COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. "The last Day" Klaus Manns unbekanntes Romanfragment DeutschlandRadio Kultur - Literatur Autor: Detlef Grumbach / Redaktion. Sigried Wesener O-Ton: Klaus Mann Der Frühling ist immer schön, der Flieder ist immer schön, Berlin präsentiert sich jetzt wieder von seiner besten Seite. Erzähler: Mai 1948. Drei Jahre nach Kriegsende und ein Jahr vor seinem Tod ist Klaus Mann in Berlin. Nach Stippvisiten 1945 und 1946 hält er sich zum ersten Mal - auf Initiative der amerikanischen Besatzungstruppen - für zehn Tage in der Stadt auf. Er sieht müde aus, schreibt eine Zeitung. Der älteste Sohn von Thomas Mann ist 41 Jahre alt. Er äußert sich in einem Rundfunkinterview: O-Ton: Klaus Mann Es hat sich natürlich ein wenig verändert. Es gibt neue Läden, man sieht ein bisschen, dass die Ruinen aufgeräumt sind. Man hätte gewünscht, dass der Wiederaufbau etwas schnellere Fortschritte gemacht hätte, es ist ja noch nicht sehr viel zu bemerken, aber kleine Verbesserungen sind doch da und man freut sich daran. Erzählerin: In der Emigration war Klaus Mann mit seinen guten Kontakten in alle politischen Lager, mit der von ihm gegründeten Zeitschrift "Die Sammlung" und vor allem durch seine rastlose Vortragsarbeit in Europa und Amerika zu einem Motor der antifaschistischen Volksfront geworden. Nach Europa war er bereits 1944 zurückgekehrt: als amerikanischer Soldat. Er wollte dabei sein, wenn der Sieg über den Nationalsozialismus in eine friedliche und gerechte Welt führen würde. Erzähler: Der Krieg war längst entschieden, da hatten die Amerikaner noch ihre Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Der Kalte Krieg bestimmte die Politik, all seine politischen Hoffnungen waren begraben. "Das einzige, was den Deutschen Leid tut, ist der verlorene Krieg", hatte Klaus Mann einer Zeitung gesagt. Jetzt wird er gefragt, wie er die angespannte Situation in Deutschland empfinde: O-Ton: Klaus Mann Gespannte Situation ist natürlich ein euphemistischer Ausdruck, das spürt man natürlich sofort. Die gespannte Situation ist natürlich in ganz Europa, aber nirgends so stark zu spüren wie in Berlin. In Berlin ist natürlich der Ost-West- Gegensatz ganz besonders stark spürbar, er geht ja bis in die kulturellen, intellektuellen und literarischen Kreise, was ich aus vielen Gründen natürlich sehr sehr bedaure. Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine wirkliche Verbesserung der Verhältnisse in Berlin oder überhaupt hier in Deutschland möglich ist, ehe dieser Ost-West-Gegensatz in irgendeiner Form geregelt sein wird, behoben sein wird. Erzähler: Klaus Manns spricht schnell, vielleicht sogar hastig, seine Stimme klingt überhitzt. So haben ihn seine Freunde schon vor 1933 beschrieben. Was er in Europa und besonders in Deutschland nach dem Krieg gesehen hat, mag seine Ruhelosigkeit noch verstärkt haben. O-Ton: Uwe Naumann Das hat ihn so entsetzt, dass er Deutschland nur noch besuchsweise durchreist hat und er war für Tage, manchmal Wochen dort, und dann musste er weg. Und er ist eigentlich heimatlos gewesen. Buchstäblich. Erzählerin: Uwe Naumann, einer der Herausgeber von Klaus Manns Werken im Rowohlt Verlag, gehört zu denen, die Klaus Mann vor dreißig Jahren in der Bundesrepublik wiederentdeckt haben. O-Ton: Uwe Naumann Er hat sich nicht einmal zwischen Amerika und Europa sich entscheiden können. Er ist