich im Frühjahr auf die Insel kam, waren es schon zwanzig anonyme Beerdigungen. Die Leichen werden untersucht. Manchmal, nicht immer, werden DNA-Proben entnommen. Oft fehlt die Zeit und auch das Geld. In Zusammenarbeit mit den Botschaften, die sich manchmal gar nicht erst zurückmelden, aber auch mit Hilfe von Interpol wird nach Verwandten gesucht. Weltweit. Nur selten werden sie gefunden und benachrichtigt. Für Imam Serif macht das keinen Unterschied. O-Ton Serif Damatoglu Sprecher 1: Auch wenn die Situation für uns noch so schwer ist, wir vollziehen die Bestattung immer genauso, wie der Islam es vorsieht. Wissen Sie, die Leichen befinden sich schon mal längere Zeit im Wasser. Das ist nicht einfach. Wir waschen sie dennoch und wickeln sie ganz nach islamischer Sitte in ein Leinentuch. Autorin: Der Imam kümmert sich nicht nur um die Toten, auch um die lebenden Flüchtlinge auf Kos sorgt er sich, um die Glücklichen, die die riskante Überfahrt überlebt haben. Musik Zitator: Beste Reisezeit für Urlaub auf den Inseln der Dodekanes: Mai bis Oktober Atmo: Vor dem Polizeipräsidium Kos Autorin: Zu Hunderten stehen die Flüchtlinge Tag für Tag vor dem Polizeipräsidium. Im Zentrum von Kos-Stadt herrscht eine Art Ausnahmezustand: Flüchtlinge am Ende ihrer Kräfte. Sie hocken, sitzen, liegen zwischen Autos und den Wegen der Feriengäste. Andere stehen am Tor des Polizeihauses. Bitten um Gehör. Atmo: Stimmen, auf Englisch, Arabisch, Griechisch Sprecher 2: Entschuldigung, darf ich fragen? Was ist mit meinem Freund? Autorin: Die Kommunikation mit den Behörden ist schwierig. Viele sprechen nur Arabisch. An einer Ecke steht ein Mann mit nur einem Bein und auf Krücken: Sahadl Achmed. Englischer O-Ton Sahadl Achmed Sprecher 2: Ich warte hier auf meinen Freund. Da ist ein Fehler passiert. Sein Geburtstagsdatum ist falsch geschrieben worden. Der Polizist sagt mir, dass wird heute Morgen erledigt. Aber niemand sagt mir, wann genau. Sie stoßen mich weg. Geh raus! - Und der Polizist sagt mir, er muss hier bleiben, bis zum Morgen. Aber was genau bedeutet Morgen? Autorin: Und dann kommt ein zweiter junger Mann hinzu. Munzer el Saadi ist 25 Jahre alt. Er spricht mich auf Arabisch an. Hat mitbekommen, dass ich Journalistin bin. Viel später, als ich mir die Aufnahme übersetzen lasse, erfahre ich, was er mir wirklich sagen wollte. O-Ton Munzer el Saadi arab. Sprecher 3: Ich schlafe hier draußen. Ich kriege Krämpfe, weil ich operiert worden bin. Schauen, Sie, ich habe hier eine Schusswunde im Bauch. Autorin: Er hebt sein Hemd und zeigt mit dem Zeigefinger auf die Stelle an seinem Bauch, wo er durch eine Gewehrkugel getroffen wurde. O-Ton Munzer arab. Sprecher 3: Es ging hier rein und da raus. Wenn ich anfange zu frieren, wird mir oft schwindelig. Dieses Bein kann ich kaum richtig bewegen. Eine Sehne ist abgetrennt worden. Und ich habe kein Geld, um das Hotel zu bezahlen. Das Essen hier ist auch so teuer. Ich brauche auch dringend neue Bluttransfusionen. Wissen Sie, wo das Krankenhaus hier ist? Atmo Autorin: Imam Serif sagt, es bricht ihm das Herz, wenn er seine Glaubensbrüder so leiden sieht. Die Aufnahmeformalitäten sind für die Menschen strapaziös. Und sie finden in einem Land statt, das selbst tief in einer ökonomischen und sozialen Krise steckt. O-Ton Imam Serif Sprecher 1: Ich muss immer weinen, aber ich reiße mich zusammen. Manche bitten mich darum, ihnen die täglichen Gebete auf einem Papier mitzubringen. Was soll ich sagen! - Wenn die Christen einmal weinen müssen, weine ich zweimal. Natürlich fühlt jeder Mensch mit ihnen, denn das ist menschlich. Aber mich schmerzt es, als Mensch und als Muslim. Meine Brüder in diesem Zustand zu sehen, ist deprimierend. Atmo: Öffnen einer Metalltür Autorin: Ich möchte mir einen Eindruck von der Arbeit der Polizei vor Ort machen. Das Polizeipräsidium ist ein mittelalterlicher Bau aus der Besatzungszeit der christlichen Kreuzritter mit einem imposanten Innenhof: Atmo: Autorin: Der gesamte Innenhof ist voller Menschen. Hunderte schmutzige Matratzen übereinander gestapelt. Nur ein paar sind ohne erkennbare Ordnung über den Boden