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Er war 1992 Oberbürgermeister der Stadt Erfurt. Manfred Ruge ?Wenn Sie überlegen, was nach einem solchen Amoklauf alles für Sonntagsreden, wenn wenigstens die Hälfte von dem mal Realität wird, dann wäre es schon viel, aber es ist wenig geschehen.? SPRECHERIN Wissenschaftler in den USA und Deutschland erarbeiten seit den 90er Jahren Methoden zur Prävention von Amokläufen. Doch Mythen, die in Politik und Gesellschaft verwurzelt sind, erschweren bis heute die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Amok. Jens Hoffmann ?Mythos 1: Amoktaten sind spontane Aussetzer, Leute rasten aus. Das heißt, ich kann es eigentlich nicht vorhersagen, nicht erkennen. Das ist falsch.? SPRECHERIN Jens Hoffmann ist Psychologe und Amokforscher an der Universität Darmstadt, einem der Zentren für Amokforschung in Deutschland. Mythos Nummer zwei: Amokläufer hätten ein bestimmtes soziales Profil. Stimmt nicht, sagt der Wissenschaftler. Jens Hoffmann ?Wir haben alles, wir haben gute Familienstrukturen, wir haben problematische. Wir haben Mittel/Ober/Unterschicht. Es gibt kein Profil.? SPRECHERIN Jens Hoffmann hat viele Erkenntnisse über Amokläufer zusammengetragen. Er leitet ein Projekt zur Früherkennung. Mythos Nummer 3, so Hoffman: Jens Hoffmann ?Ein weiterer Punkt ist der berühmte Mythos, Gewalt passiert woanders, aber nicht hier.? SPRECHERIN Eine trügerische Hoffung, wie die fassungslose Aussage eines deutschen Studenten in Blacksburg zeigt: Student ?Es ist eigentlich ein sehr kleines idyllisches Dörfchen, das fast nur aus Studenten besteht, und wirklich ein sehr schöner Ort zum Leben.? SPRECHERIN Amoktäter können überall auftauchen, und sie planen ihre Tat genau. Oft agieren sie dann erstaunlich ruhig. Auf dem Videoband der Überwachungskamera aus der Schulkantine der Columbine High-School wirkten die beiden jugendlichen Täter völlig entspannt, nachdem sie zwölf Mitschüler und einen Lehrer ermordet hatten, kurz bevor sie sich selbst töteten. Überlebende des Massakers an der Technischen Hochschule in Virginia berichten, der Täter habe seine beiden Pistolen in aller Ruhe mehrfach nachgeladen, völlig emotionslos und kalt. Ein Amoklauf ist nicht blindwütig, er ist der Endpunkt eines sehr langen Prozesses mit vielen Stufen. Diese Erkenntnis ist vor allem im Hinblick auf mögliche Präventions- und Interventionsansätze wichtig. Jens Hoffmann ?Es steht niemand morgens auf und sagt, ich werde einen Amoklauf machen. Diese Taten sind immer, und wir haben alle deutschen Fälle ausgewertet, sehr intensiv, Ende eines Prozesses. Am Anfang steht ein Missstand, irgendwas ist nicht in Ordnung, ich fühle mich gekränkt, benachteiligt, Opfer von Mobbing. Ich fange an zu brüten, die können das nicht hinter sich lassen, wie wir einen Missstand hinter uns lassen können. Gewalt erscheint als Option. Sie identifizieren sich mit realen Gewalttätern wie anderen Amokläufern, oder sie gehen in Medien rein und identifizieren sich mit Helden aus Filmen. Bis sie dann anfangen zu planen und Vorbereitungen zu machen. Am Ende kommt noch eine letzte Kränkung hinzu, beispielsweise eine Zurückweisung von einem Mädchen, oder aber wie in Emsdetten ein wichtiger Termin. Bei ihm war es eine Gerichtsverhandlung, wo es um seine Waffen ging, die ihm sehr wichtig waren. Und dieses Gebräu, diesen Weg, wobei jeder Schritt eindeutige Verhaltensindikatoren hat gehen die alle, sie müssen sie gehen.? SPRECHERIN Auch Sebastian B., der Amoktäter von Emsdetten, hat