herumgereist, hierhin, dorthin. Er ist gerne nach Berlin gekommen, weil er interessant fand, was sich dort entwickelte. Politisch war er aber entsetzt über die Nichtbewältigung der Nazi-Vergangenheit. Denn das war der große Wunsch gewesen: Ich komme zurück und es wird alles anders, wir fangen neu an. Und das fand nicht statt und darüber war er bitter, bitter enttäuscht und verzweifelt. Erzähler: Und seine Pläne? Woran er arbeite, wollte der Reporter noch wissen. Klaus Mann kündigt an, einen Roman über die politische Situation nach dem Krieg schreiben zu wollen. O-Ton: Klaus Mann Ich arbeite jetzt gerade an der deutschen Fassung einer Autobiographie, die ich erst englisch geschrieben habe, "The Turning Point", "Der Wendepunkt", die ich jetzt auf Deutsch fertig stelle, und sowie ich mit dieser deutschen Version fertig bin, will ich mit einem Roman anfangen, der sogar wahrscheinlich teilweise in Berlin spielen wird und in dem ich diesen Ost- West-Gegensatz erzählerisch behandeln will. Klaus Mann: "Der letzte Krieg war ein Irrtum", Erzähler: so wirbt ein amerikanischer Oberst zu Beginn des überlieferten Fragments dieses Romans schon wieder für einen neuen Krieg. Klaus Mann: "Unser Feind ist nicht der Faschismus, der Faschismus ist in Ordnung - er respektiert die heilige Grundlage der abendländischen Zivilisation: das Privateigentum. Unser Feind ist der Kommunismus." Erzählerin: Statt Volksfront gegen den Nationalsozialismus ein neuer Krieg, jetzt gegen die Sowjetunion? Klaus Mann hat stets eher auf Seiten der Linken gestanden, für einen demokratischen, humanistischen Sozialismus gestritten. Eigentlich hätte er noch einmal loslegen, wie 1933, sein Leben, sein Schreiben in den Dienst der Politik stellen müssen. Dazu fehlte ihm die Kraft. Im Mai 1949 setzte er seinem Leben in Cannes ein Ende. Erzähler: Postum erschien sein politisches Vermächtnis, der Essay "Die Heimsuchung des europäischen Geistes". In dieser letzten fertig gestellten Arbeit klagt er, dass die Schriftsteller nur noch angehört werden, wenn sie ihre eigene Wahrheit verraten, wenn sie sich der einen oder anderen Seite für Propagandazwecke zur Verfügung stellen. Julien Benda hatte das zwanzig Jahre zuvor den "Verrat der Intellektuellen" genannt. Als letzten Aufschrei gegen beides, den drohenden Krieg und diesen Verrat, schlägt Klaus Mann einen kollektiven Selbstmord europäischer Intellektueller vor. Parallel zu diesem Essay hatte er aber auch an dem angekündigten Roman gearbeitet. Erzähler: Julian, das Alter ego des Autors, sitzt in New York. Er hört die Kriegspropaganda, erlebt die politischen Verfolgungen der McCarthy-Ära, schreibt an einem politischen Manifest. Darin heißt es: Klaus Mann: Sie reden von Freiheit, von Demokratie - sie missbrauchen diese großen Worte als Köder, um die Massen anzulocken und sie zu verwirren. Die Demokratie, wie der Oberst und seine Freunde sie auffassen, hat nur einen Zweck, eine einzige raison d'être: die Privilegien, die Reichtümer und die Macht der herrschenden Klasse zu verewigen und zu vermehren. Das, was sie Freiheit nennen ... Erzähler: Szenenwechsel. Ost-Berlin. Hier will Albert Fuchs daran mitarbeiten, ein neues, besseres Deutschland aufzubauen. So wie der Demokrat Julian den Glauben an die Demokratie verliert, so beobachtet Albert, wie der Sozialismus seine Ideale verrät: Klaus Mann: "Sie reden vom Sozialistischen Humanismus, von der konstruktiven Haltung des