Deutschlandrundfahrt "Der lange Duft der Vanille" Holzminden an der Weser Von Klaus Wilhelm Sendung am 11. Juni 2017, 11.05 Uhr Ton: Andreas Narr Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion Deutschlandfunk Kultur 2017 01 kurze Atmo, Karl-Heinz Bork Das ist das Parfum Jardin aus Holz-min-Deeen. Da lachen die Leute sich kaputt, ne. Wenn ich aber sage: Jardin von Dioooor. Klingt ganz anders ne. Dass da Rohstoffe aus Holzminden drin sind, interessiert niemanden. Autor Die Revolution der Düfte kam nicht aus Frankreich, sondern aus dem Bergland an der Weser: 1874 begann in Holzminden die Produktion des Aromastoffs Vanillin. Bis heute machen die Düfte und Aromen die Stadt einzigartig. Jeder kann sich hier, im besten Sinne, an der Nase herumführen lassen - und seinen Geruchssinn schärfen. Kennmusik Sprecher vom Dienst: "Der lange Duft der Vanille" Holzminden an der Weser Eine Deutschlandrundfahrt von Klaus Wilhelm 02 Autor & Carmen & Gerda Böker Autor: Ich hab ne Dose mitgebracht Carmen: Ach, in der Dose ist der Duft. Autor: In der Dose ist der Duft. Gerda Böker: Wirklich? Carmen: Zeig mal! Da ist gar nix drin. Autor (unter durchlaufender Atmo aus 02) Mit meiner guten Freundin Carmen und ihrer Mutter Gerda, 86 Jahre alt, stehe ich in einer Vorstadtsiedlung von Holzminden. Schmucke kleine Häuser, mit Gärten, in denen Blumen blühen und emsige Menschen ihre Beete bestellen. Gerda Böker lebt seit rund 50 Jahren hier und kennt Holzminden so gut wie den Schrank in ihrem Wohnzimmer. Tochter Carmen ist hier groß geworden. 02 Autor & Carmen & Gerda Böker Carmen: Klaus, das riecht überhaupt nicht. Gerda: Das riecht nach Keksen. Autor: Kommt schon hin. Carmen Ja, so'n schwacher Keksduft. Gerda: Das ist, das ist so, nach Karamell riecht das. Zimt is es nicht. Autor: Fast. In welcher Stadt sind wir denn hier? Carmen: Son bisschen wie bei Vanillekipferl, es muss natürlich eigentlich Vanillin sein, ne Autor: In der Dose... Carmen: Vanillinzucker. Autor: ...hat schon meine Mutter Vanillezucker aufbewahrt. Carmen: ohh. Gerda: die ist schon richtig durchzogen davon. Autor: richtig. Carmen: aber man braucht nen Moment um drauf zu kommen, das ist ganz irre bei Düften. Es ist einem unheimlich vertraut aber man muss erst mal nen Moment durchschalten, was es wirklich ist. Ich find das ist auch bei Wein so. Gerda: Toll! Autor: Aber da hat schon meine Mutter... Carmen: das ist ja süß! Autor: ...vor 30 oder 40 Jahren Vanilllezucker drin gehabt. Gerda: Ahh ist n schöner Duft, ne. Autor: ja. Und die hab ich irgendwann mal mitgenommen. Und hab selber Vanillezucker reingelegt, obwohl ich gar nicht backe. Gerda: Aber das ist ein toller Duft, könnte man auch als Parfüm nehmen. Dann kriecht man ja immer Appetit, wenn einer so'n Vanillleduft hat. Autor: Vanillezucker, steht ja Dr.Oetker drauf. Gerda: jaja! Autor: Aber das Vanillin kommt ja... Gerda: von hier. Von Haarmann & Reimer. Der hat das ja erfunden. Autor Der Duft aus Holzminden ist überall. In den Windungen des Gedächtnisses vor allem. Ich erinnere mich an die Küche meiner Mutter. Wie sie delikateste Kuchen und Torten für das heilige Familienwochenende bereitet hat. Wie sie die Zutaten Stück für Stück hervorgezaubert hat. Milch, Butter, Backpulver, Mehl, Schokolade, Äpfel, Pflaumen, Mandeln, schönste Versuchungen. Und Vanillinzucker. Immer "Vanillienzucker", wie ich ihn genannt habe. Mein ganz eigener süßer Duft der Kindheit! 03 Atmo Klappern einer Duftstele XXX Autor Weltmetropole des Duftes: Dein Name ist Holzminden. 04 Gerda Böker Das ist ja auch der Slogan: "Der Duft der eine schöne Frau begleitet, wird in Holzminden zubereitet." Wussten Sie das? Autor: Nee, das wusste ich nicht. Gerda: Ja nun, so isses! Autor Selbst versierten Bildungsbürgern bleibt diese Tatsache meist verborgen. Obwohl sie von morgens bis abends Düfte und Aromen aus der 20.000-Seelen-Stadt in der Nase haben oder auf dem Gaumen spüren. Ein gewisser Wilhelm Haarmann hat hier im 19. Jahrhundert die Duftstoff- und Geschmacksindustrie erfunden. Der gebürtige Holzmindener hat es als erster geschafft, einen Aromastoff - das Vanillin - chemisch herzustellen. Zusammen mit seinem Kompagnon Karl Reimer gründete er den Prototyp aller Riechstoff-Fabriken weltweit: Haarmann & Reimer. Der Friseurmeister Carl Wilhelm Gerberding legte 1919 nach - und schuf das Konkurrenzunternehmen DRAGOCO. 2003 fusionierten beide Firmen zum Unternehmen Symrise. Ohne den Duft wäre Holzminden nichts anderes als eine hübsche Kleinstadt - kaum zu unterscheiden von den anderen 11.000 Orten dieses Zuschnitts in Deutschland. Mit dem Duft ist es auf gewisse Weise einzigartig. 