Deutschlandradio Kultur - Die Reportage Das Mädchen von Ipanema. Die Geschichte eines Liedes. Eine Reportage von Tom Noga Regie Atmo 1 (Bar Garota). Erzähler Arnaldo schwitzt. Er reißt eine Papierserviette aus dem Spender und wischt sich damit übers Gesicht. Sein Blick schweift zu den klapprigen Deckenventilatoren, die träge vor sich hin surren. O-Ton 1 Arnaldo Bichucher "I always suggest that people come to this place.... Place that you see people and people see you." Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Ich finde, dass man hier gewesen sein muss. Erstens weil dies eine typische Carioca-Bar ist. Sehr informell, sehr laut, wie man hört, mit halb offenen Fenstern und Kontakt zur Straße. So was mögen Cariocas, wie am Strand: ein Ort zum sehen und gesehen werden." Erzähler Arnaldo Bichucher: breites Grinsen im Gesicht, Strohhut auf dem Kopf. Der Fernsehjournalist ist ein Carioca, wie die Einwohner von Rio de Janeiro genannt werden: geboren in Copacabana, aufgewachsen nebenan in Ipanema. Ein Strandjunge. Er sitzt in der ehemaligen Bar Veloso, die heute Garota de Ipanema heißt. Garota, das heißt auf Deutsch "Mädchen". Die Bar verdankt ihren Namen dem weltberühmten Lied "The girl from Ipanema". Den vielfach kopierten, bekanntesten Song der Bossa Nova hat das Genie der brasilianischen Popmusik, João Gilberto, mit seiner damaligen Frau Astrud und dem amerikanischen Saxofonisten Stan Getz im Jahr 1964 aufgenommen hat. Regie Mix aus Atmo 1 und Musik 1 kurz hoch ziehen Erzähler Mit den kleinen, blauweißen Mosaikkacheln und den schweren Möbeln aus Eichenholz strahlt die Bar Garota de Ipanema den Charme einer vergangenen Epoche aus. Das Publikum ist bunt gemischt: Geschäftsleute beim Business-Lunch, Nachtschwärmer beim Frühstück, junge Männer, die bei einem Cocktail den Tag verträumen. Und viele Touristen. O-Ton 2 Arnaldo Bichucher "And also because of Helô Pinheiro... going to the beach, back home." Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Und man muss wegen Helô Pinheiro hier gewesen sein. Sie ist die Muse des Songs. Als junges Mädchen ist sie hier fast jeden Tag vorbeigekommen, auf dem Weg zum Strand oder zurück." Erzähler Arnaldo zeigt aus dem Fenster. Da draußen auf dem Bürgersteig muss sie vorbei flaniert sein, einen Block weiter mündet die Straße auf den Strand, den schönsten der Welt, wie er mit dem für Cariocas typischen Hang zum Superlativ hinzufügt. Und hier, wo er jetzt sitzt, müssen auch sie damals gesessen haben: der Komponist und Pianist Antonio Carlos Jobim, den alle nur Tom nannten, und der Diplomat und Poet Vinícius de Moraes. Beides Liebhaber edler Whiskys und schöner Frauen. Wann immer die beiden die bildhübsche Helô Pinheiro vorbeischlendern sahen, sind sie ihr mit Blicken gefolgt. Und sie haben sich zu "The girl von Ipanema" inspirieren lassen, so erzählt man sich in der Bar. O-Ton 3 Arnaldo Bichucher "Vinícius de Moraes got married eight times...you could be beautiful even being ugly." Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Vinícius de Moraes war achtmal verheiratet. Achtmal! Dagegen bin ich ein Lehrling, ich hab's nur auf vier gebracht. Er hat Sachen geschrieben wie: "Vergebt mir, Ihr Hässlichen, aber Schönheit ist notwendig." Dabei spricht er nicht von Schönheit im gewöhnlichen Sinn, nicht von physischer, sondern von innerer. Auch wer nicht gut aussieht, kann schön sein." Erzähler Und nun, fährt Arnaldo fort, schließ' die Augen und stell es dir vor: dieses betörende Mädchen auf ihrem Weg zum Strand vor: ihr Hüftschwung wie ein Samba, ihr Körper vergoldet von der Sonne Ipanemas. Regie Mix aus Musik 1 und Atmo 1 Erzähler Hier in der Bar sollen Vinícius de Moraes und Tom Jobim das Lied geschrieben haben - auf einer Papierserviette. Arnaldo zieht eine aus dem Spender auf dem Tisch, seufzt bedauernd als wollte er wen auch immer um Entschuldigung dafür bitten, dass er sie für etwas Profanes benutzt, und wischt sich wieder den Schweiß von der Stirn. Tatsächlich hat Jobim die Melodie in seinem Haus geschrieben, zwei Straßenblöcke entfernt von der Bar Veloso, wie sie damals noch hieß. Und de Moraes den Text in seiner Villa in Petrópolis. Aber entstanden ist es hier in der Bar, beharrt Arnaldo: die Idee, inspiriert durch den Hüftschwung von Helo Pinheiro. Regie Blende zu Atmo 2 (Rua) Erzähler Neben der Bar ein Laden für Strandmode vorwiegend Bikinis. Sie bestehen nur aus Stofffetzen, die selbst für brasilianische Verhältnisse winzig sind. Das Geschäft heißt ebenfalls Garota de Ipanema und gehört eben jener Helô Pinheiro. Vor ein paar Jahren hat sie es eröffnet, erzählt Arnaldo, nebst Filiale in São Paulo, um, wie sie es in einem Interview ausgedrückt hat, auch etwas vom Kuchen abzubekommen. Den Erben von Tom Jobim und Vinícius de Moraes hat das gar nicht gefallen, und so überziehen sie das wahre "Girl von Ipanema" mit Prozessen. Helô Pinheiro, eine gebürtige Carioca, lebt seit vielen Jahren in São Paulo. Arnaldo schnauft verächtlich. O-Ton 4 Arnaldo Bichucher "Probably it's like business... I must do this today, okay, I do it tomorrow" Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Kann nur wegen etwas Geschäftlichem sein. Wenn du Geld machen willst, geh nach São Paulo. Es gibt auch Cariocas dort. Einige sind glücklich, andere nicht, aber sie bleiben wegen des Geldes. Paulistas sagen: Dieses oder jenes muss heute fertig werden, also bleibe ich dran, bis alles erledigt ist. Cariocas dagegen sagen sich: Es muss heute fertig werden - ok, dann mache ich es halt morgen." Erzähler In Ipanema ist das Lied auch 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung allgegenwärtig. Kein Wunder, denn es repräsentiert die Bossa Nova, einen Musikstil, der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in Rio de Janeiro entstanden ist. Die Bossa Nova wiederum bringt das Lebensgefühl der Cariocas auf den Punkt: eine Mischung aus Lässigkeit und Eleganz, das Ganze sexuell aufgeladen, aber immer leicht und verspielt. So jedenfalls sieht das Carlos Afonso, ein Mann mit weißen, widerspenstig abstehenden Haaren und einem Teint, der alles ist, nur nicht vergoldet von der Sonne Ipanemas, wie Arnaldo maliziös anmerkt. Carlos Afonso betreibt einen Plattenladen, die Toca de Vinícius - er selbst spricht von einer Begegnungsstätte. Der Name, übersetzt: Vinícius' Plattenspieler, ist Programm: Bei Carlos gibt es nur Bossa Nova zu kaufen, auf CD und Vinyl, dazu Filme und jede Menge Bücher. Regie Blende zu Atmo 3 (Toca) O-Ton 5 Carlos Afonso "A execução mais fantástica da garota de Ipanema para mim... de que é a bossa nova." Sprecher 2 Voice Over Carlos Afonso "Das Besondere an "A Garota de Ipanema" ist die Produktion. Das Lied ist über fünf Minuten lang. So viel Zeit bräuchte es gar nicht. Warum also? João Gilberto, Astrud Gilberto, Stan