marxistischen Denkens, vom schönen Stil Stalins, von der inspirierenden Aufgabe der Intellektuellen im Rahmen der kommunistischen Gesellschaft. Schon gut, schon gut. (...) Als ob ich nicht wüsste, wie sich das in Wirklichkeit anfühlt - ein armer, schikanierter Dichter zu sein, der unter dem wachsamen Auge des allgegenwärtigen, allmächtigen Politbüros lebt und arbeitet. Ich habe da so einiges erlebt..." Musik: (Darüber:) Klaus Mann: Ich bin nicht ungern in Europa und gedenke, noch ein wenig zu bleiben - zunächst im braven Amsterdam, von wo sich Ausflüge nach benachbarten Hauptstädten (Paris, Kopenhagen, Stockholm, London, Zürich) unternehmen lassen. Der Krieg in Indonesien ist mir ein Dorn im Auge. Sonst sind die Holländer ganz nett. Erzähler: Sommer 1947. Klaus Mann hält sich in Amsterdam auf, schreibt an seinen Freund und Kollegen, den Schriftsteller Hermann Kesten in die USA. Es geht auch um literarische Pläne. Klaus Mann: Was macht Ihr deutscher Nachkriegsroman? Ich habe den meinen noch immer nicht angefangen, weil ich bis jetzt noch nicht wieder ins Nachkriegsdeutschland durfte. Irgendjemand traut mir nicht in Washington. Ich muss zum Katholizismus übertreten, sonst darf ich nicht nach Berlin. Erzähler: Ein Paar Tage darauf notiert er in seinem Tagebuch den geplanten Titel seines Romans: "The last Day". O-Ton: Fredric Kroll Ich glaube, vor mir hat nur Erika Mann das gelesen - wenn überhaupt. Und zwar waren die Seiten auch so aufeinander gestapelt, dass es effektiv rückwärts war. Ich musste alles umstapeln, dass es einen gewissen Sinn machte, und das war eigentlich schon ein unwissenschaftlicher Vorgang. Erzählerin: Bis ins Jahr 1970 hatte kaum jemand gewusst, wie konkret die literarischen Pläne Klaus Manns waren. Da entdeckte Fredric Kroll, ein junger Germanistikstudent aus Amerika, das in englischer Sprache verfasste Fragment. Es war die Zeit des Vietnam-Kriegs, Kroll hatte Angst, eingezogen zu werden. Sein Ausweg: Er meldet sich zur Promotion. Sein Thema: Klaus Mann. So kam er in die Villa der Familie Mann in Kilchberg bei Zürich. Erika Mann war gerade gestorben. Niemand fühlte sich richtig zuständig. Kroll durfte den Nachlass Klaus Manns sichten, sogar Manuskripte in sein Hotel mitnehmen. O-Ton: Fredric Kroll Das Manuskript von "The Last Day" war in der Mitte zusammengefalzt, vermutlich von Klaus Mann selbst. Das war fast zur Gänze mit Bleistift geschrieben und dort, wo die Falze waren, waren die Bleistiftzüge dermaßen verblasst, dass man sie kaum noch lesen konnte. Klaus Mann: Julian schrieb, in New York: "Meine eigenen Erfahrungen haben mich erkennen lassen, welche Freiheit wir in diesen Vereinigten Staaten des Jahres 1948 genießen. Jeder kritische und unabhängige Geist, jeder Nonkonformist muss darauf gefasst sein, schwere Kämpfe zu bestehen. Wer sich mit dem Außenministerium, dem Wall Street Journal und den Herren vom FBI zufällig nicht einig weiß, ist vogelfrei ... Ein freies Land? Ein Polizeistaat - das ist es doch." Erzähler: Diese Erfahrungen decken sich mit denen Klaus Manns, der in Amerika als Linker, als Homosexueller, vom FBI bespitzelt worden war. Und Albert in Ost-Berlin, wo die Menschen kaum das Nötige haben, den Alltag zu bestehen? Auf einem Empfang für Funktionäre biegen sich die Tische vor lauter Köstlichkeiten. Klaus Mann: Schau dir das mal an! Noch mehr Wodka! Und wieder einmal eine Ladung belegte Brote - nette Sachen