diesen Prozess durchgemacht. In seinem Abschiedsbrief heißt es: ZITATOR Ein Großteil meiner Rache wird sich auf das Lehrpersonal richten, denn das sind Menschen, die gegen meinen Willen in mein Leben eingegriffen haben und geholfen haben, mich dahin zu stellen, wo ich jetzt stehe: auf dem Schlachtfeld! Diese Lehrer befinden sich so gut wie alle noch auf dieser verdammten Schule. SPRECHERIN Charakteristisch für fast alle Bluttaten ist, dass die Opfer, die Zielpersonen, für den Amokläufer eine symbolische Qualität besitzen, so der Psychologe Jens Hoffmann von der Uni Darmstadt. Jens Hoffmann ?Diese Amokläufer haben immer vorher eine Art Zielschema. In Emsdetten beispielsweise, der hat das relativ breit gestreut. Wir wissen in Erfurt, dass Steinhäuser nur auf Lehrer schießen wollte. Er hat Schüler durch eine Tür erschossen, das hat er nicht gesehen, und einen Polizisten attackiert, der ihn gestört hat, das sind typische Muster, so dass wir immer sehen müssen, ob das direkte Ziele sind oder ob die Lehrer vielleicht für eine verhasste Autorität oder Benachteiligung stehen oder die ganze Schule als System. Aber sie haben vorher immer im Visier, wen sie angreifen werden. Real oder symbolisch als Gruppe.? SPRECHERIN Bisher wurden die allermeisten Taten von männlichen Jugendlichen verübt. Jens Hoffmann ?Der interessante Aspekt ist ja daran, dass es nicht so häufig Hauptschulen oder in Amerika Schulen sozialer Brennpunkte trifft. Da sind Konflikte vorher erkennbar. Man kann vermuten, wir haben es auch hier in Deutschland häufig in Mittelschichten- und Oberschichteneinrichtungen, dass praktisch da die Erwartungen des Aufstiegs, eines gesellschaftlichen Erfolgs, trotz aller gesellschaftlicher Umbrüche ist die männliche Rolle immer noch mit einer Ernährer- oder Macherrolle verbunden. Dass aus diesem System, aus dieser Kultur rauszufallen, vielleicht eine ganz andere Bedrohung der männlichen Identität darstellt. Die Jungs, die unten sind, wissen, sie können gesellschaftlich nichts werden, die müssen sich andere Wege suchen. Die da oben, wenn sie fallen, haben sie eine unheimlich hohe Fallhöhe und sind von ganz viel isoliert.? SPRECHERIN Für den bekannten Jugendpsychologen und Therapeuten Wolfgang Bergmann aus Hannover ist das kulturgeschichtlich bedingt, aber es wird sich ändern, so seine Auffassung. Wolfgang Bergmann ?Wir beobachten aber, dass die Gewalttätigkeit mit derselben Hemmungslosigkeit auch bei den Mädchen zunimmt, so wie wir umgekehrt auch beobachten, dass die Magersucht und die Selbstverletzung bei den Jungen zunehmen. Der Unterschied verwischt allmählich. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass schon in einer sehr nahen Zukunft von fünf bis zehn Jahren wir auch den ersten weiblichen Amoklauf haben.? SPRECHERIN Zu den renommiertesten Gewaltforschern in Deutschland gehört Wilhelm Heitmeyer. 1996 gründete er in Bielefeld ein eigenes Institut für Konfliktforschung. Als Hauptgrund für die extreme Gewaltbereitschaft mancher Jugendlicher sieht er ein enormes Defizit an Anerkennung. Wilhelm Heitmeyer ?Fehlende Anerkennung ist eine Summe mangelnder sozialer Integration und sozialer Unterstützung. Anerkennung geht ja davon aus, dass ich Antworten darauf bekomme: erstens, wer bin ich, zweitens, wer braucht mich, und auf solche Fragen und natürlich noch, wozu gehöre ich eigentlich, bekommen zahlreiche Jugendliche keine Antwort mehr. Und da auf Dauer niemand ohne Anerkennung leben kann, ist die Frage, wie komme ich zu einer positiven Anerkennungsbilanz, die