verstreut. Väter sitzen darauf mit ihren kleinen, übermüdeten Kindern, Frauen, junge Männer. Hilflose Blicke. Verängstigte Gesichter. Ein babylonisches Stimmenkauderwelsch im Widerspruch mit den vorbeifliegenden Mauerseglern: die einen, ein Symbol der Freiheit, die anderen: weit ausgeflogen, aber noch immer nicht frei. Dazwischen Polizeibeamte, unermüdlich bemüht, sich Gehör zu verschaffen. Einige Flüchtlinge, sie sprechen gebrochen Englisch, übersetzen. Ein Polizist sieht, dass ich fotografiere: O-Ton Polizist Sprecher 4: Sie machen Fotos hier? - Das dürfen sie nicht. Autorin: Ich versichere ihm, das geht in Ordnung. Sein Chef wird mir ein Interview geben. Ich habe eine Genehmigung. Er ist beruhigt. Ich spreche Griechisch. Das hilft. Später traut er sich sogar, meine Fragen zu beantworten. O-Ton Polizist Sprecher 4: Stellen Sie sich vor, vor kurzem lagen sie auch oben im ersten Stock. Sie warten hier alle auf ihre Papiere. Hier drinnen können wir sie irgendwie kontrollieren. Die Frage ist, was machen wir mit denen, die draußen stehen. Ich wünschte, wir könnten ihnen ein Papier aushändigen und sie könnten gehen. Aber so einfach ist es nicht. Ich frage mich, wie das hier weitergehen soll. Das hört ja gar nicht mehr auf. Autorin: Einen so großen Menschenansturm haben die griechischen Polizisten noch nie zuvor auf den Dodekanes erlebt. Obwohl Flüchtlinge aus der Türkei für die griechische Inselgruppe nahe der kleinasiatischen Küste kein unbekanntes Phänomen sind. Giorgos Giorgakakos ist hier Polizeichef. O-Ton Polizeichef Giorgakakos Sprecher 4: Die türkischen Auseinandersetzungen brachten zunächst die Kurden hierher. Später kamen die Iraner, dann die Iraker, die Afghanen, Pakistani und jetzt die Syrer. Autorin: Giorgos Giorgakakos ist seit über 20 Jahren auf den Dodekanes. Auf dem Bildschirm seines Computers sehe ich Zahlen und Fakten. Dazu Fotos von Szenen ankommender Flüchtlinge. Hinter ihm an der Wand, eine Landkarte. Mit den Inseln, die seine Mannschaft kontrolliert. Darunter die kleine, unbewohnte Insel Farmakonisi. Pro Asyl hat berichtet, dort seien Flüchtlinge gefoltert und zurück in den Tod geschickt worden. O-Ton Georgakakos Sprecher 4: Damit Sie sich ein Bild machen können. Sie kommen in Patmos an, dann auf Leros, wegen Farmakonisi, die Insel ist klein, nah an der Türkei und Leros ist ihr am nächsten. Von der Türkei bis nach Griechenland sind es dort nur ein paar Seemeilen, drei türkische, drei griechische. Und hier auf Kos, sind es nur dreieinhalb Seemeilen, also 1.700 Meter türkisch, und 1.700 Meter griechisch. Wir überwachen aber auch Kalymnos, Pserimos, und Agathonisi. Dort landen sie auch. Sie können gar nicht weggetrieben werden. Sie kommen in jedem Fall irgendwo in Griechenland an. Atmo/O-Ton: Georgakakos erklärt Autorin: An manchen Tagen kommen allein auf Kos 160 Menschen an. Heute haben es 92 Flüchtlinge bis nach Kos geschafft, das heißt die Außengrenze der Europäischen Union überwunden. Wobei der Polizeichef die Kinder nicht mitzählt. 30-45 Minuten brauchen seine Kollegen, um einen Flüchtling zu registrieren, sagt der Polizeichef. Mehr Registrierungen als jetzt seien an einem Tag nicht drin. Obwohl die neue Regierung in Athen schnell reagiert habe. Neue Geräte und Material sind im Polizeipräsidium von Kos eingetroffen. Georgakakos klagt nicht, aber er könnte die doppelte Anzahl an Mitarbeitern gut gebrauchen. Doch dafür gibt es kein Geld. Eine genaue Aktenführung ist Voraussetzung, um den Flüchtlingen die sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen - und Polizeichef Georgakakos ist sehr genau. O-Ton Georgakakos Sprecher 4: Unter den Flüchtlingen sind momentan 70-80% Syrer. 