auch: Kaviar, geräucherter Lachs, paté de foie gras... Nicht übel, das muss ich schon sagen. Gar nicht übel - angesichts des gegenwärtigen Notstands. Läuft denn derzeit nicht eine Blockade? O-Ton: Fredric Kroll Und ich lag mit diesem Manuskript in diesem buchstäblich verlausten Bett und habe dieses Manuskript entziffert. Das dauerte etwa dreieinhalb Stunden und während dieser gesamten Zeit habe ich geheult wie ein Schlosshund. Zum einen wegen Klaus Manns Verzweiflung und zum anderen, weil es zur damaligen politischen Situation passte. Denn es war auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, und Klaus Manns radikale Enttäuschung über Amerika, so wie sie ausgedrückt wird von der Hauptfigur Julian in New York, war genau meine eigene. Er empfand die USA und die Sowjetunion - so steht es in der "Heimsuchung des europäischen Geistes" - nicht als unterschiedliche Grautöne, sondern alle beide als "schwarz, schwarz, schwarz" - ich zitiere wörtlich -, und dieser Roman "The Last Day" ist praktisch dazu da, um dieses "schwarz, schwarz, schwarz" im Einzelnen anschaulich und fasslich zu machen. O-Ton: Uwe Naumann Das, was in "The last Day" skizziert wird, ist ja das Gegenüberstehen von Lagern. Und er stand ja immer für Vermittlung, sein Leben lang. Erzählerin: So Uwe Naumann. O-Ton: Uwe Naumann Die Zeitschrift, die er im Exil früh herausgab, hieß "Sammlung", also ein Zusammengehen der Kräfte sollte stattfinden. Im Exil hat es ja wenigstens noch teilweise funktioniert, dass man Dinge zusammen brachte, die Volksfront entstand. Nach 1945 war es noch viel weniger der Fall. Und in diesen Graben- und Lagerkämpfen fand er sich nicht zurecht. Weil er wollte keine Grabenkämpfe, er wollte, dass man vernünftig zusammen diskutiert und einen gemeinsamen Weg herausfindet. Damit war er ein Rufer in der Wüste in der Nachkriegszeit. Erzähler: Albert Fuchs, Präsident der Goethe-Gesellschaft, will eine Zeitschrift unter dem Namen "Ost und West" gründen, eine Zeitschrift, die in den Jahren 1947 bis 1949 tatsächlich in Ost-Berlin erschienen ist. Daran sollen auch die Amerikaner mitarbeiten. Julian erinnert sich an die Einladung: Klaus Mann: Ein ziemlich hochrangiger Funktionär; zugleich ein Schriftsteller von einiger Bedeutung. Sein Werk war mir ziemlich vertraut; nun forschte ich etwas nach. Ein interessanter Fall... Adlige Familie ... Der Vater musste aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee ausscheiden, schrieb mehrere Bücher über preußische Geschichte, Strategie ... Ich war zufrieden, ein niveauvoller und integrer Mensch. Ich nahm die Einladung an. Erzähler: Ein hochrangiger Funktionär? So hat es nach außen hin ausgesehen. Tatsächlich ist Albert nicht mehr als eine Marionette, ein Aushängeschild der Partei, mit dem sie Weltoffenheit demonstriert. Er schreibt an einer Biographie über den Außenseiter und Selbstmörder Heinrich von Kleist. So etwas passt nicht ins Konzept, das Buch darf nicht erscheinen. Klaus Mann: Bei mir ist von Kleist als Selbstmörder nicht die Rede. Schließlich ein großer Dichter... Das Erbe, das kulturelle Vermächtnis... Warum haben wir eine Goethe-Gesellschaft? Erzähler: So verteidigt Albert Fuchs sein Werk. Natter, sein Gegenspieler von der Partei, erwidert: Klaus Mann Aus taktischen Gründen - muss ich es Ihnen sagen? Wenn wir sie Karl- Marx-Gesellschaft nennen würden, bekämen wir nicht die richtigen Leute. Übrigens ist Goethe