ja auch mein eigenes Selbstwertgefühl stabilisiert oder aufbaut.? SPRECHERIN Diese Anerkennung ist die wichtigste Quelle für ein positives Selbstbild gerade in einer Zeit, in der Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft erst noch finden müssen. Die meisten bekommen diese Anerkennung, in der Familie, in der Schule und im Freundeskreis. Den Erfurter Gymnasiasten Robert Steinhäuser sieht Heitmeyer als einen, wenn auch sehr extremen, Prototyp für fehlende Anerkennung. Wilhelm Heitmeyer ?Das Erfurter Beispiel des Amoklaufes ist ein solches Beispiel. Das kann man auf diese drei Felder beziehen, denn Steinhäuser hatte in der Schule große Probleme, er musste sich tarnen gegenüber den Eltern, dass er von der Schule fliegt, die schulischen Leistungen waren katastrophal, die Eltern haben ihn sehr unter Druck gesetzt, das war ein kaltes Verhältnis und bei den peers war er in der Handballmannschaft der dritte Torwart, was bedeutet, er kam nie zum Einsatz.? SPRECHERIN Entscheidend für den einzelnen Jugendlichen ist also, ob Anerkennungsquellen in angemessenem Maße vorhanden sind. Wilhelm Heitmeyer ?Und wenn dies nicht positiv von den Jugendlichen beantwortet werden kann, dann stehen sie natürlich vor der Frage der eigenen Selbstzerstörung, der eigenen Wertlosigkeit.? SPRECHERIN Fehlen dann Versuche, einen solchen verzweifelten, wütenden und eigentlich auch hilflosen jungen Menschen aufzufangen, oder erkennen Eltern, Freunde und Lehrer die Situation nicht, dann kann es zu einem Amoklauf kommen, erklärt der Psychologe Jens Hoffmann. Jens Hoffmann ?Das ist eben eine Möglichkeit von jungen Menschen, die sich benachteiligt fühlen, die sich gekränkt fühlen, wütend und das nicht gut verarbeiten können, mit einem großen Bang der Welt noch mal zu zeigen: Ich bin jemand, ihr habt mich nicht beachtet und jetzt müsst ihr mich beachten.? SPRECHERIN Ob das in Form von hässlichem, negativem Ruhm geschieht, ist den Jugendlichen völlig egal. ?Ich will, dass sich mein Gesicht in Eure Köpfe einbrennt?, schreibt Sebastian B. aus Emsdetten in seiner Abschiedsbotschaft. Jens Hoffmann ?Der hat gesagt: Steinhäuser war Klasse, nur hat er einen Fehler gemacht, seine Pressearbeit war schlecht. Das heißt, er hat sehr, sehr bewusst sich unsterblich gemacht, indem er Sachen ins Internet gestellt hat, seine Dokumente und seine Videoaussagen.? SPRECHERIN Der Amokläufer von Blacksburg hat nach seinen ersten beiden Morden sogar ein Multimediapaket an einen US-Fernsehsender abgeschickt, bevor er in der Technischen Hochschule von Virginia 30 weitere Menschen sowie sich selbst tötete. Das wiederum ruft Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Triumph und Beachtung sind die Hauptsache, da gleichen sich die Fälle alle, so die Beobachtung des Psychologen Wolfgang Bergmann. Wolfgang Bergmann ?Die Parallelität zwischen dem Robert in Erfurt und dem Fall in Emsdetten ist so auffallend: Einmal die Selbstinszenierung nach Medienvorbild und auch im Medium und gleichzeitig das Außenseitertum mit dem Gefühl, ich werde es euch allen zeigen, und wenn mir das nicht gelingt, dann mache ich euch fertig, dann bringe ich euch um.? SPRECHERIN Häufig steckt hinter einem Amoklauf ein übersteigerter Narzissmus ? eine Persönlichkeitsstörung, die sich durch Egoismus und Gleichgültigkeit gegenüber jeder anderen Person äußert. Wolfgang Bergmann ?Leute mit narzisstischen Problemen haben oft einen ganz schwachen Selbstwert und versuchen oder sind darauf angewiesen von außen durch die Meinung