COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitfragen 24. Januar 2011, 19.30 Uhr Bürgerhaushalt Mehr Demokratie oder Alibi? Eine Sendung von Rosemarie Bölts Spr. vom Dienst Bürgerhaushalt: Mehr Demokratie oder Alibi? Eine Sendung von Rosemarie Bölts O-Ton 1 Umfrage Fällt Ihnen etwas zum Thema Bürgerhaushalt ein? - (Lachen) - Schon mal gehört, Bürgerhaushalt? - Bürgerhaushalt? Nein. -Haben Sie schon mal was vom Bürgerhaushalt gehört? - Ja, aber nichts Gutes. - Da habe ich auch keinen Draht zu. - Sagt Ihnen der Bürgerhaushalt etwas? - Nein, hab ich nichts von gehört. Klingt interessant. Worum geht's denn da genau? Sprecherin Lüdenscheid im Sauerland, mitten im geschäftigen Treiben der Fußgängerzone, am Tag der Entscheidung darüber, was mit dem Bürgerhaushalt für das Jahr 2011 passieren soll. Bürgerhaushalt? O-Ton 2 Engel Die ursprüngliche Idee war, Bürgern die Chance zu geben, über die Verwendung ihrer Steuergelder mitzuentscheiden, also Prioritäten setzen zu können, was ist mir wichtig in meinem direkten Umfeld. Das ist sicher auch ein Effekt des Bürgerhaushalts, er bringt nicht nur den Menschen etwas, sondern er bringt auch den Politikern etwas, ein direkteres Gespür für ihre Bürger zu bekommen oder auch die Möglichkeit, sich damit auseinander zu setzen. Was sicher auch eine Motivation ist, so etwas durchzuführen. Sprecherin Sagt die Politikwissenschaftlerin Denise Engel, eine der wenigen Expertinnen in Deutschland, die über den Bürgerhaushalt geforscht und gearbeitet haben. Dabei gab es den ersten "Bürgerbeteiligungshaushalt" weltweit schon Ende der achtziger Jahre im brasilianischen Porto Alegre. Vor allem die Unterschicht der 1,3-Millionen- Stadt hatte damals genug von korrupten Politikern, sozialem Elend, Slums ohne Kanalisation, Strom und Wasser, von Analphabetentum und Kriminalität: O-Ton 3 Engel Was ja beim Bürgerhaushalt das Ding ist, dass es auf einer sehr niedrigen Ebene ansetzt, dass Menschen sehr wohl wissen, was sie direkt betrifft, ob ihnen die Schule fehlt oder Kanalsystem, das weiß im Prinzip jeder, egal, wie sein Bildungsniveau ist. Das war ja auch die Stärke des Verfahrens in Porto Alegre. Dass es so angelegt ist, dass es verständlich war, zum einen von den Abläufen, dass es niedrigschwellig war, und zum andern die Chance gegeben hat, über Dinge zu reden, über die sie wirklich sprechen können. Sprecherin Mehr als fünfzehn Prozent der Bevölkerung beteiligen sich in Porto Alegre an dem jährlichen, höchst komplexen Verfahren, in dem bislang über bis zu zwanzig Prozent des Investitionshaushalts bestimmt wird, zum Wohl des sozialen Friedens. Die Weltbank kürte die Stadt alsbald zur "Hauptstadt der Demokratie". Porto Alegre ging und geht es um Verteilungsgerechtigkeit zwischen Arm und Reich. Deshalb ist dort der Bürgerbeteiligungshaushalt auch politisch verpflichtend. In Deutschland hingegen beruht er auf freiwilliger Teilnahme seitens der Bürger und der freiwilligen Entscheidung der kommunalen politischen Amtsinhaber, die Ideen und Vorschläge von Bürgern auch umzusetzen; neudeutsch heißt das: "kooperative Demokratie". Also weniger Lobbyarbeit ökonomischer Interessen, mehr Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern, erklärt die Politikwissenschaftlerin Denise Engel: O-Ton 4 Engel Die Ergebnisse von Bürgerhaushalten in Deutschland sind nicht so angelegt, dass sie verpflichtend sind für die Politiker. Da kommt so eher diese Idee des Kooperativen, dass man