05 Atmo Autos am Haarmannplatz XXX Autor Der Haarmannplatz ist so was wie die wichtigste Verkehrsader in Holzminden. Hier geht es hoch in den Solling, das angrenzende Mittelgebirge, hier geht es runter zur Weser, hier geht es zur Umgehungsstraße - erstes Kennzeichen jeder besser gestellten Kleinstadt in diesem Land. Es geht vom Haarmannplatz aber auch in die Fußgängerzone - zweites Kennzeichen jeder besser gestellten Kleinstadt in diesem Land. Am Kopf der Fußgängerzone treffe ich Christine Helms. Seit Jahren führt sie Gäste durch Holzminden. Sie lehnt sich an eine Skulptur: eine gut einen Meter lange Nase aus rötlich-bräunlichem Stein. 06 Christine Helms Hier ist unsere Nase das Symbol, mittlerweile für unsere Stadt und den Slogan: immer der Nase nach, Holzminden, die Stadt der Düfte und Aromen. Autor: In Holzminden kann man sich durch die Stadt schnuppern, sich im besten Sinne an der Nase herumführen lassen. Ein duftender Stadtrundgang. 07 Helms Das ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. Das kann man auch so sagen. Autor: Seit 2003 ist das so. 08 Helms Und damit haben wir diese Duftstelen, an denen man riechen kann und die man durch die Stadt verfolgen kann und unsere Sehenswürdigkeiten miterleben kann. Autor Vor uns steht eine dieser Stelen. Sie bestehen aus zwei Edelstahlsäulen, die in der Mitte durch eine Tafel mit Informationen zum jeweiligen Standort und zur Duftnote verbunden sind. Dadurch entsteht die Form eines H: H wie Holzminden. 18 Stück sind über die Stadt verteilt, mit unterschiedlichen Düften bestückt. Hebt man das Hütchen der rechten Säule an, klappert und duftet es. Ich treffe Karl-Heinz Bork. Er hat es gut, die stinkende Abgas-Wolke am Haarmanplatz ficht ihn nicht an: Er schaltet seinen Geruchsinn einfach ab, wenn es ihm nicht passt. Das hat er gelernt. Bork ist Parfümeur. Eine der, mit Verlaub, Top-Nasen dieser Welt. 2000 davon soll es geben. Bork hat das Parfüm der ersten Duftstele entworfen. Es heißt Ouvertüre. 09 Karl-Heinz Bork, Autor Wenn ich das Hütchen anhebe, dann sehe ich eine Ausnehmung. Und dann kann ich an dieser Ausnehmung riechen. Und dann rieche ich ein superschönes Parfüm. Was besonders frisch ist. Was auch gewisse Elemente aus dem Weserbergland hat. Es hat ein bisschen die Frische der Weser. Es ist auch eine leichte waldige, fichtige Note enthalten. Es sind auch blumige Noten enthalten. Und soll ein bisschen dieses allgemeine Weserbergland- Feeling widergeben. Autor: Herr Bork, dann will ich jetzt aber auch mal dran riechen. Bork: Ja, bitteschön! Atmo Hütchen der Stele Bork: Frisch leicht, lebhaft, natürlich, is kein schweres Parfüm. Autor: Stimmt, es ist leicht. Autor Das ganze Wesen einer Stadt und einer Region in einem Duft. Geht das überhaupt? Nun, Düfte haben viel mit Phantasie zu tun, mit Vorstellungswelten und Sinnen. Sie wirken zuweilen wie ein Versprechen, oft wie eine Illusion, der man sich allzu gerne hingeben will. Ganz sicher vertreibt dieses duftende Stadtwappen die Abgase des Haarmannplatzes aus den Tiefen der Nase. Bork ist inzwischen selbstständiger Parfümeur. Sympathisch, auch ein kleiner Show-Man. Ein, im besten Sinne, Verrückter der Gerüche. Sein blondes, schütteres Haar ist fein gescheitelt. Aus jedem seiner Worte duftet die Leidenschaft fürs Riechen - auch im 45. Jahr seines Berufes. Er verkörpert das, was Patrick Süskind in seinem Bestseller "Das Parfüm" so treffend ausdrückt: Zitator "Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als Worte, Augenschein, Gefühl und Wille. Die Überzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfüllt uns, füllt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie." Autor Gelegentlich sitzt Bork der Schalk im Nacken. In dieser Manier erzählt er davon, warum Holzminden und Duft den meisten Menschen so gar kein Begriff ist. Anders als Bayer und Leverkusen, zum Beispiel. Denn das heutige Unternehmen Symrise liefert nur zu, oft undercover: Es versorgt Firmen mit Duft- und Geschmacksstoffen, die damit ihre Produkte veredeln: Von Lebensmitteln über Duftkerzen bis Parfüme. 