von anderen praktisch selbst hoch zu pushen. Wenn das nicht klappt, stürzen die in ein unglaublich tiefes Loch von ihrer Psyche her. Deswegen sind die auch so empfindlich gegenüber Zurückweisungen und Kränkungen. Das ist wie ein Stachel, der bei denen sitzen bleibt.? SPRECHERIN Kinder und Jugendliche sind heute viel narzisstischer als in der Vergangenheit, so Bergmann. In vielen Familien stehen sie im Mittelpunkt, was durchaus positive Seiten hat. Aber diese Entwicklung hat auch eine Kehrseite: Manche Kinder sehen sich selbst gewissermaßen als Idol ihrer Eltern. Sie haben nicht gelernt, Schwierigkeiten zu bewältigen, Niederlagen einzustecken, und suchen die Schuld dafür immer bei anderen. Wenn die Welt ihnen nicht zu Füßen liegt, entstehen Wut und Hass. Wolfgang Bergmann ?Bei diesen Amokläufern ist es dann in der Tat so, dieses innere Idol ist nicht mehr verwirklichbar. Es steht jedes Mal eine kleine Katastrophe in diesm Leben als Auslöser da. Lieber vernichte ich mich selber, als dass ich auf das Idol verzichte. Das Idol ist aber kein Ich, d.h. das Idol hat keine Emotionen mehr, keine Bindungen, keine Bezüge mehr. Es ist nicht mehr enttäuscht, es ist eigentlich nur leer und kalt. Und die restlose Bindungsleere können Menschen nicht ertragen, dann können sie genau so gut sich oder andere vernichten.? SPRECHERIN Vom Amokläufer in Virginia heißt es, er habe ?kalt? gewirkt. Dieses emotionslose Verhalten ist in der menschlichen Natur biologisch verankert, sagen die Wissenschaftler. Jens Hoffmann: Jens Hoffmann ?Wir alle als Säugetiere haben zwei uns angeborene Formen von Gewalttätigkeit. Das eine ist der so genannte Jagdmodus. Da sind Sie sehr kühl und zielgerichtet. Das ist wie eine kalte Wut, so kann man sich das vorstellen. Das ist der Modus von Amokläufern. Der weitaus gebräuchlichere Modus ist der Verteidigungsmodus. Aber diese Form von Gewaltbereitschaft ist sehr schnell vorbei, wenn die Bedrohungssituation beendet ist.? SPRECHERIN Völlig überraschend, quasi instinktiv entsteht das Ausrasten also nicht, das hat auch Wolfgang Bergmann beobachtet. Wolfgang Bergmann ?Diese jungen Menschen sind eben kalt. Das ist ja das Besondere und das Beängstigende an ihnen. Sie sind aber auch in ihrer Tiefe kalt, auch sich selbst gegenüber.? SPRECHERIN Um Amokläufe zumindest manchmal verhindern zu können, versuchen die Forscher an der Universität Darmstadt herauszufinden, welche Frühwarnsignale, welche identischen Muster bei potenziellen Amokläufern erkennbar sind. Leaking heißt das in der Fachsprache. Jens Hoffmann ?Leaking ist Leckschlagen, und eigentlich kommunizieren alle jugendlichen Amoktäter das vorher mehr oder weniger. Einmal in einem frühen Stadium, sie beschäftigen sich mit Gewalttätern. Das dringt nach außen, sie beginnen darüber zu sprechen. Das ist noch sehr weit verbreitet, das hat noch keine sehr hohe Unterscheidungskraft. Mittleres Leaking ist, dass sie schon Vorbereitungshandlungen machen. Vielleicht sie stellen eine Todesliste zusammen. Sie malen sich Sachen aus. Und die letzten Phasen sind dann, wenn sie Leute warnen. Und das ist dann oft sehr nah an der Tat. Beispielsweise Leute, die sie gerne mögen: Komm dann mal nicht in die Schule, wie in Emsdetten, das hat er zu seinem Bruder gesagt, die fällt heute aus. Oder aber, dass sie gerade Leute darauf hinweisen: hörst du, an dem Tag wird etwas Besonderes passieren, so dass wir immer bei diesen jungen Menschen vorher Kommunikation haben.? SPRECHERIN Der südkoreanische Student Cho Seung Hui beschrieb