gesund... War gegen Kleist. Erzähler: Damit ist der Fall erledigt. Wie soll Albert sich verhalten? Auf welcher Seite steht seine Frau Luise? Klaus Mann umreißt den Fortgang der Szene nur knapp: Klaus Mann: Albert bittet einige Vertraute zu sich ins Haus. Das verschwörerische Zusammentreffen. Albert erzählt seinen Freunden von seinem Konflikt mit Natter über das Kleist-Buch. Er schlägt koordinierte Handlungsweisen vor: einen Protest der Intellektuellen innerhalb der Partei, um ihre Unabhängigkeit, ihre Gedankenfreiheit zu wahren. Kühle Reaktion. - Albert, enttäuscht, bleibt allein zurück, als die Gäste gehen und seine Frau Luise sich ins Schlafzimmer zurückzieht. (...) Was wird aus ihm werden? Soll er den russischen Sektor verlassen und zu den Amerikanern überwechseln? Wäre Luise damit einverstanden...? Die Frau: ihre stumme Selbstgerechtigkeit... Erzählerin: Julians Zukunft dagegen ist vorerst entschieden. Sein Treffen mit Albert in Ost-Berlin war nicht erwünscht. Er wird von den Amerikanern nach New York zurückbeordert. Erzählerin: Zwanzig Kapitel, jedes in wenigen Zeilen kurz umrissen, sieht die Skizze von "The Last Day": vor. Einzelne Passagen, innere Monologe, Dialoge und Szenen sind bereits ausformuliert. Fredric Krolls Übersetzung umfasst knapp dreißig Seiten. Eingang in die bei Rowohlt erschienenen Klaus- Mann-Werke hat das Fragment nicht gefunden. Uwe Naumann begründet dies mit der Arbeitsweise Klaus Manns. Er ist skeptisch, von diesen dreißig Seiten auf den ganzen Roman schließen zu können. O-Ton: Uwe Naumann Klaus Mann hat seine Manuskripte sehr stark überarbeitet immer wieder. Es gibt von anderen Werken Vorfassungen, wo man sieht, dass sich ganze Handlungsabläufe neu gestaltet haben, dass Figuren herausgenommen wurden aus einem Werk, andere dazu kamen, die gar nicht geplant waren. Also aus einer Projektskizze zu entwickeln, wie das Werk wohl geworden wäre, finde ich ein bisschen spekulativ. O-Ton: Fredric Kroll Julian ist praktisch eins zu eins Klaus Mann, das sind Klaus Manns Erfahrungen, die dort aufgearbeitet werden. Erzählerin: Fredric Kroll, dessen Forschungen zu Leben, Werk und Zeitumständen Klaus Manns etwa 3000 Druckseiten umfassen, hat den fertigen Roman dagegen fast vor Augen. In Albert Fuchs, typisch für Klaus Mann, sieht er eine Figur, in der sich Charakterzügen einer ganzen Reihe realer Personen verbinden. Hinweise darauf findet er im Fragment genug. O-Ton: Fredric Kroll: Der Vater von Albert ist deckungsgleich mit Ludwig Renn, der schrieb Bücher über preußische Militärstrategie. Die Zeitung, an der Albert mitarbeitet oder die er herausgibt, hat denselben Titel wie eine Zeitschrift von Alfred Kantorowicz, "Ost und West". Und Alberts Beschreibung des Fests beim Kulturbund, vor allem seine Beschreibung von seinem Widersacher Natter, deckt sich mit Gustav Reglers Beschreibung in einem Brief an Klaus Mann von 1942 von dem kommunistischen Funktionär Otto Katz aus der Tschechoslowakei. Das sind wohl die großen Vorbilder. Dann auch Theodor Plievier, der damals auch aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen ging. Der spielt auch eine Rolle. Erzähler: Julien und Albert: Beide haben keine Chance. Albert will am Ende in den Westen gehen, weil er dort mehr Freiheit vermutet. Er wird jedoch von russischen Offizieren verhaftet. Als er ihnen entkommen will, wird er "auf der Flucht erschossen" und auch noch von einem Wagen