Dialog gesteuerte Entscheidungsprozesse hat zwischen verschiedenen Akteuren. Besonders im Bürgerhaushalt werden die Bürger als ein Akteur ernst genommen und damit auch eine größere Gerechtigkeit herzustellen, damit nicht mehr die üblichen Kreise über die Geldverwendung bestimmen. Das hat zum einen den Kritikpunkt bestimmt, da kommt nichts Zwingendes bei rum. Andererseits ist es mehr als nichts, also mehr, als vorher da war. Sprecherin Dass man sich spielend vom gemeinen politikverdrossenen Bürger zum Verantwortungsbürger mit politischem Gemeinsinn entwickeln kann, zeigt ein Brettspiel mit Karten, das das Freiburger Zentrum für Zivilgesellschaftliche Entwicklung kreiert hat: "aktivoli". Die Spieler sind Entscheider in einer aufstrebenden Stadt. Es kommt darauf an, zu kooperieren und für seine Ideen zu werben. Atmo SPIEL "aktivoli" frei stehen lassen, dann unterlegen Also, Geld brauchen wir... Sprecherin In Lüdenscheid hatte man die Idee zu einem Bürgerhaushalt schon in der vergangenen Legislaturperiode, aber erst im Juli letzten Jahres wurde fast einstimmig im Rat der Stadt beschlossen, ihn tatsächlich auf den Weg zu bringen. Hässliche Knebelbegriffe wie: Neues Kommunales Finanzmanagement, eine Spezialität, die die nordrhein-westfälische Landesregierung ihren klammen Kommunen aufgebürdet hat; doppelte Buchführung, Haushaltsloch, strukturelles Defizit, Nothaushalt, drohende Überschuldung, kurz: die beinahe totale Pleite bestimmt Lüdenscheids Politik. Kritiker, weiß der Journalist Thomas Hagemann, haben deshalb schon immer über den Bürgerhaushalt behauptet: O-Ton 5 Hagemann Hier wälzen die Politiker ihre Verantwortung für die fatale Situation der Stadt auf die Bürger ab. Es kann nur ne Mogelpackung sein. Jetzt, da ist der Bürgervorschlag das Feigenblatt dafür, dass man sagen kann, das kommt ja nicht von uns, das kommt vom Bürger! Sprecherin Warum also jetzt, wo es fast nur noch um Ideen für Einsparungen geht? Warum nicht schon vorher, als es noch etwas zu verteilen gab? Lüdenscheids Bürgermeister Dieter Dzewas weist die Kritik zurück. Fürchtet er vielleicht den Verlust von Wählerstimmen? O-Ton 6 Dzewas Entscheidend ist für mich eigentlich weniger die Frage Angst, sondern vielmehr ein Stück mehr Verantwortung für Bürgerinnen und Bürger in diesen Prozessen. Denn das alles wird ja darauf hinauslaufen, dass wir uns an der ein oder anderen Stelle von städtischer Erfüllung von Aufgaben verabschieden müssen. So, und da ist es ja doch wichtig, mal zu gucken, ob Bürgerinnen und Bürger sagen, da können wir selber oder eine andere Organisationsform die Verantwortung übernehmen. Wir haben ja bewusst offen gehalten, dass es nicht nur um die Frage der Kürzungen oder von eventueller Aufgabenkritik auch geht, sondern es kann ja auch der Hinweis kommen, an der ein oder anderen Stelle langfristig durch Aktivitäten langfristig auch wieder Kosten einzusparen, wo wir aber, auch ein Stück betriebsblind, im Rathaus nicht mehr drauf kommen. Sprecherin Viel Zeit blieb der Stadtverwaltung nicht mit ihrer ad hoc-Entscheidung am 12. Juli, zum bereits bestehenden Etat-Entwurf Bürger zu Einspar-Ideen zu motivieren, die bis Mitte September gesammelt, dann in den Fraktionen und Ausschüssen zur Diskussion gestellt und Ende November im Rat mit dem Haushaltsplan 2011 verabschiedet werden sollten. 