seine Gewaltphantasien in Theaterstücken, er drohte, das Ende sei nah, es müsse noch eine Tat vollbracht werden. Sebastian B., der spätere Amokläufer von Emsdetten, formulierte in einem Internetforum Hass gegenüber Mitschülern und Lehrern; kurz vor seiner Tat beschrieb er sogar einen Amoklauf als möglichen Ausweg aus seiner Krise. Reagieren müsse die Umgebung auch, so Jens Hoffmann, wenn Jugendliche plötzlich liebgewonnene Sachen verschenken - Warnzeichen, die Psychologen als Abschiedshandlungen bezeichnen. Häufig identifizieren sich Jugendliche auch offen mit anderen Amoktätern. Jens Hoffmann ?Der Emsdettener Sebastian B. hat gesagt, für mich war einer der Columbine-Attentäter wie Gott, der war der Papst. Ich habe fast schon optische Ähnlichkeit mit dem. Das heißt, ist es ist für Jugendliche, die sich mit solchen Gewalttaten identifizieren. Deswegen tragen die auch fast alle diese schwarzen Ledermäntel bei diesen Taten, das ist der Blaumann von Amokläufern geworden. Die dafür anfällig sind, sich in solchen Fantasienwelten zu verlieren und über ein normales Maß hinaus, was altersgemäß ist, dann kann das eine mögliche Risikoentwicklung sein.? SPRECHERIN Die allerdings nur schwer zu erkennen ist, da die Botschaften meist nur an Freunde oder Gleichaltrige gerichtet sind, nicht aber die Erwachsenen erreichen. Entgegen aller Darstellungen sind nämlich die meisten Amokläufer keine total zurückgezogenen Einzelgänger. Wenn es gelingt, Mitschüler und Freunde für solche Zeichen zu sensibilisieren und sie auch zu ermutigen, mit vertauenswürdigen Erwachsenen darüber zu sprechen, können Amokläufe verhindert werden. In der politischen Diskussion und in der Öffentlichkeit wird derzeit besonders die Gewaltgefährdung durch Computerspiele herausgehoben. Auch Wolfgang Bergmann zählt den Rückzug mancher Jugendlicher in virtuelle Welten zu den Warnzeichen. Vor allem männliche Jugendliche schaffen sich gern eine eigene Welt, in der sie die unumstrittenen Helden sind. Wolfgang Bergmann ?Diese Welt erleben sie dann, indem sie sich selbst inszenieren, am liebsten dann über das Internet in Videoinszenierung und dergleichen, oder sie erleben es in den Computerspielen, trainieren sich dort auch auf das Töten, und für einen bestimmten Teil dieser Kinder ist es dann so: Sie machen sich selber zum Objekt, sie machen die Welt zum Objekt. Sie sind mit nichts mehr versöhnt. Da fällt es dann nicht schwer, das Selbstobjekt zu töten und die andere, die Welt zu töten.? SPRECHERIN Allerdings werde dieser Aspekt oft überbewertet, sagt der Autor des Buches ?Computersüchtig?. Ein Verbot der sogenannten Killerspiele bringe überhaupt nichts, meint Bergmann, damit setze man nur an den Symptomen an. Wolfgang Bergmann ?Wir müssen nur aufpassen, dass wir keine Kausalität herstellen. Wenn jemand Counter Strike oder GAT, wo man mit dem Auto möglichst viele Fußgänger umfährt, unermüdlich spielt und zwar so viel und so ausdauernd spielt, dass der soziale Kontakt dabei immer geringer wird, dann ist das ein Symptom, dann ist also nicht das PC-Spiel die Ursache dafür sondern es ist der Ausdruck davon, dass hier etwas in der Tat schief läuft. Im Computerspiel bin ich in gewisser Weise allmächtig. Ich haste von einem Sieg zum nächsten, und natürlich wird das denen immer unerträglicher, dass die Realität eine lange Dauer hat. Dass ich in der Realität viele Schritte gehen muss, bevor ich den Triumph erlebe. Bis hin in die neuronalen Vernetzungen der Gehirnorganisation prägt sich das dann ein.? SPRECHERIN