überfahren. Julian wird auf eine Weise in die Enge getrieben, dass er sich umbringt. Erst schneidet er sich die Pulsadern auf, dann springt er aus dem Fenster. Beide sterben einen zweifachen Tod. Musik: Darüber: Erzähler: Dezember 1947: Klaus Mann, noch immer in Amsterdam, schreibt erneut an den Freund in die USA, Klaus Mann: Lieber Hermann Kesten, ja ja, ich weiß, ich habe mich zu einem miserablen Korrespondenten entwickelt, und der Roman, den ich wirklich allen Ernstes ziemlich dringlich schreiben will, ist immer noch unbegonnen. Erzähler: Ein halbes Jahr später, zurück in Amerika und nach einem Selbstmordversuch im Juli 1948, schreibt er an Kesten: Klaus Mann: Alles machte mir Schwierigkeiten, besonders das Schreiben, mit der Arbeit kam ich überhaupt nicht mehr von der Stelle. (...) Und dieses Kriegsgeschwätz! Und all die anderen Sorgen! ... Aber jetzt fange ich an, der Depression Herr zu werden. Es geht schon wieder besser. Erzähler: Dieses Auf und Ab in seinen Stimmungen kennt Klaus Mann seit mindestens 15 Jahren. Seit Ende der zwanziger Jahre hatte er mit Drogen experimentiert und wurde schließlich abhängig. In den Jahren des Exils war er rastlos unterwegs, hat nur in Hotelzimmern gelebt, gearbeitet. Er litt unter Depressionen und machte 1937 seine erste Entziehungskur, bekommt immer größere Probleme, einen Partner zu finden - und sei es auch nur für ein sexuelles Abenteuer. Erzählerin: Hochgehalten hat ihn das Schreiben, das Gefühl, als Intellektueller eine Verantwortung zu tragen, mit der Macht des Wortes etwas bewirken zu können. Doch wuchsen immer stärker auch die Zweifel, was er als Schriftsteller erreichen könnte. O-Ton: Fredric Kroll Es gibt einen gewissen Auftakt dazu beim Spanischen Bürgerkrieg, da stellte er sich ganz ernsthaft die Frage, ob man nicht in Spanien kämpfen müsste - mit der Waffe, konnte aber für die eigene Person seinen quasi angeborenen Pazifismus nicht überwinden. Dann kommt gewissermaßen nicht der Wendepunkt, aber ein Wendepunkt, wenn er seine große Liebe Thomas Quinn Curtiss, den er Tomski nannte, in amerikanischer Uniform sieht, weil Thomas Quinn Curtiss zur Armee gezogen war. Erzähler: Auch Klaus Mann meldet sich zu den Waffen. Für knapp zwei Jahre wird er Teil des militärischen Apparats. Wie stark dieser Bruch in seinem Leben ist, davon zeugt das Romanfragment "The last Day" genauso wie sein politisches Vermächtnis, der Essay "Die Heimsuchung des europäischen Geistes": Klaus Mann: Sie sagen ... Und sie sagen ... Sie reden... Und sie sagen ... Sie hören, sie verstehen einander nicht. Erzähler: So wie Julian und Albert zu Beginn des Roman-Fragments, so demaskiert Klaus Mann die ideologischen Positionen, das Gerede der politischen Wortführer. Überall hört er die Sprache des Kalten Kriegs, im Innern spürt er das Desinteresse an seinem literarischen Werk, die wachsende Ohnmacht als politischer Autor. Am Ende des Essays heißt es: Klaus Mann: Wir sind geschlagen, wir sind fertig, geben wir es doch endlich zu. Der Kampf zwischen den beiden antigeistigen Riesenmächten - dem amerikanischen Geld und dem russischen Fanatismus - lässt keinen Raum mehr für intellektuelle Unabhängigkeit und Integrität. Wir sind gezwungen, Stellung zu nehmen und gerade dadurch alles zu verraten, was wir verteidigen und hochhalten sollten. Koestler hat Unrecht, wenn er eine Seite für ein bisschen besser als die andere, für nur eben grau, nicht