Getz und Tom Jobim führen uns hier vor, was Bossa Nova ausmacht." Erzähler Wenn Carlos Afonso spricht, richtet er den Blick in die Ferne. Seine Worte untermalt er mit ausladenden Armbewegungen und die Lautstärke seines Vortrags reicht aus, um einen Hörsaal zu beschallen. So falsch ist diese Assoziation nicht, denn in seinem ersten Leben war Carlos Afonso Literaturprofessor an der PUC, der katholischen Universität von Rio de Janeiro. Sein zweites Leben hat vor ziemlich genau zwanzig Jahren begonnen, als er beschlossen hat, seine Leidenschaft für die Bossa Nova zum Beruf zu machen. Er schiebt eine CD ein. Regie Musik 1 ("Girl from Ipanema") & Atmo O-Ton 6 Carlos Afonso "Você ouve o piano de Tom Jobim.... A voz é só um instrumento" Sprecher 2 Voice Over Carlos Afonso " Tom Jobims Piano - er spielt nur das Nötigste. Die Stimmen von João und Astrud - nur gehaucht. Der Gesang steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern die Musik als Ganzes. Der Gesang ist nur ein weiteres Instrument." Erzähler Dabei müssen die Plattenaufnahmen die Hölle gewesen sein, fährt Carlos fort. João Gilberto und Stan Getz sind sich auf Anhieb unsympathisch gewesen und dass Astrud den englischsprachigen Text singt, hat niemand gewollt, außer ihr selbst. Dazwischen: Tom Jobim als Mittler. Aber der Platte, schließt Carlos seinen Vortrag, hört man diese Animositäten nicht an. Regie Mix aus Musik 1 und Atmo 3 Erzähler Die Toca de Vinícius liegt an einer verkehrsreichen Geschäftsstraße. Es wird gedrängelt und gehupt, Fußgänger hasten von Einkauf zu Einkauf. Noch in seiner Jugend war das anders, sagt Arnaldo. O-Ton 7 Arnaldo Bichucher "When they began with the Bossa Nova... a paradise of tranquility." Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Als die Bossa Nova anfing, standen hier fast nur Einfamilienhäuser. Tom Jobim pflegte zu sagen, dass Ipanema, als seine Familie hier her zog, eine Art Paradies war: nur wenige Gebäude, dazu diese wunderschöne Landschaft, der Strand und die Berge, kaum Menschen. Eine Oase der Ruhe, kann man sagen." Erzähler Carlos nickt. Und präzisiert: O-Ton 8 Carlos Afonso "No Rio de Janeiro de esse momento.... para músicos que trabalhavam em Copacabana da noite." Sprecher 2 Voice Over Carlos Afonso "Copacabana war damals das kulturelle Zentrum von Rio de Janeiro, Ipanema dagegen ein Viertel für Arme. Der Immobilenboom hier setzte erst Ende der 60er Jahre ein, initiiert eben durch Tom Jobim und sein Lied. Dass er in Ipanema aufwuchs, hatte nur einen Grund: Seine Eltern hatten ein finanzielles Debakel erlebt und zogen her, weil es hier billig war. Später wohnten viele Musiker in Ipanema, die in den Nachtclubs von Copacabana auftraten." Regie Blende zu Atmo 2 (Rua) Erzähler Heute ist es eher umgekehrt. Copacabana erlebt nach Jahren des Niedergangs wieder einen Aufschwung. Die Straßen abseits des Strandes, auf denen noch vor wenigen Jahren nackte Gewalt herrschte, sind wieder sicher, auch wenn man, wie Arnaldo empfiehlt, nachts um drei besser ein Taxi nimmt. Selten auch die Überfälle durch Jugendbanden am Strand, im Volksmund nach einem Begriff aus der Netzfischerei arrastão genannt. Und die Favelas, von denen Copacabana auf der Landseite umgeben ist, sind in den letzten Jahren befriedet worden. Ipanema dagegen hat sich zum bevorzugten Wohnviertel entwickelt, mit allem, was eine betuchte Klientel wünscht: mit guten Restaurants, edeln