Die Untersuchungen der Amokforscher in Darmstadt zeigen allerdings, dass durchaus nicht alle Amoktäter exzessive PC-Spieler und Waffenfetischisten waren. Charakteristisch ist eher der Verlust des Sozialen, das mit exzessivem Computerspielen einhergeht, erklärt der Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann. Wolfgang Bergmann ?Ich habe in der Praxis immer wieder charmante, freundliche Jungen, die müssen ja nicht alle destruktiv sein, das ist ja nur eine Variante davon. Bei denen ich im Gespräch dann nachfrage, inzwischen wachsam geworden: ?Sag mal, wenn du somit anderen redest, so mit Freunden, so nach zehn Minuten, bist du erschöpft nach zehn Minuten, magst du eigentlich nicht mehr?? Dann bestätigen mir das diese Kinder oder Jugendlichen. Nein, die Begegnungen mit einem Menschen, die Begegnung der Blicke, das auf die Probe gestellt sein, das in jedem Gespräch auch mitschwingt, das ermüdet sie, da fliehen sie. Sie wollen eigentlich in eine innere heile und insofern auch omnipotente, eine hybride Welt.? SPRECHERIN Nachdem sich in den 90er Jahren in den USA Amokläufe an Schulen häuften, hat sich in der Wissenschaft eine neue Fachdisziplin etabliert: das Bedrohungsmanagement. Immer wieder hatten die Ermittlungen gezeigt, dass es eine auffällige Vorgeschichte auf dem Weg hin zur Gewalttat gab. Mit der Absicht, gefährliche Entwicklungen bereits zu erkennen, bevor es zu einem Angriff kommt, entwickeln Kriminalisten, Psychiater und Psychologen seither neue Präventionsmethoden. Die Forscher um Jens Hoffman übertragen die Erkenntnisse aus den USA in weiten Teilen auf deutsche Verhältnisse. Jens Hoffmann ?Managementstrategien zielen darauf ab, Risikozuspitzungen und Gefahrensituationen zu vermeiden. Und das kann in den meisten Fällen eine Krisenlösung sein, auch eine Grenzsetzung sein, und in manchen Fällen muss man die auch mal von der Straße holen. Das heißt, man baut das zusammen, was für den Fall notwendig erscheint, und das Gute ist, die meisten solcher Taten sind eine krisenhafte Phase, wenn man die umschifft, dann ist es auch gut in den meisten Fällen. Dann sinkt das Risiko ganz enorm. Das heißt, man muss eine kurze Zeit was reinstecken und hat dann eigentlich schon fast gewonnen.? SPRECHERIN Der amerikanische Psychologe Dewey Cornell hat dazu ein spezielles Modell entwickelt, das sogenannte Screening-Verfahren. Es ermöglicht den Lehrern an der Schule eine recht einfache erste Bewertung, ob das auffällige Verhalten eines Schülers genauer überwacht werden muss oder ob Entwarnung gegeben werden kann. Jens Hoffmann ?Erst mal Warnsignale zu erkennen, beispielsweise Drohungen, und dann gleich zu schauen, steckt da was dahinter oder nicht. Er schlägt vor, und das funktioniert sehr gut, mit dem Schüler zu sprechen, erst mal zu gucken, was ist da passiert, was hast du getan, warum hast du das getan. Oder auch mit Leuten, die dabei waren. Weil die meisten Fälle eine Form reaktiver Aggression sind. Wut, Stress, ich fühle mich bedroht, aber ich kann es dann erklären, und es löst sich auf. Diejenigen Fälle, wo es immer wieder passiert, wo etwas übrig bleibt, wo der sich nicht entschuldigt, die praktisch in das Töpfchen zu tun, wo man sich mehr drum kümmern muss.? SPRECHERIN Bei diesem Rest, so Hoffmann, müsse man genau hinschauen und im Zweifelsfall schnell reagieren: Jens Hoffmann ?Sie müssen dann gucken, ist dann so etwas drin wie beispielsweise, er ist mit einer Waffe reingekommen, oder er hat gesagt, in zwei Tagen wird etwas passieren, passt