wirklich schwarz erklärt. In Wahrheit ist keine von beiden gut genug, und das heißt, dass beide schlecht sind, beide schwarz, schwarz, schwarz. O-Ton: Fredric Kroll Also es gab für ihn praktisch überhaupt kein Prinzip Hoffnung mehr. Die ganze Hoffnung auf jedwede Utopie war krepiert, und er wusste gar nicht, wofür man noch leben sollte. Er schreibt in "The Last Day" auch, es gibt nichts mehr, wofür man kämpfen könnte und es gibt nichts mehr, wofür man leben könnte. O-Ton: Uwe Naumann Aber er hat immer versucht, Anschluss an Gemeinschaften zu finden. Das ist ihm nur sehr unvollständig gelungen, und dass er in seinem letzten Essay dafür eintritt, dass eine große Selbstmordwelle europäischer Intellektueller stattfinden möge um die Menschen aufzurütteln, das ist ja der letzte verzweifelte Versuch, den eigenen Selbstmord als den Anschluss an eine Gemeinschaft zu definieren. Erzählerin: 1948 in Berlin hatte Klaus Mann erlebt, wie unerbittlich die beiden Seiten einander gegenüberstanden. Am 10. Mai hält er einen Vortrag über André Gide, anschließend soll es eine Diskussion geben. Aus dem Ostteil der Stadt sollen Hans Mayer und Stephan Hermlin teilnehmen. Ob dies vom amerikanischen Kulturoffizier Lasky verhindert wurde? Oder sind die beiden vorher gegangen, weil sie nicht mit diesem an einem Tisch sitzen wollten, nicht sitzen durften? Der Dialog jedenfalls fand nicht statt. Und den Kulturbund-Vorsitzenden Johannes R. Becher konnte Klaus Mann nur heimlich treffen. Erzähler: Albert Fuchs steht mit dem Rücken an der Wand. Will er an seiner Kleist- Biographie festhalten, sie veröffentlichen, muss er in den Westen gehen. "Alberts Spaziergang" heißt das geplante 12. Kapitel von "The last Day": Klaus Mann: "Man muss Entscheidungen treffen", dachte Albert. "Seitdem ich der Partei beigetreten bin, haben sich andere für mich entschieden. Jetzt bin ich es, der den Entschluss fassen muss. Einen gefährlichen Entschluss sogar, den gefährlichsten, den ich jemals habe fassen müssen. Die Gefahren sind mir bewusst. Ein Mann muss handeln! Natürlich bringt jede Handlung die Möglichkeit des Irrtums mit sich ...! Erzähler: In Berlin wird Albert verraten und getötet. In New York sitzt Julian an seinem Schreibtisch, arbeitet an seinem Manifest. Doch alle um ihn herum wollen ihm sein Engagement ausreden: seine Ehefrau Doris reagiert zynisch auf seine verbliebenen Hoffnungen, seine Mutter lehnt das Politisieren generell ab, einem kommunistischen Zeitungsredakteur fehlt die marxistische Schulung. Erzählerin: Julian will etwas tun, aber auch sein an W. H. Auden erinnernder Freund, der Dichter Kenneth, rät ihm nur eines: "Halt dich raus aus der Politik. Schluss damit!" Mit Auden hatte Klaus Mann in aller Freundschaft immer wieder über das Verhältnis von Kunst und Politik gestritten, beide haben sogar öffentlich, im amerikanischen Rundfunk diskutiert: O-Ton: Fredric Kroll Und Auden hat die These vertreten, dass das Schöne ein Gleichnis ist für das Gute - quasi im Sinne von Goethes "Faust" - und dass der Künstler dem Guten dient, indem er dem Schönen dient. Und nur auf diese Weise könne er sich politisch engagieren, während Klaus es direkt machen will. Klaus will politische Themen ansprechen in seinen literarischen Werken, und Auden sagt, der Künstler sei dazu nicht kompetent. Erzähler: Julian fühlt sich einsam, verraten, ohne Bündnispartner. Nicht einmal einen Abschiedsbrief, eine