77.000 Lüdenscheider Bürger mussten überhaupt erst einmal von der Verwaltung informiert werden, was "Bürgerhaushalt" allgemein und speziell für Lüdenscheid mit seinem "Nothaushalt" meint. Mit einer Broschüre und auf der städtischen Homepage wurden die Bürger mit dem Slogan "Schließlich ist es auch Ihr Geld!" aufgefordert, auf Vordrucken in trockenem Amtsdeutsch zu vorgegebenen "Themengebieten" Vorschläge zum Haushaltsplanentwurf 2011 zu machen. Pech, dass die zwei Informationsveranstaltungen im Rathaussaal gerade während der Sommerferien stattfanden. Zur ersten kamen "ein knappes Dutzend" und zur zweiten "nicht einmal zehn" interessierte Bürger. Wie attraktiv ist denn das, fragte sich die rührige Lokalzeitung und versuchte, mit viel journalistischem Enthusiasmus das verwaltungspolitische Defizit auszugleichen. Der Redaktionsleiter der Lüdenscheider Nachrichten, Thomas Hagemann: O-Ton 7 Hagemann Also haben wir es uns als Lüdenscheider Nachrichten zur Aufgabe gemacht, den Lesern mal deutlich zu machen, wie sieht eigentlich der städtische Haushalt überhaupt in Gänze aus, und wo sind die Bereiche, wo man dann als Bürger mitreden kann? Am Ende kam dann dabei raus, dass ganz unten rechts 3,2 Millionen Euro übrig blieben bei Ausgaben von 193,5 Millionen, über die man dann tatsächlich mal reden könnte und über deren Verteilung man mal reden könnte. Die Leute haben das so verstanden, eigentlich auch ganz richtig verstanden, nämlich dass es im Jahre 2010/2011 überwiegend um Sparvorschläge geht. Sprecherin Die Machbarkeit ist der alles entscheidende Punkt, schrieben die Lüdenscheider Nachrichten zutreffend. Gesetzliche Vorgaben und vertragliche Verpflichtungen lassen im Haushalt generell nur einen kleinen Spielraum für freie Gestaltung und damit die Mitwirkung der Bürger am Haushalt zu, bestätigt auch SPD-Bürgermeister Dieter Dzewas, der allerdings mehr das große Ganze im Blick hat: O-Ton 8 Dzewas Ja, gut, es gibt gesetzliche Vorschriften. Wenn es zum Beispiel um Verkehrssicherheitspflichten geht, die kann mir ja kein Bürger, keine Bürgerin abnehmen. Wenn es um die Frage des Rechtsanspruchs - ich mach mal ein Beispiel - auf den Kindertagesstättenplatz geht, kann mir ja auch kein Bürger, keine Bürgerin abnehmen. Oder umgekehrt, wenn es um bestimmte Abläufe in der Bauleitplanung oder im Baugenehmigungsverfahren geht, da bin ich an Recht und Gesetz gebunden. Ich verspreche mir, ehrlich gesagt, von so einem Prozess nicht kurzfristig, vielleicht erst mittelfristig, vielleicht sogar erst langfristig, endlich auch mal das, was wir seit 20, 25 Jahren hören, nämlich der berühmte Bürokratieabbau, von allen angekündigt, von niemanden bisher richtig durchgeführt, sondern nach jeder weggefallenen Vorschrift sind mindestens eins, zwei, drei darunter liegende Verwaltungsvorschriften oder andere Dinge wieder in die Welt gekommen - dass man auch unsinnige Dinge transparent genug machen kann, dass man Druck genug entwickeln kann, die einfach zu streichen. Atmo SPIEL "aktivoli", 2. Runde (frei, dann unterlegen) Sprecherin Bürgerhaushalt in Lüdenscheid ist, anders als beim Brettkartenspiel "aktivoli", kein Wunsch-, sondern ein Streichkonzert. Die meisten der knapp 60 Sparvorschläge, die - man muss es wohl so sagen - eintröpfelten, wiederholten sich: Mehr Radarkontrollen. Einsparung von Ampeln. Energieeinsparung in öffentlichen Gebäuden. Personaleinsparung. Streichung der Sitzungsgelder des Stadtrats. Überhaupt Streichung der "Privilegien" und materiellen Zuwendungen für die gewählten Ratsmitglieder, oder auch: die Verkleinerung des Rates. Streichung