60% von ihnen haben Papiere. Wir führen zunächst ein Gespräch mit ihnen. Unter Beisein von Sprachspezialisten. Sie achten auf den Dialekt, fragen nach bestimmten geographischen, politischen und religiösen Besonderheiten. Wer einen Ausweis vorlegt, bei dem wird geprüft, ob der Ausweis echt ist. Wir halten die Aussagen jedes Flüchtlings schriftlich fest, nehmen Fingerabdrücke, von allen Fingern. Schließlich werden sie noch fotografiert. Autorin: Was passiert, wenn jemand tot aufgefunden wird, möchte ich wissen. O-Ton Georgakakos Sprecher 4: Wenn es sich um einen aktuell Ertrunkenen handelt, gibt es die Möglichkeit über die Türkei und auch über Interpol zu suchen. Die Leiche wird fotografiert, man nimmt ihr Fingerabdrücke ab. Die Botschaften werden verständigt. Wir sammeln alle Details, um die Daten des Toten zu erhalten. Mir ist es nur einmal passiert, dass ein Verwandter aus der Türkei kam, um den Toten mitzunehmen und selbst beizusetzen. Autorin: In den meisten Fällen aber baut der Polizeichef von Kos auf die Mithilfe des Imams. Es wird nach Erkennungsmerkmalen gesucht. Wenn ein Toter beschnitten ist, geht die Polizei von einem Muslim aus. Trägt die Leiche ein Kreuz, dann wird der Metropolit von Kos eingeschaltet. Der Tote wird auf einem griechisch-orthodoxen Friedhof beigesetzt - anonym. Doch was Georgakakos zur Zeit noch mehr zu schaffen macht: Wohin mit den Lebenden, die auf den Straßen campieren? Überall auf den griechischen Inseln sind die Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge - wenn es überhaupt welche gibt - in einem desolaten Zustand. Griechenland ist im Südosten mit seinen Inseln und langen Küsten der erste Anlaufpunkt in Europa. Das Dublin-Abkommen der EU besagt, dass der Staat, in dem die Flüchtlinge zuerst in Europa ankommen, allein für das Asylverfahren zuständig ist. Werden die Menschen später anderswo aufgegriffen, können sie dorthin zurückgeschickt werden. Staaten mit einer Außengrenze zur EU haben deshalb auch die größten Probleme mit der Aufnahme der Menschen, die vor Krieg, Hunger, sozialem Elend und politischer Verfolgung auf der Flucht sind. O-Ton Georgakakos Sprecher 4: Die meisten, die wir fragen, sagen uns, sie wollen nach Schweden oder Deutschland kommen, weil sie gehört haben, dass sie dort besser Arbeit finden und leben können. Griechenland ist nur ein Übergang. Sie wollen gar nicht hier sein. Wir haben aber auch noch nie mit so vielen Flüchtlingen zu tun gehabt. Und eigentlich ist es nicht Aufgabe der Polizei, Raum für die Flüchtlinge zu finden. Der Staat hätte sich darum bemühen müssen, die Gemeinde oder die Bezirksverwaltung. Autorin: Der große Flüchtlingsstrom fühlt sich für das ohnehin gebeutelte Land wie ein Schlag ins Genick an. Tut sich schon ein reiches Land wie Deutschland mit der Bereitstellung von angemessenen Unterkünften schwer, klingen Pläne für kostspielige Investitionen wie den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Griechenland geradezu utopisch. Eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Bank von Piräus, eine der vier führenden Banken des Landes, ein Hotel für die Unterbringung der Flüchtlinge auf Kos für sechs Monate zur Verfügung gestellt hat. Der Eigentümer des Hotels ist vor kurzem Bankrott gegangen. Musik Zitator: Jede einzelne der Inseln ist eine Reise wert. Kaliméra - Herzlich willkommen auf den Dodekanes Musik Atmo Captain Elias Hotel Autorin: Das Captain Elias ist ein heruntergekommenes Hotel mit einem grünen Vorgarten. Im Eingangsbereich herrscht Chaos. Menschen sitzen im Schatten der Palmen. Kinder spielen, Frauen hocken am Boden, waschen Kleidung, Männer sitzen auf den wenigen Stühlen oder auf dem Boden, inmitten von Abfällen. Und an der Tür, die ins Hotelinnere führt, ein riesiger Berg von stinkendem Müll. Es nimmt mir die Luft zum Atmen. Kaputte Plastiktüten, leere Milchverpackungen, diverse Essensreste, zerdrückte Pappbecher, gemischt mit gebrauchten Kinderwindeln, überall. Der unerträgliche Gestank ist allgegenwärtig. Ich wende mich erstmal ab, muss mich draußen übergeben. Ein wenig später - der zweite Versuch ins Hotelinnere zu gelangen. Schon ein Blick in das Foyer ist nicht minder ekelerregend. Der gesamte Raum ist mit dreckigen Matratzen ausgelegt. Auch hier überall Müll. Die Luft ist zum Zerschneiden. Auf manchen Matratzen liegen Männer im Tiefschlaf. In der Halle kommt mir ein Mann entgegen. Ein iranischer Mitarbeiter der ‚Ärzte ohne Grenzen', der Arabisch spricht und hier dolmetscht. Abbas heißt er. Seit 50 Tagen arbeiten die Ärzte ohne Grenzen auf Kos. O-Ton Abbas Sprecher 2: Wir sind jeden Tag hier von 10 bis 15 Uhr. Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat, dann kann er kommen. Darüber hinaus wollen wir uns um die sanitären Anlagen kümmern. Das sind die schlimmsten Toiletten, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Nächste Woche soll jemand vorbei kommen und sich darum kümmern. Wir werden auch dafür sorgen, dass sie jeden Tag gereinigt werden. Es gibt hier wenig Wasser und keinen Strom. Sie sehen ja selbst, welche Zustände hier herrschen. Autorin: Viele Flüchtlinge sind über den Dreck entsetzt, doch niemand von ihnen scheint sich für den Müll verantwortlich zu fühlen. Auch Kasim nicht. Er ist 21 Jahre alt und seit zehn Tagen auf Kos. Er ist ein kurdischer Syrer aus der im Krieg gegen den IS zerstörten Stadt Kobane an der syrisch-türkischen Grenze. In einem Hotel, das eigentlich für 200 Personen Platz bietet, muss er mit 500 anderen einen Schlafplatz finden. 15 Euro die Nacht kostet das. In einem Zweitbettzimmer schläft er mit fünf weiteren Personen. Zehn Monate saß er in der Türkei fest, bis er die Entscheidung zu einer Überfahrt nach Kos traf. Ihm ist egal, wohin er am Ende kommt, Hauptsache Europa. O-Ton Kasim engl. Sprecher 3: Was soll ich denn machen? Sie lassen uns hier zehn Tage bleiben. Sie sehen doch, wie es hier aussieht - so schlimm! Wir würden gern weiter nach Mastahari auf Samos oder Kalymnos fahren, weil man uns sagte, dass dort alles schneller geht, aber sie lassen uns nicht. Sie sagen, wir brauchen die Aufenthaltserlaubnis, um ein Bootsticket kaufen zu können, dass uns nach Athen bringt. Autorin: Ob er es schafft, ist ungewiss. O-Ton Kasim engl. Sprecher 3: Ich habe nicht mehr viel Geld. Nur 400 Euro. Und ich habe keinen Reisepass, nur einen syrischen Personalausweis. Der wird hier aber nicht anerkannt, wenn ich ausreisen will. Sie wollen einen Reisepass mit einem Visum. So kommen die Schleuser zu uns. Sie sagen: Gebt uns 3.000 Euro, dann bringen wir euch zu einem anderen Ort außerhalb Griechenlands. Autorin: Kasim kennt die Gefahren. 1.200 Euro haben die Schleuser für die kurze Überfahrt nach Kos verlangt. Und Kasim ist gegangen, ohne an das Risiko der Überfahrt zu denken. Das Boot war voller Frauen mit kleinen Kindern. Immer wieder erwähnt er den Tod, er sei ihm in seiner Heimat und unterwegs schon so oft begegnet. O-Ton Kasim engl. Sprecher 3: Es ist gefährlich, den Schleusern zu vertrauen. Sie werden uns wieder in kleine Boote pferchen, um uns nach Italien zu bringen. Alle diese Menschen, die sie hier sehen, würden es aber dennoch versuchen. Es gibt keine andere Lösung. In diesem Zustand, können wir nicht in Griechenland bleiben, verstehen Sie? Und in Europa droht uns kein Gefängnis, in unserem Land aber schon. Musik Zitator: Seit Beginn des Jahrtausends werden viele der Dodekanes Inseln von schnellen Katamaran-Fähren täglich miteinander verbunden. Die schnellen Fähren haben Transporte zwischen den Inseln stark erleichtert und bieten auch gute Chancen für den Tourismus auf den Inseln ohne eigenen Flughafen. Musik Autorin: Kos ist eine Touristenhochburg mit rund 200.000 Feriengästen im Jahr, die Haupteinnahmequelle der Insel. Ich frage den Bürgermeister nach den Zuständen im Captain Elias Hotel. O-Ton Bürgermeister Kos Sprecher 4: Sie fordern, dass ich Putzfrauen schicke. Wie sollen wir das machen? Sie respektieren ihr eigenes Umfeld ja selbst nicht. Als ich ihnen vor Ort persönlich sagte, wie die Lage aussieht, hoben sie mahnend den Zeigefinger mit der Forderung, ich solle mich darum kümmern. Das verstehe ich nicht. Mit großen Widerständen schaffte es ein Polizist vor Ort, dass sie ihren Müll in Plastiktüten sammelten. Ich weiß nicht, was sie denken, ob es unsere Pflicht ist, ihren Dreck wegzumachen? In der Türkei durften sie sich so nicht benehmen! Autorin: Die Wahrheit ist: Niemand möchte das Hotel freiwillig betreten. Wenn der Bürgermeister nicht tief genug in die Tasche greifen kann, wird sich so bald niemand finden, der die maroden Installationen repariert. Handwerker und Putzkräfte haben Angst vor ansteckendenden Krankheiten. O-Ton