10 Bork & Autor Bork: Ich halte mich sehr oft in Frankreich auf. Und gut, man sieht mir ja nicht an, dass ich Parfümeur bin. Aber mit den Franzosen, mit meinem einigermaßen guten Französischsprechen: Was machen Sie überhaupt?Moi, je suis Parfümeur, Kreateur. Dann gehen die Franzosen einen Schritt zurück, ganz ehrfürchtig. Und wo kommen Sie her? Arbeiten Sie in Paris? Ja, ich habe in Paris gearbeitet. Aber ich komme aus Holzminden. En Allemagne. Aaaah, in Deutschland? Wenn ich dann besonders mutig bin, dann sage ich: Wissen Sie, ich komme aus dem größen Zentrum der Geruchs- und Geschmacksstoffindustrie - der Welt. Und die befindet sich in Deutschland im schönen Weserbergland. Und die Stadt heißt Holzminden. No no no, das kann ja wohl nicht sein. Sie machen Ihre jokes. Sie wissen ja, wie das mit Statistiken is: Es gibt keinen Ort in der Welt, wo soviele Menschen auf einem Fleck, bezogen auf die Einwohnerzahl, arbeiten an Geruchs- und Geschmacksstoffen. Autor: Also die Duftstoffindustrie in Holzminden führt so ein bisschen ein Schattendasein? Bork: Ich bin da auch gar nicht böse drum, das wird gewünscht von den Markenherstellern. Vor allem in der Parfümindustrie. Das ist eine Sache, die ich in Frankreich gelernt habe: die Vermarktung von Düften und Parfüms. Ich komm mal wieder zurück auf die Aussprache: Das ist das Parfum Jardin aus Holz-min-Deeen. Da lachen die Leute sich kaputt, ne. Wenn ich aber sage: Jardin von Dioooor. Klingt ganz anders ne. Dass da Rohstoffe aus Holzminden drin sind, interessiert niemanden. Autor Eigentlich, sagt Bork, wollte er ja kürzer treten. Aber es kämen immer mehr Leute nach Holzminden, die riechen und wissen wollen, wie das ist, mit den Düften. Jeder könne seinen Geruchssinn trainieren, um Duft bewusster wahrzunehmen. Damit tauche man tiefer ein in die Welt des Genusses! 1000 Düfte hat Bork in seiner Karriere komponiert. Inklusive seines eigenen Chanel Nr. 5, um den Charakter des berühmtesten Parfüms aller Zeiten zu begreifen. Und zu lernen. 11 Bork Denn ein Parfüm soll ja immer diffundieren, es soll riechen, es soll fliegen, es soll sich bewegen. Sondern es verändert sich. Aber es soll sich nicht abrupt verändern. Autor Wir sind ins Industriemuseum Holzmindens gewechselt. Groß ist es nicht. Es wirkt auch ein wenig kahl. Man könnte es auch liebevoller gestalten. Zumindest weist es den Weg durch den Wust der Parfüme dieser Welt. Diesen Weg kann jeder erriechen. Auf einer Dufttafel lesen wir wunderbare Begriffe: floral, oriental, chypre und fugère. Sie beschreiben die vier Duftfamilien. Es handelt sich gewissermaßen um die Klaviatur, die ein Parfümeur beherrschen muss, um darauf zu spielen. Florale Noten duften nach Blumen - Maiglöckchen, Rose, Jasmin und so weiter. Berühmtester Vertreter: Chanel Nr. 5. Oriental, das genaue Gegenteil. 12 Bork Süße, Schwere. Wenn das florale eher leicht war, dann haben wir hier eher ein schweres, volles voluminöse Parfüm. Holzig, süß, schwer, ne. Autor Chypre: herb und frisch. Für Frauen und Männer gleichermaßen geeignet. Überwiegend Herren allerdings schwören auf die vierte Duftfamilie: fougère. 13 Bork, Autor Bork: Manche sagen, das riecht richtig nach Rasierwasser. Das ist ein klassisches Herrenkonzept, basierend auf Lavendel. Atmo Bork: Und das sind die 4 Grundkonzepte, die wir ständig neu variieren. Auch mit neuen Rohstoffen. Aber die Konzepte bleiben gleich, geben aber genug Spielraum, um ständig was neues zu entdecken. Atmo Mein Favorit ist: oriental. Alles, was Sie sagen über Duftpräferenz: Sie können es nie falsch sagen. Autor Auf dem Weg zurück zum Haarmannplatz allerdings rümpft Bork die Nase. Eine Parfümerie. 14 Bork, Autor (flüsternd, gedämpft) Autor: Ja, das ist aber auch ein Schwall immer. Bork: Weil sehr viel gesprüht wird. Autor: Ist das anstrengend für Sie als Parfümeur? Bork (flüsternd) Nö, ich bin nur ein bisschen ärgerlich, wiel vieles so billig riecht für mich Autor: Aber viele von den Parfümen hier könnten doch hierher gekommen sein, aus Holzminden. Bork: Jaja, im weitesten Sinne über den Umweg aus Paris. Ich will nicht so sehr über Marken sprechen. Boss und so. Alte Bekannte für mich. Autor: Also in Holzminden gemacht, aus Holzminden raus und wieder hierher. Bork: Also der Weg ist ein bisschen anders. Junge talentierte Parfümeure aus Holzminden werden nach Frankreich geschickt, nach Paris, um da zusammen mit Franzosen das zu entwickeln, mit den Rohstoffen aus Holzminden, in einer schönen Verpackung. Und das wird dann international vermarktet. Autor: Das ist ja ein schöner Kreislauf. Bork: Ja, den habe ich auch gerne mitgemacht. Tschüüs, wiedersehen. 01 Musik 15 Atmo Autor Holzminden: ein 20.000 Seelen-Städtchen, in alle Richtungen eine Auto-Stunde entfernt von dem, was sich Großstadt nennt. Hier und da sieht man ein paar leere Schaufenster. Doch insgesamt scheint es dem Ort - verglichen mit anderen ländlichen Regionen - gut zu gehen. Das liegt an Stiebel Eltron, das liegt vor allem an der Duft- und Geschmacksstoffindustrie. 