Boutiquen und hippen Bars. Regie Blende zu Atmo 2 (Rua) Erzähler Auf dem Weg zum Strand von Ipanema. Vorbei an der Bar Vinícius, wo bis heute Bossa-Nova-Künstler auftreten. Stars von damals, die wenigen, die noch leben, wie Roberto Menescal und Maria Creuza, viel häufiger aber junge Musiker, die Songs von damals neu interpretieren. Allein das "Girl from Ipanema" gilt mit mehr als zweitausend Versionen als das meist gecoverte Lied nach "Yesterday" von den Beatles, eingespielt von so unterschiedlichen Künstlern wie Frank Sinatra, Stevie Wonder, Amy Winehouse und Helge Schneider. Vorbei auch an eingezäunten Apartmentblöcken. Alles wirkt sauber und aufgeräumt, aber auch ein wenig steril. Auch das ist ein Unterschied zu Copacabana, sagt Arnaldo. O-Ton 9 Arnaldo Bichucher "For example the architectural style in Copacabana... Smaller but more expensive." Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Der dominierende architektonische Stil in Copacabana ist Art Deco. Für uns ist das sehr alt. Aber die Wohnungen sind riesig, die Flure lang, die Wohnzimmer wie Säle und die Eingänge wie Hallen. Alles schön dekoriert, viel Marmor und Granit, die Türen aus Eisen, darin eingelassen die Namen der Gebäude. In Copacabana haben die Häuser im Schnitt 14 Stockwerke, hier in Ipanema nur halb so viele. Hier sind die Häuser moderner und sauberer, auch Platz sparender angelegt. Die Eingänge sind schmal, die Wohnungen vergleichsweise winzig. Kleiner und doch viel teurer." Regie Blende zu Amto 4 (Praia). Steht kurz frei Erzähler Der Strand von Ipanema. Ein Traum in weiß. Mit Wellen, gerade hoch genug zum Surfen, aber nicht zu riesig zum Schwimmen. Die Sonne brennt senkrecht vom makellos blauen Himmel. Es ist voll an der Praia de Ipanema. Klappstuhl steht an Klappstuhl, Handtuch liegt an Handtuch. "Das lieben wir Cariocas", erläutert Arnaldo, "diese Nähe und Enge." Und überhaupt: Das Strandleben in Rio de Janeiro im Allgemeinen und in Ipanema im Besonderen folgt festen Regeln, die zwar nirgends formuliert sind, diese Mühe würde sich ein Carioca nie machen, die aber trotzdem von den meisten befolgt werden. O-Ton 10 Arnaldo Bichucher "Here we almost don't lay down... People all do the same " Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Wie Du siehst liegt hier kaum jemand. Wahrscheinlich ist Ipanema der einzige Strand der Welt, wo die Leute die ganze Zeit stehen. Für uns geht es am Strand darum, zu sehen und gesehen zu werden. Ich rede gerade mit dir, aber ich sehe dich dabei nicht an, ich gucke mich um und checke, was um uns passiert. So machen das alle hier." Erzähler Vor allem aber geht man dort zum Strand, wo man seinesgleichen trifft. Arnaldos Ziel ist Posto Nove, Turm Nummer 9 der Rettungsschwimmer, der legendäre Treffpunkt der Bossa-Nova-Musiker und später, nach dem Militärputsch von 1964, der Dissidenten, der Unangepassten und Querdenker. Bis heute lässt sich hier sehen, wer sich als modern und progressiv fühlt. Am Posto 8, wo die Regenbogenfahne weht, genießen vorwiegend Schwule und Lesben die Sonne Ipanemas, am Posto 7, kurz vor dem Felsen von Arpoador, wird gesurft. Dahinter beginnt Copacabana. Posto 6 ist lange der Treffpunkt für Sextouristen gewesen. Dort stand das Help, eine übel beleumundete Diskothek, die auch in der Affäre um die Incentive- Reisen von Betriebsräten des VW-Konzern im Jahr 2005 eine Rolle gespielt hat. Seit das