COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Der Wiener in Berlin - Seine Beobachtungen ob des Menschenschlages und dessen Sprache - Autor Stefan May Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 11.04.2012 - 13.07 Uhr WH vom 17.11.2011 - 13.07 Uhr Länge 18'56" Moderation "Nichts trennt Österreicher und Deutsche mehr als die gemeinsame Sprache" - diese Erkenntnis wird dem scharfzüngigen Karl Kraus zugeschrieben. Nun, die Berliner mögen die Wiener, und die Wiener hegen Sympathie für die Berliner. Dennoch (oder gerade deshalb?) : Wiener Schmäh versus Berliner Schnauze. Ganz unähnlich sind sich ja die Bewohner der beiden Großstädte nicht. Es ist eine Ähnlichkeit mit gewaltigen Unterschieden. Wer könnte das besser beurteilen als jene, die inzwischen in beiden Städten zuhause sind? Unser Kollege Stefan May ist vor 13 Jahren aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen und hält sich regelmäßig in Wien auf. Seine Berliner Beobachtungen und Empfindungen teilt er mit anderen Wanderern zwischen den beiden deutschsprachigen Hauptstädten, wie er es uns gleich im Länderreport über "die Wiener und die Berliner" erzählen wird. Bitte. folgt Script Beitrag Script Beitrag Beil Wenn ich in Wien bin, muss ich nur über den Graben gehen, und ich treffe zwei Bekannte. Und wir unterhalten uns oder gehen einen Kaffee trinken, und ich fühle mich sofort zu Hause. Wenn ich dann wieder in Berlin bin, treffe ich niemanden, nicht, ich weiß gar nicht, wo ich gehen soll, um jemanden zu treffen. Abgesehen davon, wenn es dann zufällig mal der Fall ist, dann fragt man sich bestenfalls: Ja, wie geht´s? Ja, auf Wiedersehen, wir müssen uns mal sehen, auf Wiedersehen - aber nix von Kaffee oder so. Autor Hermann Beil ist Dramaturg am Berliner Ensemble, gerade 70 Jahre alt geworden, mit wehendem Mantel, runder Schubert-Brille und wallendem grauen Haar. Er ist einer jener gar nicht so selten anzutreffenden Spezies von Wanderern zwischen den Welten: der Gattung von Wienern, die vornehmlich in Berlin leben und arbeiten, die aber immer wieder an die Stätte ihrer Wurzeln zurückkehren und somit Vergleiche ziehen können. In Berlin sind sie eine unscheinbare Minderheit. Wie hier, in der versteckt gelegenen Bibliothek des BE. Oder in einer ruhigen Seitenstraße des Stadtteils Friedenau. In einem der würdigen Altbauten hinter Alleebäumen liegt an einer Straßenecke das Delikatessengeschäft "Weinbeisser". Weinbeisser nennt man in Österreich laut Wörterbuch entweder eine Lebkuchenart oder einen Weingenießer. An der Tür hängt dezent ein rot-weiß-rotes Fähnchen, drinnen liegen über den Tischen karierte Tücher. Lokalinhaber ist der 50jährige Ludwig Chlubna, mit einem fröhlichen Jungen-Blick unter dem Wuschelkopf und mit einer grünen Schürze. 1995 ist er, der Liebe wegen, wie er sagt, nach Berlin gezogen. Auf eine Tafel im Türfenster hat Chlubna "Sturm-Verkauf möglich" geschrieben. Da geht es ja schon los: Was ist Sturm? Chlubna In meinem Umfeld hier durfte ich aber die Leute dazu erziehen, zu erkennen, dass Sturm zwar im Prinzip dasselbe wie Federweißer ist, aber anders schmeckt und qualitativ sich ein bisserl abhebt. Autor Ein "bisserl" - die typische Ungenauigkeit der Österreicher, wenn es um Maßeinheiten geht: Man kommt auf ein "Sprüngerl" vorbei, oder auf einen "Hupfer". Ein "Wengerl" ist ein wenig, ein "Euzerl" noch weniger - eine Größenordnung, die, ins Gegenständliche übersetzt, dem "Futzerl" gleichkommen dürfte. Gegenstück ist das "Trumm", wenn nicht gar das Mordstrumm". Diese verschwommenen Begriffe empfinden die Österreicher aber, gleich einer gruppeninternen Geheimcodierung des Räumlichen und Zeitlichen, als durchaus konkret und unmissverständlich. In manchem sind sie sogar noch genauer als die präzisen Berliner, etwa mit einer Maßeinheit zwischen Gramm und Kilogramm. Aber auch das würde hier nicht verstanden werden. Chlubna Im Supermarkt an der Fleischtheke 10 Deka Wurst bestellen, wird nicht funktionieren. Genauso ein Sackerl bekommt man nicht. Autor Sondern eine Tüte. Karl Kraus wird der Ausspruch zugeschrieben: "Nichts unterscheidet Deutsche und Österreicher mehr als die gemeinsame Sprache." Chlubna Die Sprache unterscheidet uns zum einen, gibt aber zum Beispiel uns Österreichern, oder in meinem Fall mir als Wiener, die wunderbare Möglichkeit aufgrund dieser Sprache besonders gemocht zu werden. Was im umgekehrten Fall bekanntlich nicht immer der Fall ist, funktioniert hier sehr gut. Mich persönlich stören die Unterschiede der Sprache deswegen nicht, weil ich in den 15 Jahren und durch meine deutsche Frau und die hier heranwachsenden Berliner Kinder natürlich auch vieles auch in den Wortschatz, in den eigenen, übernommen habe, was ich früher nie gesagt hätte. Also "tschüss" war mir zwar ein bekanntes Wort, hätte ich aber nie anstelle von "Baba" oder "Servus" verwendet. Genauso wäre ich nie hoch gegangen, sondern immer rauf. Autor Man "geht" auch nicht, man "läuft". Wenn ich in Österreich die Worte "Nee" oder "lecker" verwende, werde ich dort gerügt. Mein Erstkontakt mit lupenreinen Urberlinern fand noch auf Wiener Boden statt: Es waren Angestellte einer Umzugsfirma, die mit der distanzierten Blasiertheit routinierter Handwerker beim Leeren meiner Wohnung mich ein ums andere Mal fragten: "Jeht det och mit, jeht det och mit?" Wie sollte ich diese Menschen jemals verstehen, fragte ich mich damals verzagt. Doch das legte sich bald in der neuen Heimat, und so wie Ludwig Chlubna kann ich mit dem unverdienten Pfund der weichen, melodischen Aussprache wuchern: Ich erinnere mich beispielsweise an einen Anruf bei einer Pressestelle, als die Dame am anderen Ende, nachdem ich mein Anliegen vorgebracht hatte, seufzte: "Ach, sprechen sie weiter, das klingt so schön." Auch Hermann Beil kennt den Sympathievorschuss der Berliner für die Ösis: Beil Manchmal ist es: Ich sage einen Satz, und dann sagt man mir: Sie sind aber nicht aus Berlin. Zumindest ist man dann irgendwie freundlich neugierig: Und wie fühlen sie sich hier, und dann fragen Sie: Wie geht´s denn hier als Wiener, nicht, und vermissen sie Wien? Autor Umgekehrt mögen die Wiener zwar nicht so recht die Deutschen im Allgemeinen, die Berliner hingegen schon. Man reibt sich gerne aneinander, so wie es Karl Kraus schon 1926 tat, als er sich über das Berliner Regietheater erregte und seinen Zorn in erbitterte Verse fasste. Beil "Ich, der Heimattreue-Hasser, will aus dieser Gegend weg. Blau war nie das Donauwasser, doch die Spree hat noch mehr Dreck." Autor Andererseits, fügt Hermann Beil dem Kraus-Zitat hinzu: Beil Ich kenne einige Wiener, die sich recht gerne hier