16 Atmo Marktplatz Autor Diese Stadt und ihre Geschichte will ich mit der Stadtführerin Christine Helms näher erkunden - oder erduften. Wir stehen am Marktplatz von Holzminden. Sobald, wie jetzt, die Sonne nur halbwegs vom Himmel scheint und die Temperaturen halbwegs stimmen, strömen Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer von allen Seiten auf ihn ein, um sich ein kleines Stück Dolce Vita zu ergattern. Das ist leicht, weil einschlägige Eis- und Pizzamacher aus Italien sich hier fest eingebürgert haben. Das ist auch leicht wegen des südländischen Flairs, das über dem Marktplatz liegt wie eine Hoffnung auf den nächsten Urlaub - einer der schönsten Marktplätze Deutschlands, wie Einheimische Stein auf Bein behaupten. 17 Christine Helms Auf jeden Fall. Es ist ein wirklich angenehmer, gemütlicher Platz, der sehr viel Atmosphäre hat. Ein Rechteck, umrandet mit Platanen, die so bisschen wie ein Dach geschnitten sind. Wenn es hier dunkel wird, dann leuchten die Lichterketten, die in den Platanen angebracht sind. In der Mitte steht ein großer Sandsteinbrunnen. In diesem Brunnen baden übrigens heute noch die Absolventen der Fachhochschule nach dem Meisterumzug. Autor Es duftet, logisch, international. Genau da, wo gerade ein üppiger Hund seinem Besitzer, Tatsache, das Vanilleeis weg lutscht, steht die nächste Duftstele. 18 Atmo Klappern der Duftstele Autor Feuchte und holzige Noten ziehen in die Nase. Es riecht ein bisschen nach Kartoffelkeller, für diejenigen unter Ihnen, die diesen Duft kennen. Aber nicht modrig-unangenehm. Ich spüre dieses leicht schummrige Gefühl, das durch den Kopf schießt bei Düften, die fast drogenartig betören. Es ist Patchouli. Sofort wieder Schimmer im Gedächtnis, die plötzlich hell leuchten. Patchouli-Schwaden, so dicht wie November-Nebel in London, waberten durch jede Hippie-Wohnung in den 1970er Jahren. Ich erinnere mich an eine Land-Kommune, die ich damals öfter besucht habe. An ein Mädchen mit langem schwarzen, gewellten Haar und dem Gesicht einer Indianerin, in die ich unsterblich verknallt war. Pocahontas! An den Hobbykeller der Eltern eines Freundes, in denen üble Getränke nachgerade vernichtet wurden: Apfelkorn und Kümmerling. Und Persico. Kennt noch jemand Persico? Und an die Musik, die damals die Nachbarn aus dem Tiefschlaf weckte. 02 Musik Led Zeppelin, Since I've been loving you (antippen - ca. 0'20) Autor Aus dem schwelgerischen Duft der Jugend zurückzukehren in die Wirklichkeit des Marktplatzes Holzminden, ist fast kriminell. Aber: Es wartet der Ackerbürger. Eine überlebensgroße Figur aus Bronzeguss. 19 Christine Helms Das ist unser Ackerbürger. Und der sitzt hier an unserem Marktplatz und trinkt sein Bier, isst sein Brot und hat einen Sack Kartoffeln hinter sich stehen, den er vielleicht auf dem Markt hier verkaufen wollte. Ackerbürger, so nennt man auch unser Stadt: die Ackerbürger-Stadt. Das heißt: Bei uns in der Stadt haben Bauern gelebt, die außerhalb der Stadt ihre Äcker bewirtschafteten und ihr Vieh zur Weide schickten. Und je nachdem, wo das Vieh zur Weide ging, kamen die jeden Abend oder nur zum Winter wieder hier in die Stadt mit ins Haus. Das heißt, Mensch und Tier wohnten unter einem Dach in einem Ackerbürgerhaus. Autor Fröhlich wirkt er nicht, der Ackerbürger. Eher depressiv und muffelig. In der harschen Gesellschaft des Mittelalters mussten die unfreien Bauern einen Teil ihrer Erträge an den sogenannten Lehnsherrn abgeben. Ein unschöner Zustand, gelinde gesagt, dem die Ackerbürger mit einem Trick entkamen. In den meisten damaligen Städten bekamen Menschen die Bürgerrechte, nachdem sie ein Jahr und einen Tag innerhalb der Stadtgrenzen wohnten. So wurden sie frei und unabhängig vom Lehnsherrn. 20 Atmo Gehen Autor Überall in der Altstadt Holzmindens begegnen einem die typischen Fachwerkhäuser dieser besonderen Bauern. Sie wirken zuweilen, als hätte man oben aufs Dach gehauen und sie in die Breite gedrückt. Zu erkennen sind sie an der oben abgerundeten Toreinfahrt. Einige wenige aber sind üppig verziert mit Spruchbändern, die vom strengen Protestantentum ihrer einstigen Bewohner zeugen. Da sind Dinge zu lesen wie "Nähre Dich redlich" oder "Wer Gottes Freund ist, der ist der Welt Feind." Da läuft es einem eiskalt den Rücken runter. 21 Helms & Autor Also, ein wirklich großes Ackerbürgerhaus, eine sehr schöne Diele, wo man auch sehr schön noch die Sandsteine als Fußbodenbelag erkennen kann. Und was hier auch sehr schön zu sehen ist: Es gibt gar keine Treppe in den zweiten Stock. Das heißt, wenn ich schlafen gehen wollte und ich hatte vielleicht hier oben meine Schlafräume, dann musste ich über meine Leiter. Autor: Und eine Leiter hängt ja auch hier noch, zwei sind es sogar. Helms: Schön zu sehen ist hier auch ein Sandsteintrog, ein Viehtrog. Das heißt, hier wurde Futter rein gemacht. Der Sandstein ist nicht nur als Häuserverhangplatte oder als Dacheindeckung benutzt worden. Man hat damit Fußboden gemacht, Tröge, Blumenkästen, Zäune, Sockel von Häusern. Ein wirklich wichtiger Stein hier bei uns. Autor Dieser Sandstein wurde - und wird - seit Jahrhunderten im Solling abgebaut. Mit seiner rötlich-braunen Farbe verleiht er noch heute manchen Häusern ein charakteristisches Kleid. Der Handel mit dem Solling-Sandstein war eine der ersten Industrien in Holzminden. Dazu werkelte der Ackerbürger noch fleißig in der Stadt. Was im Übrigen fürchterlich gestunken haben muss. 22 Helms In der Stadt wird's zum Teil sehr gerochen haben. Diese Ställe im Haus und der Mist, der produziert wurde. Auf den Straßen liefen eben noch Gänse rum und ähnliches. 