Help vor drei Jahren geschlossen wurde, ist die Szene zum sehr überschaubaren Rotlichtbezirk um den Posto 2 abgewandert. Dazwischen, von Posto 5 bis 3, ist das Revier der Freizeitsportler, mit Fuß- und Volleyballfeldern, komplett mit fest installieren Toren und Netzen. Regie Amto 4 als Trenner kurz hoch ziehen. Erzähler So weit zur Strandkunde. Nun zum Outfit. O-Ton 11 Arnaldo Bichucher "Just flip flops, bathing suit, sunglasses and sometimes a hat ... People all do the same " Sprecher 1 Voice Over Arnaldo Bichucher "Am besten trägst du nur Flipflops, Badehose, Sonnenbrille, vielleicht noch einen Hut. Geldscheine knotet der Carioca um die Kordel seiner Badehose. Sie werden nass, klar, wir bezahlen am Strand mit feuchten Scheinen. Sonst nehmen wir nichts mit, vielleicht noch eine Zeitung." Regie Blende zu Atmo 5 (Praia futvolei). Steht kurz frei Erzähler Am Posto 9, an einer Strandbude nebst Platz für Footvolley flattert die Flagge Uruguays. Die Bude gehört Milton González, einem kleinen Mann mit eisgrauen Haaren, dickem Walrossschnauzer und kugelrundem Bauch, von allen nur O Uruguaio genannt. Er selbst bezeichnet sich als Uruioca, als Carioca mit Wurzeln am La Plata. Der Uruguaio ist vor über 30 Jahren nach Rio de Janeiro geflüchtet. In Montevideo herrschte das Militär, als Gewerkschaftler und Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Uruguays war er verfolgt und gefoltert worden. Seitdem verkauft er belegte Brote und eisgekühlte Getränke und verleiht Liegestühle und Sonnenschirme. In einer Stadt, in der das Thermometer auch im Winter nur selten unter 20 Grad sinkt, ist das ein lukratives Geschäft. Aber darum geht es nicht, sagt Milton. Es geht um das Leben am Strand. Und am Posto 9. O-Ton 12 Milton González "Yo en realidad digo de que el espacio más democrático... sale de puesto 9, pasa por Copacabana y adelante." Sprecher 3 Voice Over Milton González "Ich sage immer, dass der demokratischte Ort auf Erden der Strand ist. Hier triff die Prostituierte auf den Rechtsanwalt und Ingenieur, hier gibt es einfache Arbeiter und Ärzte. Am Strand treffen sie aufeinander. Und was den Posto 9 angeht: Alles, was neu und interessant ist nicht nur in Rio sondern im ganzen Land, das meiste zumindest, geht von hier aus. Von hier geht's nach Copacabana und so weiter." Erzähler In Ipanema sind Modetrends wie der Microbikini und die Canga entstanden, ein dünner Wickelrock, der auch als Strandtuch benutzt werden kann. Hier hat die Karriere von Seu Jorge begonnen. Als Jugendlicher ist der Sänger und Schauspieler obdachlos gewesen und hat drei Jahre lang Strand von Ipanema gelebt und beim Uruguaio ausgeholfen. Die Clique um die Popmusiker Caetano Veloso und Gilberto Gil, den späteren brasilianischen Kulturminister, hat sich hier getroffen, die Begründer des Tropicalismo, eines Musikstils, der Bossa Nova mit der Rockmusik der 60er Jahre verbunden hat. Gilberto Ex-Präsident Lula hat hier eine Wahlveranstaltung abgehalten, ebenso Dilma Rousseff, seine Nachfolgerin im Amt. Und, und, und... Und dass es ihn, Milton González aus Montevideo, hier hin verschlagen hat, ist eine dieser seltsamen Wendungen, die das Schicksal manchmal nimmt. O-Ton 13 Milton González "Me gustaba muchísimo Vinícius de Moraes... por admiración de la música, de Vinícus propiamente, ubicarse ahí." Sprecher 3 Voice Over Milton González "Die Musik Vinícius de Moraes habe ich immer