in Berlin aufhalten und wohlfühlen. Manchmal sogar mit fast schon einem Hass auf Wien, ja. "Das ist unmöglich, da kann man überhaupt nicht." Was ich nicht empfinde, weil ich finde, als Wiener muss man es auch lernen, Wien zu nehmen. Und es ist auch nicht abendfüllend, ständig Wien zu hassen. Autor Wien ist schwieriger als Berlin, entgegnet Ludwig Chlubna. Einig sind sich beide darüber, wer schlagfertiger ist: Beil Ich glaube schneller sind die Berliner. Ich glaube, das ist weil sie sofort, peng, ihren Satz, ihren Gedanken oder ihre Meinung abschießen. Chlubna Schlagfertiger ist der Berliner. Schneller, g´schwinder. Aber net so bös. Der Wiener ist dafür hintergründiger. Muss man immer ein bissel nachdenken, wie es gemeint war. Hier weiß man sofort, worum es geht. Autor Dafür haben die Wiener den Heurigen, ein Instrument zur Volksbesänftigung und Konfliktausgleichung, wie es ein österreichischer Wissenschaftler einmal formuliert hat. Weitere Unterschiede? In der Genussfreude der Wiener, meint Delikatessenhändler Chlubna. Chlubna Also das Essen und Trinken hat einen prägnanteren Stellenwert als beispielsweise hier in Berlin, wo es alles gibt, wo man auch alles mag, wo man auch sehr vieles kennt, weil es ja ganz einfach eine sehr jung-multikulturelle Stadt ist, aber so jetzt die Bereitschaft dafür ein bissel was auszugeben, ist nicht in dem Maß vorhanden wie in Wien. Das mag aber auch religiösen Hintergrund haben, der Preuße nimmt sich mehr zurück als der Katholik. Autor Für mich ist die vorherrschende Religion der Urgrund der meisten Unterschiede zwischen Berlinern und Wienern: Die protestantische Prägung hat die einen geradlinig, ernsthaft und nüchtern gemacht, das Katholisch-Barocke die anderen sinnlich-schwärmerisch, den Freuden des Lebens zugeneigt. Dennoch glaube ich, dass es die Berliner besser verstehen, ihre Stadt zu nutzen, es sich gemütlich zu machen, sich öffentlichen Raum mit größerer Selbstverständlichkeit anzueignen: Von den Tischen vor dem Frühstückscafé bis zur Freizeit auf dem ehemaligen Tempelhofer Flugfeld. Chlubna Das geht dem Wiener wahrscheinlich sehr ab, weil er tät´s auch gern, aber er derf´s net, weil ganz einfach in Wien alles doch ein bisschen reglementierter ist als hier. Ich glaube, dass dieser Wunsch nach Geselligkeit und vor allem nach Eroberung öffentlichen Straßenraums von den Behörden hier auch erkannt wurde, dass man das auch fördert. Autor Diese Berliner Behörden sieht der Dramaturg Beil hingegen weitaus kritischer und zitiert die Definition eines Berliner Journalisten: Beil Die allmächtige Unzuständigkeit. Die wird hier in Berlin praktiziert. Das ist für mich ein Phänomen, dass das die Berliner sich gefallen lassen! Ich glaube in Wien hätte man sich das nicht gefallen lassen: was hier mit der S-Bahn ist, seit zwei Jahren. Das ist also beispiellos. Auch beispiellos in der Gleichgültigkeit der politisch Verantwortlichen. Bis die sich überhaupt dazu geäußert haben, vergingen schon mal Wochen. Man sagt ja immer, die Wiener sind schlampig oder die Österreicher sind schlampig, nein, also, Wien ist im Vergleich zu Berlin ein Muster an Stadtverwaltung. Nach vielen Jahren kommt ein bisschen Winter, die Berliner tun dann schon: Um Gottes Willen, die Eiszeit ist ausgebrochen, und sind unfähig die Straße zu räumen, bei