02 Musik Zeppelin ausgespielt Atmo Fluß (Archiv) Autor Mit Christine Helms gehe ich hinunter zur Weser, der ewigen Seele der Stadt. Unser Weg führt vorbei am Reichspräsidentenhaus, das die Holzmindener in den 1920er Jahren zu Ehren des Reichspräsidenten Friedrich Ebert bauten. Es ist ein Torhaus und verbindet die, na, nennen wir es Neustadt Holzmindens mit der Altstadt. Autos fahren hindurch. Das Torhaus ist schmal und hoch gebaut, mit einem Türmchen oben drauf. Einigkeit und Recht und Freiheit lesen wir in großen Lettern. Aktueller denn je! 23 Atmo Glockenspiel Autor Täglich vier Mal erklingt hier ein Glockenspiel. 23 Atmo Glockenspiel Autor Nicht mehr ganz taufrisch im Ton, aber heiß geliebt von Einheimischen und Gästen. 23 Atmo Glockenspiel Autor Nicht weit weg: ein Haus, das symbolhaft für eine neue Zeit in Holzminden - und für die Welt - steht: die Begründung der Duft- und Geschmacksstoffindustrie. In diesem prächtigen Haus wurde 1847 Wilhelm Haarmann geboren. Der Erfinder des Vanillins. Der erste chemisch hergestellte Aromastoff der Welt. Damals eine Sensation, die es bis auf die Weltausstellung in den USA schaffte. 24 Atmo und Autor So, und am Haus von Wilhelm Haarmann riechen wir jetzt ausgerechnet die Bratzwiebel. Helms: Ja, Ich ordne das nicht dem Geburtshaus von Wilhelm Haarman zu, sondern dem Hotel. Wir sehen hier auch noch ein Hotel, wo vorher eine Jugendherberge gestanden hat. Und ich persönlich, wenn ich an Jugendherbergen in meiner Kindheit denke, denke ich immer an Kohl und Zwiebel. Und vielleicht passt es ja besser zur Jugendherberge. Atmo Klappern der Stele Autor: Is schon ein strenger Geruch. Autor Mit Entwicklung der Firma wechselte im Laufe der Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts auch der Geruch in Holzminden. Peu a Peu verschwand der Ackerbürger aus der Stadt - und mit ihm der bäuerliche Duft nach Mist und Gülle. Peu a peu bekam Holzminden den Geruch der beiden Duft- und Geschmacksstoffunternehmen, die sich entwickelten. Daran erinnern sich die 86jährige Holzmindenerin Gerda Böker und ihre Tochter Carmen. Nicht immer hing über Holzminden eine Duftglocke, die so bezaubert wie das Bouquet von Chanel Nr. 5. 25 Gerda Böker, Carmen, Autor Gerda: Wenn es so nach Gewürzen riecht oder so, ist es auch streng, weil die ja jetzt auch viel so die Zwiebeln und den Sellerie die ganzen Gewürzen verbrauchen, aber wenn sie soviel Zwiebeln haben oder so, denn riecht das ganz intensiv. Carmen: Also ich glaub, sie haben heute auch bessere Luftfilter. Aus meiner kindheit, so aus den 70er Jahren.. Gerda: Die haben auch viel gemacht. Die haben auch ganz viel gemacht, ist schon klar. Carmen: Also das ist dann manchmal lustig, weil der Wechsel so krass ist, dann haste den einen Tag dieses Röstzwiebel-Aroma gehabt, was so ganz intensiv war, dann ist man natürlich mit Appetit nach Hause geradelt und hat sich aufs Mittagessen gefreut, und am nächsten Tag haben sie dann wieder an irgendeinem Duftstoff gewerkelt und haben den dann in größeren Mengen hergestellt, dann hattste einmal Röstzwiebeln und einmal Veilchenduft (Mama: jaja!) in raschem Wechsel, und du hattest halt oft son Dufthauch, aber eben so oft sinds auch Aromastoffe gewesen, die irgendwie, mit, ja mit Suppen, Soßen etc. etc. zu tun hatten. Also Röstzwiebeln sind ja, glaube ich, so ne Aromagrundlage bei ganz vielen. Mit Zwiebeln haben sie hier ganz viel gemacht. Gerda: Manchmal riecht es denn auch nach Pfefferminze, also mehr so kräutermäßig, ne auch wieder. Das ist ja schon kräftiger, das ist dann schon "4812"! Carmen: (lacht!) Mama: Ja! Autor: Das heisst, wenn man in Holzminden aufwächst kann man dem Duft gar nicht entgehen? Gerda: hm, ne, man nimmt ihn ja nicht immer wahr. Vielleicht schwebt erimmer son bisschen drüber. Manchmal is auch gar nichts. Also die haben schon viel mit dem Filtern gemacht vor Jahren, ne. 03 Musik 26 Atmo Park und Glockengeläut Autor Es wird Zeit, sich der heutigen Firma Symrise und Wilhelm Haarmann, dem Begründer der Duftstoff- und Geschmacksindustrie, zu nähern. Um etwas mehr über den Mann zu erfahren, treffe ich Stadtarchivar Matthias Seeliger. Symrise und das Stadtarchiv von Matthias Seeliger sind fast benachbart. Eine alte Villa, große Treppen. 