der jährlichen "Lichtrouten", die Lüdenscheid wegen seiner vorrangigen Leuchtmittelindustrie als touristisches "Event" vermarktet, immerhin ein Posten, der 250.000 Euro kostet. Auch ein Hit der sparsamen Bürger: statt der kostenträchtigen Blumenrabatten pflegeleichtes Kriechgrün. Thomas Hagemann, der für seine Zeitung zum Thema Bürgerhaushalt pausenlos im Einsatz war, fand zwar, dass sich "die Bürgervorschläge durch eine lebenspraktische Ausrichtung auszeichneten". Politik und Verwaltung waren aber wohl ziemlich irritiert, dass Bürgeranliegen so direkt in ihre Machtbereiche eingreifen sollten. Thomas Hagemann: O-Ton 9 Hagemann Man hat sich im Werksausschuss darüber unterhalten, ob ein Bürgervorschlag angenommen werden sollte, bei dem es darum ging, die Bepflanzung in der Stadt zu reduzieren. Ob man darauf nicht verzichten könnte und stattdessen Kriechgrün anpflanzt. Daraus wurde der Vorschlag im politischen Raum, dass man gesagt hat, wir könnten das halbieren. Vielleicht nur noch die Hälfte der Flächen bepflanzen, hätte 20.000 Euro gebracht. Prompt kamen die ersten Fraktionen, haben gesagt, nein, darauf wollen wir nicht verzichten, wir wollen weiterhin die 40.000 Euro dafür ausgeben. Da sieht man dann, wie gut es Städten doch noch geht (lacht) Sprecherin Kein Geld, keine Ressourcen, keine Zeit, - schlechte Voraussetzungen, um Bürger für einen Bürgerhaushalt zu begeistern. Am Ende war es, mehr oder weniger eingestanden, eine zusätzliche Pleite für Lüdenscheid. Aber, um der Demokratie willen will man weitermachen, es nächstes Mal besser angehen, auf jeden Fall dranbleiben. "Bürgerhaushalt ist Zukunftsaufgabe", ist Bürgermeister Dieter Dzewas überzeugt: O-Ton 10 Dzewas Es ist sehr viel über die Administrationsebene, über die Gesetzgebung auch an Ansprüchen, an Rechtsansprüchen normiert worden und wird dann wie selbstverständlich genommen. Und nur, wenn's nicht so läuft, wie man sich's individuell vorstellt, kritisiert. Und eine solche Rückbesinnung auf das Gemeinwesen hinzubekommen, ist kein Prozess von ein, zwei Jahren, sondern ist, glaube ich, schon ne wichtige Aufgabe, die sich aber unbedingt lohnt. Weil ansonsten auch die Gefahr, dass Populisten, ganz gleich, von welcher politischen Seite, doch auch wieder solch einen Einfluss gewinnen können, dass es bedrohlich werden kann, auch für Demokratie. Sprechern Und Thomas Hagemann von den Lüdenscheider Nachrichten bringt seinen Optimismus auf den Punkt: O-Ton 11 Hagemann Also, der Bürgerhaushalt ist für mich ne Chance zu sagen, es stimmt nicht, wenn du sagst, die da oben machen eh, was sie wollen. Die da oben haben das zu diskutieren, was du ihnen vorschlägst, und zwar völlig egal, was. So, und das allein ist ja schon ne Veränderung, ist ja schon ne Mitwirkung. Atmo SPIEL "aktivoli", 3. Runde (frei, dann unterlegen) ...Frauenintelligenz, die man auch braucht (Lachen). O-Ton 12 Umfrage Haben Sie schon vom Bürgerhaushalt gehört? - Ja, ich habe, glaube ich, nen Brief gekriegt, und da stand drin, dass ich mich beteiligen kann an der Verteilung der Mittel. - Haben Sie schon vom Bürgerhaushalt gehört? - - Ja, tatsächlich. Ich war aber zu spät zur Abstimmung. Ich habe das über die Schule meiner Tochter, irgendwo lag ein Flyer, und wir sollten doch abstimmen für die Turnhalle, deswegen habe ich das im Internet gelesen, habe dort das System nachgelesen, kannte das noch gar nicht. Und als ich dann meine Chips abgeben wollte, war's leider schon zu spät. Aber