Glatteis zu streuen: Es sind drei Menschen gestorben, ja! Und die Leichtigkeit, mit der man hier Theater schließt hier in Berlin, also das gäbe es ja in Wien oder in Österreich gar nicht. Das wäre ja absolut unmöglich, aber hier hatte man mit leichter Hand einige Theater geschlossen, nicht, also auch mit so einer Gleichgültigkeit, nicht. Selbst das Publikum, was sich dagegen gewehrt hat, das wurde nicht ernst genommen. Das hat sich geändert, nicht aus Sympathie oder Liebe, sondern aus einem reinen wirtschaftlichen Kalkül: Man hat gemerkt, dass Berlin die Kultur als touristischen Faktor unbedingt braucht. Autor Bei solchen Unterschieden zwischen den beiden Städten sind Missverständnisse nicht verwunderlich. Als ich vor nunmehr 13 Jahren erstmals auf der Autobahn in die Stadt rollte, dachte ich angesichts der Tribüne am ehemaligen Rennstreckenabschnitt: Was für ein sonderbares Volk, das seinem eigenen Verkehrsstau zusieht! Am Häufigsten sieht man sich sprachlichen Differenzen gegenüber: Etwa, dass das Gebäck in Berlin Brötchen heißt, das Brötchen aber Schnittchen. Und dass die Schrippe dem Berliner das ist, was dem Wiener die Semmel bedeutet. Mitunter wird die gemeinsame Sprache zur Missverständnis-Falle: Wenn man in Österreich endlich "ausrasten" möchte, geht der Deutsche vorsorglich in Deckung. Doch das Gegenteil ist der Fall, bedeutet es doch nichts anderes als "rasten" oder "ausruhen". Eine wunderbare österreichische Formulierung hat bedauerlicher weise im deutschen Deutsch keine Entsprechung: Etwas geht sich aus. Ich ringe dann immer verzweifelt nach einer Übersetzung, in der Art von: Etwas passt, etwas lässt sich machen, ist zu schaffen. Etwa: Der Zuganschluss geht sich aus, ein Glas Wein geht sich noch aus. Noch immer ist mir das Umsteigen von Wiener auf deutsches Deutsch wie das Verwenden einer inzwischen vertrauten Fremdsprache. Chlubna Ich schalt´ mittlerweile automatisch um. Also, es passiert mir selten, dass ich in Wien in eine Trafik gehe und zum Beispiel "Guten Tag" sage. Ich sage auch nicht "Hallo", ich sage "Grüß Gott". Es würde mir hier beim Tabakkiosk nicht passieren, "Grüß Gott" zu sagen, ich sage "Hallo". Autor Die gemeinsame Sprache kennt viele Unterschiede. Die meisten dürften sich bei den Nahrungsmitteln finden: Chlubna Das muss man schon natürlich hin und wieder erklären, das gehört ja dazu. Ich erkläre auch immer, wo die Ausdrücke herstammen, also wie zum Beispiel, aus dem Blumenkohl der Karfiol in Österreich wurde, also eben abgeleitet von cavolfiore, aus dem Italienischen und dass das halt ganz einfach auch schon einmal durch den Raum, durch die Lage in Europa andere Begriffe sind. Ich würde es aber tunlichst vermeiden, ein Gericht in das hiesige Deutsch zu transponieren. Autor Komme ich nach Österreich, werde ich oft mit der Bemerkung eingeladen, nun bekäme ich endlich wieder richtigen und keinen Blümchenkaffee wie in Berlin. Chlubna Das ist Klischee. Das ist ganz klar. Es ist so, dass man ganz einfach mit dem weichen Wiener Wasser bei entsprechenden Kaffeeröstungen ein wohlschmeckenderes Ergebnis erzielt als hier. Es ist aber so, dass man auch durchaus in Berlin anständigen Espresso trinken kann. Autor Hermann Beil kennt den Kaffee an vielen Orten der deutschsprachigen Theaterlandschaft: Basel, Frankfurt, Stuttgart. Von da