27 Atmo Schritte und Frau die den Weg weist Atemgeräuschen des Autors. Frau: So, jetzt rechts die Tür Klaus: Da ist das Stadt-Archiv Frau: Da ist das Stadt-Archiv. Klaus Dankeschön. Schritte. Autor: Herr Dr. Seeliger, Wilhelm, ich grüsse Sie! Seeliger: Kommen Sie, erst mal gucken, was Sie eigentlich suchen jetzt. Autor Muss es in alten Archiven immer wirklich nach altem Archiv riechen? Ich meine, so ein bisschen muffig und staubig? Ist das nicht ein Klischee? Vielleicht aber ist meine Nase nach drei Tagen Riechen in Holzminden nur fitter denn je. 27 Atmo Laufgeräusche, Aktenschrank wird geöffnet. (diese Atmo ist am Ende von Atmo 27) Autor Seeliger öffnet einen Aktenschrank und kramt in ein paar Dokumenten zum Thema. Die Familie Wilhelm Haarmanns, sagt er, hat Holzminden schon im frühen 19. Jahrhundert geprägt. 28 Matthias Seeliger Also die Familie war auch im Steinhandel wichtig. Sie spielen bei der Gründung der heutigen Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst ne Rolle, da eben im 18. Jahrhundert und frühem 19. Jahrhundert. Mitglieder der Familie unter anderm hier im Forstwesen und im Bauwesen tätig waren also in Landesherrlichen Diensten. Die Familie hat ne Menge in Holzminden bewegt. Autor Wilhelm Haarmann besaß ein seltenes experimentelles Geschick - und eine unerschütterliche Geduld, wie sein Biograf Björn Bernhard Kuhse schreibt. Mit einem Stoff aus dem Rindensaft von Nadelbäumen, dem Coniferin, startete Haarmann seine Experimente. 1873 schließlich gelang ihm die Herstellung von Vanillin aus Coniferin. Vanillin! Es war damit erstmals einem Chemiker gelungen, einen Naturstoff synthetisch im Labor zu produzieren. Ein Riechstoff obendrein. Eine Sensation! Schon damals war die Welt verrückt nach Vanille. Und bezahlte irre Summen für Vanilleschoten aus fernen Ländern, nur um ihrem Geruch und Geschmack zu huldigen. 29 Seeliger Ja, er war begeisterter Chemiker, zunächst mal. Aber auch geschäftstüchtig, also er hatte beides so in einer Person vereint. Im Grunde, dass er aus Holzminden stammt, das ist auch, fast würde ich sagen, Zufall, dass er dann die Industrie nach Holzminden wieder gebracht hat, weil er zurückgekommen ist. Er hat seine Erfindung ja nicht hier in Holzminden gemacht, sondern in Berlin. Aber er hat seine Firma dann hier vor Ort im Familienkreis, hätt ich fast gesagt, gegründet. Und dadurch ist Holzminden der Standort dieser Industrie geworden. Autor In einem Schuppen auf dem Gelände einer ehemaligen Schleifmühle gründete der Chemiker 1874 die Vanillin- Fabrik Dr. Wilhelm Haarmann. Doch die Produktion lief stockend. Die Entrepreneure verschlangen Massen an Nadelbäumen, um ein paar Kilo Vanillin zu gewinnen. Längst konnten die Wälder des nahen Solling nicht mehr den nötigen Nachschub liefern. 30 Seeliger Er hat ja das Coniferin, was er am Anfang verwendet, hat er für die Vanillinproduktion im Schwarzwald auch gewonnen. Da such ich immer noch die Tüte mit dem ersten Vanillin, die hat er seinerzeit an die Verwaltung in Baden geschickt, da, in den Akten ist das nachweisbar, aber die Tüte ist nicht mehr da. Autor Das Geschäft begann aber erst zu brummen, als die Chemiker das leicht verfügbare Nelkenöl als Rohstoff für Vanillin nutzen konnten. Bald wurden auch andere Riechstoffe, zum Beispiel der des Veilchens, in Holzminden produziert. Kurz darauf schloss sich das Unternehmen mit einem französischen Partner zusammen und expandierte. Um das Jahr 1900 beschäftigte die Firma schon 78 Leute. 1891 aber zog Wilhelm Haarmann samt Familie von Holzminden ins benachbarte Höxter um - in eine schillernde Villa, die noch heute steht. 31 Seeliger, Autor Da hat er sich mit der Stadt überworfen, ja. Bis heute nicht ganz geklärt, was da eigentlich passiert ist. Ich habe also auch hier im Stadtarchiv keine Quellen die das wirklich genau erkennen lassen. Es ging da um Geld und Machtfragen, und naja, wie das so ist. Autor: Aber die Firma hat er hiergelassen. Seeliger: Die Firma hat er hiergelassen, das ist auch gut für uns! 04 Musik 32 Atmo Autor Symrise! Die Keimzelle im deutschen Mekka der Duft- und Geschmacksstoffindustrie. Was hier mit und aus den Düften und Aromen entsteht, will ich genauer erkunden. Ich halte meine Nase gegen den Wind und rieche erstaunlicherweise: nichts. Außer frischer Sollingluft. Fünf Minuten später ändert sich das schlagartig. 33 Christina Witter Witter: Das ist die natürliche Aromenproduktion Hier werden die ganzen Orangensäfte, Kirschsäfte, Vanille, wie auch immer zu Aromen verarbeitet. 