auf. Dass man sofort handeln muss, ist eine erste Reaktion erforderlich, dass ich die Polizei anrufe, die Eltern benachrichtigte, was auch immer.? SPRECHERIN Die meisten Gewaltdrohungen sind so abzuwenden, das zeigen die bisherigen Erfahrungen. Immer allerdings gelingt es nicht, das zeigt das Blutbad in Blacksburg. Eine Professorin hatte vor ihm gewarnt: Lucinda Roy ?I felt really strongly that he suicidal, depressed ? difficult to accept.? SPRECHERIN Aus den Warnungen vor dem Amoklauf hat vorher keiner Konsequenzen gezogen. Und auch Lucinda Roy macht sich Vorwürfe. Lucinda Roy ?I don?t know if it could have been prevented ? is thinking about that right now.? SPRECHERIN Zweifel wird es immer geben. Zwischen Sensibilität und Hysterie zu unterscheiden, bleibt oft eine schwierige Gratwanderung, vor allem wenn die Hinweise nicht so eindeutig sind wie im Fall des Täters von Blacksburg. Um Problemschüler nicht vorschnell als Amokläufer von morgen abzustempeln, sind zum Beispiel Checklisten hilfreich. Jens Hoffmann ?So muss man auch schrittweise Einschätzungsmechanismen an die Schulen bringen, die ihnen dann auch Handlungssicherheit geben, auch dahingehend, da muss ich mir keine weiteren Gedanken machen. Das ist ganz wichtig, dass man den Leuten vor Ort konkret was in die Hand gibt.? SPRECHERIN Ist ein Schüler besonders aggressiv oder eigenbrötlerisch, verändert er plötzlich sein Aussehen und Auftreten ? das sind Warnsignale. Mit dem Screening-Verfahren lassen sich Eskalationen effektiv verhindern. Nicht nur Amokläufe sondern auch Krisen, die in den Suizid führen. Bisher allerdings gibt es viel zu wenig geschultes Personal. Mit Weiterbildungen für Psychologen, Polizeibeamte und Lehrer versuchen Jens Hoffmann und seine Kollegen diesen Zustand zu verbessern. Sie haben extra ein Weiterbildungsinstitut gegründet. Jens Hoffmann ?Nach Erfurt, das war ja auch frustrierend. Da wurde zwar viel angekündigt, aber es ist wenig passiert. Außer die Polizei, die hat ein Konzept gemacht, was passiert, wenn ein Amokläufer in der Schule ist. Ich denke, Emsdetten hat deutlich gemacht, dass es Warnsignale gibt. Das ist gut, so dass, glaube ich, ein Umdenken langsam stattfindet. Aber wenn die Schulen sich nicht selbst darum kümmern, wird es nicht gelingen.? SPRECHERIN Notwendig, so Wolfgang Bergmann, seien zunächst einmal Veränderungen im System Schule selbst. Sie müsse an die Fähigkeiten der Schüler anknüpfen, statt Leistungsdruck und soziale Auslese auszuüben. Wolfgang Bergmann ?Richtig ist aber, dass Schule und insbesondere die deutsche Schule den Kindern Angst macht. Wir haben etwa 30 Prozent von Angstsymptomen bei Kindern schon im Grundschulalter. Andere Schulen sind da viel besser. Die dänische Schule hat ungefähr drei Prozent Angstsymptome bei Kindern. Da sieht man, die deutsche Schule ist viel zu kontrollierend.? SPRECHERIN Dieses Problem hat bei den deutschen Amokläufen eine Rolle gespielt, das bestätigen seine Untersuchungen, erzählt Jens Hoffmann. Jens Hoffmann ?Es gibt immer noch viele Schulen, die für Schüler ein Ort der Kränkung sind. Und wenn sie sich die deutschen Fälle angucken, haben sie auch einige Fälle, wo sie wissen, warum die angegriffen wurden. Das rechtfertigt natürlich die Tat nicht.? SPRECHERIN Der Fall Robert Steinhäuser zeigt: im Umgang mit problembeladenen Schülern reichen Repressionen nicht aus ? so berechtigt sie sein mögen. Wolfgang Bergmann ?Wenn sie jemand von der Schule schmeißen, manchmal ist das auch die letzte Möglichkeit, muss man