an begleitete er Claus Peymann, nach Bochum, und als dieser Direktor des Burgtheaters wurde, nach Wien. Die Bühne ist für Hermann Beil jene neutrale Plattform, von der aus sich die Unterschiede zwischen Wienern und Berlinern ausmachen lassen. Beil Ich habe ja kürzlich mit Gerd Voss im Burgtheater eine Buchpräsentation haben dürfen, und da stand ich wieder auf der Bühne des Burgtheaters, nicht, und man spürt einfach die Zuneigung des Zuschauers von unten herauf. In Berlin ist es vielleicht Respekt, Achtung, Bewunderung, aber selten Sympathie, ja. Die Berliner können schon enthusiastisch sein, aber sie sind es, glaube ich, nicht aus dem Herzen, sondern sie sind es eher, wenn sie intellektuell gekitzelt werden. Der Wiener Theaterbesucher geht aus einem religiösen Grund ins Theater: Es ist eine Form der Nächstenliebe. Theaterliebe ist Nächstenliebe. Und diese Nächstenliebe, die wird der Wiener, der sein Leben lang fleißig ins Theater gegangen ist, vor dem Jüngsten Gericht in die Waagschale werfen können. Der Berliner geht nicht aus Nächstenliebe ins Theater, sondern, der will eine Unterhaltung haben. Er lacht schnell, und wehe, er kann nicht lachen, nicht. Wehe es geht nicht flott los. Ich habe das ja oft erlebt bei Gastspielen, wenn eine Aufführung ruhig anfängt und leise ist - schon wird gemotzt: Ja, mach doch, geh doch, geh doch los, nicht, wann geht´s denn los. Autor Für Hermann Beil ist der Zuschauerraum die geeignete Vergleichsebene, für Ludwig Chlubna der gastronomische Betrieb: Chlubna Die Gäste hier sind offener, aufgeschlossener, unprätentiöser, wohlwollender, interessierter - i hoff´, das hört keiner in Wien - also der Berliner ist ein durchaus angenehmer Gast, weil, wenn er wie in meinem Fall, zum Österreicher geht, dann erwartet er auch Österreich, zumindest ein Stückerl Österreich, er liebt unsere Küche, sage ich jetzt einmal ganz eingebildet, er schätzt unsere Weine, er kennt unser Land. Beim Wiener kann immer etwas kommen, der Wiener wünscht es auch, als der wahrgenommen zu werden, der er ist oder vermeint zu sein. Das ist hier eindeutig nicht so ausgeprägt. Es entsteht eine schnellere Vertrautheit. Also ich habe Wien immer als etwas empfunden, und empfinde das auch heute noch, wo man zwar sehr gut leben kann, wo man natürlich auch gute Freundschaften und Beziehungen haben kann, wo man aber sich nie so ganz sicher ist, wie schon dieser klassische Satz: Man geht aus dem Kaffeehaus raus und sagt: geh, bitte um ka üble Nachred´! Autor Der unkomplizierte Umgang mit den Berlinern - ohne Gefahr der üblen Nachrede - mag es sein, warum die Wiener in der fernen Diaspora ihren Landsleuten eine gehörige Portion Misstrauen entgegenbringen, wie auch Hermann Beil bestätigt: Beil Die echten Berliner, ja, die sagen sofort ihre Meinung. Und das finde ich aber auch gut. Und sie sagen sie sehr direkt und nicht verschwiemelt und nicht um drei Ecken herum, sondern direkt, also: Es können sehr schnell Verbindungen entstehen, man ist irgendwie sehr abweisend in der ersten Sekunde, und in der zweiten Sekunde ist eine Zuneigung da. Diese Schnelligkeit, die ist hier in Berlin immer wieder verblüffend. In Wien geht das dann langsamer, nicht, und dann das eher diplomatisch gemacht, nicht, und wenn mich ein Berliner lobt, dann glaube ich das Lob, wenn mich in