32 Atmo Autor Es duftet so, als seien drei Millionen Flaschen mit Fruchtsäften auf einen Schlag ausgelaufen. Komischerweise nicht unangenehm. Mit Christina Witter von der Unternehmens-PR schlendere ich über das Werksgelände. Es erstreckt sich über die Größe etlicher Fußballfelder. Wir sind umrahmt von Fabrikgebäuden und teilweise riesigen Kesseln. Ganze Generationen von Familien schaffen beim größten Arbeitgeber Holzmindens. 2500 Leute bei 20.000 Einwohnern. Wir besuchen die Abteilung Süßwaren. Genauer gesagt: Aromastoffe für Bonbons, Schokoladen, Lutscher, Kaugummis, Kuchen, Kekse und so weiter. Im Labor werkelt der Flavorist Rüdiger Hupe. 34 Atmo und O-Ton Rüdiger Hupe Also gerade im Moment nehme ich halt einen Pilzgeruch wahr. Ist zwar jetzt nichts, was man mit Süßwaren direkt vereinigen würde, aber ich weiß, dass die Kollegin hier gerade ein paar Lösungen ansetzt, von dem Stoff der halt auch so nach Pilz riecht. Deswegen, also, das hier ist das Entwicklungslabor. Hier werden verschiedenste Aromen entwickelt. Für den Süßwarenbereich sage ich mal alles von Apfel bis Zimt. Für den würzigen oder vielleicht den Mintbereich, die sind in andere Labore aufgeteilt, weil das einfach durch Kontamination zu Fehlgeschmäckern kommen könnte. Autor Aha: Fehlgeschmäcker also. Im Prinzip läuft es so: Aus aller Welt bekommen die Holzmindener ihre Aufträge. Zum Beispiel jüngst aus dem Senegal. Vorgabe: einen Lutscher mit dem typischen Geschmack der dort heimischen Madé-Frucht zu entwickeln. Dann ist die Frage: Wie lässt sich dieses natürliche Aroma auf eine Süßware übertragen? Der Aromastoff macht letzten Endes nur einen winzigen Bruchteil des Produktes aus. Aber den entscheidenden, wie zumindest Geschmacksexperten versichern. 50 Prozent der Kaufentscheidung für ein Lebensmittel hängen vom Geschmack ab. Der Flavorist mischt dann im Labor das Aroma zusammen, das, in diesem Falle, die Kinder im Senegal begeistern könnte. 35 Atmo Reagenzgläseratmo mit leichtem Murmeln und Hupe Autor: Sie haben ja alles Mögliche hier drin, von Thymian bis... Herr Hupe: Ja, [Salbei] je nachdem, welche Geschmacksrichtungen erzielt werden sollen, greifen wir halt auf natürliche Rohstoffe mit zurück. Weil, ich sag mal so, der beste Flavorist ist die Natur, eigentlich Das ist ja das, was wir halt nachbauen werden, oder nachbauen müssen, halt. Wenn es darum geht den Geschmack in einem Produkt zu erzielen. Atmo Autor Dann wird verkostet. Fünf, sechs, sieben, acht Leute schmecken - und riechen. Denn ohne den Geruchssinn ist der Geschmackssinn ein fades Nichts. Lutschen Sie mal auf einem Fruchtbonbon und halten sich die Nase dabei zu, dann merken Sie das sehr schnell. Die Verkoster also probieren und evaluieren - blind! Binnen zwei Wochen ist ein Auftragsprojekt normalerweise abgeschlossen. 36 Hupe Das wichtige dabei ist halt, dass man einen guten Sinn für Geschmack haben muss. Am Ende muss man ein Aroma kreiert haben, was stimmig schmeckt. Es darf keine Note herausstechen, es darf aber auch keine Note fehlen. Das ist so das Fingerspitzengefühl, was wir haben müssen, hier bei Symrise. Autor Hupe schwärmt von der Feinheit und Vielfalt der Rohstoffe. Allein von der Vanille sind es ein paar Dutzend oder so. Manche sprechen gar von einem Vanille-Alphabet. 37 Hupe, Autor Hupe: Alphabet würde ich es vielleicht jetzt nicht so nennen. Also ich würde von Geschmacksbeschreibung reden. Autor: Was heißt das? Hupe: Je höher konzentriert so ein Extrakt konzentriert ist, je vanillinige Noten hat man und umso weniger es konzentriert ist, umso fruchtigere Noten kommen raus. Ich kann gerne mal zwei, drei zusammenstellen, dann können wir da mal draufriechen? Autor: Sehr gerne Atmo lange, kann man durchlaufen lassen Autor Binnen fünf Minuten zaubert der Flavorist fünf Vanille-Extrakte aus dem Hut und tunkt damit kleine Riechstreifen, die sich unterschiedlich dunkel verfärben. Und die tatsächlich selbst für einen blutigen Anfänger in Nuancen anders riechen. Von einem leicht rumartigen, fruchtigen Aroma bis zum vollen Vanille-Flavour. Und bis zum Vanillin. 