Bürgermeister Kos Sprecher 4: Ich habe zweimal eine Gruppe von Klempnern dorthin geschickt, um ihre Toiletten frei zu machen. Die sind schockiert zurückgekehrt. Die Flüchtlinge hatten ihre Bierflaschen zerschlagen und sie in die Toilette geworfen. Da ging nichts mehr. Ich hoffe, dass Europa uns endlich mal mit diesem Problem ernst nimmt. Autorin: Ich suche nach einer Stimme, die mir etwas über die Gründe für die katastrophale Lage sagen kann. Kostantinos Tsitselikis ist der Direktor des griechischen Vereins für Menschenrechte. Er ist davon überzeugt, dass die griechischen Regierungen der Vergangenheit schon längst mehr hätten tun können. Für die lebenden und die toten Flüchtlinge. Er hat den muslimischen Friedhof in Kos schon besucht. Auch den auf Rhodos und dann auch noch den einzigen Friedhof für anonyme Bestattungen auf dem griechischen Festland: Den Friedhof von Sidero, einem Ort im thrakischen Evros-Gebiet. Auch hätte Griechenland mehr Geld erhalten können, um Flüchtlingsunterkünfte zu bauen. Wenn die abgewählte Regierung ihre Arbeit richtig gemacht hätte, kritisiert Tsitselikis. O-Ton Kostas Tsitselikis Sprecher 2: 25-30 Milliarden Euro waren von der EU für Griechenland und die Versorgung der Flüchtlinge bereitgestellt worden. Doch Griechenland hatte nur etwas weniger als die Hälfte beantragt und erhalten, um es schließlich für den Bau des Zauns im östlichen Grenzgebiet zur Türkei zu verwenden. Das hat am Ende nichts genutzt. Die Menschen sind entweder im Übergang gestorben, oder haben den Weg über die Inseln genommen. Autorin: Die Politik habe in den vergangenen Jahren das Thema Flüchtlinge nicht ernsthaft in Angriff genommen, meint der auf Ausländerrecht spezialisierte Jurist. Das Geld sei in unmenschliche und ungesetzliche Maßnahmen wie die Operation Skupa, Operation Besen, investiert worden. Man habe Flüchtlinge aus den Städten gesammelt und sie in Aufnahmelager deportiert, irgendwo in der Provinz. Eine Maßnahme, die vor allem von den griechischen Rechtsradikalen begrüßt und unterstützt wurde. O-Ton Tsitselikis Sprecher 2: Sie nahmen die Menschen erst fest, gaben ihnen dann einen Brief in die Hand und sagten, ihr habt sieben Tage, Zeit das Land zu verlassen. Sie wollten auch gehen. Doch das europäische Paradoxon in diesem Fall ist: Dieser Brief war gar kein offizielles Papier, dass ihnen erlaubt hätte, das Land zu verlassen. Einerseits sollte ein Flüchtling gehen, auf der anderen Seite hat er nichts in der Hand, das ihm erlaubt auszureisen. Was geschah also mit diesem Menschen? Er wurde ein Gesetzloser. Er musste stehlen, um zu überleben oder irgendwo schwarzarbeiten, bei Arbeitgebern, die ihn ausbeuteten. Autorin: Spätestens mit dem Gerichtsurteil vom 21.01.2011 hat die belgische Justiz dafür gesorgt, dass die EU auf dieses Problem aufmerksam wurde. Ein afghanischer Flüchtling hatte gegen die Rückführung nach Griechenland geklagt und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention recht bekommen, weil die Zustände in Griechenland für Flüchtlinge unzumutbar seien. Das Gericht beanstandete vier Punkte: Zitator: 1. Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) durch Griechenland aufgrund der Haft- und Lebensbedingungen. 2. Verletzung von Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art. 3 EMRK durch Griechenland aufgrund der Mängel des Asylverfahrens. 3. Verletzung von Art. 3 durch Belgien aufgrund der Abschiebung nach Griechenland in Kenntnis der mangelhaften griechischen Aufnahme-, Haft- und Verfahrensbedingungen für Flüchtlinge. 4. Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK durch Belgien, weil in Belgien kein wirksamer Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Griechenland gegeben war. Atmo Meer Autorin: Ich setze meine Reise weiter Richtung Norden fort. Immer entlang der kleinasiatischen Küste. Von Kos, Kalymnos, Patmos, Leros, Pserimos bis nach Samos, sehe ich immer neue schreckliche Szenen, immer andere Bedingungen für die Menschen aus dem Osten. Über Gräber will mir niemand etwas sagen. In den meisten Fällen, so berichten mir Einheimische, würden die Toten einfach in Säcke gelegt und so unauffällig wie möglich auf die nächste größere Insel gebracht: Rhodos, Kos, Samos. Auf Samos, in der Nähe des Ortes Pythagorion zeigt mir eine junge Frau fünf Gräber, in denen Tote anonym begraben wurden. Auf jedem Grab steht ein Kreuz. Ob die Toten Christen oder Muslime waren? Niemand weiß das. Musik Autorin: Als Journalistin werde ich unterschiedlich behandelt. Mal freundlich ausweichend, mal abweisend: Groß ist die Angst, dass die Welt von der Hilflosigkeit der Behörden etwas erfährt. Und vom Umgang mit den Toten und den Überlebenden. Nach einer achtstündigen Überfahrt komme ich auf Agathonisi an, der letzten und nördlichsten Insel der Dodekanes. Atmo: Flüchtlingsankunft in der Nacht Autorin: Mitten in der Nacht werde ich von Scheinwerfern, lautem Motorengeräuschen und Menschenstimmen geweckt. Atmo: Flüchtlingsankunft in der Nacht Autorin: Es ist zu dunkel, um Gesichter zu erkennen. Und doch weiß ich genau, was sich im Hafen von Agathonisi gerade abspielt. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, erkenne ich zwei schwarze Schlauchboote im Wasser. Und viele Menschen, die versuchen, den Strand zu erreichen. Im Gegensatz zu Kos verbieten mir hier die Männer der griechischen Küstenwache, mich den Flüchtlingen zu nähern. Ich kann das Geschehen nur aus Ferne beobachten: Atmo: Flüchtlingsankunft in der Nacht Autorin: Ich höre Kindergeschrei. Ein Mann von der Küstenwache gibt bei der Polizeizentrale durch, wie viele Flüchtlinge angekommen sind. Die griechische Küstenwache hat den Befehl, alle Motoren aus den Booten zu heben und anschließend die Schlauchboote zu zerstören. Niemand soll mehr fliehen können. Atmo: Lets go! Go, go, don't stay here. Autorin: Ein Polizist gibt den Befehl, ihm zu folgen. In dieser Nacht sind zusammen mit den Kleinkindern über 100 Menschen angekommen. In zwei ca. vier Meter langen Schlauchbooten. Eine ungewöhnliche Situation für die Beamten. Sonst kommen die Flüchtlinge nur auf der Rückseite der 13,4 Quadratkilometer großen Insel an. Nur 150 Einwohner leben ständig auf Agathonisi. Die Zahl der hier immer wieder ankommenden Flüchtlinge ist also um ein Vielfaches höher. Ich erkundige mich beim Bürgermeister von Agathonisis, wie viele Tote es schon auf dieser Insel gegeben hat. Seine ausweichende Antwort: "Nicht viele". Auf dem kleinen Friedhof entdecke ich einige wenige rechteckige Gräber, mit einer Platte aus Beton. Ohne Namen, ohne irgendeinen Hinweis, wer darin beerdigt ist. Die Einwohner der Insel fürchten, dass der Tourismus in der ohnehin schon kurzen Saison nun völlig zum Erliegen kommt. Franzeska Kotero, 28 Jahre alt, führt mit ihrem Vater ein kleines Hotel auf Agathonisi. Ihr wäre es lieber, man würde die Menschen nicht, wie Gefangene behandeln. Ihnen würde dann nicht das Stigma des Kriminellen anhaften. O-Ton Franzeska Sprecherin 1: Die meisten kommen momentan aus Syrien. In der vergangenen Woche hat eine Frau hier Zwillinge zur Welt gebracht. Sie sehen gut aus. Sind gut gekleidet. Richtige Herrschaften. Sie kommen mit Geld. Und ich wundere mich, warum diese Menschen nicht ganz legal nach Europa fahren können. Sie sollten unter menschlicheren Bedingungen nach Griechenland einreisen dürfen. Warum können sie nicht einfach hierher fliegen? Autorin: Während die Einheimischen vor 20 Jahren mit den ersten Flüchtlingen zusammen lebten, sie sogar selbst nach Samos fahren durften, ist das jetzt verboten. Weil die Polizei laut Gesetz nun auch einheimische Griechen des Menschenhandels bezichtigen kann. So haben die Einwohner von Agathonisi den Kontakt mit den Flüchtlingen weitgehend abgebrochen. Mich ließ man nur einmal in die Polizeistation gehen. Die jungen Beamten durften mir kein Interview geben und mit den Flüchtlingen durfte ich auch nicht sprechen. Musik Autorin: Das kleine Polizeirevier der Insel fungiert als inoffizielle Aufnahmestation. Sie besteht aus insgesamt zwei 10m²-Zimmern, in denen ein Polizist und zwei Männer der Küstenwache gemeinsam mit den Flüchtlingen Platz finden müssen. Es wird gemeinsam gegessen und geschlafen. Die drei jungen Polizisten haben Angst, denn