ich hab's im Lesezeichen im Internet-Browser, und ansonsten scheint's ja ne sinnvolle Sache zu sein. - Ich find, bei uns in Lichtenberg wohnt sich's schön. Und bis jetzt sind alle die Objekte, wo ich dann immer so mitgekriegt hab, worum's ging, die sind dann auch alle nachher im Spiel gewesen, da ist auch was rausgekommen dabei. Ich find das schön mit diesem Bürgerhaushalt, dass die Bürger da selbst mitbestimmen können. Sprecherin Dies ist das Ergebnis einer Zufallsbefragung im Einkaufszentrum Frankfurter Allee in Berlin-Lichtenberg. Mit 13 Stadtteilen und rund 260.000 Einwohnern bietet es im Osten Berlins eine Bandbreite von ländlichen über gutbürgerliche bis hin zu Kiez- und Plattenbauhochhaus-Vierteln. Die Arbeitslosigkeit hält sich unter 15 Prozent, der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund beträgt je nach Stadtviertel drei bis 25 Prozent. Trotz der eher nicht so rosigen Wirtschaftslage hat es Bürgermeisterin Christina Emmrich von der Linkspartei geschafft, dass Lichtenberg nicht nur schuldenfrei ist, sondern vorbildlich wirtschaftet. Seit 2004 gilt Lichtenberg als Modellkommune für das Thema "Bürgerhaushalt in einer Großstadt", unterstützt und begleitet von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Ein Erfolgsmodell. Bürgermeisterin Emmrich: O-Ton 13 Emmrich Wer sich mit dem Thema Bürgerhaushalt, der ja eigentlich heißt: partizipative Haushaltsaufstellung und -kontrolle, Bürgerhaushalt ist nur so'n bissl ein einfacheres Wort dafür, beschäftigt, der wird sehen, du kannst natürlich nicht über gesetzliche Aufgaben die Leute abstimmen lassen. Aber sie sind natürlich informiert. Der Lichtenberger, die Lichtenbergerin weiß, was passiert mit den 540 Millionen, die der Bezirk pro Jahr zur Verfügung hat, um Schulen zu betreiben, Grünanlagen zu betreiben, um BaföG auszuzahlen, Grundsicherung zu bezahlen, um die Kosten für Unterkunft zu tragen. Und dann ergibt sich eine Summe, die bei uns immer so um die 32 Millionen macht. Das sind die freiwilligen Leistungen, die müssten wir nicht zwingend vorhalten, also gar nicht haben. Wir leisten uns aber Bibliotheken, wir haben Kultureinrichtungen, wir haben Jugendfreizeiteinrichtungen. Und das Anliegen ist, zu schauen gemeinsam mit der Bewohnerschaft, ist es genau das, wie es ausgegeben werden soll oder ist nicht die Auffassung, weniger in Grün, mehr in Bibliotheken? Soll die Musikschule ausgebaut werden? Man muss in so'ne Stadtteilversammlung gehen und mal erleben, wie Leute diskutieren, was muss sich in diesem Stadtteil ändern. Die erarbeiten Stadtteilentwicklungsziele! Sprecherin Für den Bürgerhaushalt kommt es gar nicht so sehr auf die Finanzsituation der Kommune an, meint Bürgermeisterin Emmrich, sondern eher auf die Bereitschaft, in Amt und Würden etwas von der Macht abzugeben: O-Ton 14 Emmrich Ich hab in nicht wenigen Städten, ich bin ja durch den Bürgerhaushalt ein bisschen als Wanderpredigerin unterwegs, auch erfahren, dass es dann häufig so ist, es gibt zwar nicht viel Geld, aber an Prestigeobjekten wird weiter festgehalten. Wo Bürger und Bürgerinnen sagen, was soll denn der Quatsch! Eigentlich wär doch was anderes vernünftiger. Insofern hat diese Beteiligung an der Aufstellung des Haushaltes auch nicht zwingend damit zu tun, hab ich viel oder wenig Geld, kann ich was verteilen oder nicht. Sondern die Frage ist wirklich, bin ich bereit zu akzeptieren, dass Bürger und Bürgerinnen wissen, was für ihr Umfeld gut ist, und bin ich bereit, diese Erfahrung in meine Arbeit einfließen zu lassen? Sprecherin Bevor - 2005 - der Bürgerhaushalt als verpflichtende "Regelaufgabe" in den allgemeinen Haushalt des Bezirks überführt wurde, wurden Verwaltung und Politik von der Bundeszentrale für Politische Bildung in Workshops trainiert. Natürlich lief es anfangs etwas zäh, erzählt Silvia Gröber, die die "Geschäftsstelle Bürgerhaushalt" mit vier Mitarbeiterinnen in Lichtenberg leitet. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Demokratie heißt demnach, kurz gefasst: vernetzte Kooperation. Längst hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Der Bürger, das fremde Wesen in der Politik, der natürliche Feind der Verwaltung - damit ist Schluss. Silvia Gröber ist von dem anderen Arbeitsstil in ihrer Bezirksverwaltung begeistert: O-Ton 15 Gröber Es hat sicherlich ganz am Anfang, als wir mit dem Projekt Bürgerhaushalt gestartet sind, sehr viel Inputarbeit gekostet, Verwaltungsmitarbeiter mitzunehmen auf den Weg. Also die Idee erstmal in Verwaltung zu tragen, was ist Bürgerhaushalt, was will Bürgerhaushalt, und wo liegt die win-win-Situation, für alle. Also nicht nur, dass Bürger sehen, was macht Verwaltung. Sondern auch auf der andern Seite, dass Verwaltungsmitarbeiter für sich den positiven Effekt sehen, nämlich ihre Arbeit reflektiert zu bekommen, also ihre eigene Arbeit wertgeschätzt bekommen, und auch vermittelt zu bekommen, dass das, was wir tun und machen, weil wir ja im Vorfeld beteiligen, an der Planung zum Haushalt, sind die Überlegungen, die wir treffen, die, die auch Bürger möchten, also denken wir in die gleiche Richtung? Sprecherin Als erstes wurde der Haushaltsplan, ein nicht nur für Normalbürger "dicker Wälzer mit sieben Siegeln", übersetzt. Das heißt, in "Titel" und "Kapitel" unter- und in "Produkte" eingeteilt, so dass jeder auch das findet, was er sucht, und sich ausrechnen kann, was zum Beispiel die Ausleihe eines Buchs in der Stadtbibliothek kostet. Alles unter dem Motto: weiter-, komplexer denken: O-Ton 16 Gröber Dadurch angestoßen in Zusammenhang mit Gender Budgeting ein ganz toller Prozess eingesetzt, um zu schauen, wie können wir zum Beispiel mehr Jungen in die Bibliotheken holen? Wo die Mitarbeiter auch wie im Bürgerhaushalt bei der ganzen Gestaltung immer mit im Boot sind. Sprecherin Und die Einsicht, dass Bürger viel vernünftiger und sachlicher sind als gemeinhin angenommen. Bei den Vorschlägen geht es nicht nur um Hundetoiletten, Parkbänke und absenkbare Bürgersteige für Kinderwagen und Rollatoren. Von Vietnamesen, neben den Russen die größte Ausländergruppe in Lichtenberg, wurde vorgeschlagen, aktuelle vietnamesische Literatur in die Stadtbibliotheken aufzunehmen, mit großem Erfolg. Die Info-Flyer und Broschüren sind inzwischen dreisprachig. Und die Bürger kommen nicht nur mit Politik und Verwaltung, sondern auch mehr miteinander ins Gespräch, weiß Silvia Gröber: O-Ton 17 Gröber Es wird zumeist so organisiert, dass es Arbeitsgruppen gibt in den Stadtteilkonferenzen. Und da finden sich dann eben Bürger entsprechend ihrer Interessenlage zusammen und qualifizieren ihre Vorschläge. Dann heißt es nicht, der Vorschlag kommt nur von Otto Müller, sondern dann haben verschiedene Bürger zusammen daran gearbeitet, ihre Perspektiven einfließen lassen, ihre Argumente zusammen getragen, so dass teilweise dann ganze Gruppen dahinterstehen hinter einem Vorschlag, die dann entsprechend aktivieren, wenn