Erklärung seinen Selbstmord, schreibt er zu Ende, bevor er sich aus dem Fenster stürzt. Musik: (Darüber:) Erzähler: 20. Mai 1949. Klaus Mann ist in Cannes. Er schreibt einen Brief an seine Mutter Katia und die Schwester Erika, einen weiteren Brief an Hermann Kesten. Einen Tag später ist er tot. Zwar klagt er über Querelen, Geldnot und andere Probleme, schmiedet aber auch Pläne. An Kesten schreibt er: Klaus Mann: Lieber Hermann Kesten, meine Spione, Spitzel, Häscher und Agenten tragen mir das Gerücht zu, dass Sie "im Juni" nach Frankreich zu kommen gedenken. Ist daran etwas Wahres? Und um welchen Teil des Junius würde es sich handeln? Und um welchen Teil Frankreichs? Es wäre charmant, Sie hier zu begrüßen. Ich werde wohl noch bis Ende Juni hier in Cannes sein. Es gefällt mir wieder recht gut an unserer Küste - nur dass es leider immer regnet: aber schier ohne Unterlass! - Als nächstes Statiönchen steht Österreich auf dem Programm. Dort ist man wenigstens a priori auf schlechtes Wetter gefasst. Erzählerin: Das klingt beinahe heiter. Aber Klaus Mann war am Ende. Drogen, Depressionen, außerdem hatte nach dem Krieg als Schriftsteller nicht wieder tritt fassen können. In Deutschland sowieso nicht, aber auch nicht in Amerika, auf Englisch, seiner zweiten Sprache, die er nie so beherrschte wie das Deutsche. Und jetzt noch einmal, wie 1933, die Kraft aufbringen, seine politische Verantwortung wahrzunehmen, die Welt vor dem Abgrund zu bewahren? Ein Sisyphus, wie Julian? O-Ton: Fredric Kroll Also aus meiner heutigen Sicht, nachdem ich die 3.000 Seiten über ihn geschrieben habe, würde ich sagen, er nahm sich da viel zu wichtig. Es ist eine fürchterliche Verkrampfung in ihm - die letzten Endes auch zu seinem Selbstmord führt - zu glauben, der Intellektuelle wäre überhaupt imstande, so viel auszurichten. Und wenn man sich abrackert, eine Aufgabe zu erfüllen, die nicht erfüllbar ist, ist man eben irgendwann mal todmüde, und das ist es, was mit Julian passiert. Julian in "The Last Day" ist von diesem Kampf schon völlig zermürbt und lässt sozusagen den Stein endgültig hinunterrollen. O-Ton: Uwe Naumann Klaus Mann ist ein Autor, den sich Generationen zum Vorbild nehmen, die keine ganz klaren Zielvorstellungen haben, weil er selber auch einer war, der zwar Wünsche und Sehsüchte hatte, die auch formuliert hat, aber es war oft aus dem Negativen heraus. Ex negativo sagt er, wir müssen zusammenhalten, um den Faschismus zu besiegen. Erzählerin: So resümiert Uwe Naumann das Leben und Schreiben Klaus Manns. So wie Fredric Kroll sich auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs mit dem faszinierenden Autor identifizierte, hat Naumann ihn zehn Jahre später für sich und seine Generation entdeckt, als ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West die Welt in Atem hielt, als Gut und Böse wieder einmal nicht eindeutig zu trennen waren. O-Ton: Uwe Naumann Was faszinierend ist an seiner Gestalt bis heute, ist wie ungebrochen er das gelebt hat und für das eingestanden ist, was er für richtig befand, ohne dass ihm etwas in glänzendem Sinne gelungen ist. Er war ja kein Siegertyp, er war ja eher ein Opfer, ein Verlierer in seiner Zeit. Und das ein Verlierer in seiner Zeit für uns heute eine Kultfigur, ein Vorbild sein kann, ist ein erstaunlicher Vorgang, aber dass er anderen etwas vorgelebt hat was er sich getraut hat, andere in seiner Zeit nicht, das bleibt. 1