die Flüchtlinge sind noch von keinem Arzt untersucht worden. Und wann sie nach Samos gebracht werden können, um genau untersucht zu werden, ist unklar. Nicht jedes Boot, das auf Agathonisi ankommt, will Flüchtlinge mitnehmen. Die Polizisten sind überfordert, unausgeschlafen, ihre Station unterbesetzt und sie werden schlecht bezahlt. Ich besuche Voula Micheli, die junge Frau hat eine Taverne in Agathonisi. Die Polizisten geben ihr manchmal den Auftrag, für die neu angekommenen Flüchtlinge zu kochen. O-Ton Voula Micheli Sprecherin 1: Es sollte irgendwann auch mal jemand über diese jungen Leute schreiben, die bei der Polizei oder der Küstenwache sind. Ich bin hier nebenan und kriege mit, wie sehr sie sich ins Zeug legen. Sie haben Mitleid mit den Menschen, aber sie müssen auch für Ordnung sorgen. Diese Jungs hier bewältigen das sehr gut, ohne jemals dafür ausgebildet worden zu sein. Atmo: Polizist im Supermarkt Autorin: Ich erlebe selbst, wie einer der drei Beamten eine junge Syrerin zum Einkauf im Supermarkt begleitet. Sie hat eine Einkaufsliste dabei. Als er für einen Moment nach draußen geht um zu rauchen, nutze ich die Gelegenheit zu einem heimlichen Gespräch. Neremin Arafe ist 22 Jahre alt und hat ihre gesamte Familie im Krieg verloren. Sie hat Wohnung, Auto und Wertsachen in Syrien verkauft, um die Reise nach Europa bezahlen zu können. Sie muss schrecklich weinen, während sie mir von ihrer Überfahrt berichtet. O-Ton Neramin Arafe engl. Sprecherin 1: Ich sehe stark aus, aber ich fühle mich nicht stark. Es sind so viele Menschen, es ist ein Albtraum. Gestern, es war vier Uhr in der Früh und es war so dunkel und die kleinen Babys fielen ins Wasser. Du siehst das und du kannst einfach nicht jedem helfen, weil du dir selbst helfen musst. Und du schreist und du wünschst dir, du könntest sterben. Ich will das nicht mehr denken. Du hörst diese Stimmen immer wieder in deinem Kopf. Autorin: Dann wirft sie einen Blick nach draußen, ob der Beamte sie sieht. O-Ton Neramin Arafe engl. Sprecherin 1: Du bist der erste Mensch, der uns fragt, wie es uns überhaupt geht. Sie behandeln uns so, also wären wir niemand. Wir wollen kein Geld. Wir wollen einen Platz finden, wo keine Bomben fallen, nicht geschossen wird, wo Du nachts schlafen kannst. Ich möchte schlafen und wissen, dass ich wieder aufwachen werde. Ich möchte nicht in Stücke gerissen werden. Autorin: Als ich schließlich mit einem Boot, das Flüchtlinge aufgenommen hat, nach Samos fahre, werde ich von einem Polizisten bedroht, weil ich Aufnahmen von der Ankunft mache. Atmo Polizist droht mir, mich einzusperren Autorin: Der Polizist reißt mir die Kamera aus der Hand und kontrolliert meine Aufnahmen. Ob ich Flüchtlinge fotografiere, kümmert ihn nicht. Ich soll nur nicht den Polizeitransporter aufnehmen, weil mehr Flüchtlinge darin eingepfercht sind als erlaubt. Er will mich sofort einsperren, sollte ich ein Foto vom Polizeiwagen gemacht haben. Er weiß nicht, dass ich die Szene heimlich aufnehme. Und ich habe Glück, weil er kein Foto vom Transporter unter meinen Bildern findet. Der Menschenrechtsanwalt Kostas Tsitselikis ist der Ansicht, dass die griechische Polizei eine besondere Schulung braucht. Denn sie habe noch Schlimmeres vor sich. O-Ton Kostas Tsitselikis Sprecher 2: Eigentlich gibt es noch gar keinen Grund zur Aufregung für Griechenland. Seit 2001, um nicht noch weiter zurück zu gehen, haben wir einen riesigen Strom von Menschen, die flüchten. Der kommt aber zunächst mal gar nicht in Europa an. Er sitzt im Libanon, in der Türkei, in Jordanien und Ägypten. Wenn Sie davon ausgehen, dass dort ca. vier Millionen Flüchtlinge nur darauf warten, dass der Krieg aufhört, dann haben Griechenland und Europa bisher nur einen sehr kleinen Teil von ihnen gesehen. Musik Zitator: Die Dodekanes haben ein sehr mildes Klima und sind vor allem ein gutes Reiseziel im Winter: Die Winter sind sehr angenehm im Vergleich zu anderen europäischen Gefilden. Musik O-Ton Tsitselikis Sprecher 2: Ich kenne persönliche Geschichten, die erzählen, dass das Boot sank und viele versuchten noch, einige Kilometer zu schwimmen. Von