es um die Votierung geht. Sprecherin Der Bürgerwille wird in ein kompliziertes Punkte-Baukastensystem eingespeist, das Demokratie mit Gerechtigkeit verbinden soll. Im einzelnen: Jeder, der in Lichtenberg lebt oder arbeitet, kann Vorschläge einreichen, das ganze Jahr über. Es gibt auch keine Altersbegrenzungen. Am Votierungs-, also Wahltag, hat jeder Bürger fünf Punkte, die er für einen ganz oder auf fünf Vorschläge verteilt vergeben kann. Abgestimmt wird übers Internet und in den Stadtteilzentren. Die daraus resultierenden 75 erstplazierten Vorschläge gelangen dann in die Bezirksverordnetenversammlung, wo über den Gesamthaushalt abgestimmt wird. Silvia Gröber: O-Ton 18 Gröber Es gibt immer diesen Vorwurf der Lobbyarbeit. Ja, und im Internet, da sind natürlich genau die, die für den Vorschlag votieren, und dann sammeln die alle zusammen. Genau das gleiche war bei den Stadtteilkonferenzen, da trommeln die die ganzen Senioren zusammen. Wo ich immer sage, ich find's toll. Warum sollte man es denn unterbinden? Das ist ne Aktivierung von Bürgerengagement, und da gibt's gar nichts dagegen zu sprechen. Sprecherin Es ist auf allen Seiten ein Lernprozess, der zu immer mehr Beteiligung, zu immer mehr Vernetzung und zu immer mehr politischem Bewusstsein führt, wie folgendes Beispiel zeigt: O-Ton 19 Emmrich Wir gehen ja auch an Schulen. Und dann meldet sich in einer solchen Diskussionsrunde ein Schüler und fragt den anwesenden Direktor, na, wie kommt denn das, die Bürgermeisterin redet hier über den Bürgerhaushalt, also den Haushalt des Gesamtbezirks, und wir erfahren überhaupt nicht, wie Schulmittel verwendet werden. Sprecherin Übrigens, der Bürgerhaushalt in Lichtenberg kostet pro Jahr nur 50.000 Euro, die hauptsächlich für Druck und Öffentlichkeitsarbeit anfallen. Das Verfahren Bürgerhaushalt ist schließlich mit hohem Aufwand verbunden: Vorbereitende Bürgerversammlungen, interessenbezogene Diskussionen wie zum Beispiel für Alleinerziehende oder Senioren, Infostände. Vorschläge und Diskussion darüber unter den Bürgern. Zusätzlich werden persönlich 25.000 per Zufallsgenerator ausgesuchten Lichtenbergern informative Broschüren mit allen Vorschlägen geschickt. Votierung. Priorisierung der Vorschläge, Beratung der Vorschläge, Übergabe und Verabschiedung des Gesamthaushalts in der Bezirksverordnetenversammlung. Und am Ende ein Evaluierungsworkshop im Rathaus, in dem die Erfahrungen resümiert und Verbesserungen diskutiert werden: O-Ton 20 Evaluierungs-Workshop Die meisten Leute sind ja doch politikverdrossen, und da müssen wir nun sehen, dass wir die Leute vom Gegenteil überzeugen können, und das ist natürlich sehr schwer. Ja, und - die Jugend hat det sehr gut angenommen. Bei uns haben nicht mal die Punkte gereicht. Die mussten denn auf Filzstifte und Kugelschreiber zurückgreifen, damit hat keiner gerechnet, dass dat bei uns so ville wird, ne. Sprecherin Ein Vorschlag aus dem Bürgerhaushalt ist der "Kiezfonds", und als weitere Möglichkeit der Bürgerbeteiligung gibt es inzwischen einen Investitionsfonds mit fünf Millionen Euro, bei dem über größere Bauvorhaben abgestimmt werden kann. Der Kiezfonds mit jeweils 5 000 Euro wird in den einzelnen Stadtteilen für kurzfristige und zeitnahe Miniprojekte eingesetzt, über die "Bürgerjurys" schnell und unbürokratisch entscheiden. Fußballtore für den Bolzplatz, eine mobile Siebdruckwerkstatt im Jugendzentrum, Neugestaltung eines Streetmobils - den Anträgen sind