38 Atmo und Hupe, Autor Autor: Erinnert mich an den Laden meines Vaters, der hat den Vanillinzucker verkauft Das ist ja das Schöne, im Duft sind ja viele Erinnerungen gespeichert, ne? Hupe: Ja, auf jeden Fall. An sich ist ja die Geschmackswahrnehmung ein sehr komplexes Feld. Das, was im Endeffekt jetzt intuitiv funktioniert, sag ich mal: Man sieht das Produkt, sei es jetzt das Bonbon oder den Kuchen und denkt, oh, das sieht gut aus, da beiß ich mal von ab, läuft im Hintergrund halt ein unheimliches Feld ab, was alles abgefragt wird. Die Geschmacksrichtungen, die man vielleicht kennt. Hat man gute Erfahrungen damit gemacht, hat man schlechte Erfahrungen gemacht, ist die Farbe überhaupt ansprechend? Wenn ich da jetzt ein blaues Bonbon habe, bin ich vielleicht eher noch ein bisschen skeptischer als wenn ich irgendwie ein rotes oder ein grünes habe, weil ich denke das ist eine Fruchtrichtung, die ich vielleicht mag. Sei es der Apfel oder die Erdbeere. Gesundheitszustand fließt da noch mit rein. Also es ist ein unheimlich breites Spektrum, was die Geschmackswahrnehmung angeht. Würden Sie sagen, dass die Vanille immer noch die Königin der Aromen ist? Hupe: Ja! Ich sag mal so, die Hauptgeschmacksrichtung so für süß gesprochen. Vanille ist eigentlich immer der Dauerrenner. Apfel, Banane, Erdbeere, das sind halt die, die so folgen, und Vanille ist als einzige Geschmacksrichtung die größte, wirklich. Autor Der lange Atem des Vanillins! Tatsächlich werden in Holzminden Geschmacks- und Dufttrends gesetzt. 39 Tanja Schumacher Ich würde nicht so weit gehen, dass wir das Leben besser oder schlechter machen. Aber wenn man sich mal überlegt, wo Duft überall vorkommt. Es fängt ja morgens beim Duschgel schon an. Duschgel, Shampoo. Dann teilweise noch Rasierschaum. Man hat Haarspray. Auch bei den Kosmetika, die wir Frauen auftragen, da ist überall Duft drin. Wir berühren schon die Leben, würde ich sagen. Autor Tanja Schumacher hat vor zwei Jahren die Ausbildung zur Parfümeurin bei Symrise abgeschlossen. Sie hat gerade, wie sie sagt, 30 bis 40 Projekte auf dem Tisch. In der Mehrzahl allerdings nicht für mondäne Parfümnoten, sondern für Seifen, Duschgele, Waschmittel. Und. So. weiter. 40 Atmo und Schumacher, Autor Schumacher: Bereit? Für unsere (Tür wird geöffnet) Duftkabinen! (leise) Autor: Duftkabinen? Das sind Toiletten! Schumacher: Das sind nicht nur Toiletten. Das sind Toiletten in kleinen genormten Kabinen. Die Toiletten werden vollautomatisch gespült, und die gesamten Kabinen vollautomatisch belüftet, entlüftet, durchlüftet. Und hier kann man eben ganz viele verschiedene Sachen testen. Man kann den, wir sagen immer den Raum- Impact, von einem Air-Care Produkt messen. Autor: von einem was? Schumacher: Air-care Produkt. Also Lufterfrischer. Gibt es ganz verschiedene auf dem Markt. Und hier wird dann getestet, wie stark sind sie, können sie oder sind sie eben stark genug, um sie an den Kunden zu geben? Und natürlich können hier auch Klosteine getestet werden, das heißt, man hängst den Klostein rein, so wie zu Hause auch, dann wird vollautomatisch gespült, mit einem Computerprogramm, und dann kommen die Evaluatoren und Parfumeure, machen hier die Klappe auf, riechen, können den Kopf reinhalten riechen und gehen zur nächsten Kabine. Und können so eben auch verschiedene Produkte miteinander vergleichen. Autor Und selbst und gerade in der Toilette sind die Duft-Vorlieben kulturell sehr unterschiedlich. Deutsche stehen beispielsweise auf Zitrone und Fichte, Inder auf Jasmin und Sandelholz. 41 Atmo Stadt außen Autor Holzminden: Stadt der Düfte und Aromen. Viel High-Tech ist inzwischen dabei, Chemie auch - und ein kleiner Rest Magie, das je ne sais pas quoi, das manchen Duft und manches Aroma in Herz und Seele gleiten lässt. Oder schlicht, um auf den Boden der harten Tatsachen zurückzukehren, einen Geruch überdeckt, den man auf keinen Fall in der Nase haben will. 42 Atmo Haarmannplatz (hängt an O-Ton 42) Autor Mit dem altgedienten Parfümeur Karl-Heinz Bork bin ich zum Haarmannplatz zurückgekehrt. Die Leidenschaft für verrückte Duft-Ideen lässt ihn nicht los. Fast hätte er das Duftkino erfunden. 43 Bork Ich habe mal an einer Technik gearbeitet, wo wir es geschafft haben, Fernsehspots - das waren am Anfang Werbespots - riechend zu machen. Die Grundidee war: Sie sitzen am Abend schön in ihrem Sessel, stellen den Fernseher an und sagen: Naja, schon wieder Werbung. Und wenn ich Ihnen vorher ein Gerät verkauft habe, was Sie hier am Körper tragen können. Und das ist bestückt mit den entsprechenden Düften, nach Coca Cola, nach Vanilleeis und nach Aprilfrische, dann konnten wir diese Düfte, die Sie im Fernsehen oder auch im Rundfunk hörten sahen, riechend machen. Das war nur ne unwahrscheinlich teure Technik. Und deswegen ist sie nicht zu einem guten Geschäft gekommen. Autor Wir riechen an der Duftstele mit Vanillin, der Duft, der auch Bork nicht los lässt. 44 Bork, Autor Ich bin zur Zeit dabei, einen Duft zu entwickeln, den ich zusammen mit einer Künstlerin mache. Der Duft soll nach Vertrauen, Liebe, Zuneigung riechen. Autor: Jetzt wagen Sie sich aber an die ganz großen Themen ran! Bork: Ja, lacht, klar, es gibt ja immer wieder neue Herausforderungen. Und da spielt Vanillin ne ganz große Rolle.