den 20 ertranken dann mindestens zwei oder drei. Es gibt ja nicht immer jemand, der an Ort und Stelle ist und sie rettet. Kontrollposten, wie die Frontex der EU, funktionieren abschreckend. Es ist eine falsche Maßnahme, abzuschrecken, wenn es sich um Menschen aus Kriegsgebieten handelt, die ein Recht auf Rettung haben. Diese Menschen sind entschlossen zu fliehen, und niemand wird sie vor den Toren Europas aufhalten können. Autorin: Schon jetzt ist die Zahl der Menschen, die diese Flucht nicht überleben, erschreckend hoch. Außer in Thrakien und den Dodekanes-Inseln Rhodos und Kos gibt es keinen muslimischen Friedhof für tausende Muslime, die sich heute bereits in den griechischen Großstädten Athen und Thessaloniki befinden. O-Ton Tsitselikis Sprecher 2: 501.000 offizielle Flüchtlinge sind momentan in Griechenland. Die meisten von ihnen Muslime. Wenn jemand von ihnen stirbt, kann er nicht in Athen beigesetzt werden. Die wenigen Wohlhabenden unter ihnen haben die Möglichkeit, ihre Toten nach Hause zu schicken. Das kostet zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Eine Bestattung in Griechenland dagegen nur 1.500 bis 3.000 Euro. Man bringt die Toten bis weit in den Norden, zum muslimischen Friedhof in Thrakien. Musik Zitator: Cluburlaub auf Kos: Auch in der jetzigen Krisenphase in Griechenland kann man im Club bedenkenlos Urlaub machen. Man kriegt von der aktuellen politischen Situation nichts mit. Auch die Griechen z.B. in Kos Stadt sind sehr freundlich und hilfsbereit. Auch von der aktuellen Flüchtlingssituation haben wir nichts mitbekommen. Musik Atmo Imam auf Kos spricht das Totengebet Autorin: Imam Serif wird auch weiter auf Kos viele verstorbene Glaubensbrüder beisetzen müssen. Die Gräber der unbekannten Toten sind mit einem schlichten Holz und einer darauf rot gemalten Schlange gekennzeichnet. Im antiken Griechenland war dieses Zeichen ein Symbol für die Heilung. O-Ton Imam Serif Sprecher 1: Wenn wir den Namen des Toten wissen, dann wird der Name genannt, sonst heißt es nur der tote Mann. Das gleiche gilt für die Frauen. Dann hebe ich die Hände hoch und sage: Allah.....ich lese ein Gebet, dann sage ich wieder Allah... das geht vier Mal so. Dann drehe ich mich rechts und links zu den anwesenden Gemeindemitgliedern: Meine Brüder, ihr die ihr heute hier anwesend seid, lasst uns die Sünden dieses Mannes oder dieser Frau verzeihen. Dann lesen wir ein Stück aus dem Koran, legen den Toten anschließend in einen Sarg, tragen ihn auf den Schultern zum Friedhof, heben ihn aus dem Sarg wieder heraus, wenn er in gutem Zustand ist. Wenn der Tote nicht mehr in gutem Zustand ist, dann lassen wir ihn im Sarg, obwohl das bei den Muslimen nicht üblich ist. Autorin: Vorher legt der Imam noch einige Hölzer in das Grab, damit der Körper nicht direkt mit der Erde in Berührung kommt. Die Anwesenden stehen im Halbkreis davor. O-Ton Serif Gebet Sprecher 1: Unser Gott, Allah, reinige und wasche diesen Menschen von allen Sünden, die er auf der Welt begangen hat, frei. So wie wir uns gewaschen haben, so wünschen wir, dass du unseren Bruder reinigst. Und nimm ihn mit ins Paradies, erhebe ihn für das Gute, dass er begangen hat und wenn er Böses begangen hat, dann vergib ihm dafür. Das sind unsere Gebete. Autorin: Der Platz wird immer enger in Griechenland. Für die Lebenden und für die Toten. Dabei wäre doch alles so einfach. Imam Serif lacht ganz sanftmütig, wenn er darüber spricht. O-Ton Serif Sprecher 1: Wenn die Verantwortlichen wirklich wollten, könnten sie dieses Leid in einer Stunde beenden. Ich sage das aus tiefster Überzeugung. Aber wir sind ja nur auf einer kleinen Insel, nicht wahr? Und niemand hört auf uns. (lacht) Absage: "Sterbe ich in eurem Land" Über anonyme Bestattungen von Flüchtlingen in Griechenland Ein Feature von Marianthi Milona Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. Es sprachen: Bettina Kuhrt, Jean Paul Baeck, Matthias Haase, Moritz Heidelbach, Stefan Krause, Oliver Krietsch-Matzura und Katharina Schmalenberg Ton und Technik: Ernst Hartmann und Hanna Steger Regie: Susanne Krings Redaktion: Karin Beindorff 23