keine Schranken gesetzt. Im Workshop geht es diesmal vor allem darum, wie man noch mehr Bürger und Bürgerinnen für eine Beteiligung am Bürgerhaushalt gewinnen kann: O-Ton 21 Evaluierungs-Workshop Wir hatten ja noch nie das Ziel gehabt, dass wir zehn Prozent erreichen und so weiter. Das wäre so in etwa die Idealzahl vielleicht, aber wir sind auf dem Weg, wir sind nicht schlechter geworden, ist doch erstmal nicht schlecht. - Ich habe immer die Idee, wenn die Leute auch tatsächlich verstehn, dass sie auch was in der Hand haben, auch ein Machtinstrument, also Parteien, Gruppierungen, Kommunen beim Wort zu nehmen, also dann kann es auch, ja so'ne Gestalt annehmen, dass es nicht nur das Abhaken ist oder dieses Pünktchen kleben, wie es für manche so ist. Also, Demokratie heißt auch immer lernen, und das bedeutet eben auch, dass nicht nur ich, der einen Vorschlag hat, zu meinem Recht kommen will, sondern dass das viele andere gar nicht interessieren könnte oder die anderen sagen, nee, nee, wir wollen was ganz anderes beanspruchen, also dieses auch Aushalten können, dass man nicht sofort zum Ziel kommt... ohhh! Sprecherin Trotz aller Anstrengungen ist das Problem geblieben: Wie animiert man die Bürger und Bürgerinnen zu ihrem Haushaltsglück? 2010 haben sie sich zum fünften Mal an der Aufstellung des Haushaltplans beteiligt. Kann man bei 8.000 Beteiligungen und 4.000 Votierungen über 260 Vorschläge überhaupt von Erfolg reden? Für Bürgermeisterin Emmrich geht die Kritik, Bürgerhaushalt sei eine "Alibiveranstaltung", ins Leere: O-Ton 22 Emmrich Wir haben vor fünf Jahren mit 800 Beteiligten angefangen, eine Verzehnfachung in fünf Jahren. Damit bin ich nicht unzufrieden. Nein, wir müssen einfach geeignetere Formen noch finden, dass wir richtig Interesse in der Bürgerschaft wecken, dass sie sich zu all diesen Prozessen beteiligen, und zu großen Teilen, nicht nur Bildungsbürgertum, sondern hoffentlich auch die Hartz IV-Empfängerin. Natürlich muss Bürger auch interessiert sein und kommen wollen. Aber wir haben die Aufgabe, ihn so zu informieren, dass er in der Lage ist, an Entscheidungen mitzuwirken. Sprecherin Für Christina Emmrich führt der Bürgerhaushalt zur "Bürgerkommune", in der der soziale Dialog und Bürgerkompetenz ausschlaggebend sind. Auch in der zweiten Legislaturperiode ist sie nach wie vor Motor und unumstrittene Leitfigur dieser kooperativen Demokratie. Anders wollte sie gar nicht Politik machen, betont Lichtenbergs Bürgermeisterin. Sie, die in der SED auf Bezirksebene für Frauenfragen zuständig war, habe schließlich in ihrem früheren Leben erfahren, wie über den Kopf der Bürger entschieden worden sei: O-Ton 23 Emmrich Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen in vielen Dingen besser wissen, was für sie gut ist, als es Politikerinnen und Politiker je wissen. Und wenn es schon diese Parteiendemokratie gibt, dann muss es verpflichtend organisiert werden, dass es vorher und rechtzeitig vorher Meinungen, Auffassungen und Ideen der Bürger einfließen. Und wenn das auf die Dauer zur Veränderung führt, ich persönlich find das richtig gut. Spr. vom Dienst Bürgerhaushalt: Mehr Demokratie oder Alibi? Eine Sendung von Rosemarie Bölts Es sprach: Regina Lemmnitz Ton: Martin Eichberg Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de Und hier noch ein Hinweis: Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Topjob in Teilzeit - Wie sich Familie und Führungsposition vereinbaren lassen 1