schauen, dass der nicht ins Nichts fällt. Man muss den praktisch begleiten, ihm eine Alternative aufmachen, gucken, wo der hinkommt. Das ist Krisenintervention. Den praktisch rausschmeißen und keinen Kontakt mehr zu dem zu haben, kann sein, dass er eines Tages zurück kehrt und zwar mit einer Waffe.? SPRECHERIN Der Therapeut Wolfgang Bergmann setzt sowohl in der Schule als auch bei Beratungsstellen auf Erwachsene, die solchen Problemkindern Halt und Orientierung geben können. Das müssen nicht nur Pädagogen sein. Wolfgang Bergmann ?Die allerbeste Prophylaxe ist, wenn sie einen für sie als stark empfundenen, einen respektierten Erwachsenen finden, bei den Jungen am besten ein Mann, der dort steht mit einer gewissen Unumgänglichkeit und zwei Dinge sagt: Halt, stopp mein Großer, aber auch gleichzeitig halt im Sinne von: halte dich fest. Wir beide, wir zwingen diese Dinge und der dann in diesem jungen Menschen seine Besonderheiten erkennt, zur Besonderheit zählt dann auch die kreative Kompetenz.? SPRECHERIN Jugendliche sind offen für Alternativen, wenn sie Hilfe erhalten. Das verdeutlicht ein Interview mit einem amerikanischen Amokläufer. Gefragt, was die Amoktat verhindert hätte, antwortete er: ?Es hätte nur jemand mit mir reden müssen.? Nicht nur die Risikoeinschätzung, auch das Fallmanagement beginnt am besten in der Schule. Bewährt haben sich Krisenteams, die regelmäßig zusammenkommen, konkrete Vorfälle gemeinsam besprechen, mögliche Interventionsschritte diskutieren und vor allem umsetzen. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist immer das Krisenereignis, das dazu geführt hat, dass ein Schüler auffällig geworden ist. Auch wenn es unerheblich erscheint, ist es oft ausschlaggebend für die weitere Entwicklung eines Schülers. Jens Hoffmann ?Sie müssen in der Schule Krisenteams haben. Das ist der Stand des Wissens, und das funktioniert auch gut. In Amerika und auch in Bayern haben die schon Sachen durch solche Ansätze verhindern können. Das heißt, sie müssen an der Schule eine Gruppe haben, die sich damit beschäftigt, das müssen nicht nur solche Gewalttaten sein, auch Suizid und andere Problematiken, die das angeht, die eine Fortbildung, Know-how hat und die vernetzt ist mit außen, beispielsweise mit der Polizei, mit Beratungsstellen, Jugendamt, psychologischen und psychiatrischen Einrichtungen.? SPRECHERIN Risikoentwicklungen lassen sich erkennen, spektakuläre Verzweiflungstaten junger Menschen können weitgehend verhindert werden, das ist die entscheidende Schlussfolgerung von Jens Hoffmann. Sein Modell zur Risikoeinschätzung und zum Fallmanagement wird von schulpsychologischen Diensten und Polizeistellen deshalb inzwischen immer häufiger eingesetzt. Jens Hoffmann ?Was wichtig ist, dass die meisten dieser Schüler auffallen. Beispielsweise Sebastian aus Emsdetten. Der hat ja vorher praktisch dicht gemacht. Der ist ja sehr auffällig gewesen. Und da mal zu recherchieren, mit dem Umfeld zu sprechen, mit den Eltern zu sprechen, die Mitschüler zu fragen, wären die Puzzlesteine möglicherweise zusammengesetzt worden. Was wir immer wieder haben: jeder hat ein Stück Information, da ein Stück. Es muss jemand geben, der schaut, gibt es verschiedene Puzzlesteine, wenn ich die zusammensetze, ergibt sich ein Bild einer Bedrohung oder nicht. Wir müssen nur jemanden haben, der es macht, und daran krankt es in Deutschland. Aber ich glaube nicht, dass wir alle Jugendlichen davor schützen können, so etwas zu tun.? 1 IQ Vom Außenseiter zum Amokläufer Schuster 2007