geliebt, auch früher schon. Und was passiert? Ich sehe einen Auftritt von ihm, in Uruguay, im Parador del Cerro. Und kurze Zeit später komme ich hier her. Vom Posto 9 hatte ich kurz zuvor gelesen und mir gedacht: Das wär's was für mich. Was für ein Zufall! Ich glaube, dass mich die Liebe zur Musik, zur Musik von Vinícius, hier her geführt hat." Regie Atmo 5 Erzähler Natürlich, es hat sich viel verändert seitdem. Und es ändert sich ständig. Rio de Janeiro putzt sich heraus für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele zwei Jahre später. Dass dafür Milliarden ausgegeben werden statt zur oder für den Kampf gegen soziale Missstände und gegen die nach wie vor grassierende Korruption, hat die Protestbewegung während des Confed-Cups ausgelöst. Regie Blende zu Atmo 6 (Praia obras). Steht kurz frei Erzähler Auf der Promenade wird gebaut. Nach und nach verschwinden die alten Holzbuden der Getränkeverkäufer. Sie werden durch neue Pavillons mit lindgrünen Dächern ersetzt. Und am Strand gelten neuerdings Regeln, was viele Cariocas entrüstet. Fliegende Händler müssen sich registrieren. Wildes Pinkeln, lange Zeit eine Art Naturrecht maskuliner Cariocas wird rigoros geahndet. Wer erwischt wird, zahlt 300 Reais Strafe, gut 100 Euro. Grillen ist verboten, auch das Zubereiten von Sandwiches - Milton zuckt mit den Schultern: Na und, dann schmiert er sie Brote eben zu Hause, verpackt sie luftdicht und gekühlt, wie vorgeschrieben. O-Ton 14 Milton González "Pero de toda forma las playas de Rio de Janeiro no se puede despreciar...sigue, sigue , con certeza." Sprecher 3 Voice Over Milton González "An der Schönheit der Strände hier ändert das doch nichts. Strände wie hier gibt es nicht überall auf der Welt. Dann das Wetter und die Menschen, sie sind offen und gastfreundlich. Das war früher so, und so ist es immer noch." Erzähler Auch Arnaldo sieht die Flut neuer Regeln entspannt bis positiv. O-Ton 15 Arnaldo Bichucher "We don't like but we understand... Who was throwing garbage on the streets? The Cariocas." Sprecher 4 Voice Over Arnaldo Bichucher "Uns gefällt vieles nicht, was passiert, aber wir verstehen es. Viele Jahre wurde Rio mit Gefahr und Gewalt gleichgesetzt. Wir Cariocas haben ein großes und gesundes Selbstbewusstsein, aber lange hatten wir es verloren. Irgendwann haben wir die Gewalt und die Verwahrlosung akzeptiert und nur noch achselzuckend gesagt: "Ist halt Rio." Wir haben uns nicht mehr um unsere Stadt gekümmert. Wer hat auf die Straßen gepisst? Wir Cariocas. Wer hat Müll auf die Straße geworfen? Wir Cariocas." Regie Blende zu Atmo 7 (Arpoador). Steht kurz frei. Erzähler Abends auf dem Arpoador, dem Felsen, der zwischen Ipanema und Copacabana in den Atlantik ragt. Ein paar hundert Menschen haben sich hier versammelt, wie üblich nach einem Strandtag. Sie reden, lachen, trinken, essen. Von irgendwo erklingt das Lied, "A garota de Ipanema". O-Ton 16 Arnaldo Bichucher "If you just hear the music it's: enjoy life. If the world was like bossa nova the world would be perfect." Sprecher 4 Voice Over Arnaldo Bichucher "Hörst du die Melodie? Sie vermittelt dir: Genieße das Leben! Wäre die Welt wie die Bossa Nova, sie wäre perfekt." Erzähler Auf dem Corcovado über Rio de Janeiro breitet die Christusstatue ihre Arme aus. Dahinter geht gerade die Sonne unter. In diesem Moment ist die Welt in der Tat: perfekt. Regie Musik (hoch) --- ENDE --- 1