Wien jemand lobt, dann freue ich mich, aber frage mich: meint er es wirklich so? Autor Doch der Wiener muss eigentlich gar nichts sagen, er wird auch nonverbal vom Landsmann erkannt, selbst im Dunkeln. Beil Ich mache ja seit 10 Jahren ganz beharrlich Thomas Bernhard-Lesungen und merke natürlich auch, wenn im Zuschauerraum dann Österreicher drin sitzen, weil die ja dann doch auch an anderen Stellen lachen oder schmunzeln. Wenn man auf der Bühne steht, merkt man auch das Schmunzeln, man spürt, ob die Leute lächeln, also man muss nicht immer laut heraus lachen. Dann sage ich mir: Oh, heute sind zwei Österreicher drin. Autor Als Wiener in Berlin, als temporärer Fernpendler, macht man mit der Zeit eine mitunter beunruhigende Erfahrung: Man lebt eine doppelte Identität, zwei Leben in einem. Dieser Umstand vermittelt das Gefühl, sobald man nach einer bestimmten Zeitspanne an einen der beiden Orte zurückkehrt, die Zeit vergehe schneller, als es einem ohnedies schon unrecht ist. Heimweh kommt da nicht auf, sagt Ludwig Chlubna, der ungefähr einmal im Monat für ein paar Tage nach Wien reist: Chlubna Ich vermiss´ die jeweils andere Stadt nicht richtig, gebe aber zu die jeweils andere Stadt immer an dem Ort, wo ich gerade bin, zu verteufeln: Also, ich bin zwei Tage in Wien und denke mir: Meiner Seel`, das haltst ja nicht aus, ah, die gehen mir auf die Nerven. Oder so wie heute Morgen, im Morgenstau, sag ich: Die fahren da was zusammen, die Deutschen, Jössas na! Autor Wobei wir alle ein Phänomen verspüren: OT 21 Chlubna Ich sag in beiden Fällen mittlerweile, und das fasse ich als einen unwahrscheinlichen Luxus auf: Ich fühle mich an beiden Orten zuhause. Ich wüsste allerdings nicht, wie das wäre, müsste ich auf eins verzichten. Ich bin gerne Wiener in Berlin, Wiener in Wien ist net so schön. Autor Trotz des Privilegs in beiden Städten leben zu dürfen, werden wir uns irgendwann einmal für eine von beiden entscheiden müssen. Unversehens finde ich mich im Gespräch mit Ludwig Chlubna im Ausleben eines Klischees wieder, dem vom todessehnsüchtigen Wiener, so wie es in den folgenden Wienerliedern vorkommt: "Es wird ein Wein sein, und wir werd´n nimmer sein"/"Da leg ich meinen Hobel hin"/"Stellt´s meine Ross in´ Stall, bald kriegen s´ zum letzten Mal ein Sackel Hafer und ein Heu": Wir definieren nämlich unsere Zugehörigkeit zu einer der beiden Städte über den künftigen Ort unserer Grabstätten. Und auch Hermann Beil bemühte die Transzendenz, als es vor einigen Jahren darum ging, ob er sich mit seiner Frau in Berlin oder in Wien eine Wohnung nehmen solle: Beil Wir haben parallel gesucht. Ich habe gesagt: So, wir machen jetzt ein Gottesurteil, wo wir schneller die uns zusagende Wohnung finden. In Wien habe ich nichts gefunden, was für mich bezahlbar ist, ja. Also für horrende Preise irgendwelche Wohnungen - sicher, aber, was man als Theatermann bezahlen kann und wo man halbwegs drin leben kann, habe ich nicht gefunden. In Berlin sind die Wohnungen mir nachgeschmissen worden. Da habe ich gesagt: Na, gut, dann wir nach Berlin. Aber das kann sich ja auch wieder ändern. Autor Es ist eine Ambivalenz der Gefühle, die den meisten in Berlin lebenden Wienern gemeinsam ist: Chlubna Einmal Wiener, immer Wiener und ich könnt´ Wien nie verlassen, liebe aber Berlin. -ENDE Beitrag May- 1